Fritz Müller-Partenkirchen
Der Spursucher
Fritz Müller-Partenkirchen

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Schweigend

Er hatte es weit gebracht. Bis zum Ministerpräsidenten und zu achtzig Jahren. Damit trat er ab. Am liebsten hätte er das still getan. »Wie's nach vollbrachtem Lebenswerk die Wilden in der Südsee machen dürfen,« sagte er zu den feierlichen Zylindern, die ihn zu dem großen Ehrenfeste luden.

»Südsee?« taten sie devot erstaunt.

Richtig, ja, in jungen Jahren soll der Gefeierte da drunten Pflanzungen geleitet haben, erinnerten sie sich unamtlich. Nun, farbige Gepflogenheiten brauchten ja noch keine Geltung für Europa –

»Auch in Europa,« unterbrach sie lächelnd seine Exzellenz, »gestattet es die ungeschriebene Güte der Natur, am Ende eines Lebens schweigend zu verschwinden, aus der Stadt hinaus aufs Land, übers Feld hinüber, durch die Wälder, schnell und schneller einen Berg hinan in Windungen, um auf der Spitze hinter stillen Büschen einsam zu verscheiden.«

Sie sahen sich betreten an: Exzellenz beliebe einen Scherz zu machen, ihres Wissens sei noch nie ein Mensch – 86

Mensch? Nein, nein, er spreche von den Tieren, und wenn er auch von ihnen dann und wann – er wisse das – ein großes Tier geheißen werde, zu jenem schönen Vorrecht auch des kleinsten Tieres würde er es doch nie bringen.

Die Zylinder drehten sich nervös: Wie war man nun daran mit diesem unberechenbaren, alten Herrn?

Bis ein Klappzylinder auf das burschikos gehobene Knie schlug: »Kapitaler Witz, haha – doch immer geistreich, Exzellenz – wir dürfen also alles vorbereiten – hier die Rednerliste – in Klammern, schlagwortartig, steht der Hauptinhalt von jeder Rede – wie üblich – Sie verstehen, Exzellenz, um Doppelspurigkeiten, mehr noch, um Entgleisungen zu vermeiden – und wie gesagt, das ganze sollte einen Zweck verfolgen: Dankbarkeit für all' Ihr Wirken zu beweisen. Einen Beweis, den man bei diesem kalten Hundewetter wirklich nicht auf eine einsame Bergspitze hinter stille Bergbüsche verlegen kann, hrrem–hrrem.«

Zwischen den zwei hrrem stand eine kunstgerechte Pause, die dem Ministerpräsidenten ermöglichen sollte, seinerseits aufs hochgezogne alte Knie zu schlagen: Kapitaler Witz . . .!

Aber diese Knie waren achtzig Jahre, der kapitale Witz nur ein Minutenwitz. Der Präsident verneigte sich und sagte mit den ernsten Stirnfalten und den in eine weite Ferne sehenden Augen, wie sie – beides– liebvertraute Hunde vor dem Scheiden haben: »Ich komme.«

Die Feier »stieg«. Mehr als das: sie »klappte«. Mehr als das: die wahre Dankbarkeit hob zwischen 87 eingedrillten Sätzen ihre wehenden Haare, die so unberechnet züngeln können, daß sie sich plötzlich wie liebkosend kreuzen oder gar wie dankerfüllte Hände falten, und – sagte nicht ihr Sprüchlein, nein, stotterte ein Stück der Seele bloß und ihrer scheuen Scham.

Die Beamten schickten ihren Redner vor: »Ein Vater war er uns, uns Untergebenen. Dankbar sind wir.«

Der Landtag schickte seinen Senior vor: »Ein Sohn war er, des Landes hochgetreuer Sohn. Dankbar ist es ihm.«

Der König schickte seinen Adjutanten vor: »Ein Seher war er, Unheil hat er abgewendet: Blitze, welche von der Zwietracht ausgesandt, des Volkes Scheunen einzuäschern drohten, hat er, in Dynamos eingefangen, Arbeit leisten lassen. Dankbar sind ihm alle.«

Noch viele andere Reden folgten. Alle kreuzten sich in einem Punkte: Dankbarkeit.

Ein letzter Redner faßte es zusammen: Ob er, der Jubilar, der heute scheide, ein brausenderes Lied der Dankbarkeit je vernommen habe?

Da half nun freilich nichts: Es hieß, erwidern.

Auch dieser Antworttext war vornotiert: »Bewegt und tiefgerührt . . .« Das alte Schema.

Achtzig Jahre fügen sich dem Schema. Williger als zwanzig oder vierzig, dachte er.

Zwanzig? War er nicht mit zwanzig in die Südsee ausgewandert?

Vierzig? Schied er nicht mit vierzig von den großen Teeplantagen, die er hatte schaffen helfen?

Er wußte nicht, wie's kam: Mit einem Male war der heiße Südseetraum zwischen zwanzig und vierzig in ihm lebendig, springlebendig. 88

Kerzengrade standen seine achtzig Jahre da und blitzten in den Festsaal: »Bekennen soll ich, ob ich jemals ein brausenderes Lied der Dankbarkeit vernommen hätte?«

Er holte Atem, tiefen Atem. In dem einen Atemzug kam die Erinnerung zurück, die Malaienerinnerung bis in die letzte Einzelheit. In dem einen Atemzuge sah er sich als jungen Assistenten in der Dampfbarkasse landen. Landen in dem ungepflügten Lande, umringt von Hunderten Malaienbooten, aus denen tausend mißtrauische Malaienaugen ihn durchsiebten. In dem einen Atemzuge sah er sich ringen um Vertrauen. Sah er sich ausgelacht, verhöhnt, verloren. Sah er sich selber pflügen. Sah er Malaien, junge, alte, kranke, stöhnen, sterben. Sah er die Verwandten aus den Sterbehütten flüchten: Gott hat es gewollt. Sah er einen Schwerverletzten die verschmutzten Binden von den Wunden reißen: »Ich sterbe jetzt, Gott will es!« – »Gott Unverstand!« rief da der Assistent, drang in die Hütte, griff mit Asepsis ein und Sauberkeit, mit Salben und mit Glück und rettete den armen Kerl. Da brach das Eis. Ihre Kranken trugen sie in seine Freizeit, ihren Arbeitsschweiß steckten sie in den Plantagenboden. Ernten schossen auf. Aus dem Assistenten wurde ein Inspektor, ein Direktor.

Ein Direktor, dem es nicht zuviel war, jeden seiner vielen hundert Kuli einzeln zu betreuen, wenn – nach ihrer Meinung – wieder einmal »Gott es wollte«. Ein Direktor, dem es Freude machte, alle vierzehn Tage mit geschickten Händen ganzen Reihen von Malaien die erkrankten Zähne auszureißen. Ein Direktor, 89 der mit schlichten Mitteln Hunderte von Wochenbetten der Malaienfrauen knapp an den ergebenen Schatten des »Gott will es« hin und drüber weggeführt hat. Ein Direktor, der es wagte, den Millionen der Gesellschaft zwei dividendenlose Jahre zuzumuten, um damit für achtzehn Jahre Malaientreue in der schwersten Arbeit einzuhandeln und die Gesellschaft an die Spitze aller Teeplantagen zu heben.

Ein Direktor, auf den man aus der Heimat scharf und schärfer schaute, bis man ihn herüberholte. Bis nach zwanzig Jahren die gleiche Dampfbarkasse morgens fünf Uhr schon am Strande fauchte, die ihn zu dem großen Ozeanriesen bringen sollte, der weit draußen lag vor Anker. Bis auf einmal eine ganze braune Dorfschaft aus dem Wald hervorbrach, Männer, Frauen, Kinder, alle schweigend. Bis aus dem Tausend stumm wimmelnder Körper ein Dutzend Männer auf ihn zuschritten und die flachen Hände im spitzen Winkel auf den Stirnen falteten, alles schweigend. Bis sie schweigend ihn ins Dampfboot leiteten. Malaien mit Schnurrbärten waren es, spärlichen Schnurrbärten. Alte Malaien. Nur wer Großvater wird, darf einen Schnurrbart tragen.

Bis sie schweigend, nur mit Handbewegungen, dem Barkassenführer bedeuteten, den Dampf abzustellen. Bis der's zögernd tat. Bis die Dutzend ihre alten Schultern an die Bootswand setzten und es weit ins Wasser schoben. Bis sie, im tiefen Wasser mit Malaienübung schwimmend, das Boot mit ihren alten Köpfen sanft und sicher vor sich herschoben, eine Stunde lang. Bis sie – dampfgeräuschlos – die 90 Barkasse an das Großschiff legten. Bis der Scheidende die Tauleiter hinaufstieg und den zwölf Schnurrbärten unten einen letzten Gruß zuwinkte. Die zwölf winkten nicht zurück. Die vierundzwanzig Augen sahen nur hinauf, still, unerbittlich ernst und leuchtend. Nicht ein Wort fiel.

An alles das erinnerten sich die hochgereckten achtzig Jahre in dem einen Atemzuge: »Bekennen soll ich, ob ich je ein brausenderes Lied des Dankes vernommen hatte? Ein brausenderes nicht, aber ein stilleres, meine Herren . . .?« 91

 


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