Guttenbrunn
Meister Jakob und seine Kinder
Guttenbrunn

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XV.

»Spring einmal nach Alliosch ´nüber, Franzl, und trag mer den Brief uf die Poscht«, sagte Meister Jakob eines Tages und händigte dem Lehrbuben, der schon stattlich herangewachsen war, einen Brief an den Johann ein. »Du zahlscht'n und bringscht ein Rezepiß.«

Es war schon spätnachmittags, und Franzl blickte nach der Sonne. Er winkte dem Christof, ob er mitwolle bis in den Schwarzwald. Auf dem Rückweg, abends, hole er ihn wieder ab. Ob der mitwollte! Nichts lieberes kannte er als solch einen Ausflug zur Mutter, in den großen Hof des Vetter Mathes, in dem es so viele Gäule gab, auf denen er reiten durfte. Und die Großmutter hatte auch nichts dagegen. Dass nur der Brief endlich geschrieben war und fortkam, den sie schon so lange vom Vater verlangt hatte. Fünf Jahre war der Johann schon fort und kehrte nicht heim, der Jakob aber sollte schon längst in der Fremd' sein und verhockte sich da im Dorf. Die Ablösung, auf die der Vater rechnete, kam nicht. Der Jakob wird kaum noch fortzubringen sein von den Mädchen, von den Spinnreih- und Kirweihfreuden des Dorfes. Der Peter war als Schmied auch schon freigesprochen, die Kathl so gut wie verlobt, und der Johann kehrte immer noch nicht heim. Was fiel ihm denn ein? Der Vater war recht müde. Er wollte und musste jetzt endlich wissen, ob sein Ältester überhaupt noch daran denke, heimzukehren und die Werkstatt zu übernehmen. Wenn nicht, müsse er andere Vorkehrungen treffen, schrieb er ihm. Aus Preßburg, aus Wien aus Graz hatte der Johann Briefe geschrieben, jedes Jahr einen, dann aus Laibach und jetzt schon zwei Jahre gar nicht mehr. Wo steckte er? Was hatte er vor? Er störte seines Vaters Pläne und die ganze vorgedachte Ordnung des Hauses. Er glaubte lange, der Johann sei auf dem Heimweg und werde eines Tages überraschend in die Tür treten, aber jetzt war es auch mit diesem Glauben vorbei. Sein Bruder Hannes hatte den Weidmannschen Bauernhof schon längst seinem Ältesten übergeben und saß im Vorbehalt, der Sohn des Bruders Niklos war als Baumeister heimgekehrt und übernahm langsam die Kundschaft des Vaters. Nur bei ihm wollte es nicht klappen. Das sollte es aber. Das musste es. Darum schrieb er endlich dem Johann diesen Brief auf Ja oder Nein.

Und der Franzl sprang nach Alliosch. Im Schwarzwald gab er vor der Tür den Christof ab und eilte weiter, denn die Sonne neigte sich schon.

Der Kleine kannte den Weg ins Haus sehr wohl, er konnte sogar schon die Gangtür von außen öffnen und die Mutter überraschen, wenn er still angeschlichen kam. Als er heute in die Küche guckte, sah er den Bauer bei seiner Mutter stehen und leise auf sie einreden. Sie hielt den Kopf gesenkt und rührte in einer Pfanne, die auf dem Dreifuße über dem Herdfeuer stand. Und als er in die Hände klatschte und schrie: »Motter, guck, guck! Der Chrischtof is doo!« fuhr der Vetter Mathes, der sonst immer so freundlich mit ihm war, erschrocken zur Seite. Und er verschwand alsbald in der hinteren Stube. Die Mutter aber stürzte mit ausgebreiteten Armen auf den Christof zu, bückte sich nieder und drückte ihn an sich. »Dich schickt unser Herrgott!« sagte sie. Der Christof verstand das nicht, hatte ihn doch bloß der Franzl hereingeschickt von der Gasse. Er erklärte das und behauptete, er könnte jetzt auch schon allein kommen, er wisse den Weg. Das sei gescheit, sagte die Mutter, da könne er öfter kommen. Sie schlug noch zwei Eier in die Pfanne auf dem Dreifuß, denn ihr Bübel werde wohl Hunger haben, meinte sie. »Naa, gar nit«, sagte der, zog aber einen Apfel aus der Hosentasche und biss hinein. Den hatte er sich zur Vorsicht auf die weite Reise mitgenommen. Und er aß dann auch an den Rühreiern tüchtig mit, die sich die Bas' Mali zu Abend gewünscht hatte.

Der Anblick des Buben in ihrem Hause war der Bäuerin immer eine stille Qual. Warum war es nicht der ihre! Er könnte schon fünfzehn oder mehr zählen... Und wenn der Bauer den Buben an der Hand nahm und hinausführte, ihn im Hof auf einem Gaul reiten ließ, dass er juchzte, und die Susi vom Fenster mit strahlendem Gesicht zusah, da schnitt es ihr mit Messern ins Herz. Sie hatte sich für stärker gehalten, als sie war. Ach, warum hat sie geredet, warum sich damals überrumpeln lassen! Um die Susi zu halten, sprach sie mit dem Mathes. Sie vertraute ihm an, dass sie selber es wünsche, er möge die Susi eines Tages in allen Ehren zur Bäuerin machen. Sie verdiene sich das durch ihre treuen Dienste, und sie sei eine tüchtige Person. Aber solange sie lebe, wolle sie Ruhe haben, wolle sie nichts Unschicksames im Hause sehen und nicht gequält werden. Wenn er die Susi anrühre oder sie sich ihm nähere, jage sie sie mit Schimpf und Schande fort. Gar so gutmütig sei sie nicht.

Und die Susi blieb. Die Base gab ihr das Versprechen, dass sie von ihrem Manne nicht mehr belästigt werden würde, mit solcher Sicherheit, dass sie sich wundern musste. Hatte die Kranke eine solche Gewalt über ihren Mann? Sie ahnte, was da verabredet worden war. Und der Bauer gab ihr eines Tages die Gewissheit. »Mer kumma z'samma, Susi, sie will's«, flüsterte er ihr zu. »Äwer brav müsse mer sein.« Denn ganz ohne Halt durfte er sie nicht lassen, sie musste wissen, wohin sie fortan gehöre.

Diese Versicherungen taten der Susi wohl. Sie brachten wieder Ruhe und Festigkeit in ihr Leben. Ihr ganzes Wesen hob sich.

Und so lebten sie drei Jahre nebeneinander, aber die kranke Bäuerin räumte den Platz nicht. Sie machte gar keine Miene, die große Reise anzutreten, und sie hatte immer wieder Gelüste nach kräftigen Speisen, die Leib und Seele zusammenhielten. Dem Mathes aber riß langsam die Geduld. Er wollte nicht länger warten. Sollte er ein alter Mann werden und verdursten neben dem lockenden Lebensquell an seiner Seite? Verdorren als unfruchtbarer Baum? Nein, das ertrug er nicht. Es musste irgend etwas geschehen. Lange genug trug er den Mühlstein dieser Ehe um den Hals, er wollte ihn loshaben, ehe er unterging.

Zitternd und zagend hörte die Susi solche Reden an. Sie hielt sich die Ohren mit beiden Händen zu, wenn der Bauer tobte und drängte und bettelte. Aber sie ergab sich nicht. Sie hätte seinen schweren Kampf mildern können, wenn sie seinen Wünschen gefügig gewesen wäre; sie tat es nicht. Eine zweite Verfehlung, das fühlte sie, hätte nur mit dem Tod enden können. Denn auch Bäuerin wollte sie nicht um den Preis neuer Schande werden.

Die hellen Augen der Base waren immer schärfer und durchdringender geworden in diesen Jahren. Sie litt viel. Ihre Seele war krank seit jener Aussprache mit ihrem Manne; ihr war, als habe sie sich selber zum Tode verurteilt und als ginge seitdem alles über sie hinweg. Jene leise Heiterkeit, die von innen kam und die immer noch in ihrer Krankenstube gewaltet hatte, war verflüchtigt. Die Susi kam ihr verändert vor, seitdem sich in ihr selber eine Wandlung vollzogen hatte. Es gab Stunden, in denen sie dieses gesunde Weib hasste. Die Susi aber leistete ihr unverdrossen jede Handreichung, jeden persönlichen Dienst, den eine Frau, die jahraus, jahrein kaum das Bett, viel weniger die Stube zu verlassen in der Lage war, immer wieder nötig hatte. Als der Kreisphysikus wieder einmal zur Bäuerin kam und ihr lächelnd alles zu essen und zu tun erlaubte wie einer Gesunden, dem Bauer aber heimlich sagte, sie wäre unheilbar und es könne nicht mehrlange dauern, da schöpfte auch die Susi tief Atem. Auch sie hatte ein Gefühl der Erleichterung nötig, denn freudig war ihr Dienst in diesem Hause nicht. Und zur gänzlichen Aufopferung fühlte sie keinen Beruf in sich. Sie erwog schon ernstlich, wie sie sich befreien könne. Stefan Jäger lag ihr oft im Sinn. Er wirtschaftete mit seiner alten Mutter und heiratete nicht. Warum? Es schmeichelte ihr, dass es einen Mann gab, der so an ihr zu hängen schien, der augenscheinlich noch immer auf eine Sinnesänderung bei ihr wartete.

Die Worte des Kreisphysikus verscheuchten diese freundlichen Träume wieder, sie bannten die Gefühlsschwankungen, denen Susi unterworfen war. Das nähere Ziel gewann wieder Macht über sie. Und der Trotz gegen Christof und sein Weib ließ ihr dieses als das begehrenswertere, als das höhere erscheinen. Ja, sie wollte Bäuerin werden. Just hier im Schwarzwald wollte sie es werden. Das merkten die beiden längst, dass es darauf hinausging, wie es auch andere scharfe Augen merkten, die Mu-Mu-Mu und ihre Trudl trugen es im ganzen Dorf herum. Jeden Winter einmal kam die Trudl, die man nicht abweisen konnte, mit ihrem Spinnrad zur Godl und holte sich neuen Klatsch für die geschäftigen Zungen, die sich fortgesetzt mit der Susi beschäftigten.

Aber nun war wieder ein Jahr vergangen seit dem Besuche des Kreisphysikus, und es hatte sich nichts geändert. Im Gesicht des Bauern pflügten Kummer und Leidenschaft tiefe Furchen; auf seine Haare fiel der erste Schnee. Und unstet gingen seine Augen. Er ließ nach in seiner Wirtschaft, blieb mehr daheim, als er sollte und durfte. Nach auswärts fuhr er oft, und man wusste nicht, wohin. Und seit ein paar Tagen schlich er immer um die Susi herum, wenn sie in der Küche tätig war, es interessierte ihn jede Speise, die für die Bäuerin bereitet wurde.

Dass der Bub ihn heute störte, verdross ihn arg. Er hatte der Susi etwas anvertrauen wollen, das er nicht länger bei sich behalten konnte. Aber als er dann allein war, erkannte er, dass es doch besser wäre, zu schweigen. Zu schweigen wie der Tod.

Es duldete ihn nicht in der Stube. Er ging hinaus in den dämmernden Hof, auf dessen Wirtschaftsgebäuden noch die sinkende Sonne lag. Er schlenderte um diese herum, besichtigte den mächtigen »Hambar«, dessen Leib aus luftigen Latten gebildet war und der unter seinem Schindeldach viele hundert Metzen Kukuruz barg; die Scheuer, die bis an den Giebel mit Wintervorräten gefüllt war. Er hatte sie erst im vorigen Jahr mit Ziegeln decken lassen, da das Strohdach schadhaft und aus der Mode war. Seit dem letzten Feuer im Dorf wollte niemand mehr Strohdächer. Er kam zu den Schweineställen, in denen es grunzte und fauchte. War auch alles in Ordnung? Schloss jeder Riegel? Einem paar Ratten, die er unter dem Trog der Mastschweine verscheuchte, lächelte er ganz eigen nach. Die wollten auch ihren Anteil haben. Aber man musste ihnen jedes Jahr einmal Gift streuen, sie vermehrten sich zu sehr. Und man bekam es immer schwerer - das Gift. Die Apotheker sagen, es wären scharfe Verbote erlassen worden. Kein Wunder! Stand da nicht neulich in der Temeschwarer Zeitung, es hätten die Eheweiber in einem Dorf seit Jahren ihre altgewordenen Männer immer beseitigt und sich junge genommen? Schöne Geschichten passierten in der Welt! Und gleich dutzendweise... Die Riegel saßen gut, und die Schweine rührten sich nicht. Das Volk war satt. Hinter der Scheune saßen auch noch ein paar Heuschober, so voll war diese. Und der Misthaufen hinter dem Pferde- und Kuhstall, der wuchs. Es war eine Freude. Das wird Winterarbeit geben, ihn auf die Felder zu bringen. Es war dem Bauer, als ginge er wie ein Fremder, der seine Wirtschaft zum erstenmal sah, da herum. Oder - als sähe er sie zum letzten mal und könne sich nicht genug daran tun... Wie mächtig der wällische Nußbaum dort stand! Alles lag voller Schalen, aber die Nüsse, die hielt er noch fest. Wie die Eier so groß. Man wird sie ihm endlich abnehmen müssen. Er trat sogar in den abgegrenzten Gemüsegarten, den ein Gatterzaun vor dem Einbruch der Schweine schützte, denn die ackerten immer gern noch mit den Rüsseln, wenn sie von der Weide heimkamen... Selbst im Hof versuchten sie's... Da wuchs manches, was er kaum kannte, erst wenn er's auf dem Tisch roch, wusste er, was es war. Wer hat Zeit für solche Weibersachen. Rief ihn nicht wer? Ihm war, als hörte er seinen Namen. Aber es war wohl eine Täuschung, es blieb ganz still. Es wird wohl im Stall geredet worden sein, wo der Knecht die Pferde fütterte und die Magd die Kühe molk. Da standen ein paar blasse schwindsüchtige Rosen. Und herbstliche Astern ein ganzes Beet. Feurig, in allen Farben glühend. Schau, schau, was der Herbst alles kann. Die Rosenzeit ist hin. Aber der Herbst hat auch schöne Kinder. Nett von der Susi, dass sie die Herbstblumen so gern hat.

Wieder gellte ihm ein Ruf ins Ohr: »Mathes! - Mathes! - Mathes!«

»Was ist denn?« frug er laut und wandte erschrocken den Kopf. Er verließ den Gemüsegarten und ging rasch gegen den Stall zu. »Was is denn?« Niemand habe ihn gerufen, sagte der Knecht. Und er hatte es doch so deutlich vernommen. Sogar die Stimme hatte er erkannt... Aber es rührte sich nichts vorn im Hause... Er wischte sich mit dem Ärmel über die feuchtgewordene Stirn, dann trat er in den Pferdestall. Die Schwalben, die in dem Stalle nisteten, flogen noch ein und aus und strichen ihm über den Kopf hin. Die Gäule mahlten still ihr Futter in den Krippen, aber sie fühlten seine Nähe und wandten die Köpfe. Er ging zwischen ihnen hin und packte jedem einen freundschaftlichen Schlag auf die wohlgepolsterte Hinterfront.

Diesen und jenen nannte er beim Namen und plauderte mit ihm. Auch den Kühen schenkte er seine Aufmerksamkeit, die schnauften ins Futter und zogen immer wieder Heu aus der Raufe oberhalb ihrer Krippen. Eine muhte den Bauer an, denn sie war die Älteste, ihr kam das zu. Unter der letzten Kuh saß noch die Stallmagd, und es rauschte Strich um Strich in den Milchsechter. Der Dunst der warmen frischen Milch stieg dem Bauern wohlig in die Nase. Die Magd aber sagte, als wollte sie sich entschuldigen, dass sie noch nicht fertig war: »Bin heunt allan gewest... Der Susi ihr Bankert is wieder do.«

»Mer scheint, sie will ani in die Gosch' häwe?« sprach der Bauer voll Zorn. »Noch so a Wart will ich häern.«

»Jessas, Jessas, des war doch nit so bös vermaant«, entschuldigte sich die Resi.

Er trat aus dem dunklen Stall hinaus in die Dämmerung des Hofes. Der Hund knurrte ihn an und schämte sich. Sinnend ging er weiter... Sein Haus war wohlbestellt, alles bog sich unter der Last der Vorräte, und morgen begann das herbstliche Anbauen für das nächste Jahr. Der Reigen war zu Ende, er begann von vorne. Immer wieder von vorne, immer wieder diese Vorbereitungen für ein nächstes Jahr. Immer wieder die Sorge um künftiges Brot. Für wen? Wozu? Er brauchte es nicht, er hatte genug... Seine Kinderstube nur war leer, sein Hof öde. Und es gab auch keinen Wörle mehr im Dorf außer ihm. Sind alle schlafen gegangen, die alten Schwarzwaldbauern. Aber er will nicht, dass das alles hier aufhöre. Er duckt sich nicht, er begehrt auf gegen eine Weltordnung, die zugibt, dass ein unnützes Weib Familien ausrottet. Warum hat der Pfarrer diese Ehe nicht trennen dürfen, solange es Zeit war? Er ballte die Faust und murmelte einen Fluch... Gott möge ihm gnädig sein, aber er hatte mit dem heimlichen Werk der Befreiung heute begonnen...

Es dunkelte schon, als der Franzl kam, den Christof abzuholen. Er hatte einen rekommandierten Brief mit Retourrezepiß für den Johann noch angebracht in Alliosch, und es war höchste Zeit, denn schon übermorgen kam der Postillon und nahm ihn mit nach Temeschwar. Und von dort würde er ja wohl bald weitergehen und den Johann in der Fremd' suchen. Die Susi zögerte ein wenig, ihm den Christof mitzugeben. Am liebsten hätte sie ihn bei sich behalten und ihren großen Buben wieder einmal mit dem Lied von Straßburg, der wunderschönen Stadt, in den Schlaf gesungen. Aber der Großvater sah das nicht gern, er wird ihn vermissen. Und so nahm sie, als sie ihm und den Franzl alle Säcke voll wällischer Nüsse gesteckt hatte, Abschied von ihm, zärtlichen Abschied, denn er kam ihr blass und matt vor, als sie ihn entließ. Der Arme war wohl schon schläfrig. Von der äußeren Gangtür noch sah sie den beiden nach und winkte ihnen zu, bis sie in der Dunkelheit des Herbstabends untertauchten.

Die Base hatte eine furchtbare Nacht. Sie klagte über Krämpfe in den Gedärmen und erbrach sich ein dutzendmal. Als ob sie von innen heraus verbrennen würde, war der Kranken. Sie habe etwas in sich, das sie zu zerreißen drohe, sagte sie. Und es bahnte sich alle möglichen Wege. Die Susi verlor beinahe den Kopf. Ob sie ihr denn ein faules Ei gegeben habe? Es müsse etwas nicht richtig sein. Hundertmal versicherte die Susi, dass alles in Ordnung gewesen sei, ihr Bub habe ja auch davon gegessen. Sie machte der Kranken warme Umschläge auf den Leib, sie kochte ihr Kamillentee, betete mit ihr und wusste nicht, sollte sie nach dem Pfarrer schicken oder nach der Kerns Kathl. Und die Stallmagd musste vor Tag auf und nach dieser laufen. Aber kaum war sie fort, trat der Franzl in die Küchentür und rief die Susi. Verweint sah er aus und übernächtigt. Sie möge nur schnell kommen, der Christof sei krank, er wäre heute Nacht beinahe gestorben.

Starr, mit entsetzten Augen, hörte sie diese Botschaft. Sie warf einen scheuen Blick nach der Tür der Hinterstube, aus der der Bauer trotz all der Unruhe, die im Hause herrschte, noch immer nicht hervorkommen wollte. Mit einem Schrei, als rief ihn das Jüngste Gericht, hätte sie ihn wecken mögen. Aber die Stimme versagte ihr, alles schwankte um sie, kaum hielt sie sich aufrecht. Und sie ließ alles liegen, wie es lag, und lief zu ihrem Kinde. »Mei Bu is schwer krank!« rief sie der Base noch zu. »Ich muss haam!« Und wartete keine Antwort ab. Sie wusste genug.

»Der Bu aa?« fuhr die Bäuerin kreischend auf. Aber sie sank wie gelähmt in ihre Kissen zurück. Eine furchtbare Ahnung erschütterte sie.

Nach einer Woche begrub man die Frau Amalia Wörle auf dem nahen Ortsfriedhof. Sie hatte sich nach dreimaligem Brauchen schon ganz recht erholt, erzählte die Kerns Kathl der Fraala, aber es kamen dann noch zwei neue Anfälle, und da wäre es aus gewesen. Alle Mittel gegen die Colik diabolus habe sie angewendet. Sie habe ihr den stärksten Branntwein, mit Rosmarin, Majoran und Melissen angesetzt, gegeben, habe zuletzt auch drei Messerspitzen Ruß vom Ofenloch, bei dem allemal der Böse hinausfahre, hinzugetan, es habe nichts mehr angegriffen. Und sie sei ganz sanft verstorben. Nach der Susi habe sie noch gefragt und sich gefreut, dass ihr Bub sich wieder erholt habe. Und weil die Susi vielleicht zu spät kommen könnte, habe sie ihr, der Kerns Kathl, ihr Gebetbuch für sie gegeben, in dem auch erspartes Geld gelegen war. Sie hätte es nicht gezählt. Wird wohl ihr Lohn gewesen sein für all die Müh und Plag. »Die war brav«, habe die Bäuerin gesagt, und das wären ihre letzten Worte gewesen.

Die Fraala hatte die Kerns Kathl nicht umsonst rufen lassen und ein bisserl ausgefragt. Es gingen allerlei böse Reden um. Die Nachbarinnen im Schwarzwald, die der Bas' Mali die Totenwache gehalten, tratschten allerlei. Auch die Anna Foltz ging zu dieser Totenwache, da sie gehört hatte, dass die Luft rein sei. Und auch die Kapellmeisterin und ihre Trudl und andere Weiber aus der Freundschaft verweilten ein paar Stunden in dem Sterbezimmer. Der Bauer, ernst und stumm, erschien einmal und reichte ihnen Wein, und die Stallmagd trug auch kaltes Essen auf. Es sei doch merkwürdig, dass die Susi nicht zugegen wäre, sagte die eine. Und dass sie das Haus so fluchtartig verlassen hatte, eine andere. Ihre kleinen Buben hätten doch auch manchmal Bauchweh, wenn sie was Unrechtes gegessen hätten. Wenn man solche Geschichten machen wollte... »'s wär halt schad' gewesen um den Bankert«, sagte die Kapellmeisterin. Und die Anna kam auf den ganz merkwürdigen Zusammenhang zwischen der Kolik dahie und der Kolik da drüben in Neurosenthal. Der Bub war ja am Abend da bei ihr zu Besuch. Merkwürdig! Merkwürdig! »Wenn die da reden könnt'!« sagte sie und deutete nach der Toten.

Und die Nacht war lang. Es wurde noch viel geredet. »Ich will gar nix g'sagt häwe«, sagte die eine beim Auseinandergehen. »M'r könnt sich allerlei denke«, eine andere. »Und wann ma den Wörle anguckt, der muss was wisse«, flüsterte eine dritte. »Und die Tote? Ganz grün is se schun.«

Dieses Geklatsche sickerte weiter und weiter im Dorf. Die Susi war zum Leichenbegängnis gekommen, und die Späherinnen hatten entdeckt, dass alle dem Bauer die Hand reichten und ein Wort des Trostes sagten, nur sie nicht. Gerade sie wich ihm aus. Es musste etwas gegeben haben zwischen ihnen, es musste etwas nicht stimmen. Ein Geheimnis lag über diesem Grabe. Und sie spürten mit Eifer danach. Eine Dorfkrämerin, die von dem Klatsche hörte, sann auch darüber nach. Zweimal hatte die Susi »Mückagift« bei ihr gekauft in der letzten Zeit. Wer braucht im Oktober Mückagift? Das unbedachte Wort flog von Mund zu Mund, niemand dachte daran, dass man in einer Krankenstube vielleicht doch auch im Oktober Fliegengift nötig habe, und ob man damit wohl einem Menschenschaden könne. Es war ausgemacht, die Susi wollte Bäuerin werden, es dauerte ihr aber zu lang, und da hätte sie es den Walachinnen wohl nachgemacht, von denen man so viel geredet habe - und die Bas' Mali weggeräumt. Und wer weiß, ob sie nicht auch ihren Buben weghaben wollte? Es ging schon in einem: die bösen Mäuler, die einmal in Bewegung gesetzt waren, scheuten vor nichts mehr zurück.

Die Susi lebte ahnungslos im Hause der Eltern. Sie hatte ihren Buben mit allen Mitteln mütterlicher Pflege wieder herausgerissen, aber blass und kränklich war er geblieben, ganz überwunden schien der Anfall nicht. Und sie dankte Gott wie für ein Wunder, dass es so ablief. Sie konnte sich's nicht erklären. Nur ein Zufall konnte rettend eingegriffen haben bei der Aufteilung des Essens. Führte ein Engel ihre Hand? Es musste wohl so gewesen sein. »Sag mer um Gottes wille, was d'e hin zu essa gegewa hoscht?« fragte die Mutter voller Bestürzung, als sie heim kann. »Eier? Eier? Do muss jo a stinketes drunner gewest sein. Er ist wie vergift!« rief sie.

Das Wort traf Susi wie ein Schuss. Sie fiel am Bette ihres Kindes nieder und griff nach dessen heißen Händen. Ja, ja, ja, das war es. Der Fürchterliche hatte seine Drohung wahrgemacht. Er musste ihr etwas in die Pfanne geworfen haben, als sie den Christof begrüßte. Und dann verschwand er so auffällig. Ja, ja, ja, die Mutter sprach das richtige Wort. Es konnte nichts anderes gewesen sein. Nie wieder wollte sie zu dem Satan zurück, nichts mehr hören wollte sie von seinen Liebeswerbungen, seinen Zukunftsplänen, wenn sie nur ihr Kind rettete. Bäuerin werden um solchen Preis? Mit einem Mann leben, der so etwas tun konnte? Nie, nie, nie!

Ihre Verstörung all die Tage war groß. Kein Wort sprach sie über die Vorgänge im Hause der Bas' Mali, sie hütete sich, von deren gleichzeitiger Erkrankung etwas zu erzählen. Und sie hoffte im stillen, dass auch dort alles vorübergehen und der Bauer sich's recht gut überlegen würde, einen zweiten Versuch zu machen. Seinem Rufe zurückzukehren, folgte sie nicht. Sie scheute sich, den hellen Augen der Bäuerin so bald wieder zu begegnen, denn sie hätte das Fürchterliche, um das sie wusste, vor ihnen nicht verheimlichen können. Wusste? Einen Beweis dafür hatte sie nicht. Aber wenn sie an seine bösen Reden dachte, an seine Drohungen - es konnte nicht anders sein.

Auch Mutter und Vater verlangten, dass sie hinübergehe, als die weiteren Anfälle bekannt wurden, aber sie ging nicht. Sie gehe von ihrem Kinde nicht mehr fort. Und helfen könne sie ihr auch nicht. Erst als man das Zügenglöcklein für die Bäuerin läutete, brach sich ihr unverständlicher Trotz. Sie weinte und schluchzte, als wäre ihr das Liebste auf Erden gestorben. Aber auch jetzt ging sie nicht hinüber. Die Mutter musste gehen, damit kein Gerede entstand, und sehen, ob sie dem Manne helfen könne, denn die Susi wäre ganz krank von allem, was sie durchgemacht. Er benötigte sie nicht, die Kerns Kahl war da. Und sie schickte der Susi das Gebetbuch der Verstorbenen und deren letzte Grüße. Das wirkte wie eine himmlische Labe auf das Gemüt der Gemarterten. Es war ein Gruß aus fernen Höhen... Sie starb und war nicht irre geworden an ihr. Sie mit ihren scharfen Augen, mit ihrem wachen Misstrauen, sie musste erkannt haben, was um sie vorging. Dass die dahinging und an ihre Schuldlosigkeit glaubte, das erquickte sie tief.

Es war nicht gut, dass sie auch der Totenwache fernblieb, sie hätte sich allen zeigen müssen. Und ihre Gegenwart würde so manche andere verhindert haben, zu verweilen, es hätte kein Wort über sie gesprochen werden können in diesen nächtlichen Stunden. Aber sie gewann es nicht über sich. Sie wollte dem Bauer nicht mehr begegnen, wollte nicht Zeuge der erheuchelten Trauer sein, mit der er die Gäste der Toten bewirten würde. Nur zum Begräbnis am hellen Tage ging sie hin. Und sie trug das Gebetbuch der Base in ihren Händen. Ihr war wohl so, als zischten ein paar Schlangen neben und hinter ihr, aber das geschah vielleicht, weil sie sich seit Jahren zum erstenmal wieder an einem Orte sehen ließ, an dem sich die ganze Gemeinde versammelt hatte. Lebte sie doch wie eine Ausgestoßene. Aufrecht ging sie durch die Gasse der Weiber und streute ihrer lieben Toten drei Schäufelchen Erde auf den Sarg. Sie tat es mit reinen Händen.


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