Tagebücher 1910-1924
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Nachwort

Im Nachlaß Erich Mühsams findet sich ein verschlissenes Notizbüchlein von 1891, betitelt ›Tagebuch für meinen Aufenthalt in Sylt‹. In ungelenker Schülerschrift trug der Dreizehnjährige ein, was ihm festhaltenswert erschien: die Bahnstationen auf der Fahrt von Lübeck nach Sylt, die Gänge der (damals überaus üppigen) Mahlzeiten, das Exerzieren am Strand, die Streitereien mit dem großen Bruder und die Strafen, die es dafür setzte. Neunzehn Jahre später fand er wieder Muße, ein Tagebuch zu beginnen, als er wegen des Verdachts der Geheimbündelei in Berlin-Charlottenburg zur Untersuchungshaft einsaß. Seine Erlebnisse sind nachzulesen in den ersten Nummern der Zeitschrift ›Kain‹ (»Mitarbeit dankend verbeten!«). Ein Taugenichts hatte in München eine harmlose Sprengstoffkapsel hochgehen lassen und sich beim Verhör auf den Agitator Mühsam und dessen ›Gruppe Tat‹ berufen. Mühsam reagierte dankbar auf das behördliche Interesse an seiner Person; litt er doch eher darunter, daß die Staatsgewalt, die er als Wurzel allen Übels betrachtete und mit immer neuen Attacken herausforderte, ihn nach Möglichkeit ignorierte.

Der dritte Beginn eines Tagebuches wenig später, im August 1910, leitete eine neue Lebensperiode Mühsams ein. Mit der täglichen Rechenschaft unterstellte er seine spontanen und disparaten Antriebe einer gewissen Selbstkontrolle, nachdem er jahrelang seiner Definition eines Bohemiens (in der Broschüre ›Ascona‹, 1905) gefolgt war als einer, der »drauf losgeht ins Leben, mit dem Zufall experimentiert, mit dem Augenblick Fangball spielt und der allzeit gegenwärtigen Ewigkeit sich verschwistert«. Zwar hatte er sich schon als Dichter, Publizist und Agitator einen Namen gemacht, doch das Herumreisen, die wirre Projektemacherei, die zahllosen Freund- und Liebschaften, die gewollte Planlosigkeit seines Beginnens – all das vertrug sich nicht länger mit seiner anarchistischen Sendung. Als Bohemien mochte er sich selbst genügen; als Anarchist jedoch war er einer Idee verschworen, die ihn ganz forderte, mit allem, was er tat. Statt sich aber einem strengen Regime zu unterwerfen, blieb er, wie er war, mit dem Unterschied, daß er nun mit Hilfe des Tagebuchs die ganze Fülle seines Erlebens und Tuns zur Konfession einer anarchistischen Lebensgestaltung bündelte.

Daß vieles von dem, was er niederschrieb, keineswegs ins Bild einer von ihrer Mission durchdrungenen Persönlichkeit paßte, störte ihn wenig. Im Gegenteil: Mühsam genoß es, die ihm aufgedrückten Lebensmuster zu durchkreuzen und seine vitalen Bedürfnisse zum Maßstab einer »experimentellen« Moral zu machen. Sich vom Korsett der bürgerlichen Konventionen zu befreien, konnte zur Haltlosigkeit führen, zum anderen aber auch dem Nachweis dienen, daß die wahre soziale Vernunft nicht aus der herrschenden Moral, sondern aus dem menschlichen Wesenskern eines jeden Individuums erwachsen muß.

Mühsam entwarf kein abstraktes Bild des anarchistischen Zukunftsmenschen. Er tat etwas viel Mutigeres, indem er es an sich selbst ausprobierte – mit der Ungeduld des Entdeckers, dem Sendungsbewußtsein des Künstlers und der Fehlbarkeit eines Menschen, der ganz auf seine natürliche Sinnlichkeit vertraut, ohne sich über deren soziale Vorprägung immer im klaren zu sein.

Man kann im Tagebuch gut verfolgen, wie er sich im Lauf der Jahre allmählich, wenn auch nicht gänzlich, von den Schlacken unreflektierter Verhaltensmuster befreite – von einer durch Nietzsche inspirierten Misogynie und ähnlichen Marotten, die das Resultat einer spiegelverkehrt gewendeten Spießermoral darstellten.

Nach eigenem Bekennen war Mühsam »schon Anarchist, bevor ich wußte, was Anarchismus ist«. Mit 22 Jahren und dem Beginn des neuen Jahrhunderts entfloh er dem aufgezwungenen Apothekerberuf in die brotlose, aber freie Existenz des Schriftstellers. Das rauhe Klima der explosiv wachsenden Reichshauptstadt bedeutete dem Lübecker keine Heimat, dafür aber die Begegnung mit bewunderten Dichtern wie Peter Hille oder Paul Scheerbart – und mit Gustav Landauer, der ihm die Zügel anarchistischer Disziplin und Gelehrsamkeit anlegte. Mühsam lernte willig, doch mit Vaterfiguren hatte er seine Schwierigkeiten. Viel lieber ging er in die Bohemekneipen des Berliner Westens, deren bereits ergrautes Stammpublikum er mit seinem Diskussionseifer, seinem sarkastischen Witz und seinem Tatendrang aus der Lethargie riß. Der schmächtige Jüngling in der altväterlichen Garderobe, mit unruhevoll bohrendem Blick, wild wucherndem Haar, mit Zigarre, Kneifer und Spazierstock bewaffnet, eine wandelnde Parodie auf den deutschen Spießer, machte sein Erscheinen in der Öffentlichkeit zum Auftritt. Er genoß das Aufsehen, das er erregte, und benutzte es, um sich geltend zu machen: als Bürgerschreck für die einen, als liebenswert-skurrile Verkörperung der Boheme für die anderen. Noch bevor das Kabarett in Mode kam, gab Mühsam zu später Stunde frivole Verse zum besten, improvisierte er Schüttelreime und machte sich lustig über Kaiser und Reich. Hinterher ließ er die Revoluzzermütze kreisen, um die Zeche aufzubringen.

Doch die clowneske Umtriebigkeit war nur die Spielform einer ernsten und durchaus auch schmerzlichen Passion: Er suchte Freunde und Gleichgesinnte, um in seinem Kampf gegen eine Wirklichkeit, die er von Grund auf als falsch empfand, nicht ganz allein zu bleiben. Ab 1903 stand er unter Polizeiaufsicht; Spitzel folgten ihm auf Schritt und Tritt, und manches aufreizende Flugblatt aus seiner Hand beschäftigte die Justiz. Der Vater mußte dann die Strafbefehle bezahlen.

Mühsams Clinch mit der Macht hat eine Vorgeschichte, die in die Kinderstube zurückreicht und ihn nie ganz aus ihr entließ. Er mußte einfach provozieren und protestieren, denn Autoritäten, die ihn auf seine Untertanenrolle verwiesen, konnte er nicht ertragen. Ungerechtigkeit, Zurücksetzung, die arrogante Rechthaberei der Mächtigen, das waren frühe Demütigungen, die er in der gesellschaftlichen Hierarchie des Kaiserreichs wiederfand und die ihn immer von neuem empörten. Mühsam stritt für die sozial Benachteiligten, weil er mit ihnen litt, er haßte die Staatsgewalt wie die Erziehungsgewalt seines Vaters, aber mehr noch haßte er die Sozialdemokratie, die sich, statt zum Sturm zu blasen, immer offenkundiger dazu hergab, den rebellischen Geist der Ausgebeuteten zu bändigen und in staatsfromme Bahnen zu lenken. »Einmal... vertraute ich – nur in Andeutungen – meiner Mutter, wie ehrgeizig ich sei, und mir schien damals, als verstände sie mich und glaubte mir. Aber sie war eine schwache Frau, und der Vater führte unbedingtes Regiment im Hause und war ihr selbst absolute Autorität...«

Die Sehnsucht nach der Mutter (sie starb, als er neunzehn war) blieb ihm erhalten, wohl auch die Enttäuschung, daß das einzige Wesen, das ihm in der Kindheit nahe war, nicht ihm, sondern dem Vater gehorchte – wie all die Proletarier, die er zur Rebellion führen wollte und die dann doch wählen gingen.

Diese scharfe Ausprägung zeittypischer ödipaler Verstrickungen wäre nicht der Erwähnung wert, hätte Mühsam nicht etwas ganz Besonderes, ja Einzigartiges daraus gemacht. Den Clown spielte er nur aus Verzweiflung, wenn nichts anderes mehr aus seinen Attacken zu machen war. Als Anarchist wollte er mehr, und zwar alles: Eine Welt des friedlichen Miteinanders, ohne Herren und Knechte, ohne Feldwebel und Rekruten. Als Anarchist – und das wußte er stets – haßte er aus Liebe.

Mit schäumender Rhetorik die Hackordnung der sozialen Hierarchie anzuprangern, wie es viele Anarchisten vor ihm getan hatten, befriedigte ihn nicht. Wie Landauer in der Gelehrtenstube von der Gründung anarchistischer Siedlungen zu träumen, lag ihm nicht. Mühsam mußte mitten im Leben sein, dort, wo es am buntesten zuging, wo es gärte und brodelte und das verhaßte System seine Schwachstellen offenbarte. Dort konnte er den Anarchismus, statt ihn in trockene Theorien zu kleiden und auf eine ferne Zukunft zu verschieben, mit Herz und Sinnen praktizieren, schon jetzt, als gelebtes Vorbild für alle, in denen noch ein Funke war.

Während die deutschen Expressionisten die bevorstehende Weltwende mit ihren Schrecken und neuen Hoffnungen in künstlerischer Gestalt vorwegnahmen, betrachtete Mühsam seine Dichtung lediglich als Vehikel der Entäußerung seines Fühlens und Meinens; die künstlerische Gestalt war er selbst. Folgerichtig bemängelte er an den minderen Leistungen seiner expressionistischen Dichterkollegen den Hang zu Pose, zum modisch Aufgedrehten. Umgekehrt wurde der tatenfrohe Mühsam von Johannes R. Becher als kurios belächelt, weil er leibhaftig den »Neuen Menschen« verkörperte, dem Becher eine Existenz nur in Versen zugestehen konnte.

Sicher, Mühsam war zu früh geboren, als daß er noch in die künstlerische Avantgarde hätte hineinwachsen können. Aber hinter dem Habitus des anarchistischen Tendenzdichters aus dem 19. Jahrhundert verbirgt sich der radikale Entwurf einer poetischen Existenz, der seine eigentliche, bis heute nicht übertroffene, geschweige denn erkannte revolutionäre Leistung darstellt. Die ins Lebendige gewandte Verwirklichung der ästhetischen Vision blieb Utopie, ein schöner Traum, den man den Zwängen des Hier und Jetzt zum Opfer bringen muß. Nur Mühsam ließ sich nicht verdrießen, er tat im Vertrauen auf die Wahrhaftigkeit und Gesundheit seiner Empfindungen, was ihm spontan geboten schien, und nahm die Konsequenzen gelassen in Kauf. »Ich kann sagen, daß ich immer für meine Ideale, nie aber von meinen Idealen gelebt habe.«

So, wie seine Dichtungen heute der Gestalt ihres Hervorbringers bedürfen, um ihren eigentümlichen Reiz zu entfalten, so ist sein ganzes Lebenswerk nicht am vorzeigbaren Ertrag zu ermessen, sondern an der exemplarischen Identität von Fühlen und Denken, von Wollen und Tun. Zur Größe war er nicht verpflichtet, nur zur Echtheit, und das war zugleich die Forderung, die er jedem zumuten konnte.

Viele seiner auffälligen Eigenschaften erklären sich aus diesem messianischen Ethos, das er nie reflektierte: Es war ihm eine zugewachsene Lebensnotwendigkeit – und eine äußerst praktische Methode, die kleinen Sünden des Ehrgeizes, der Eitelkeit und der Selbstgerechtigkeit leichten Gewissens gewähren zu lassen. Wie anders auch hätte er den Alleingang gegen die Macht der Verhältnisse bestehen sollen? »Immer, wenn man mich einen Don Quichote nannte, wußte ich, daß ich auf dem rechten Wege bin.«

Während die Sozialdemokratie ihre Anhänger auf eine politische Doktrin verpflichtete und daraus ihre organisatorische Stärke bezog, bekannte die sich Mühsam zum radikalen Individualismus, und das aus guten Gründen: Den Anweisungen einer Führung aus Disziplin zu folgen, empfand er als Selbstverrat, der als Massenerscheinung zu Machtmißbrauch und jener Korruptheit führte, die alle politischen Organismen von innen her zerfraß. »Sich fügen heißt lügen« lautet der Refrain eines seiner Gedichte aus der Festungshaft. Das Schicksal, das er dem diktatorischen Kommunismus prophezeite, hat sich tatsächlich erfüllt – 55 Jahre nach seinem Tod. Allerdings knüpfte er seine Einsicht in die Unvereinbarkeit von Politik und Ethik an den festen Glauben, daß aus dem Zusammenbruch der Alten Welt ein Neuer Mensch hervorgehen müsse: Schließlich hatte der 1. Weltkrieg mit Nachdruck demonstriert, zu welchen Konsequenzen die politische Moral des Kapitalismus führte.

Für die Beseitigung des instituionalisierten Unrechts stand Bakunin mit seiner »Philosophie der Tat«, für die Errichtung einer naturwüchsig-harmonischen Sozialordnung bürgte Kropotkin mit seiner These, daß der Mensch, einmal aus der kapitalistischen Ausbeuterordnung entlassen, gutartig sei, und für die geistig-religiöse Orientierung an den positiven Werten der Menschheitskultur gab Gustav Landauer ein Vorbild.

Mühsam, jeder theoretischen Begriffsanstrengung abhold, entdeckte in den Lehren seiner Vorgänger nicht mehr und nicht weniger als die Bestätigung seiner Wesensart als lebenslustiger, kultivierter und grundgütiger Rebell. Der Einklang von Gefühl und Verstand, der sich in der Rolle des autonomen Revoluzzers genußvoll ausleben ließ, verlieh seiner Agitation die charismatische Leuchtkraft, von der viele, die ihn kannten, berichten, machte ihn aber blind für die inneren Widersprüchlichkeiten seiner Mission und ebenso blind für die Tatsache, daß er mit seiner Befähigung zum praktizierten Idealismus eine seltene Ausnahme war.

Die Naivität, sich in allen Lebenslagen und unter allen Umständen für einen guten Menschen zu halten (selbst als er das von ihm benutzte Zimmermädchen Frieda nach Herrenreitermanier abfertigt), die Naivität, allen Menschen bis zum Beweis des Gegenteils die edelsten Beweggründe zu unterstellen, ist schon schwer nachzuvollziehen – und sie verleiht der Beschreibung seiner Alltagserlebnisse im Tagebuch eine zuweilen haarsträubende Komik.

Mühsams Anarchismus – ein gelebtes Ethos als Kunstwerk – kam ganz ohne ideologische Untermauerung aus und war daher weder gegen Anfechtungen noch gravierende Einbrüche gefeit. Und als völlig hilflos erwies er sich im Umgang mit den Aporien der anarchistischen Gesinnung: Sein Ehrgeiz, mit der ›Gruppe Tat‹ aus eigener Kraft eine anarchistische Bewegung auf die Beine zu stellen, ging ganz selbstverständlich mit einem Führungsanspruch einher, den er ebenso selbstverständlich aus seiner geistig-sittlichen Überlegenheit ableitete. In einem Brief an Landauer bezeichnete er seine subproletarische Kundschaft (die nur mit Freibier zum Zuhören zu bewegen war) als »willfähriges Material«. Immerhin suchte er sich dann Bundesgenossen aus den Schwabinger Bohemekneipen, die ihm helfen sollten, den demoralisierten »Lumpenproletariern« das Rebellentum einzuflößen. Doch diese (Franz Jung, Oskar Maria Graf und der Maler Georg Schrimpf etwa) stellten zuallererst Mühsams Autorität in Frage und vertrieben ihn so aus seiner eigenen Gründung.

Auch beim Versuch, eine Antikriegsbewegung ins Leben zu rufen, oder im Psychoterror der bayerischen Festungshaft stand Mühsams anarchistische Verneinung der Macht im eklatanten Widerspruch zum eigenen, wenn auch rhetorisch verbrämten Führungsanspruch.

Nicht etwa Führer wolle er sein, nur Wortführer, rechtfertigte er sich seinen erbosten Mitgefangenen gegenüber. Jeder müsse seinen eigenen Überzeugungen folgen, aber er sei nun einmal berufen, die gemeinsamen Interessen auf den radikalen Punkt zu bringen. Da folgten die »Genossen« doch schon lieber den Parolen der KPD – oder der NSDAP.

Für Mühsam ein schmerzhaft vertrauter Vorgang, war doch die anarchistische Bewegung selbst fortwährend von Führungsstreitigkeiten beherrscht. Also zog er aus seinen Erfahrungen die Konsequenz, daß sich der Anarchismus durch Spaltung vermehren müsse: Jeder Anarchist ein Zündfunke am Pulverfaß der sozialen Mißstände, jeder sein eigener Herr, seine eigene anarchistische Kampftruppe.

Weitaus peinlichere Folgen hatte sein unreflektiertes Verhältnis zur Macht, als er, der notorische Antimilitarist, bei Kriegsausbruch im August 1914 der Suggestivkraft der deutschen Kriegsbegeisterung erlag und zwar nicht in den allgemeinen Jubel einstimmte, aber für einige Monate am Glauben festhielt, Deutschland sei angegriffen worden und müsse sich daher verteidigen. Später fand er viele gute und schlechte Gründe für diesen »Umfall«, sie sind im Tagebuch nachzulesen. Daß er aber so weit ging, verfängliche Formulierungen in den Eintragungen der ersten drei Monate nachträglich zu retuschieren, läßt darauf schließen, daß seine emotionalen Bindungen an das Kaiserreich fester geknüpft waren, als er sich eingestehen konnte. Das verräterische »Wir« beim Kommentieren deutscher Kriegshandlungen wurde erst im November 1914 in ein distanzierendes »Sie« verwandelt.

Es kann gar keinen Zweifel geben: Dieses »Wir«, das ihm spontan aus der Feder floß, als er Deutschland in Gefahr glaubte, bezeichnete die Symbiose des Anarchisten mit der von ihm bekämpften Macht – eine Konstellation wie zwischen Vater und Sohn, in der er nun die Rolle des kaiserlichen Hofnarren spielte, als staatlich anerkannter Anarchist. Und ein wenig recht hatte der arrogante J. R. Becher dennoch, als er ›Kain‹ ein Kuriosum nannte: Mühsams provokatorischer Radikalkritik am kaiserlichen Polizeistaat wurde dadurch der Boden entzogen, daß ihn die Polizei gewähren ließ, ohne auch nur eine Nummer der Zeitschrift zu konfiszieren. So, als wäre in Schwabing das ganze Jahr über Fasching gewesen.

Erst die Demokratie der Weimarer Republik klärte Mühsam darüber auf, daß Kaiserreich und Anarchismus zueinander gehörten wie der Topf zum Deckel. Als unpolitischer Anarchist in scheinbar unveränderlichen Zeitläufen konnte Mühsam das Leben feiern wie einen ewigen Karneval. Doch kaum bot ihm die Geschichte die Chance, die er viele Jahre lang heraufbeschworen hatte, war es vorbei mit der künstlerischen Personifikation der Anarchie. Der Ausbruch der Novemberrevolution machte ihn zum Politiker, ob er wollte oder nicht, und diesem Geschäft war er nicht gewachsen. Er gehörte zwar zu den Schöpfern der Räterepublik, aber er entzog sich der Rolle eines »Volksbeauftragten«. Viel lieber stieg er auf Parkbänke und hielt befeuernde Reden, um auf diese Weise die verdutzten Münchner zur Revolution zu bekehren: Die Verhältnisse konnten nur verändert werden, wenn er die Menschen veränderte, jeden einzelnen. Das war sein Credo, seine Art der Machtausübung, die ihm Erfüllung brachte, aber leider nicht von nachhaltiger Wirkung war.

Wenigstens entging er so – vorläufig – der Todesstrafe. Das Standgericht billigte ihm den Status eines psychopathischen, aber im Grunde harmlosen Volksverhetzers zu. Die fünfeinhalb Jahre »Ehrenhaft« in Bayern zerstörten nicht nur Mühsams Gesundheit. Sie schnitten ihn von dem Leben ab, das er wie kein anderer brauchte, um er selbst sein zu können. Und sie belehrten ihn darüber, daß für solche Unzeitgemäßen wie ihn kein Platz mehr war.

Im Glauben, die Niederlage der Münchner Revolutionäre sei nur eine vorübergehende Turbulenz im unaufhaltsamen Fortgang der Weltrevolution, hielt Mühsam in der Festungshaft unverdrossen an seiner anarchistischen Mission fest: kämpferische Solidarität und kultivierte Geselligkeit im Zeichen der kommunistischen Anarchie als Vorübung auf den großen Tag der Befreiung vom Regime der Kriegsgewinnler, Arbeiterverräter, Spartakistenjäger und Kerkermeister. Doch schon nach wenigen Monaten zeigte sich, daß sein Elan (der ihn für sechs Wochen sogar zum Mitglied der KPD machte) ins Leere lief. Die Anarchie hinter Kerkermauern war selbst mit Hungerstreik nicht zu erzwingen. Und seine Kampfgefährten von München suchten lieber Halt bei den großen Parteien als bei einem Idealismus, der doch nicht der ihre war. Von der Realpolitik war es ein kurzer Weg zur Ausgrenzung des Abweichlers, zur Denunziation und Intrige. Die Bewacher spielten virtuos auf dem Instrument der Zuträgerei, um die Gefangenen aufeinanderzuhetzen, und benutzten dazu auch Mühsams Tagebücher. Seine Berichte aus der Hölle des hautnahen, mit Fäusten ausgetragenen Parteienstreits wurden regelmäßig konfisziert, mit dem Rotstift ausgewertet und zur weiteren Zermürbung der Klassenkämpfer verwendet.

Mühsam resignierte nicht; dieser Ausweg war ihm versperrt, seit er sich der Anarchie verschrieben hatte. Aber er warf alle Hoffnung auf eine Elite, die es irgendwo in Deutschland geben mußte, junge, ungebrochene Proletarier, die wie er bereit waren, für eine gerechte Welt zu kämpfen, ohne Wenn und Aber und ohne den korrumpierenden Einfluß der Parteien. Aus dem lebensfrohen Revoluzzer war ein einsamer Prophet geworden, dessen rettende Botschaft mit Füßen getreten wurde – zu seinem Entsetzen auch in der Sowjetunion, wo sich statt der erträumten proletarischen Kultur eine menschenverachtende Parteidiktatur etablierte.

Bei seiner Ankunft in Berlin zu Weihnachten 1924 noch stürmisch begrüßt von einer Menge, die nur mit großem Polizeiaufgebot im Zaum zu halten war, zeigte sich bald, daß er als Symbolfigur der Revolution ausgedient hatte. Vorzeitig gealtert, wirkte er in seiner aus den Zeitungskarikaturen wohlbekannten Erscheinung mit Strubbelhaar, Zwicker und Spazierstock nicht mehr aufrührerisch, sondern schlicht altmodisch. In den blutigen Klassenkriegen der frühen Zwanziger hatten sich athletische Praktiker des Straßenkampfes wie Max Hoelz zu Vorbildhelden profiliert. Die Berliner Künstlerszene schwelgte in Neuer Sachlichkeit, huldigte den zynischen Genies Brecht und Grosz und brachte zwar Mitgefühl, aber kein rechtes Verständnis für Mühsam auf, der unbeirrbar zur Vollendung der proletarischen Revolution aufrief, als gelte es, eine drückende Schuld zu tilgen.

Jahrelang reiste er von Stadt zu Stadt und hielt Vorträge, um die Zustände in den deutschen Gefängnissen anzuprangern und für Abhilfe zu sorgen – mit Spenden und mit Revolutionspropaganda. Seine Zeitschrift ›Fanal‹ jedoch blieb ohne Breitenwirkung. Mühsams Zeitanalysen hatten zwar nichts von ihrer alten Schärfe eingebüßt, doch fehlte ihnen das »Kuriose« – das lustvolle, lebensfrohe und karnevalistische Element des Protests gegen Verhältnisse, die doch nicht zu ändern sind.

Die Verhältnisse änderten sich sehr schnell. Die Nazis, ihres Triumphes über die Linke noch nicht ganz sicher, erwählten sich Mühsam als eines ihrer frühen Opfer: Jude, Kommunist, aber eine Institution für sich, ohne den Schutz einer großen Partei. Mühsam hatte den Mut besessen, noch nach der Machtergreifung offen gegen die Nazis zu wettern. Das war er sich schuldig. Ungebrochen durchlitt er 17 Monate der Demütigung und der Folter. Da er sich nicht freiwillig erhängte, wurde ein Selbstmord fingiert. Die Henker waren bayerische SS-Leute, die nun die Gelegenheit ergriffen, ihre Morddrohungen von 1919 wahrzumachen.

Mühsam hatte 1931 geschrieben: »Wir stehen in aller Eindeutigkeit vor der Alternative, ob die proletarische Revolution den Faschismus, und der bedeutet einen Weltkrieg, rechtzeitig verhindern wird, oder ob erst ein grauenhaftes Völkergemetzel bei vollständiger Versklavung der Arbeiter und bei Ausrottung ganzer Bevölkerungen weiter Gebiete durch Giftgas und Verhungern jahrelang wüten muß, um endlich doch die Revolution herbeizuführen, die das Verbrechen verhindern konnte.«

In der Tat: Die Revolution, wie Mühsam sie sich vorstellte, hätte der Welt viele Katastrophen erspart. Doch daß diese Vorstellung eine Illusion war, eine naiv-hartnäckige Verwechslung der Kraft des Wünschens mit der Macht der Verhältnisse, hat das 20. Jahrhundert hinlänglich bewiesen. Mühsams Lebenswerk wird dadurch aber nicht entwertet. Beim Versuch, die jüdisch-christliche Ethik, statt sie heuchlerisch im Munde zu führen, beim Wort zu nehmen und wirkendes, lebendiges Gesetz werden zu lassen – nichts anderes als das bezweckte seine »proletarische Revolution« –, ist er gescheitert, so scheint es. Aber ist nicht vielmehr diese Welt gescheitert, weil sie ihre Propheten nicht verstand?


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