Fritz Müller-Partenkirchen
Der Spursucher
Fritz Müller-Partenkirchen

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Die Eidechse

Wir hatten an die tausend Kulis auf der großen Tabaksplantage. Einer von ihnen – es war wohl unser bester – war ziemlich lange krank gewesen. Er bekam den Arzt und eine Wartung, Essen, Trinken wie vorher. Der Barlohn aber, der fiel aus, es stand so im Kontrakt, ich konnte da nichts anderes verfügen. Gerne hätte ich's getan, ich wußte wohl, sein Weib in China wartete vergebens auf das Bargeld. Nun, er würde zu mir kommen und um Vorschuß bitten, den er abarbeiten konnte.

Er kam nicht zu mir. Zu einem Lebensmittelhändler ging er, der im Nebenamt auch Gelder auslieh. Auf schwere Zinsen. Der Kuli Tschudi war, wie viele, einer von den Scheuen. Die gehen lieber zum Wucherer, als sich ihrem Herrn zu offenbaren. Ich hatte ihnen oft schon einen Vortrag darüber halten müssen: »Seht, wir meinen es mit euch gut.«

Sie nickten dann.

»Ein Wucherer meint es mit euch schlecht.«

Sie nickten wieder: »Ja, Herr.«

»Herr? Ich bin im Grunde auch wie ihr ein Angestellter. Der eigentliche Herr, der sitzt in Amsterdam.«

»Amsterdam ist weit, und du bist nah – der Herr bist du.«

»Schön, also ihr versprecht, wenn euch was plagt, zu mir zu kommen?« 77

Sie nickten eifrig. Am eifrigsten der Tschudi. Und dennoch ging er dann zu dem Malaien. Es ist nichts zu machen. Der Malaie ist kein Herr für sie. Dem darf man eine Not schon sagen, nur dem Herrn nicht. Schamgefühl der Unteren? Sei's wie's sei, man sollte nicht dran rühren. An wenigsten die sogenannten Herren. Von Natur aus sind die Oberen gröber als die Unteren. Der Abstand bringt das so mit sich. Wir glauben freilich, es sei umgekehrt und tun dann groß beleidigt. – Wie lange war es her, daß wir ein Mädchen hatten, eine Weiße. »Fanny,« sagte ich, »den Sonntagnachmittag dürfen Sie in unseren Zimmern verbringen, können dem Klavierspiel horchen oder wenn was vorgelesen werden sollte, Sie gehören ganz zu uns, verstanden?«

»Ja, Herr, ja.« Es klang ganz, wie es der Tschudi später sagte. Es kommt der Sonntagnachmittag. Keine Fanny da. Es kommt der nächste Sonntag. Keine Fanny. Nun, sie wird auf ihrem Zimmer sitzen wollen, es ist ihr gutes Recht. Sie saß nicht auf ihrem Zimmer. Sie saß jeden Sonntag in der Wohnung einer Mutter eines malaischen Dienstboten. Sie verstand kein Wort malaiisch, die Malaiin kein Wort deutsch. Da saß sie nun den langen Nachmittag und strickte, die Malaiin machte sich im Haus zu schaffen. Dann und wann, wenn sie aneinander vorbeistreiften, nickten sie sich lächelnd zu. Das war alles. »Fanny,« hab' ich sie gescholten, »und hätten doch bei uns –« Dann bin ich stumm geworden. Ihre Augen sah ich: Es gibt keine Brücken. Die Brücken stehen nur in unsern Büchern. Wir müssen uns bescheiden mit 78 der Hoffnung, daß es einmal anders sein wird und bis dahin menschlich zueinander sein, so gut wir's können..

Darum hab' ich auch dem Tschudi keinen Vorhalt mehr gemacht, als ich erfuhr, er sei, anstatt zu mir, zum Wucherer gegangen.

Ich hätte es ja nie erfahren, aber Tschudi warf sich eines Tags vor meine Füße: »Herr, ich weiß mir nicht zu helfen – nicht zu helfen –«

»Sprich dich aus.«

»Er verlangt es zweimal!«

»Die Zinsen, meinst du?«

»Nein, die geliehene Summe auch!«

»Hast du dir das erste Mal nicht eine Quittung geben lassen?«

»Er gab mir seine Hand – das sei genug.«

»War ein dritter da, als du zahltest? Du hättest dir einen Zeugen mitbringen sollen – warum tatst du's nicht?«

»Ich dachte, es würde ihn beleidigen, Herr.«

»Beleidigen? Ha, einen Menschen, der sich in einem Vierteljahr zu hundert geliehenen Geldstücken zehn an Zinsen zahlen läßt – vermute ich – nicht wahr?«

»Er verlangte zwanzig, Herr.«

»Das wären achtzig Prozent im Jahr – wie heißt der Mann?«

»Ich – ich weiß es nicht – und du sollst es auch nicht wissen.«

»Ich erfahr' es doch, wenn er dich – einklagt vor Gericht.« 79

Tschudi verlor die Fassung: »Klagen – mich – vor Gericht – mich, den Tschudi! – nein, ihr irrt euch, Herr.«

»Warte ab – wir werden uns dann wiedersehn in dieser Sache, Tschudi.«

»Wiedersehen?« ^

»Vor Gericht. Ich bin Beisitzer.«


Der Malaie klagte wirklich. Aufrecht stand er vor dem Richtertisch. Eine edle Handbewegung machte er: er verzichte bei dem armen Teufel auf die Zinsen, er verlange nur sein eigenes Geld zurück.

Auf den Richter machte das, man sah es, keinen üblen Eindruck. Er war jung. Erst kürzlich war er aus dem Mutterland gekommen. Unsichtbar und unverrückbar auf dem Rücken angeschnallt das Corpus juris: Fall ist Fall, sei's in Holland, sei's in Sumatra. Das war auf dem Rücken. Vorn im aufgeschlossenen Herzen schien er nicht so sicher.

Er hatte uns Beisitzer vorher auf die Seite genommen: Recht und Unrecht seien zwar auf der ganzen Welt das gleiche – aber immerhin, Malaien, Kulis – ein Volk verstünde manchmal das andere nicht – es läge oft an Kleinigkeiten – wir seien schon seit Jahren in den Kolonien und er hätte nichts dagegen, nein er bäte uns darum, von unserem Fragerecht in der Verhandlung schon, nicht nur dann in der Beratung, reichlichen Gebrauch zu machen.

Der andre Beisitzer, ein alter Farmer, meinte lächelnd: »Nicht das Fragerecht sei wichtig, wichtiger sei die Beobachtungspflicht.« 80

Der junge Richter ward nervös: die sei in erster Linie seine Sache. Und als jetzt der Kläger jene schöne Handbewegung machte und erklärte, er verzichte auf die Zinsen, konnte sich der Richter nicht enthalten, den alten Farmer mit einem kurzen Blick zu streifen: Siehst du, wie ich beobachte!

Der Farmer gab den Blick nicht zurück. Er blieb unbewegt. Auch als Tschudi aufgerufen wurde und beweglich auseinandersetzte – in der Übersetzung freilich ging das Überzeugende seiner Beteuerung unter – er habe seine Schuld samt Zinsen längst getilgt.

Unser Richter wurde nun ganz Corpus juris: Beweise? Quittung? Zeugen? – es sei unbegreiflich, wie ein Schuldner nicht darauf bestehen habe können – bliebe also nur der Eid – wem er zugeschoben werde, würde eine Beratung gleich ergeben. Er erhob sich, schritt voraus in das Beratungszimmer, der alte Farmer und ich folgten ihm.

»Wem erteilen Sie den Eid?« Die Frage war an mich gerichtet.

»Dem schuldnerischen Kuli!« sagte ich so rasch wie überzeugt.

»Und Sie?«

»Dem Malaien.«

Ich war überrascht: »Der wird unbedenklich schwören!«

»Der Kuli etwa nicht?«

»Natürlich, weil's die Wahrheit ist.«

»Die Wahrheit wird durch Eide selten so erhärtet, daß sie auch den bösen Zungen draußen einzuleuchten pflegt –« 81

»Auf böse Zungen draußen haben die Gerichte nicht zu hören.«

»Umso mehr der Angeklagte, der nur heute vor Gericht steht, sein ganzes andres Leben aber zwischen eben diesen bösen Zungen leben muß.«

»Wodurch also glauben Sie, Herr Büren, daß die Wahrheit besser noch als mittels Eides sich erhärten ließe?«

»Durch einen Meineid – kein Grund sich zu entsetzen, Herr Vorsitzender – ich meine natürlich, durch einen vermiedenen Meineid.«

»Sie meinen, der Malaie wird den Eid –?«

»– nicht leisten wollen, hoffe ich.«

»Hoffen! Mit Hoffen ist der Wahrheit nicht gedient, Herr Büren.«

»Noch weniger mit Wissen, denn was wissen wir im Grund, was in den Seelen selber unsrer Nächsten vorgeht?«

Der Richter wurde ungeduldig, schaute auf die Uhr: »Wenn ich alle Fälle mir erst philosophisch vorerklären lassen müßte –«

Der alte Farmer sagte steinern: »Sie meinen, praktisch gelte es zu sein. Ich bin seit vierzig Jahren Farmer. Also doch wohl praktisch. Was nicht zu hindern braucht, daß man mit den Jahren auch ein Freund der Weisheit werde, also philosophisch, wenn ich's richtig übersetze.«

»Sie über–setzen nicht nur richtig, Sie geruhen auch mir ›Jungem‹ die Belehrung zu ver–setzen, daß –«

»– es auch für einen Richter nie zu spät ist, mit der Weisheit einen Pakt zu schließen.« 82

Das klang gütig. Ätzend war die Antwort: »Genug,« stieß er die Tür zum Gerichtssaal auf, »ich darf die Herren bitten – ich eröffne die Verhandlung wieder – den Eid hat der Kläger!«

Der Malaie verneigte sich. Tschudi riß die Augen weit auf, seine Lippen fingen an zu zittern: »Er wird doch nicht – er kann doch nicht –«

»Ich bin bereit, den Eid zu leisten, hoher Herr Gerichtshof,« sagte der Malaie. Von seiner Stirne strahlte reiner Glanz. Er rückte an seinem Turban. Es sah aus wie Ehrfurcht, die er auch auf seinen Turban übertragen wolle.

»Halt!« sagte der alte Farmer ruhig.

Unwillig sah der Richter auf: »Sie unterbrechen den Verhandlungsgang, Herr Büren –«

»Im Gegenteil, ich will ihn fördern – hatten Sie nicht selbst gebeten, daß wir unser Fragerecht –«

»Fragen Sie die Parteien.«

»Zunächst nicht diese – erst meinen Herrn Kollegen,« er wies auf mich, »auf deutsch, wenn Sie gestatten, Herr Vorsitzender.«

Der zuckte mit den Schultern.

Der Alte wandte sich zu mir: Soviel er wisse, sei ich Bayer – er habe einst in jungen Jahren Oberbayern auch bereist – ob ich mich erinnern könne, daß die Bergler einen alten Aberglauben hätten –

»Mehr als einen,« nickte ich.

Zum Beispiel, daß der Meineid »kalt« geheißen werde und nicht schaden könne, wenn er »abgeleitet« würde?

»Ja, in die Erde,« sagte ich, »vermittels der auf dem 83 Rücken des Schwörenden verborgen gehaltenen linken Hand, deren Finger abwärts weisen.«

»Schön,« meinte er, »und wie in solchen Fällen sich der Richter wohl zu helfen pflege?«

Aus einer heimischen Erinnerung heraus hätte ich fast gelacht, als ich den oberbayrischen, volksvertrauten Amtsrichter im Tonfall nachzumachen suchte: »Linke Pratzen vor!«

»Das hab' ich wissen wollen,« lächelte der Alte und wandte sich an den stirnrunzelnden Vorsitzenden, der unser Deutsch verstanden hatte: »Herr Präsident, ich bäte, zu verfügen wie die oberbayrischen Amtsrichter.«

»Ihr Vorschlagsrecht in Ehren, alter Herr,« sagte der junge Richter spitzig, »aber Ihre Augen scheinen mit den Jahren mit der Weisheit nicht den gleichen Schritt zu halten – Sie können wohl nicht sehen, daß der Mann die Linke gar nicht auf dem Rücken hält?«

Es müßte nicht die Hand sein, mit den Breitegraden wandle oft sich solch ein Volksbrauch, nicht sein Sinn – die linke Hand sei beim Malaien hochgerutscht und liege jetzt auf seinem Kopfe.

»Das ist mir doch zu philosophisch,« sagte der Richter unwillig, »ich trete Ihnen die Verhandlungsführung ab, verehrter alter Herr, damit Sie sich nach besten Kräften selbst blamieren.«

»Angenommen,« sagte der Alte, und wandte sich auf malaiisch an den Kläger: »Herunter mit dem Turban bitte.«

»Wie, bitte, wie?« stotterte der Malaie.

»Herunter mit dem Turban!« 84

Der Malaie verneigte sich so tief, daß man seine erbleichenden Lippen kaum mehr sehen konnte: »Aber – aber ich weiß doch, was ich dem Gerichtshof schuldig bin an Achtung.« Dabei drückte er den Turban fester.

»Sie sind schuldig, zu gehorchen – herunter, sage ich zum letzten Male, mit dem Turban – oder soll ich selber –«

Es war nicht mehr nötig. Die Ehrerbietung des Malaien war so tief geworden, daß der Turban ihm vom Haupte fiel. Rasch sprang der Farmer auf, hob ihn auf und entfaltete ihn vorsichtig auf dem Gerichtstisch: Ein Klümpchen Lehm lag in den Falten bloß und eine winzige, grün schillernde Eidechse kroch hervor und äugte, listig blinzelnd, zwischen dem Gerichtshof und dem Kläger hin und her.

Der Kläger selbst fiel auf die Knie. Er hob die Hände: »Er ist mir nichts mehr schuldig, er hat bezahlt, ich ziehe die Klage zurück!«

Im Saal war alles totenstill. Kopfschüttelnd starrte der Richter auf das Eidechslein.

»Es ist aus einem heiligen Brunnen,« lächelte der alte Farmer, »auch das kleine feuchte Lehmstück – beides zusammen auf dem Kopf leitet hierzuland den kalten Eid ab – Herr Gerichtshof, Sie gestatten, daß ich die Verhandlungsleitung wieder an Sie übertrage . . .«


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