Guttenbrunn
Meister Jakob und seine Kinder
Guttenbrunn

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XIII.

Das Erntefieber brach aus, und alles andere versank. Sommer und Winter gingen hin, das große Tagewerk erneuerte sich immer wieder, und die Menschen keuchten unter seiner Last. Was war der Inhalt ihres Lebens? Arbeit, Arbeit, Arbeit! »Schaffen« nennen sie es. Schaffen! Ja, es war ein Bodensatz schöpferischen Vermögens in dieser Riesenarbeit. Man schaffte nicht nur um sich satt zu essen, das vollbrachte Werk ging weit darüber hinaus. Es verankerte ein Volk auf eigener Erde. Jedes Dorf schuf sich hier sein eigenes Deutschland, jedes war eine Welt, in der Tausende ihren Daseinskreis vollendeten, als lebten sie am Rhein oder in Schwaben. Niemand blickte mehr hinter sich, die Fäden, die zur Urheimat führten, waren in hundertundfünfzig Jahren langsam verloren gegangen, und jedes neue Geschlecht trieb seine Wurzeln tiefer in das Erdreich. In die Breite und in die Tiefe wuchs es, aber nicht in die Höhe. Fest klammerten sie sich an die Scholle, gierig stillten sie ihren Feldhunger, an ihrem bäuerlichen Wohlstand bauten sie mit allem Fleiß, aber von Idealen wussten sie nichts; der geistige Zustrom aus einer Nation fehlte ihnen, der Spiegel ihrer Ahnen. Und die wenigen, die einen Mangel in ihrem Leben fühlten, wussten nicht, was das wäre, das Inselhafte ihres Daseins kam ihnen nicht zum Bewußtsein. Ein Hauch von höheren Zielen hatte sie aus der unvergessenen Kirweihpredigt des Pfarrers von Bogarosch angeweht, ein neuer Luftstrom hatte die zwölf Apostel auf ihrer Fahrt nach Temeschwar gestreift, aber es verflüchtigte sich alles wieder. Der Same, dem keinem Regen, dem kein Tropfen Tau zu Hilfe kam, ging nicht auf, die Räder liefen über ihn hinweg. Der junge Oberlehrer Heckmann bebaute ja ein Stück Poesie im Kirchengesang, und was er allsonntäglich in die Orgel legte, das stieg himmelan. Die Poesie der alten Liederbücher blühte in jeder Spinnreih auf, und in Sitte und Brauch lebte uraltes deutsches Volksgut. Aber nichts, was darüber hinausging, machte sich fühlbar. Arbeit, Arbeit, Arbeit! Gab es noch etwas anderes in der Welt? Niemand sagte es ihnen. Von keinem wurde eine Handlung anderer Art erwartet oder ein Opfer gefordert für irgendein gemeinnütziges Werk. Wohl ging am Sonntag in der Kirche ein Klingelbeutel um und störte die Andacht, aber die Herzen öffnete niemand, die blieben zu. Nicht einmal Dorfarme gab es, für die die Gemeinde hätte Sorge tragen müssen. Der die Lilien auf dem Felde kleidet, der deckte jedem Schwaben sein Dach und füllte alle Speisekammern. Aber schaffen musste er können, schaffen, schaffen, schaffen. Selbst die Brüder von der Walze, die Fechtbrüder, mieden die reichen Schwabendörfer, denn man gab ihnen nichts umsonst, man forderte sie auf, mitzuschaffen. Und da liefen sie lieber meilenweit, denn sie wussten, was die Schwaben unter Schaffen verstanden. Und die Walachen und Serben Wussten es auch. Sie redeten nur vom deutschen Arbeitswahnsinn, er war eine Geißel für all die Halborientalen. Und wo er in ihre Dörfer eindrang, ergriffen sie alsbald die Flucht.

Der Meister Jakob erzählte abends bei Tisch von einem Dorfe in der Bergsau. Eine Holzreise hatte ihn wieder einmal dahin geführt, denn wo die Deutschen Dorf an Dorf hausten, da gab es keine ordentlichen Wälder mehr, da wurde alles niedergepflügt, Wagner und Fassbinder und Schreiner mussten immer weiter fahren um ihre Hölzer. Vor zwanzig Jahren, sagte er, gab es dort kaum zwei schwäbische Familien, heute sei die Gemeinde fast ganz deutsch. Die wenigen Walachen, die zurückgeblieben, seien Hirten und Ziegelschläger der Deutschen geworden. Und schon genügte den Schwaben der eroberte Boden nicht mehr, sie gehen an die umliegenden Urwälder heran und legen sie nieder. Freilich seien sie gescheiter als die Altvorderen, sie kaufen das Joch Wald um hundert Gulden, auf Zehent lasse sich keiner mehr ein. Aber wenn das so weitergehe, werde man bald nach Siebenbürgen hinaufreisen müssen, wenn man Wagnerholz brauche.

Der Philipp, der mit der Anmerich auf einen abendlichen Plausch gekommen war, sagte: »Des g'fällt m'r von dena Bergsauer Schwobe. Nar so weiter! Und wann's Holz all 'is, spanne mer halt ein und fahre uf Siwaberga. Des Land do im Banat, des brauche mer far Brot! `s Holz kann jo dort wachse, wo nix annerscht wächscht, in de Berge. Und wann m'r ainol Eisebahne kriege...«

»Wann! wann! Des wird noch dauern, maan ich!« erwiderte der Meister. »Jetzt baue se endlich an einer über Szegedin und Temeschwar. Bis an uns die Reih kummt, leb ich nit mehr.«

»Oho, Vatter! Oho! Heuntzutag geiht alles g'schwinder. Mer scheint, der junge Kaiser treibt an. Der Grof hot gaguckt, dass ehm vom G'richt jetzt der Beweis aufgatrage worde is, dass unser alt’ Gebetbuch nit lügt. So a Prozess hätt' früher amol fufzig Jahr gedauert.«

»Na, na, der eure is aa no nit aus«, bemerkte der Meister. »Der Grof hat jetzt `s Wort.«

»Gar nix werd er beweise könne, sagt sei Verwalter, und über's Jahr kriegt er kein Zehent mehr. Von uns nit!« rief der Philipp.

»Pscht!« machte die Anmerich, die an das Bett des kleinen Christof getreten war, das hinter dem Ofen stand. »Du weckscht jo de Bu uf«, sagte sie vorwurfsvoll. Und sie ordnete sein Lager, da er sich abgedeckt hatte. Dabei fuhr sie ihm leise über den blonden Kopf.

»Na, er soll nar zuhorche. Erfahrt er beizeite, wie's in der Welt hergeiht«, erwiderte Philipp mit gedämpfter Stimme.

»Du Hans Narr«, sprach die Anmerich lachend und kehrte zum Tisch zurück. Und sie erzählte der Mutter Eva, was er mit ihrer kleinen Bärbl alles treibe und rede. Als ob sie schon sechs Jahre alt wäre. »Na wart nur, bis d' an Bu hoscht! Mit dem wer ich beizeite deutsch rede!« scherzte er. Und dann erkundigte er sich nach der Susi. Wie es ihr denn gehe. Man sehe sie gar nicht mehr.

»Die kimmt jede Sunntag namittag«, sagte die Mutter Eva. »Manchmal aa unner der Woch'. Und do hängt sich der Bu an sie und will se nit fartlosse. Sie konn immer erscht geihn, wann er eig'schlofa is. Und immer git's halt nasse Aage.«

Meister Jakob sog an seiner Pfeife und sagte barsch: »Kein Mensch hot's ihr g'schafft, dass sie in Schwarzwald geiht.«

»Na ja, sie will halt was verdiene far ihr Kind«, sagte die Mutter. »Und wann die Leut' so bedeln um sie... Es geiht ihr recht gut bei der Bas' Mali. Nix fehlt ihr wie der Bu.«

»Des konn ich mer denka«, sagte Anmerich.

»Denkt euch und redet, was ihr wollt, der Bub bleibt hier.« Meister Jakob sagte dass so bestimmt, dass es eine Erwiderung darauf nicht gab. Frau Eva hinkte aber doch noch mit der Erklärung nach, dass auch sie den kleinen Christof nicht hergebe.

»Des wär mir das Rechte«, begann der Vater nach einer Weile noch einmal, »wenn der Bu dort aufwachse tät und seine Kamerade uf der Gass ihm täglich des Haus von sei'm Vatter weise möchte. Soll des Kind dort verspott't und verschimpft werde wie sei Motter? Soll es sich so frühe Gedanke mache müsse über die Niederträchtigkeit der Welt? Des hot keine Eil. Des kimmt von selber.«

»Dass der Luckhaup so g'schwind g'haiert hot, des war a bös's Stückl«, sagte der Philipp.

»Und dart sitze se jetzt, drei Häuser vuneinander, sehe sich täglich und trutze sich gegeseitig was uf. Dadraus konn nix Gutes entstehe, des sag ich und dabei bleib ich«, sprach die Anmerich.

Der Vater sah sie groß an. »Du sprichst meine Gedanke aus. Es konn zu nix Gutem führe.«

»Macht mer de Kopp nit warm!« wehrte die Frau Eva ab. »Die Susi hot amol Lehrgeld gezahlt, sie is g'scheit ganung.«

Der kleine Christof weinte im Schlaf auf, als habe ihm ein Traumbild verraten, was da von seiner Mutter geredet wurde, und die Großmutter ging sogleich zu ihm hin. Das Kind warf sich mit einem tiefen Seufzer auf die andere Seite und schlief weiter.

Meister Jakob aber beschloss im stillen, die Susi zur Heimkehr aufzufordern. Hatte sich doch der Stefan Jäger, einst sein Lehrling, jetzt ein junger Meister aus seiner Zunft, bei ihm um sie beworben. Er war plötzlich Witwer geworden und stand mit zwei Kindern ohne Weib da. Aber die Susi wollte nichts davon hören, in ihr kochte und brodelte noch das große Erlebnis. Aber das wird sich ja endlich doch ausgetobt haben. Und da winkte ein Hafen für sie. Er wollte das nicht aus dem Auge lassen.

Und ehe die Susi am nächsten Sonntag wieder kam, besprach er die Sache mit der Frau Eva noch einmal. Er wundere sich sehr, dass sie als Mutter nicht mit beiden Händen nach dem schönen Angebot gegriffen habe für das Mädel, das ja nun doch einmal verschimpflert sei.

Sie zuckte die Achseln und wusch und putzte den kleinen Christof, damit er recht sauber wäre, wenn die Susi käme. Und er pappelte lustig in die Rede des Großvaters hinein, die er nicht verstand. Dieser rühmte den jungen Meister mit Eifer. Er war in der Fremde, war ein gewitzter Mann geworden, verstehe sein Handwerk aus dem ff und mache drüben in Altrosenthal die besten Wagen. Von dem könne mancher noch etwas lernen. Und er habe Haus und Hof in der Hauptstraße, habe durch seine verstorbene Frau eine kleine Bauernwirtschaft mitbekommen und stehe sich am besten von allen Gewerbsleuten im ganzen Dorf. »Was is denn einzuwende gege den Stefan? So red' doch endlich!« schloss er schon gereizt durch ihr hartnäckiges Schweigen.

Die Großmutter ließ ihren Christof endlich laufen, denn er strebte in den Hof hinaus. Er wusste, dass die Mutter kommen solle.

Was sie gegen den Stefan habe? Gar nichts. Aber sie könne der Susi nicht unrecht geben. Zuerst einmal sei sie mit dem, was sie durchgemacht, noch nicht fertig. Das gehe bei einem ehrlichen Mädchen nicht so geschwind wie bei den Männern. Die nähmen auch solche Sachen auf die leichte Achsel. Die schwerere Last trage allemal das Weib, und manche verwinde so etwas in ihrem ganzen Leben nicht. Man müsse der Susi also Zeit lassen. Wenn sie der Jäger will, kann er ja warten auf sie. Es werde sie ihm keiner wegnehmen.

»Warten! Warten! Er hat eine Wirtschaft, hat zwei Kinder und braucht ein Weib im Haus und eine Mutter«, erwiderte der Meister.

Und darauf hatte die Frau Eva gar vieles zu erwidern. Das wäre ja das eigentliche Hindernis, meinte sie. Er habe zwei Kinder, sie habe eines, und die weiteren würden nicht ausbleiben. Ob er sich denn vorstellen könne, was das wäre, was das bedeute. Dreierlei Kinder in einem Haus! Die Frau müsse ein Engel sein, die sich da hineinfinde, die es da allen recht machen könne. Und nicht nur dreierlei Kinder, auch dreierlei Vermögen. Und dreierlei Verwandte, die in diese Wirtschaft hineinreden möchten, die darüber wachen werden, ob es auch mit rechten Dingen zugehe. Und der Waisenvater werde auch die Nase drin haben wollen in allem. Dass die Susi das alles bedacht habe, das glaubte die Mutter nicht, aber es sei sehr klug gewesen von ihr, da nicht gleich hineinzuspringen. Dazu sei sie noch viel zu jung und unerfahren. Und sie riet dem Vater, ihr Zeit zu lassen, sie nicht zu nötigen und nicht zu überreden. Die Verantwortung wäre zu groß... Und was zutiefst in ihr dagegen sprach, das sagte sie nicht. Immer wieder erinnerte sie sich an die Worte der Bas' Mali... Die ferne Aussicht, ihre Nachfolgerin zu werden, war für die Susi noch immer vorhanden. Nur reden durfte man davon nicht. Auch der Susi hatte sie es niemals angedeutet.

Den gescheiten Einwänden seiner Frau konnte sich der Meister nicht entziehen, wenn er auch meinte, bei so kleinen Kindern - das älteste des Jäger zählte erst vier Jahre - könnte ein vernünftiges Elternpaar wohl fertig werden mit allen Schwierigkeiten. Die Sache werde erst schwierig, wenn sie ein paar Jahre verschoben würde.

Und als die Susi jetzt mit ihrem Buben kam, den sie in vorgeneigter Haltung zärtlich an der Hand führte, verstummte das Gespräch der Eltern. Sie hatte sich wieder ein paar Stunden freigemacht, um Mutter sein zu können. Und sie tollte mit dem Christof, sobald sie die Eltern begrüßt hatte, in Hof und Garten herum, plauderte und scherzte mit ihm wie ein Spielkamerad. So gut verstand das niemand. Nicht einmal der Franzl, der sich dem Kleinen oft widmete und der ihn schon einmal sogar hinüber in den Schwarzwald zu Besuch brachte, weil die Susi die kranke Bas' Mali nicht verlassen durfte.

Der Vater folgte der Susi in den Garten. Und da sagte er ihr, dass er es gern gesehen hätte, dass sie mit dem Buben einmal die Anmerich besuche, die immer einen so guten Einfluss auf sie ausübte.

»Die zwei beklage sich schon«, sagte er, »dass sie dich gar nit mehr sehe.«

Aber sie schüttelte den Kopf. Da habe sie doch gar nichts von ihrem Kind, wenn sie zu anderen Leuten mit ihm gehe. Die Anmerich solle halt selber einmal kommen mit ihrem Mann. Susi vermied es ängstlich, sich mit ihrem Buben öffentlich zu zeigen. Und der Weg zur Anmerich, an einem Sonntagnachmittag, wo alles plaudernd vor den Häusern saß, wäre ja ein Spießrutenlaufen ohne Ende gewesen. Nein nein, das bedachte der Vater nicht. Sie war zur Vesperzeit durch das Tal im Fluge herübergewischt, und zur Zeit der Dämmerung ging sie wieder heim. Daneben keinen Schritt. Der Vater verstand sie ganz gut, er hätte nur gewünscht, dass sich die Schwestern einmal gründlich aussprächen. Was die Anmerich neulich äußerte, das konnte der Susi niemand anders beibringen, das musste die ihr selber sagen, sie musste es ihr so offen ins Gesicht sagen, wie sie es hier getan. Aber ganz enthalten konnte er sich doch nicht der Bemerkung, dass man sie im Haus entbehre, das zuviel Arbeit auf der Mutter liege, und dass sie daran denken möchte, zu Neujahr wieder heimzukehren.

Sie aber meinte, das würde wohl kaum gehen. Die Bas' Mali habe über ein Jahr auf sie gewartet, sie sei indessen immer elender geworden und könne jetzt ohne Pflege gar nicht mehr sein. Das brächte die Frau um. Sie werde es ja ohnehin nicht mehr lange treiben.

Da schwieg der Vater und überließ sie dem Spiel mit dem Kinde.

Und als die Dämmerung ihre grauen Fäden über Hof und Garten wob, da brachte die Susi ihren müdegehetzten Kleinen ins Haus, entkleidete ihn, wusch ihm den Staub aus dem hellen Bubengesicht und brachte ihn unter tausend Küssen zu Bett. Und sie sang ihn in den Schlaf.

Nun schlaf mein liebes Bübelein

Und mach deine Äuglein zu.

Denn Gott, der will dein Vater sein,

Drum schlaf in guter Ruh.

Dein Vater ist der liebe Gott

Und wird's auch ewig sein,

Der Leib und Seel dir geben hat

Wohl durch die Mutter dein.

Er schickt dir auch die Engelein

Zu Hütern Tag und Nacht,

Dass sie bei deinen Bette sein

Und halten gute Wacht.

Schluchzend lag ihr Kopf auf den Kissen des Kindes, mit Tränen netzte sie sein Gesicht. Und der Bub schlang seine Ärmchen um den Hals der Mutter und küsste sie. Dieses Lied war immer das erste, das sie sang, aber er liebte dessen trübe Weise nicht, weil die Mutter zu letzt immer so weinte. Er verlangte »Traßburg«. Und noch im Halbschlaf, wenn der Gesang aussetzen wollte, lispelte er bittend: »Traßburg singe.« Und die Mutter sang ihm so lange

O Straßburg, o Straßburg,

Du wunderschöne Stadt!

bis er völlig eingeschlafen war.

Als die Susi nach einer halben Stunde aus dem Zimmer kam und sich die Augen wischte, sagte die Großmutter: »Wie du mer den Bu verwöhnscht! Was des immer far a Arweit koscht, ihn einzuschläfern. All' müssa mer Straßburg singa, die Kathl, der Franzl, ich oder der Großvater. Annerscht tut er's nit.«

Stumm drückte die Susi ihrer Mutter die Hand und eilte fort.


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