Tagebücher 1910-1924
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1915

München, Freitag, d. 1. Januar

Zeitwende! Das Wort führt jetzt jeder Esel im Munde, dem die Zeit noch niemals etwas gewendet hat. Das Schicksalsjahr 1915! Voll Stolz und Selbstgefühl wird dieser 1. Januar begrüßt. Daß er bestimmt ist, eine Epoche fortzusetzen, die die Vernichtung von Millionen Schicksalen bedeutet, fällt den Hanswürsten nicht ein.

Wird sich mir die Zeit endlich wenden? Wird mir 1915 ein Schicksalsjahr im guten Sinne sein? Gestern schrieb ich einen langen Brief an Jenny. Glückwünsche zu Neujahr und zum 23. Geburtstag. Sie muß daraus sehen, wie innig mein Schicksal an ihrem Leben hängt, wie es auf sie hofft, nach ihr sich sehnt. Ich schickte ihr die Gedichte gebunden mit dieser Widmung:

Meine ganze Seele ist in Dir.
Deine ganze Seele soll es wissen:
Müßt ich einmal Deine Seele missen,
wäre meine Seele fern von mir.

Sie wird es empfinden, wie wahr diese Verse sind. Ich weiß es täglich tiefer. Wenn ich noch zu beten verstände: ohne ihren Namen würde keine Bitte und kein Dank zu Gott steigen. Sie liebe ich, ihr verschreibe ich mich und mein Leben.

Eben ging Zenzl von mir. Mein Mund ist noch feucht von ihren Küssen, und doch: So wahr ich die Frau lieb hab, so wahr gehöre ich doch nur Jenny, um die ich schon zuviel gelitten und gesehnt habe, um je von dieser Liebe loszukommen.

Friedel ist mir ein Traum geworden, ein süßer, zärtlicher Traum, den ich all mein Lebtag fortträumen werde. Ihren persönlichen Verlust habe ich überwunden. An Uli, Lotte, Ella – an all die andern lieben Frauen denke ich wie an Episoden zurück. Mariechen sah ich heute wieder. Sie kam nach langer Nachtfahrt mit ihrem reizenden dreijährigen Söhnchen von Breslau und war im Café Stefanie. Ich fühlte große Fremdheit zwischen uns und sprach freundlich und ohne jegliche Erregung mit ihr. Sie war wirklich nur Episode. An Zaza denke ich oft und herzlich. Ein Sonnenstrahl, der sich zufällig gespiegelt, einmal in mein nach Norden gelegenes Zimmer stahl, mich küßte und verschwand. Und Johannes? Heut kam – nach einem halben Jahr entsetzlicher Verwirrung, eine Karte von ihm. Aus Borneo. Auch er ist mir fremd geworden. Ich muß Umwege machen in meinem Herzen, um wieder zu ihm zu finden. Ob unsere Freundschaft sich je wiederfinden wird auf einem Boden sonstigen Einverständnisses, geistigen Austausches und fern vom mißtönigen Klingen des Geldes? Ich weiß es nicht.

1915! All mein Wunsch für das Jahr geht auf Frieden. Der Krieg zehrt an meinen Nerven wie an denen der Welt. Er darf nicht länger sein.

(...)

München, Sonnabend, d. 2. Januar 1915

(...) Ein längerer Brief Landauers, als Antwort auf meinen Neujahrsbrief, gibt mir zu denken. Er gibt mir leider wenig Hoffnung auf die Anstellung als Dramaturg bei der Berliner Volksbühne. Natürlich sei Sinsheimers Verlangen, ich dürfe mich dann nicht anarchistisch betätigen, Unsinn. Aber erstens müsse man rechnen und bekomme leicht Literaten, die froh sind, wenn sie nur volontieren dürfen, zweitens aber zweifle er (Landauer) selbst, ob er, falls die Frage überhaupt gestellt würde, für mich stimmen würde. »Du bist in Deinem Urteil über literarische und besonders theatralische Dinge der Beeinflussung der Freundschaft und geradezu der Clique durchaus nicht unzugänglich, läßt es an harter Sachlichkeit, seit Du in München bist, oft fehlen ... Ich weiß, daß dieser Zug mit sehr Sympathischem in Deinem Wesen, vor allem mit Dankbarkeit eines Vereinsamten zusammenhängt, und will Dich wahrhaftig nicht kränken; aber in der Volksbühne brauchen wir hartes Holz.« Das ist bitter. Abgesehen von der zerstörten Hoffnung, endlich doch Boden unter die Füße zu kriegen und ein Haus für Jennys Kinder schaffen zu können – diese klare Anzweiflung meiner Unabhängigkeit. Ob Landauer recht hat? Manchmal gewiß. Es will mir scheinen, als ob manchmal im gütigen Suchen nach guten Eigenschaften in einem schlechten Werk und im Verschweigen seiner Schwächen eine höhere Gerechtigkeit sei als in der unbedingt von allem Persönlichen absehenden Objektivität des Urteils, die Landauers Art ist. Das harte Verurteilen kann furchtbar weh tun und im Gefühl des Betroffenen dauernde Wunden hinterlassen und selbst Werte seiner Persönlichkeit herabmindern. Abgesehen davon, daß in künstlerischen Dingen reine Objektivität ja gar nicht existiert und daß es sicher ebenso wichtig ist, das Gute im Schwachen zu erkennen als um der Schwächen willen alles Gute mit zu verdammen.

L. sagt mir dann einiges Nette über mein Gedichtbuch, daß ihm – in vollem Gegensatz zu Johannes Nohl – Freude gemacht hat. »Schönes, starkes Altes und Neues, in guter Anordnung!«

Meine Erklärung an die ›Kain‹-Leser hat ihm nicht gefallen, und ich muß schon selbst gestehen, daß ich recht wünschte, den letzten nachträglich eingefügten Absatz darin nicht geschrieben zu haben. Landauer sagt mit Recht: »Ich kann es nicht gutheißen, daß von fremden Horden z.B. geredet wird, solange nicht die Möglichkeit besteht, alle Armeen, die in Feindesland hausen, so zu bezeichnen.« Natürlich war ich, als ich den Satz schrieb, durchaus geneigt, auch die ins Ausland eindringenden Deutschen als »fremde Horde« anzusehen. Aber ich hätte das Mißverständliche des Ausdrucks erkennen sollen und mir viel Ärger ersparen können. Landauers Meinung, daß ich etwa »vorübergehend vom Wedekind-Kreis oder dergleichen angesteckt« gewesen sein könnte, ist natürlich Unsinn. Ich werde, sobald der ›Kain‹ wiedererscheint, eine klare Definition geben müssen.

(...)

München, Freitag, d. 15. Januar 1915

Die arme Zenzl hat heute früh so viel und schmerzlich an meiner Schulter geweint, daß ich noch ganz zerschlagen davon bin. Und hat auch Grund genug. Es geht ihr und dem Manne unglaublich schlecht. Gäbe ich nicht jeden Tag ein paar armselige Groschen her, wäre kein Stück Brot mehr im Hause. Die Stadt München hat zwar eine große Notstandsaktion für Künstler unternommen und stellt etwa eine viertel Million Mark zum Verteilen bereit, aber EnglerLudwig Engler (geb. 1875), Bildhauer. wird anscheinend übergangen, obwohl er ein ganz zweifellos sehr befähigter Bildhauer ist. Nur eben bei den Maßgebenden persönlich nicht sehr beliebt. Nun kommt hinzu, daß die Leute eine böse Nachbarin haben, die den ganzen Tag durchs Haus schimpft und ihnen das Wohnen in ihren dürftigen Gemächern zur Hölle macht. Diese Hexe hat nun obendrein Anzeige erstattet, weil die beiden Leute im Konkubinat leben. Das tun sie zwar seit über zehn Jahren und haben einen zehnjährigen SohnSiegfried Elfinger (1902-1969), vgl. Einträge 14. Mai und 22. November 1915. Lebte ab 1915 im Haushalt der Mühsams. Wurde Maler; emigrierte Anfang der fünfziger Jahre in die USA. miteinander, ohne daß die sittliche Weltordnung darüber ins Krachen geraten wäre. Aber wir erfreuen uns hier mehrfacher bayerischer Reservatrechte, und eines davon ist die Strafbarkeit des Konkubinats. Die Eheschließung ist aber zugleich ein hier besonders teures Vergnügen und kostet etwa 150 Mark, da man für bares Geld erst Bürgerrecht und alles mögliche erwerben muß. Englers, die gar nichts gegen das Heiraten hätten, werden also, da sie unbemittelt sind, von dem gleichen Staat daran gehindert, der sie wegen dieser Unterlassung in Strafe nimmt. Sie sollen binnen drei Tagen je fünf Mark Strafe zahlen, an deren Stelle, falls sie nicht da sind, zwei Tage in Stadelheim treten. Vorläufig ist wenig Hoffnung, das Geld zu beschaffen. Ich habe mich aber jetzt bei Jaffé angemeldet und will dort sehen, ob ich wirklich die Frau, die ich gern habe, wegen lumpiger zehn Mark ins Gefängnis gehen lassen muß. All diese Dinge regten die arme Frau nun heut früh sehr auf und dazu noch ein Umstand, der an und für sich sehr lustig ist, aber auf den ohnehin schwer belasteten Gemütszustand Zenzls natürlich noch deprimierender wirkte. In der Frühe erschienen nämlich heut in ihrer Wohnung zwei Polizeibeamte, die sich einen aus dem Fenster gehängten Sack mit Krautköpfen ansahen, da ein Baron in der Nachbarschaft (ein Herr v. d. TannMöglicherweise identisch mit dem General v. d. Tann beim bayerischen Generalkommando, der 1918 Mühsams Verbannung nach Traunstein verfügte. in der Ainmillerstraße) den Verdacht denunziert hätte, daß Bomben drin seien, weil man nämlich Bomben gewöhnlich in große Säcke verstaut und sie darin zum Fenster hinaushängt. Zenzls haltloses Weinen, das ich in dem Maße noch gar nicht bei ihr erlebt habe, dazu meine eigenen Sorgen und ein unglückseliger Ofen, der die Bude, statt sie zu wärmen, mit giftigen Dünsten anfüllt, haben mir die Laune für heute gründlich verdorben.

(...)

München, Montag, d. 25. Januar 1915

Meine Erklärung an die ›Kain‹-Leser ärgert mich ihres letzten, nachträglich angehängten Satzes wegen täglich mehr. Die »fremden Horden« kann ich mir allenfalls verzeihen, weil ich mich gar nicht scheue, auch die in Belgien hausenden Deutschen so zu nennen, aber wie komme ich zu dem Wunsch, daß gerade unsere Länder vom Kriege verschont bleiben sollen? Dieser Egoismus ist ekelhaft und unverzeihlich. Nein – es ist nicht im geringsten schlimmer, daß Eydtkuhnen mit Jennys Habe, als daß irgendein serbischer Flecken zerstört ist. Und wenn München eines Tages in Brand und Schutt liegt, so hat das nicht einen Fetzen mehr zu bedeuten als das Unglück Löwens.Die belgische Stadt Leuwen wurde im August 1914 in einer Vergeltungsaktion der deutschen Truppen in Brand gesetzt und dabei schwer zerstört. Besonders die Vernichtung der mittelalterlichen Universitätsbibliothek erregte weltweite Empörung. Es ist nicht wahr, daß unsere Frauen und Kinder, unsere Städte und Felder mehr wert wären als die der Galizier, Kaukasier, Polen, Bosnier, Siebenbürger, Wallonen, Franzosen, Elsässer, Ägypter, Marokkaner, Buren oder Zulukaffern. – Ich schäme mich meiner selbstischen Wallung und will sie öffentlich widerrufen, sobald es geht.

(...)

München, Freitag, d. 5. Februar 1915

(...) Ich komme in der letzten Zeit dem alten Problem, warum die Deutschen in der ganzen Welt so maßlos unbeliebt sind, näher. Ich glaube, es hängt mit dem Beamtencharakter der Deutschen zusammen, mit dieser übertriebenen Richtigkeit, Deutlichkeit, Gründlichkeit in allen Dingen, die jede frische Sorglosigkeit ausschließt, und mit dem wahrhaft widerlichen Unfehlbarkeitsdünkel des deutschen Wesens, an dem bekanntlich die Welt genesen soll. Wir halten's hier mit der Wissenschaftlichkeit, die alles kennt, alles weiß, alles durchschaut, und was sie etwa nicht kennt, weiß und durchschaut, wie die übersinnlichen Dinge, einfach leugnet. Dadurch hat der typische Deutsche etwas Unpersönliches, Langweilig-Sachliches, ewig Korrektes. Er funktioniert, statt zu leben, und darauf beruht ja auch seine hervorragende Militärtüchtigkeit. Denn der Militarismus mechanisiert die Menschen, macht sie zu Automaten und kann sich für seinen Drill kein geeigneteres Material erwünschen als das deutsche. Die leichtere Sinnesart aller anderen Völker fühlt sich naturgemäß beeinträchtigt durch das Wirken jener absolut stimmenden Sicherheit und haßt infolgedessen die Träger der ihr Seelisches vergewaltigenden deutschen Korrektheit. Mit dieser Deutung stimmen alle Vorwürfe des Auslands gegen uns überein, ebenso wie der Eindruck in Deutschland, als ob all der ausländische Haß auf Neid beruhe.

Die deutsche Sozialdemokratie scheint vor den größten Krisen zu stehen. Die Vorstände fassen Beschlüsse gegen Liebknecht und Ledebour, der (offenbar mit großem Krach) aus dem Fraktionsvorstand ausgetreten ist. Zugleich aber finde ich folgende Notiz im Blatt: »Am Schlusse der gestrigen Sitzung des badischen Landtages brachte in der Zweiten Kammer der Vizepräsident Geis, ein Sozialdemokrat, ein Hoch auf das Großherzogpaar und das deutsche Vaterland aus...« Antimonarchisten, Republikaner. Jahrzehntelang haben sie geschrien, daß wir in Deutschland noch jede Freiheit erkämpfen müßten. Jetzt aber bewilligen sie alle Kriegshilfe für die Erhaltung der deutschen Freiheit, die also plötzlich von ihnen entdeckt sein muß, und brüllen Hurra für die Fürsten, denen sie bisher stets stramm die Zivilliste verweigert haben. Charaktere!

(...)

München, Donnerstag, d. 25. Februar 1915

Am letzten Krokodil-Abend schloß ich mit HenckellKarl Henckell (1864-1929), sozialistischer Dichter des 19. Jhs. (›Trutznachtigalls‹, 1891). Wandte sich später der Naturdichtung zu. eine Wette ab, in der ich behaupte, daß die Sozialdemokratie sich spätestens gleich nach dem Kriege spalten werde, dergestalt, daß drei Monate nach dem ersten Parteitage nach dem Krieg die Richtung Liebknecht in Stärke von mindestens 7500 Genossen ausgeschieden sein wird. Henckell bestreitet das. Eine Flasche Escherndorfer Berg ist der Preis des Gewinns. Als ich die Wette abschloß, wußte ich noch nicht, wie schnell die Wahrscheinlichkeit sich meiner Ansicht nähern werde. Vor einigen Tagen hielt Wolfgang HeineWolfgang Heine (1861-1944), SPD-Politiker des rechten Flügels, Reichstagsabgeordneter 1898-1920, preußischer Innenminister 1919/20. in Stuttgart eine Rede, in der er die sozialdemokratische Partei für jetzt und später geradezu als Leibgarde der Regierung empfahl, ja er rief auf zum Vertrauen zu Wilhelm II. Der ›Vorwärts‹, der eine nach Möglichkeit charaktervolle Haltung zu wahren sucht, fertigt Heine jetzt recht ironisch ab und findet, daß »nicht früh genug die Aufmerksamkeit der Masse der Parteigenossen und Gewerkschaftsmitglieder auf diese Ziele der Umwandlung der Sozialdemokratie in eine nationalsoziale Reformpartei gerichtet werden kann.« Das ist deutlich genug.

(...)

München, Sonnabend, d. 6. März 1915

(...) Mittwoch auf der Kegelbahn erneuter heftiger Zusammenstoß mit Halbe. Ich hatte mir herausgenommen, beiläufig zu sagen, daß ich die Munitionslieferung der Vereinigten Staaten an England nicht für das ärgste Unrecht in diesem Kriege zu halten vermöchte. Denn einmal ist Amerika nicht durch völkerrechtliche Verträge formell verhindert, Konterbande auszuführen, außerdem würden die Fabriken doch ebensogern für Deutschland Waffen liefern, wenn es nur ginge, und schließlich habe im vorigen Jahr auch Deutschland im Kriege gegen die Vereinigten Staaten Mexiko mit Kriegsmaterial versorgt. Halbe nahm das zum Anlaß, mir vorzuwerfen, daß ich alles gutheiße, was die Gegner tun und alles verurteile, was von den Deutschen geschieht. Auch ich wurde sehr heftig und erklärte, alles, was in diesem Kriege von irgendeiner Seite bisher geschehen sei und was noch geschehen werde, für unermeßliche fürchterliche Schweinerei. Dabei sei keiner besser als der andere, und wenn stets alles Deutsche gepriesen, alles Antideutsche prinzipiell verunglimpft werde, so mache ich bei der Parteilichkeit nicht mit. – Es ist fast, als ob aus jedem Menschen ein freiwilliger Polizist geworden wäre, stets auf der Lauer, den anderen auf unerwünschte Empfindungen festzulegen. Ich will sehen, ob ich, ohne es auffällig zu machen, den Umgang mit Halbe etwas einschränken kann.

München, Montag, d. 8. März 1915

(...) In Frankreich hat man längst eine Nachmusterung auch der Ausgeschiedenen vorgenommen. Ich würde – das habe ich mir sorgfältig überlegt – den Gehorsam höchstens so lange leisten, wie man von mir keinen Mord forderte. Den würde ich verweigern müssen, sei es auch auf Kosten des Lebens. Nicht, daß ich so weit mit Tolstoi mitginge, daß ich grundsätzlich niemals die Waffe gegen einen Menschen erhöbe, aber ich müßte dazu von persönlicher Feindschaft geleitet sein. Im Interesse deutscher Börseaner und Industrieller französische Arbeiter abschießen – nein! Hoffentlich bleibt mir die Praxis dieser Überlegung erspart!

Bei der Aushebung des Landsturms haben sich groteske Szenen abgespielt. So mußte Thomas Mann sich stellen. Er stand nackt vor dem Offizier, der ihn fragte, was er sei. Auf die Antwort »Schriftsteller« folgte die weitere Frage: »So, was haben Sie denn geschrieben?« – Man muß sich das nur vergegenwärtigen, um die ganze Würdelosigkeit dieser Zeit zu begreifen. Ein Mann vom Range Thomas Manns muß splitternackt vor irgendeinem Leutnant stehen und auf dessen ungebildete Näselei über sein Lebenswerk Auskunft geben.

(...)

München, Dienstag, d. 23. März 1915

(...) Nun habe ich gerade in den letzten Tagen wieder gelesen, was ich in den ersten Kriegswochen ins Tagebuch schrieb, und war bei einzelnen Stellen ganz betroffen. Damals brachte ich über deutsche Siege geradezu Freude auf – wohl in dem Gefühl, daß dadurch der Krieg abgekürzt würde, wenn nicht angesteckt von der Massenhysterie, die den Schutz der deutschen Grenzen als Verhütung des allerschlimmsten Unheils ansah. Heut weiß ich, daß der Schauplatz der Greuel ganz gleichgiltig ist für seine Beurteilung, weiß auch, daß keine Armee besser, mitleidvoller und menschlicher ist als die andere, keine auch grausamer, verbrecherischer und roher. Es scheint mir sicher und auch selbstverständlich, daß die belgische Greuelkommission schreckliche Dinge, die von Deutschen verübt wurden, festgestellt hat, und gerade jetzt, wo die Deutschen in West und Ost »Vergeltung« gegen Schandtaten plakatieren, lassen die Russen kommissarisch feststellen, wie die Hindenburgschen Scharen in Polen und Litauen hausen. Schon zeigt sich, daß die Franzosen gegen die Vergeltungsaktionen in Calais, Paris und Compiègne im Badischen Wiedervergeltung üben, auf die die deutschen Repressalien natürlich nicht ausbleiben werden, und so abwechselnd weiter mit wachsender Scheußlichkeit. Ebenso werden die Russen nicht zögern, den Vergeltungsakten der Deutschen Strafmaßnahmen folgen zu lassen, die wiederum von unserer Seite gerächt werden müssen. Die Kriegführung nimmt danach mehr und mehr die Form eines Wettkampfes in Grausamkeiten gegen Zivilisten an, wobei jeder den andern Barbaren heißt.

(...)

München, Freitag, d. 26. März 1915

(...) Heinrich Mann suchte mich gestern wieder im Café auf. Er sei so von Haß erfüllt, sagte er, daß er manchmal meint, platzen zu müssen. Er verfällt dabei aber in den entgegengesetzten Fehler wie unsere Patrioten, indem er alles für wahr hält, was der ›Matin‹ zuungunsten Deutschlands berichtet, alles für erlogen, was in deutschen Blättern steht. Meiner Behauptung, daß alle gleicherweise lügen, stimmt er nur widerwillig zu. Der Inbegriff aller Schmach und allen Unglücks ist für ihn der Begriff ›Potsdam‹. Fruchtbar und menschlich befriedigend sind die Unterhaltungen mit ihm immer. – Lächerlicherweise hat man ihn bei der Stellung als »Infanterie II« tauglich befunden. Es kann also gut sein, daß er eines Tages einberufen wird und buddeln muß. Sein Bruder Thomas, der Patriot, ein körperlich viel widerstandsfähigerer Mensch zweifellos, ist hingegen freigekommen.

(...)

München, Sonnabend, d. 10. April 1915

(...) Ohne meine Sehnsucht nach Jenny – und bei Gott! auch nach Friedel (die sich auch nicht gemeldet hat) – zu berühren, gewinnt meine Zuneigung zu Zenzl täglich Boden in meinem Herzen. Wir kennen uns nun eineinhalb Jahre, und oft ertappe ich mich der schönen, köstlich natürlichen Frau gegenüber auf einer ganz jungenhaften, erfrischenden Verliebtheit. Wäre sie nicht an ihren »Luki«Ludwig Engler. so fest gebunden, – ich täte die Erinnerungen an Jenny in einen besonders geschmückten Schrein meines Herzens und nähme Zenzl einfach zu mir. Wenn ihre eigenen Nerven ruhig und nicht von den perfidesten Nahrungssorgen zerquält sind – und dafür wollte ich wohl sorgen –, ist sie für meine Nerven Sonne und Bad. Wer weiß, ob ich sie nicht vielleicht doch noch mal heirate, die Bäuerin aus der Holledau – zum Entsetzen meiner An- und Stammverwandtschaft.

(...)

Lübeck, Mittwoch, d. 21. April 1915

Ich schreibe in meinem Schlafgemach, im Giebel des alten Hauses der Königstraße. Trete ich hinaus, so bin ich auf dem Speicher, wo es muffig und nach Mäusedreck riecht und allerlei Gerümpel sich türmt.

Papa habe ich immer noch nicht zu sehen bekommen,Mühsam wurde wegen der schweren Erkrankung seines Vaters nach Lübeck gerufen, aber nicht von ihm empfangen. und es ist ganz fraglich, wann dieser Zustand mal geändert wird, – und was dann wird. Es geht ihm wieder etwas besser, doch ist er selbst ganz überzeugt, daß jeder Tag, den er noch erlebt, sein letzter war, und er wünscht sich den Tod. Ich glaube, daß jeder von uns allen nun seinen Wunsch teilt und keiner hofft, daß die Qualen unabsehbar sich fortsetzen sollen.

Gestern abend war ich mit AnthesOtto Anthes (1867-1954), Lübecker Schriftsteller. im Caféhause zusammen. Gute Unterhaltung. Wir waren beide froh, jemanden aus der eigenen Welt zu sehen, und wollen nun häufiger beisammen sein.

Heut vormittag: Moisling. Ich stand mit sehr bewegten und ungeklärten Gefühlen am Grabe der Mutter. Vergangenes und Künftiges flossen sonderbar ineinander.

In der Trambahn plattdeutsche Unterhaltung mit dem Schaffner. Ich freute mich, daß es noch fließend ging. Münchnerisch werde ich nie lernen, sowenig, wie ich das Plattdeutsch verlernen kann.

Eben traf ich vor dem KatharineumLübecker Gymnasium, aus dem Mühsam 1896 entfernt wurde, weil er im ›Lübecker Volksboten‹ eine patriotische Rede des Direktors glossiert hatte. Schüler des Katharineums waren auch Franziska zu Reventlow, die Brüder Mann und Gustav Radbruch. Professor Stoffregen, meinen alten Mathematiklehrer. Etwas gezwungene Unterhaltung. Er forderte mich auf, einzutreten in die Anstalt, aus der man mich vor nahezu zwanzig Jahren hinausgeschmissen hat. Ich verzichtete aber dankend. Mir ist in Lübeck ein wenig traumhaft zumute.

Lübeck, Dienstag, d. 27. April 1915

Morgen früh will ich abreisen. Da ich den sterbenden Vater nicht sehen und sprechen darf, habe ich hier nichts zu suchen. Ich fühle mich ihm mehr verbunden als je, und wenn mein Wunsch, er möchte sterben, jetzt heftiger als früher spürbar ist, so aus dem Gefühl des Erbarmens mit seinem Leiden heraus.

(...)

In Berlin hoffe ich Jenny zu sprechen. Ich habe sie sehr eindringlich um ein Rendezvous gebeten und fürchte nur, daß sie etwa nicht zur Post gegangen sein könnte, also meine letzten Briefe und Karten nicht erhalten hat. Ich will jetzt endlich klarsehen, wie wir zueinander stehen, um eventuell sofort nach Papas Tod Entscheidungen treffen zu können. Sollte die Verbindung mit Jenny nicht oder vorläufig nicht zustande kommen, so werde ich wohl mit Zenzl zusammenziehen, in der Weise, daß ich sie als meine Haushälterin engagiere. Die süße, gute Frau schreibt mir köstliche Briefe, an denen ich erst sehe, wie sehr sie mich liebt. Sehr unorthographisch, aber sehr lustig und sehr lieb. »Ich habe so Sehnsucht nach Dir«, heißt es im letzten, »wenn Du da wärst, mein Teurer, ich würd Dich liebhaben, meine Haare täte ich frisch waschen, mich baden und dann zu Dir legen ...«, und zum Schluß: »und probiere Deine nicht angenehme Lage Dir damit zu verschönern, daß Du ans Meer gehst und Dich von dem Lachen und Weinen des Meeres überzeugst, wie es in meinem Herzen aussehen würde, wenn ich Dir ein Kindlein schenken könnte.« Eine wahrhaftige Dichterin ist meine Zenzl geworden. Von ihr wünschte ich mir wohl ein Kind.

(...)

München, Montag, d. 3. Mai 1915

(...) Jennys Liebe zu mir ist tot. Der Anschluß ist verpaßt. Wir haben gestern Entlobung gefeiert. Sie war sehr nett und geradezu lieb zu mir, – aber Liebe war nicht mehr dabei. Meine Liebe zu ihr wird Bestand haben. Denn – das habe ich schmerzlich erfreut mir wieder bestätigen können – es gibt keine Liebe, deren sie nicht wert wäre. Ich verbarg alle Seelennot unter schlechten Witzen, erzählte ihr dann auch von Zenzl – eigentlich, um mir selbst den rettenden Hafen zu zeigen –, und sie begleitete mich abends zum Anhalter Bahnhof. Den »Entlobungskuß«, um den ich sie bat, verweigerte sie mir leider. So reiste ich mit einem bitter-trockenen Geschmack im Mund ab. Aber ich bin froh, daß die zahllosen Versuche, mich mit ihr in Verbindung zu setzen, endlich doch Erfolg hatten, daß sie selbst, nachdem sie von meiner Anwesenheit unterrichtet war, mit Mühe und viel Umständen die Begegnung herbeiführte, und daß ich ihre schönen klugen guten Augen sehn und ihre liebe Hand küssen durfte.

Nun wird also Zenzl mein nächstes Schicksal sein. Sie holte mich heut früh vom Bahnhof ab. Im Bett feierten wir Wiedersehen, und die leichte Schwellung ihres Leibes, die ich glücklich streicheln konnte, malte mir eine gute Zukunft in einem neuen Menschen, – in meinem Kinde!

(...)

München, Dienstag, d. 4. Mai 1915

Jeder Mensch begegnet mir mit der gemütvollen Frage: »Nun, ist Ihr Vater tot?« – und auf meine Antwort sehe ich Kondolenzgesichter und taktlose Enttäuschtheiten. ZierschWalther Ziersch (1874-1943), Schriftsteller, Mitglied der Halbeschen Kegelgesellschaft ›Unterströmung‹. – ich war im Krokodil mit ihm, Henckell und Martens zusammen – erzählte, daß schon Wetten darüber abgeschlossen seien, ob ich nach Empfang der Erbschaft noch Anarchist bleiben werde. Wie primitiv müssen doch die Leute selbst organisiert sein, die anderen die Primitivität zutrauen, die Weltanschauung nach jeweiligem Bedürfnis aus der pekuniären Situation abzuleiten.

(...)

München, Mittwoch, d. 12. Mai 1915

Unser Kind wird nicht zur Welt kommen. Zenzl gestand mir, daß keine Hoffnung mehr dazu besteht. Das arme Weib weinte sehr an meinem Halse, und ich selbst hatte Mühe, Haltung zu zeigen ... Vielleicht stehen große Veränderungen in meinem Leben noch bevor. Das Zimmermädchen verriet, daß Frau Kaderschafka die Pension aufzulösen im Begriff sei. Daraus würde sich für mich die Notwendigkeit ergeben, auszuziehen. Für den billigen Preis und bei so tolerantem Kredit wie hier finde ich keine andere Pension. Ich möchte deshalb gleich jetzt eine kleine Wirtschaft mit Zenzl beginnen. Sie ist einverstanden, zumal sie mit ihrem Mann neuerdings ernste Differenzen hat. Ob es möglich sein wird, bei der Geldknappheit uns einzurichten oder eine möblierte Wohnung zu mieten, oder wie wir uns sonst mit den Schwierigkeiten zurechtfinden werden, steht ganz dahin. Ich vertraue auf Zenzls praktischen Sinn. Ihr werde ich auch meine Gelder zur Verfügung stellen, wenn wir erst zusammen sind. Dann weiß ich, wird es keine Not geben im Hause. Quod Deus bene vertat!

Ich habe Wedekind in der Klinik (Josephinum) besucht. Erfreulicherweise scheinen mir LangheinrichsMax Langheinrich (1869-1924), Mitglied der ›Elf Scharfrichter‹, befreundet mit Wedekind. Befürchtungen unbegründet. Er sieht zwar sehr schlecht aus, wie ein hoher Sechziger. Aber das ist wohl nach der schweren Operation selbstverständlich. Jedenfalls hält er selbst das Schlimmste für überstanden und hält sich schon außerhalb des Bettes auf. Gesprächsstoff hauptsächlich der Krieg, zu dem Wedekind nicht anders steht als ich und meine wahren Freunde. Auch er sieht die größte Gefahr in der Militarisierung Europas durch den deutschen Sieg und sprach sehr hart über die entsetzlichen Franktireurbestrafungen in Belgien und den Unterseebootkrieg, besonders den Fall ›Lusitania‹.Versenkung des englischen Passagierschiffs Lusitania am 7. Mai 1915 durch ein deutsches U-Boot. Einige Äußerungen, die mir haften blieben: »Es sollte mich nicht wundern, wenn der Krieg demnächst nur noch mit Giften und Chemikalien geführt werden wird.« Und über den Nationalismus: »Der Nationalismus ist der Feind der Menschheit. Je mehr der Deutsche, der Franzose, der Engländer, der Russe gilt, um so weniger gilt der Mensch.« Wedekind freute sich sichtlich über meinen Besuch. Ich soll wiederkommen.

(...)

München, Freitag, d. 14. Mai 1915

Heute früh legte mir Zenzl neue erschütternde Beichten ab: über ihren Sohn, den sie mit achtzehn Jahren geboren, der jetzt – zwölfeinhalbjährig – bei seiner Großmutter in der Theresienstraße wohnt, und den sie seit sieben Jahren nicht gesehen hat, weil es ihr zu schrecklich ist, ihn bei ihr fremden Leuten in schlechten Verhältnissen zu sehen. Über ihr Verhältnis zu Engler – und wie unglücklich sie in diesen zehn Jahren ist. Über ihre Krankheit – das ist das Schlimmste. Ihr Vater gab ihr auf dem Totenbett Maßregeln, daß sie ihre kleine Halbschwester nicht verlassen dürfe, drückte sie fest an sich und starb in diesem Augenblick. Seitdem leidet sie an einer Gebärmutterkrankheit, die, wie sie fürchtet – und ihr Gatte ihr gestern schon vorwarf –, Gebärmutterkrebs zu sein scheint. Ich suchte es ihr auszureden, und ich hoffe wirklich, daß ihr Pessimismus nicht begründet ist. Außerdem versprach ich ihr, mich ihres Sohnes, sobald ich kann, anzunehmen. Die Pension bleibt in der alten Form bestehen. Trotzdem möchte ich so bald wie möglich mit Zenzl zusammenziehen und will versuchen, zum 1. Juli eine passende Wohnung zu finden.

(...)

München, Sonnabend, d. 15. Mai 1915

Ich nahm gestern abend als Gast der Münchner Friedensgesellschaft an einer geschlossenen Versammlung im Café Arkaden teil, die unter Vorsitz des Professors Quidde stattfand. Etwa 50 Teilnehmer, die allesamt überzeugte und durch die Tatsachen des Völkermordens heftig bestärkte Kriegsgegner sind. Das schuf eine Atmosphäre solidarischer Stimmung und bewirkte wohl bei jedem ein gewisses Gefühl der Sicherung, mit seinen Empfindungen nicht alleinzustehen. Die Einleitung des Schweizers Quidde ließ allerdings befürchten, daß diesen Zusammenkünften ein etwas spießbürgerlicher Kränzchencharakter innewohnt.

(...) In der Diskussion nahm ich das Wort, um dem Gedanken meines ›Weltbundes gegen den Krieg‹ Ausdruck zu geben. Ich fand damit starken Beifall. Quidde antwortete freilich nachher in dem Sinne, daß er gewiß nichts gegen eine gemeinschaftliche Demonstration nach dem Kriege habe, falls sich alle Unterzeichner zunächst einmal mit den Forderungen der Friedensgesellschaft einig erklärten (!). Er ging dann freilich auch auf den Antimilitarismus ein und erklärte es als fernliegendes Ziel, daß einmal die Völker den Kriegsdienst verweigern würden. »Wenn es ein Einzelner tut, ist es Landesverrat, wenn es alle tun, ist es Kultur!« Sehr schön. Aber er hat gezeigt, daß die bürgerlichen Pazifisten und wir nicht miteinander arbeiten können. Eine Verpflichtung zu Haager Konferenzarbeiten mit den Regierungen kann ein Antimilitarist und Anarchist selbstverständlich nicht in Frage ziehen. Ich werde nun Dienstag mit Frau Heymann über die Sache konferieren und hoffe sie – ohne den selbstgefälligen Herrn Quidde – zu gutem Ziele zu führen.

(...)

München, Pfingstmontag, d. 24. Mai 1915

(...) Meine Kassenverhältnisse und besonders das Problem, wie ich das Nötigste zusammenbringe, um mit Zenzl endlich ganz zusammenzukommen, machen mir viel Sorgen. Von Lübeck bekomme ich gar keine Nachrichten mehr, so daß ich annehme, der Vater ist so weit hergestellt, daß eine Katastrophe in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist. Zu verdienen ist nichts, und nun will ich's anders versuchen und unter die Erfinder gehen. Ich bin auf den Einfall gekommen, einen Apparat herstellen zu lassen, mit dem man appetitlich und zugleich praktisch Spargel essen kann. Es ist ja scheußlich mitanzusehen, wie alle Welt mit den Fingern in den Teller langt und den Spargel auslutscht. Ich will also Zelluloidzangen (etwa in Form von Austernschalen) konstruieren und schützen lassen. Wüßte ich nur erst, wer mir die Idee bezahlt! Ich erwarte Zenzl. Die muß den Plan realisieren helfen.

München, Sonntag, d. 6. Juni 1915

(...) Um das letzte vorwegzunehmen: ein Erdbeben in der Nacht zum Mittwoch. Ich wachte seit zwei Uhr morgens, obwohl ich erst zwei Stunden geschlafen hatte, auf in einem Gefühl undefinierbarer Gereiztheit wie etwa vor einem Gewitter, wo man auch den Grund seiner Nervosität nicht kennt. Eine Stunde lang versuchte ich ohne Erfolg, wieder einzuschlafen. Endlich machte ich Licht und mischte die Patience-Karten, um der Spannung meiner Nerven durch eine langweilig mechanische Beschäftigung Herr zu werden. Die Uhr zeigte 3 Uhr 15. Während ich die Karten sehr uninteressiert auflegte, spürte ich plötzlich eine sehr heftige Erschütterung, als ob jemand das Bett von unten gefaßt hätte und vor- und rückwärts rüttelte. Ich sah nach der Uhr, und während ich mich über den Nachttisch beugte, erfolgte ein zweiter ganz gleichartiger Ruck. Ich wußte sofort, daß es sich um ein Erdbeben handelte, sprang aus dem Bett ans Fenster und spürte, wie sich schon bald meine Nervosität löste. Die Entspannung war erfolgt, und ich konnte dann ausgezeichnet schlafen. Der Erdbebenstation der Sternwarte, die um Mitteilungen bat, habe ich meine Beobachtungen beschrieben. Es war das erste Erdbeben, das ich bei völlig wachen Sinnen miterlebt habe.

(...)

München, Sonnabend, d. 11. Juni 1915

Bevor ich fortgehe, nur eine kurze Notiz zu meiner Biographie. Ein Brief meines Schwagers Leo als Antwort auf meine schroffen Worte an die Geschwister enthält die Mitteilung, daß ich mich in Lübeck in einem Irrtum befand. Es war nicht an dem, daß der Gesundheitszustand meines Vaters es nicht gestattet hätte, mich zu empfangen oder von meiner Anwesenheit zu erfahren. Der alte Herr hat vielmehr erfahren, daß ich da war. Er weigerte sich aber, mich vorzulassen, was man mir mit Rücksicht auf meine Empfindungen verschwiegen hat... Sein Leben zählt, wie mir Leo ebenfalls schreibt, nur noch nach Tagen, und nun soll ich ihm doch noch das Sterben erleichtern und den absurden Witz machen, wieder Apothekerlehrling zu werden. Ich habe eben einen sehr ernsten und klaren Brief an Leo geschrieben, nach dem ich vor dergleichen Zumutungen wohl Ruhe haben werde. – Daß mir einmal meine gütige Mutter erscheinen möchte, daß ich ihr mein Herz öffnete!

München, Mittwoch, d. 23. Juni 1915

(...) Grethe schreibt, Papas Schwäche habe nicht weiter zugenommen, im Gegenteil mache sich ein geringes Zunehmen der Kraft bemerkbar, und er fasse von neuem Hoffnung. Mein Brief habe ihn angenehm berührt, ohne seine Entscheidung zu ändern. Wie er will!... Mir träumte vor Jahren einmal, ich ließe den Vater ärztlich untersuchen. Eine ganze Ärztekommission unterzog sich der Aufgabe. Ich erwartete im Nebenzimmer das Resultat. Als die Kommission eintrat, verkündete mir ihr Wortführer, ein weißbärtiger Gelehrter: »Die genaue ärztliche Untersuchung Ihres Herrn Vaters hat ergeben, daß er der ewige Jude ist.« – Ich fange an, an Wahrträume zu glauben.

München, Dienstag, d. 20. Juli 1915

(...) In der Angelegenheit Morstadt war ich gestern mit Zenzl draußen in Eglfing, wo ich den Arzt interpellierte, einen sympathischen Rundkopf, der wie fast alle Psychiater selbst schon einen stark angesponnenen Eindruck machte. Ich habe ein kurzes Protokoll über den Besuch meinem Morstadt-Akt angefügt. Die ganze Familientragödie, in die ich da Einblick bekomme, ist unbeschreiblich. Finny, das Tierchen, an dem alles abgleitet, im Mittelpunkt (Finny coronet opas). Väterlicher- wie mütterlicherseits Vorfahren und Angehörige geisteskrank. Die Eltern in Trennung, weil der Vater (Krupp-Beamter) ein Konkubinat auftut. Die Mutter führt das Mädel im Vor-Backfischalter in Bohemekreise, sitzt mit ihr bis drei Uhr jeden Morgen im Simplicissimus etc., und um acht Uhr muß das arme Wesen zur Schule. Mit dreizehn Jahren Entjungferung durch einen Einmieter – mit Wissen der Mutter. Die Mutter stellt der eigenen Tochter nach (wahrscheinlich mit Erfolg), sieht zu, wenn das Mädel mit Männern im Bett liegt. Die Kleine erfährt ein Mittel, mit dem Mutter von Großmutter Geld erpreßt: durch die Erinnerung an sexuale Beziehungen der Alten mit dem Schwiegersohn Morstadt. Im mütterlichen Kreise ohne jegliche Erziehung zur Arbeit, Beschäftigung mit Astrologie, Kartenschlagen, jedweden abergläubischen Humbug, miserabelste Lektüre. Im Verkehr mit jungen, unreifen Burschen (Leybold etc.) wüste Zotereien. Finny ist siebzehn Jahre alt, als Mama von einem Rechtsanwalt ein Kind kriegt (mein Mündel Clementine). Mit neunzehn Jahren wird sie selbst (von Leybold) schwanger, muß, um der »Schande« zu entgehen, in der Schweiz entbinden, bekommt durch die Anstrengungen der Reise und die Verhinderung, das Kind selbst zu nähren, Gebärmuttersenkung. Die Mutter wird irrsinnig. Finnys Kleiner wird hertransportiert, und nun sitzt das Mädel, das vom Vater schikaniert wird, weil sie nicht zu ihm will – früheren Erfahrungen nach hat auch dieser Ehrenmann nicht nur väterliche Empfindungen gegen die Tochter – in München herum und macht sich verflucht wenig Gedanken um Vergangenheit und Zukunft. Ich strebe an, auch die Vormundschaft über ihren kleinen Jungen zu kriegen, um den Großvater Leybold sowohl wie auch den Herrn Hugo BallHugo Ball (1886-1927), Schriftsteller. Nach anfänglicher Hinneigung zum Anarchismus Dramaturg bei Max Reinhardt, 1913/14 Mitarbeiter der ›Aktion‹; emigrierte 1915 mit Emmy Hennings in die Schweiz, gründete 1916 das Cabaret Voltaire in Zürich, das die Dada-Bewegung einleitete. zum Alimentezahlen zu zwingen. Der alte L. weigert sich zu zahlen, weil aus einem Brief Balls an Leybold hervorging, daß auch er mit Finny in der Konzeptionszeit zu tun hatte. Aus dem Brief ging aber auch hervor, daß Ball den Koitus nur herbeiführte, um dem Freunde Hans Leybold von der Alimentationspflicht zu helfen. Ich werde dann also zugleich Vormund sein von Frau Anna Morstadt, ihrer Tochter Clementine und ihrem Enkel Hans. Neben der Sorge für die armen, schwer belasteten kleinen Kinder würde ich es aber für meine Kampfpflicht halten, der armen Finny, die ganz hilflos und ohne Ahnung, wie man das Leben angreift, nur Zenzl und mir vertraut, gegen den Vater und gegen alle, die Geld oder Gunst von ihr wollen, einen Halt zu geben.

(...)

Lübeck, Sonntag, d. 25. Juli 1915

Es ist früh sieben Uhr. Ich liege im Bett und schreibe in etwas unbequemer Haltung, zieh das aber vor, weil ich, bei Grethe wohnend, zum Schreiben tagsüber weder Gelegenheit noch Zeit finde. Ich will die wichtigen und erregenden Ereignisse dieser Tage kurz andeuten.

Der Vater starb am Dienstag, dem 20. Ich reiste abends ab, von Zenzl, die dem Weinen nah war, und Finny zur Bahn gebracht. Mittwoch blieb ich in Waidmannslust, nachdem ich in Berlin für Einkleidung gesorgt hatte. Donnerstag nachmittag mit Onkel Leopold Abreise nach Lübeck. Der hatte mir vorher Einblick in die Hauptbücher der Häuserverwaltung gegeben. Freitag fand dann mittags die Beerdigung statt. Es waren viele Verwandte gekommen, die Lübecker Beteiligung war sehr groß. Amüsiert hat mich der Kampfgenossenverein, der die Orden dem Leichenwagen vorantrug und mit großer Fahne – lauter verwitwete alte Herren von 18661866 Schlacht bei Königgrätz, an der Mühsams Vater auf preußischer Seite teilgenommen hatte. und '70 – hinterherzog. CarlebachSalomon Carlebach (1845-1919), Rabbiner in Lübeck. hatte zu Hause gesprochen. Auf dem Kirchhof niemand. Scheußlich war mir nach der Versenkung des Sarges die religiöse Zeremonie in der Einsegnungshalle, wo ich mir mit Hans weiß Gott die Schuhe ausziehen mußte und hin- und herlaufen.

Onkel L. erklärte mir an diesem Abend noch, welche Änderung der Vater zu meinen Ungunsten noch am Testament getroffen hat: Pflichtteil... Die andere Hälfte des auf mich entfallenden Erbteils wird festgelegt und Zins auf Zins geschrieben, bis ich entweder wieder Apotheker werde oder eine als Jüdin geborene (sehr witzig!) jüdische Frau heirate oder 60 Jahre alt werde. Dann kriege ich das Ganze... Den gleichen Freitag noch saßen wir Geschwister zusammen im Hause des Verstorbenen, und Leo verlas die letztwilligen Aufzeichnungen. Der Vater hat über all und jedes bestimmt. Eine Vorsorglichkeit tritt zutage, die beispiellos ist. Ich muß bekennen, daß er mich in bezug auf Andenken und wertvolle Bedenkung ebenso reichlich wie meine Geschwister bedacht hat. Ja, die kostbarsten Dinge fallen eigentlich mir zu, besonders seine prachtvolle goldene Uhr mit Kette und Kugel, die er bis zuletzt getragen und benutzt hat.

Eine große, enttäuschende Überraschung gab es aber eben bei der Feststellung des Besitzstandes. Dabei kam heraus, daß der Multimillionär im Ganzen ein Vermögen von ganzen 235000 Mark hinterlassen hat. Hinzu kommt der Betrag von 90000 Mark, der an den Mitgiften der Schwestern noch zu verrechnen ist. Es gehen ab 12000 Mark an Erbschaftssteuern. So bleibt für mich die Gesamtbarschaft (für die nächsten 23 Jahre) von 35- bis 40000 Mark. 15000 Mark Schulden und eine bescheidene Wohnungseinrichtung (für die ich freilich wesentliche Gegenstände dem Hausstand des Vaters entnehmen kann) sollen bezahlt werden. Ich werde also ein Vermögen von höchstens 20000 Mark besitzen, von dem leider noch nicht mal das Nötigste für die Berner SchuldVgl. Eintragung 15. Juli 1911. flüssig ist.

(...)

Das ist doch ein recht schmerzliches Erlebnis: Am Ziel meiner sehnlichsten Erwartung stehe ich am Anfang neuer schwerer Sorgen und Ängste. Aber mein Trost ist: Von jetzt ab gibt es kein Hoffen mehr auf Tod und Erbschaft, sondern auf Leben und Arbeit!

Lübeck, Dienstag, d. 27. Juli 1915

Im Café Hansa in der Breiten Straße, da ich woanders kaum Gelegenheit habe, ungestört meine eigenen Dinge zu betreiben. Noch ist nicht alles so geklärt in mir, daß ich imstande wäre, Erlebnisse und Stimmungen der letzten Tage festzuhalten und zu überdenken. Nicht einmal meine Gefühle für den verstorbenen Vater vermag ich heute zu kontrollieren. Sicher ist nur, daß mich die große Enttäuschung, die mir die Feststellung seines Vermögens verursacht hat, gegen ihn versöhnlich gestimmt hat. Ich glaube, daß ich ihm manches abzubitten habe, da ich einsehe, daß er ein solches Maß von Unterstützung, wie ich es alle Jahre hindurch von ihm meinte beanspruchen zu dürfen, bei Wahrung seiner Absicht, seinen Kindern die nötigen Sicherheiten fürs Leben bei seinem Tod zu hinterlassen, angesichts seiner Besitzverhältnisse gar nicht leisten konnte. Dazu kommt der warme herzliche Ton seiner Verfügungen und Aufzeichnungen, wobei er durchaus niemals Unterschiede macht und gegen mich nicht ein einziges Wort des Vorwurfs ausspricht. Und in den Vermächtnissen an Gegenständen werde ich fast reichlicher bedacht als die Geschwister, und Dinge, die ihm besonders lieb gewesen sind, wie seine Uhr, die Ölbilder der Eltern etc. ausdrücklich für mich bestimmt.

(...) So schwankt mein Empfinden zwischen Ehrfurcht vor dem Andenken an den harten, strengen, verschlossenen und doch sehr gütigen alten Mann, der mein Vater war, und Verbitterung und Vorwurf, weil er die Brücken zwischen seinen Grundsätzen und meinen Notwendigkeiten im Leben und im Sterben nicht zu schlagen wußte. Als ich aber gestern mit zwei Kränzen nach Moisling fuhr und sie auf seinem frischen Grabe als ersten Schmuck niederlegte, da freute ich mich, in ehrlichem Herzen zu wissen, daß von nun an und für mein Leben Friede zwischen mir und ihm sein wird. Ich verließ wahrhaft erschüttert das Grab der Eltern.

(...)

Über meinen Plan, aus dem Judentum auszutreten,Mühsam trat 1926 aus dem Judentum aus. sprach ich mit Leo. Er bat mich sehr, davon abzustehen, und ich versprach schließlich, noch ein Jahr zu warten. Vielleicht ist's auch besser so, solange die Häuser-Erbgemeinschaft besteht. Sollten wir Kinder bekommen, so müßte ich sie zu Juden machen, will sie von Erträgnissen des großväterlichen Erbes nicht ausschließen.

Lübeck, Donnerstag, d. 29. Juli 1915

(...) Meine Biographie verlangt zunächst wieder eine bittere Feststellung. Wie mir gestern Leo mitteilte, ist eine erst in den allerletzten Tagen seines Lebens getroffene Bestimmung meines Vaters zu berücksichtigen, nach der ich alle Silber- und Wertsachen, die ich erbe und die er doch mit gleich liebevoller Besorgtheit für mich bestimmt hat wie die Vermächtnisse für die Geschwister, ebenfalls erst erhalten soll, wenn die Bedingungen erfüllt sind, die er gestellt hat, um mir den Besitz der zurückzulegenden Vermögenshälfte zugänglich zu machen. Ob ich die Uhr, die ich seit fast einer Woche trage, auch wieder abliefern muß, weiß ich noch nicht. Das Eßsilber aber, die Brillanten und die vielen Wertsachen, über die ich mich freute, werden für 23 Jahre ins Tresor gelegt. Zenzl wird nichts davon haben. – Mich verstimmt diese Wendung der Dinge außerordentlich. Gar nichts war in den letzten Jahren geschehen, was diese Kundgebungen der Erbitterung beim Vater hätte rechtfertigen können. Wofür er mich büßen läßt, ist groteskerweise folgendes: 1) Mein Verlöbnis mit Jenny, das nach seinem Herzen war und das weiß Gott ohne meine Absicht nicht zur Ehe führte. 2) Meine Bitte an den Vater, mir das Apothekergehilfenzeugnis zu schicken, die ihn fälschlicherweise in die Überzeugung versetzte, ich werde nach fünfzehnjähriger Verirrung den rechten Weg wiederfinden, 3) der Krieg, den ich nicht erstrebt habe und den ich weniger als irgendwer anderes billige, der mir aber die törichte Idee eingab, ich könne vorübergehend als Apothekengehilfe mir und meinen Mitmenschen nützlicher sein denn als Schriftsteller. – Wie teuer ich diese Dinge bezahlen muß, wird mir erst jetzt klar nach einem Gespräch, das ich gestern mit Leo führte, und das nun heut abend mit ihm und Julius fortgesetzt werden soll. Dabei wurde mir die angenehme Überraschung, daß ich mindestens für die nächsten drei bis vier Monate auf nicht mehr als höchstens 200 Mark monatlich werde rechnen können. Mit anderen Worten: Die ganze Misere geht von neuem los, mit dem Unterschied nur, daß ich nicht mehr auf eine bevorstehende Erbschaft hin werde pumpen können.

Waidmannslust, Sonnabend, d. 7. August 1915

Einen sehr genußreichen Tag mit Landauer verlebte ich gestern. Ich ging früh zu ihm nach Hermsdorf hinüber. Wir machten einen prächtigen Spaziergang durch den schönen märkischen Wald, ich aß bei ihm Mittag (Frau HedwigHedwig Landauer, geb. Lachmann (1868-1918), Dichterin. ist verreist) und blieb bis zum Spätnachmittag. Wir stellten die erfreulichste Übereinstimmung in der ganzen Beurteilung der Vorgänge fest. Auch unsere Wünsche und die Entwicklung unserer Wünsche im Lauf des Kriegsjahres laufen konform. Auch Landauer freute sich anfangs der deutschen Siege aus dem gleichen Gefühl wie ich: Wir sahen darin den schnellsten Weg zum Frieden. Jetzt stehen wir dem weiteren mit derselben Hoffnungslosigkeit gegenüber. Sehr schmerzlich war mir ein Brief, den Johannes Nohl nach einjährigem Stillschweigen aus Bern an Landauer geschrieben hat und den er mir mit seiner Antwort zu lesen gab. Zunächst in dezidierter Form ein Anpumpungsversuch um 100 Mark, daran anknüpfend aber leider ein traurig schwungvolles Bekenntnis zur »gerechten Sache« Deutschlands und Österreichs. Landauers Antwort ist mehr als grob. Er versagt ihm Hilfe und Achtung und erklärt sich zur Sache Tolstois.

(...)

Berlin, Montag, d. 9. August 1915

(...) Um zwei Uhr heute nachmittag findet in einem Caféhause am Belle-Alliance-Platz eine Konferenz statt, die meiner Initiative zu danken sein wird und zu der ich geladen habe: Ströbel,Heinrich Ströbel (1869-1944), 1900–1916 Redakteur des ›Vorwärts‹, ab 1917 USPD. Landauer, SchickeleRene Schickele (1883-1940), expressionistischer Schriftsteller aus dem Elsaß, Herausgeber der ›Weißen Blätter‹ (1914-1920). und Hardekopf. Einzelheiten für unsere Verabredungen habe ich noch nicht im Sinne. Nur will ich versuchen, für eine Art »Burgfrieden« zwischen den verschiedenen Parteien und Richtungen, die gegenwärtig gegen den Strom schwimmen, die Basis zu gründen. Wir müssen uns dahin einigen, unsere Differenzen in allgemeiner Weltanschauung, in Zielen und Arbeit vollkommen zurückzustellen und einen Weg zu konspirativer Propaganda suchen, um unsere gemeinsamen Ansichten zur Geltung zu bringen. Ob das in der Form des von mir geplanten ›Weltbundes gegen den Krieg‹ möglich sein wird oder ob wir uns zunächst auf Inlandsarbeit einigen werden, das stehe dahin. Jedenfalls hoffe und glaube ich, daß sich Möglichkeiten finden werden, wie wir trotz Zensur und Militärdespotie, trotz Staatswillkür und Gesinnungsverrottung den Ideen der Kultur und des Willens zum Frieden Raum und Atem schaffen können. Ich darf nicht eher nach Hause, ehe ich nicht weiß, daß mir dort – unter Hunderttausenden Einem – die Aufgabe winkt, für Gegenwart, Zukunft und Menschheit Zuträgliches zu wirken, und ehe ich nicht in Berlin Fäden gewebt habe, die den Telegrafendienst zwischen den paar Deutschen meiner Gemütsverfassung still und sicher versehen.

München, Donnerstag, d. 12. August 1915

Eine Reiseepisode. In der Gegend von Halle wurden gefangene Franzosen eskortiert. Man sah im Hintergrund Gefangenenbaracken. Ein Mitreisender meinte: »Schön wohnen sie da ja nicht gerade.« Ein anderer: »Immerhin besser als Unsere, besonders in Afrika.« Der erste, der sich nun wohl seiner menschlichen Regung schämte: »Kann ihnen ja auch nichts schaden, daß sie bei uns mal arbeiten lernen!« ... Diese Überhebung ist typisch. Was wird nur daraus werden, wenn wirklich westliches Land annektiert und »germanisiert« wird. Ein nicht auszudenkendes Unglück für alle menschliche Gesittung.

Im Osten wird dauernd weitergesiegt. Daß die Kraft der Russen damit gebrochen wäre oder würde, ist natürlich Unsinn. Aber die Gefahr, daß dort deutsche Truppen zu ähnlichen Aktionen im Westen frei werden können, ist sehr groß. Und am Balkan ist immer noch keine Wandlung zu erkennen. Vielleicht stehen wir erst am Anfang des ganzen Krieges. Die Rabbiner – selbst Carlebach in Lübeck gehört dazu – predigen von den Synagogenkanzeln seltsame Weissagungen. Um das Jahr 1830 lebte ein Talmudist, der hat die Prophezeiungen des Buches Daniel (das ich gestern Zenzl vorlas) gedeutet, und da schon viele wichtige Einzelheiten seiner Deutungen durch die Geschehnisse bestätigt sind, glauben die bibelgläubigen Juden alles Weitere: Danach soll dieser – genau vorhergesagte – Krieg vierzehn Jahre dauern. Sobald er aber zu Ende ist, werde der Meschiach kommen, die Welt erlösen und das Reich Juda über der Menschheit errichten. Ich habe den Lübeckern gesagt, falls das wahr werden sollte und der Messias komme zu ihnen, so möchten sie ihn mir doch auch nach München schicken. Ich möchte den Mann gern kennenlernen.

München, Montag, d. 23. August 1915

Über die Kosten des Kriegs hat HelfferichKarl Helfferich (1872-1924), Wirtschaftspolitiker, als Leiter des Reichsschatzamts ab 1915 verantwortlich für die Finanzierung des Krieges. im Reichstag dolle Zahlen genannt: Danach betragen die täglichen Kriegskosten für alle beteiligten Mächte zusammen fast 300 Millionen Mark.

(...) Die Zerstörungswerte und der Ausfall sind nicht mitgerechnet – und die täglich hingemordeten Menschen auch nicht. Keine Phantasie reicht aus, um all das Unglück, das in diesen Zahlen ausgedrückt wird, zu erfassen. Aber die Welt jubelt, sie erlebt ihre »große Zeit«.

Für die Sozialdemokraten sprach im Reichstag Dr. David.Eduard David (1863-1930), sozialdemokratischer Politiker des rechten Flügels. Der ›Vorwärts‹ konstatiert ganz richtig, daß seine Rede sich von denen der bürgerlichen Herren gar nicht unterschied. Nicht einmal gegen die Annexionsabsichten fand er mehr Worte, als in einem nichtssagenden Satz Raum hatten. Bei der Abstimmung waren wieder 29 Sozialdemokraten aus dem Saal gegangen. Gegen die zehn neuen Milliarden stimmte nur Liebknecht, dessen Versuche, sich Gehör zu schaffen, in Lärm und Gewieher der wahren deutschen Volksvertreter erdrosselt wurden. Im ganzen Land aber ist der Mann, der den Mut hat, sich in der Uniform eines Armierungssoldaten, der also rettungslos den Schindereien patriotischer Vorgesetzter ausgesetzt ist, allem entgegenzustellen, was ungestraft den Mund aufmachen darf, ein Gernegroß, ein Poseur oder bestenfalls ein Narr. So tief ist das ethische Gewissen Deutschlands gesunken, daß, wer die Empfindungen der Millionen öffentlich ausspricht, im ganzen Land als Lügner verlästert wird. Der Sieg der deutschen Waffen wird die Vernichtung der deutschen Seele sein!

München, Mittwoch, d. 15. September 1915

Verheiratet.

München, Donnerstag, d. 16. September 1915

Einiges Episodische von der Eheschließung. Vorgestern waren wir mit dem Ehepaar Anthes in der Max-Emanuel-Brauerei zum Abendbrot. Dorthin kam später Ludwig Engler mit Finny. Er erzählte von einem Besuch des Dr. Zeheter, einem jener Verehrer Zenzls, die sich einbilden, aufgrund ihrer sentimentalen Empfindungen Anspruch auf Mitbestimmung ihres Schicksals zu haben. Er fragte, ob Englers Frau zu Hause sei. Als das verneint war, wollte er sie am nächsten Tag aufsuchen. Engler erwiderte ihm: »Morgen wird es auch nicht gut passen. Morgen heiratet meine Frau.« ... Gestern in aller Frühe kam nun der unglückliche Liebhaber zu mir, um im letzten Moment doch vielleicht noch das Unglück zu verhüten. Er bekam Kaffee, was ihn sichtlich besänftigte, doch erreichte er es, daß Zenzl und ich am Morgen unserer Hochzeit nicht eine Minute allein miteinander sprechen konnten. Nachher kamen dann die Trauzeugen Luther und Maaßen, und mit der Trambahn fuhren wir zum Festakt. Der verlief so grotesk wie möglich, da die Kopulierung von einem Manne vorgenommen wurde, der einen mir neuen Typus des salbungsvollen Staatsbeamten darstellt. Mit monoton plärrender Stimme trug er uns die Pflichten gegeneinander vor, wonach ich meine Gattin zu behüten, beschirmen, ernähren, sie mir hingegen ein sonniges Heim zu bereiten habe (Zenzl meinte nachher auf der Straße, sie werde ein Südwohnung suchen). Schmalz und Korrektheit verschmolzen in der Ansprache in einen Brei von Kanzleikomik, so daß ich die größte Mühe hatte, mein Grinsen nicht in lautes Gelächter überschlagen zu lassen. Zenzl ging es offenbar ebenso, und die beiden Zeugen standen würdig und mit größter Selbstbeherrschung ernsthaft zu unserer Seite.

(...)

München, Freitag, d. 24. September 1915

Ausgemustert – Dienstunfähig. Keine Engelsmusik hätte mir lieblicher in die Ohren tönen können als diese Entscheidung des Stabsarztes gestern vor der »Hilfsersatz-Kommission«. Vorgestern stand ich mit Zenzl an der Görresstraßenecke, als ein älterer Stabsarzt vorbeikam. Ich benutzte die Gelegenheit, um Zenzl vorzuklagen: »Ich glaube, nächstens platze ich vor Nervosität.« Zenzl beschwichtigte besorgt, bis ich ihr klarmachte, daß nur der Militärarzt mich zu dem Bekenntnis veranlaßt hatte. Der Zufall gab, daß wirklich derselbe Mann das Urteil über Leben oder Tod für mich zu fällen hatte.

Um halb neun mußte ich im Zimmer 38 des Wehramts antreten, wo sich im Ganzen etwa 170 Mann versammelten, alle aus den Jahrgängen 1881-78. Zunächst gab ein Beamter in Zivil Anweisungen, in welcher Weise »die Herren« zur Musterung vorgenommen würden. Dann erschien ein Oberstleutnant, der uns als »Mannschaften« apostrophierte und die Erklärung abgab, die Ausgehobenen würden sehr bald eingezogen werden, wohl schon Anfang Oktober: die Stimmung unter den bis dahin »dauernd Untauglichen« sank sichtlich, besonders als dann die ersten untersuchten Leute mit Leichenbittermienen herauskamen und erzählten: »Oalls packn's aa!« und einer nach dem anderen die Nachricht brachte: Verwendungsfähig, Infanterie, Pioniere etc., so daß schon die wenigen, die als garnisonsdiensttauglich bestimmt wurden, Neid und Glückwünsche einkassierten. Es schien, als sollten nur die wirklichen Krüppel ausgemustert werden. Die armen Leute taten mir schrecklich leid, und ich dachte mit Entsetzen daran, daß meine Aussichten, frei zu werden, auch immer tiefer sanken. Ich hätte gewünscht, daß unsere Repräsentationshelden, Kaiser, König, Kanzler, Minister, die überall Glockengeläut, Hochgeschrei und Siegesjubel vorgemimt bekommen, diesen Saal 38 betreten sollten. Sie hätten ein bißchen wahre Volksstimmung wahrnehmen können. Von den 170 Männern dachte nicht einer an Vaterland und Ruhm, eine furchtbare Depression lastete über den Gemütern, und die Gesichter derer, die ausgehoben waren, drückten tiefste Verzweiflung aus – und den entsetzten Gedanken: zum Tode verurteilt!

Ich überlegte indessen die Folgen, die die Einstellung für mich haben müßte, und beschäftigte mich im Geiste mit dem Eid, den ich hätte schwören müssen: Treue für König und Vaterland. Jeder weiß, daß das für mich wertlose Begriffe sind und daß mir gar nichts ferner liegt, als mich diesen höchst bekämpfenswerten Einrichtungen mit Leib und Leben zu verpflichten. Gott ist den Menschen der höchste Ausdruck aller seelischen Wahrheit, Ergriffenheit und Erfülltheit. Wer zu Gott schwört, tut es – nach dem Geiste der Frömmigkeit – aus dem tiefsten Bewußtsein seiner Herzenswahrheit heraus. Der Staat beruft sich auf Gott als den Schirmer seiner Berechtigung, der König führt sein Amt von Gottes Gnaden. Staat und König aber nötigen unter Zwang und Drohung die Menschen zur Ablegung eines Eides um Gottes willen, der den wenigsten von Herzen kommen kann, vielen aber direkt gegen die Wahrheit läuft. Den so erpreßten Eid benutzen sie dann als Waffe und Folter gegen den, der ihn leisten mußte. Ob nie einem Geistlichen diese entsetzliche Schmähung der Gottheit, diese fürchterliche Unsittlichkeit klargeworden ist? Als ich diese ganze Gedankenreihe durchging, beschloß ich endgiltig, den Treueid zu verweigern, wenn er von mit verlangt würde: auf jede Gefahr.

Mir ist gottlob die furchtbare Not erspart geblieben. Auf die Frage, was mir fehle, berief ich mich auf schlechte Augen und Herzerweiterung, die sich in Erschöpfungszuständen äußern. Der Stabsarzt selbst legte mir nahe, mich auch auf die Lungen zu berufen, behorchte mich nur ganz wenig und erklärte mich als »Ausgemustert!« Ob ich das den seit fünfzehn Jahren gerauchten Zigarren, getrunkenem schwarzen Kaffee und Alkohol und umarmten Frauen verdanke oder dem freiwilligen Verzicht der Militärbehörde, wage ich nicht zu entscheiden. Die neugierigen Blicke der Offiziere und Beamten, als ich in leuchtender Nacktheit in ihren geweihten Raum trat, läßt mich jedenfalls darauf schließen, daß man sich vorher über mich unterhalten haben wird, und da mag wohl die Ansicht laut geworden sein, daß ein derartiger Miesmacher in der deutschen Armee mehr ruinieren als helfen kann. So wäre denn einmal mein Festhalten an der stets bestätigten Gesinnung wahrhaft belohnt worden. Ein Martyrium hätte ich ohne »Stolz« hingenommen.

Aber in was für Situationen einen der Krieg bringt, das wurde mir erst ganz klar, als ich im Vorraum der Musterung warten mußte, bis die Reihe an mich kam, und mit angstvoll zitterndem Herzen mit noch etwa zehn Leidensgefährten im Kreise um ein Zimmer saß, jeder war mit dem Hemd bekleidet, aus dem die behaarten oder glatten, krummen, dürren oder wampigen nackten Beine hervorstachen. In dieser grotesken Maskerade, die das Vaterland von uns verlangt, mußten wir unser Schicksal erwarten, das für manchen tragisches Verhängnis sein mag.

München, Sonntag, d. 17. Oktober 1915

Paul Scheerbart ist gestorben – nach der kurzen Zeitungsnotiz, aus der ich es erfahre, »einem Schlaganfall erlegen«. Ich finde mich noch gar nicht zurecht in dem Gedanken, daß dieser wundervolle, wunderliche Wunderkerl tot sein soll. Die Zeitungen nennen ihn einen komischen Kauz, einen Sonderling und wie noch alles. Daß sie und das Publikum ihn haben verhungern lassen wie seinerzeit Peter Hille,Peter Hille (1854-1904), vagabundierender Dichter und Bohemien, eines der Vorbilder des jungen Mühsam. das wollen sie nicht wissen. Einmal sah ich, wie es in ihm aussah: als unser grotesker Zeitungsplan ›Das Vaterland‹ in der groteskesten Weise scheiterte (das beschreibe ich noch mal ausführlichDer gemeinsame Versuch (Berlin 1903) wird in ›Unpolitische Erinnerungen‹ geschildert. und sein unbändiges Lachen plötzlich in wildes Weinen umschlug ... Ich bin überzeugt, daß Scheerbart ein Opfer des Kriegs geworden ist, wie er natürlich auch sonst etwas später ein Opfer des Alkohols, und das heißt der Not, geworden wäre. Aber die maßlose Teuerung dieser Zeit wird dem BärenAnna Scheerbart. ja nicht einmal mehr gestattet haben, den Schweinebauch mit Rüben zu kochen, der sonst herhalten mußte, wenn überhaupt zum Essen etwas Geld da war.

München, Sonntag, d. 31. Oktober 1915

Ich gehe mit der Idee um, demonstrative Proteste gegen den Krieg zu organisieren. Bin allerdings vorläufig noch gar nicht im klaren, wie. Straßenkundgebungen sind sicher das Wirksamste und das Gefürchtetste. Die Stimmung im großen Publikum ist nachgerade reif, um dem Ruf nach Frieden und Brot Echo zu schaffen. Wenn etwa bei einem der polizeilich geschobenen Huldigungszüge vorm Wittelsbacher Palais plötzlich von vier, fünf Leuten an verschiedenen Stellen der Ruf ertönte: »Wir wollen Frieden und Brot!« so wäre vielleicht zu erreichen, daß aus der Huldigung ein allgemeiner Protest würde – und man weiß nie, ob aus solchen Anfängen nicht große und sehr eindringliche Krawalle entstehen können, was gegenwärtig der zuverlässigste Weg wäre, um den Wunsch nach Beendigung der Schweinerei auch bei den »Verantwortlichen« äußerst dringend werden zu lassen. Nur werden solche Huldigungszüge stets nach großen Siegen unternommen, wenn die Stimmung also den Adversären günstiger ist als uns, zudem nehmen daran zumeist Leute teil, die – wenigstens nach außen – auf loyale Stellung besonderen Wert legen. Außerdem bin ich noch ganz im Zweifel darüber, wie ich die zuverlässigen Leute finde, die den Versuch auf die Gefahr hin, verprügelt und verhaftet zu werden, unternehmen mögen, und wie ich selbst dabei völlig im Hintergrunde bleiben kann. Nicht daß ich Angst hätte – wüßte ich, dadurch Nützliches bewirken zu können, wäre mir auch jahrelange Haft nicht zu teuer. Aber mein Name im Zusammenhang mit Friedenskundgebungen würde alles verderben, weil die Sozialdemokraten nicht zögern würden, mich abzuschütteln und als Beweis dafür zu benutzen, daß Anarchisten Provokateure sind, und das haben sie längst fertiggebracht, im deutschen Sprachgefühl das Wort provocateur nur mit der Assoziation agent gelten zu lassen.

Vielleicht nimmt mein Plan bei längerer Überlegung greifbarere Formen an, oder eine Gelegenheit ergibt sich, wo er sich zwanglos realisieren läßt.

München, Sonntag, d. 21. November 1915

Der Berliner Aufenthalt war trotz aller Anregungen und erfrischenden Begegnungen quälend, zumal Zenzl schauderhaft unter der geschmacklosen Betriebsamkeit der Stadt litt. Dazu kam die Veränderung des Bildes durch den Krieg. Ein viel sichtbarerer Männermangel als anderswo. Frauen als Briefträger, als Trambahnschaffner, Fensterputzer, Eisenbahnbeamte, Frauen sogar bei der Nachtarbeit an der Untergrundbahnstrecke Nord-Süd, wegen deren Anlegung die ganze Friedrichstraße aufgerissen ist, und an der Kranzler-Ecke stehen Frauen mit Spitzhacke und Schaufel in den Erdlöchern und bauen. Aber auch die Unzufriedenheit ist in Berlin schon ganz anders bemerkbar als hier.

(...)

Mit Landauer waren wir vielfach zusammen. Wir stellten in bezug auf das Zeitgeschehen völlige Übereinstimmung fest: Die Überzeugung (wie sie auch BernsteinEduard Bernstein (1850-1932), sozialdemokratischer Politiker und Publizist, leitete in den neunziger Jahren den Revisionismus ein, schloß sich 1916 dem pazifistischen Flügel an und wurde Mitglied der USPD. geäußert hatte), daß die Sache der Mittelmächte keineswegs so glänzend stehe, wie man es vorzutäuschen sucht, und daß jeder Tag der Kriegsverlängerung der Entente zunutze kommt. Die ganze deutsche Kriegsführung gleicht einer ungeheuren Donquichoterie, immer von neuem werden unter Aufbietung kolossaler Energien und unter entsetzlichen Verlusten neue Pläne entworfen, unternommen und wieder aufgegeben. Die Taktik der Gegner, dabei einfach die völlige Erschöpfung Deutschlands und Österreichs abzuwarten, scheint daher sehr aussichtsvoll, wenn auch der schreckliche Gedanke nicht von der Hand zu weisen ist, daß bis zur Erreichung des Ziels aus dem Weltkonflikt ein neuer siebenjähriger Krieg geworden sein kann. Das zu verhindern, werden revolutionäre Taten geschehen müssen, und für die ist vielleicht auch mir noch eine Funktion vorbehalten. Landauer meint freilich, daß konspirative Versuche, wenn sie mißlingen, erstens zur Verlängerung des Krieges beitragen könnten, zweitens Leute, die nachher noch viel zu tun haben und dringend nötig sind, für Jahre und Jahrzehnte ins Zuchthaus bringen könnten. Ich verschließe mich diesen Erwägungen nicht, aber oft will mir scheinen, als ob ich die Untätigkeit einfach nicht ertrage.

München, Montag, d. 22. November 1915

Zenzl hat sich gestern ein Herz gefaßt und ihren Sohn, den sie sieben Jahre nicht gesehen hatte, aufgesucht. Heute war der Junge nun bei uns, und ich habe mich mit dem dreizehnjährigen Stiefsohn gleich angefreundet. Siegfried Elfinger, das Andenken an das erste Liebesabenteuer Zenzls in ihrem achtzehnten Jahr, ist ein aufgeweckter, bescheidener, kritisch interessierter, sehr netter Bub, wenig verspielt und skeptischen Weltauffassungen offenbar sehr zugänglich. Ich denke, in seinem beweglichen Alter guten Einfluß auf sein Urteil und seine Entwicklung nehmen zu können.

(...)


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