Tagebücher 1910-1924
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1920

Ansbach, Dienstag, d. 27. Januar 1920

(...) Mein Brief an den Mehrheitler Eschenbacher hat seine Wirkung getan. Heut war er mit seinem Kollegen vom Arbeiterrat Czerny zu einer Unterredung mit mir hier. Dabei erhielten wir Aufklärung über das eigenartige Verhalten der Ansbacher Arbeiterschaft, speziell der Kommunisten, gegen uns. Die Herren zeigten mir einen Brief der Ansbacher KP als Antwort auf ihre durch meinen Brief veranlaßte Anfrage. Es ging daraus hervor, daß offenbar Mehrer und Riedinger, die ja zu allen Infamien Zensurfreiheit genossen, die abscheulichsten Intrigen gezettelt hatten, die den Genossen den Glauben beigebracht haben, wir seien alle nicht wert, den Namen Revolutionäre zu tragen. Aber der Hauptgrund liegt noch woanders, nämlich in meiner Person. Ich sei aus der KPD ausgeschlossen, und da ich ein Anarchist sei und man mit kommunistisch-anarchistischen Wirrköpfen nichts zu tun haben wolle, bestehe keine Anlaß, sich meiner oder der USP-Mitglieder anzunehmen. »Wirrköpfe«: wie oft habe ich das Wort nicht von den Sozialdemokraten gehört im Laufe der langen Jahre meiner öffentlichen Tätigkeit! Jetzt hat die Zentrale des Dr. LeviPaul Levi (geb. 1883), Mitbegründer der KPD, ab Frühjahr 1919 ihr Vorsitzender; Gegner der »Offensivstrategie«. Die Feindseligkeiten gegen Mühsam resultierten aus Levis Politik der Mäßigung und Konsolidierung (Aufbau einer legalen Massenpartei) und der Ausgrenzung der Linksradikalen auf dem 2. Parteitag. Levi wurde 1921 wegen Rechtsopportunismus aus der KPD ausgeschlossen. Übertritt zur USPD, 1922 zur SPD. Freitod 1930. es wieder aus dem Schutt gezogen (so daß es auch Ringelmann in seinem letzten Brief mit schöner Geläufigkeit anwandte), und nun kriege ich es – und mit mir zugleich sämtliche Mitgefangene – von den Tröpfen der Ansbacher Kommunistenpartei an den Kopf geworfen, die die Klarheit der »wissenschaftlichen« Marxweisheit mit Löffeln gefressen zu haben scheinen. KainJohann Kain (geb. 1887), Festungsgefangener (KPD), wurde durch das Gebot der Parteidisziplin ebenfalls zum Mühsam-Gegner. will morgen ein Schreiben an die kleinen Parteipäpste loslassen, das ihnen die Köpfe waschen soll. Zugleich hacken die Bibelgläubigen der andern Seite auf mir herum. Rudolf Grossmann poltert im ›Freien Arbeiter‹ wütend gegen mich losRudolf Grossmann (1882–1942), Ps. Pierre Ramus, Wortführer einer anarchistischen Kampagne gegen Mühsam, die mit dessen KPD-Beitritt einsetzte, vor allem das Bekenntnis zu leninistischen Prinzipien des Klassenkampfes angriff und 1925 im Ausschluß Mühsams aus dem anarchistischen Dachverband FKAD gipfelte. und beweist, daß Anarchismus und Bolschewismus unvereinbare Begriffe seien. Dabei leistet er sich die niedliche Unterstellung, mein Umschwenken zu Lenin erkläre sich aus der Möglichkeit, daß ich als Bolschewist zu Amt und Würden in der Räterepublik kommen wolle. Es ist ein Jammer, daß sich mit diesem Kaliber Dispute über theoretische Doktorfragen nur mit der Jauchespritze in der Hand führen lassen. Im Hinblick auf das Ziel kann einen Wehmut und Gänsehaut beschleichen. Aber trotzdem!

Ansbach, Sonntag, d. 22. Februar 1920

(...) Die tapferen Ansbacher Ulanen plärrten schon gestern durch die Straßen: »Siegreich wollen wir Frankreich schlagen!« – Die Menschen haben also von der Sorte in fünf Jahren noch nicht genug bekommen. Trotz aller reaktionären Gewaltpolitik, die ungeschwächt am Werke ist, scheint der Gedanke, daß die Freiheit schon am Kerkertor steht, nicht utopisch zu sein. Aber bei allem Heimweh, das ich oft genug fühle – mein Wunsch wäre die Amnestierung jetzt durchaus nicht. Was täte ich jetzt draußen? Ich könnte mich in München wahrscheinlich nicht einen Tag ohne schwerste Lebensgefahr aufhalten. Es wäre ein dauerndes Versteckspiel vor Spitzeleien und Polizeischikanen. Die öffentliche Agitation in Versammlungen oder in Proklamationen würde sicher verhindert. Ich würde also wahrscheinlich entweder irgendwo weit vom Schuß privatisieren müssen, was ich einfach nicht aushielte, oder ins Ausland gehen, jedenfalls zu Nexö – der jetzt in Baiern ist – nach Dänemark. Wüßte ich, daß ich von dort aus Gelegenheit fände, nach Rußland zu kommen, wär's recht. Dann könnte ich natürlich nützlich arbeiten.

(...)

Ansbach, Montag, d. 15. März 1920

Ich weiß noch nicht, ob ich heute werde zum Arbeiten die innere Ruhe finden. Es ist morgens. Eben kam die Zeitung. In Berlin ist der gegenrevolutionäre Umsturz da – natürlich erfolgreich. Reichskanzler: Generallandschaftsdirektor Kapp,Der Kapp-Putsch wurde nach wenigen Tagen durch eine landesweite Streikbewegung zum Scheitern gebracht. In Bayern trat das Kabinett Hoffmann (SPD) zurück, und eine rechte Koalition unter Kahr, gestützt von den Putschisten, übernahm die Regierungsgewalt: Bayern wurde zur »Ordnungszelle«. Reichswehrminister: General v. Lüttwitz. Die Sache ist von der Marinebrigade mit Baltikumtruppen zusammen gemacht worden. Die entgegengeschickten Reichswehrtruppen haben natürlich sofort fraternisiert, ebenso die zum Schutz der Regierungsgebäude in der Wilhelmstraße und Umgebung postierten Truppen. So ist die Geschichte ganz unblutig verlaufen. Die Reichsregierung ist flüchtig, erläßt von auswärts (vermutlich Weimar) einen Aufruf zum Generalstreik. Reizend: die Arbeiter sollen streiken, damit nicht Lüttwitz, sondern wieder Noske auf sie schießen läßt.

(...) Die Gefahr, die aus der neuen Lage für mich persönlich und für meine Genossen erwächst, unterschätze ich nicht. Und doch bin ich froh. Es ist ein großer Schritt vorwärts auf unsere Bahn. Die Nationalisten werden jetzt zeigen, daß sie so wenig vermögen wie die anderen. Das Volk, das in letzter Zeit ganz in reaktionären Hoffnungen schwelgte, wird eine neue furchtbare Enttäuschung erleben, und dann kommen wir und werden wirklich Ordnung schaffen, die allerdings die Besitzenden weh tun wird. Angst habe ich vor der Verwilderung in Berlin – ich fürchte Pogrome. Die Soldateska ist losgelassen. Tritt die Arbeiterschaft in den Generalstreik – Herr Kapp droht dagegen und gegen Sabotage äußerste Gewalt an –, so sicher nicht für Ebert,Friedrich Ebert (1871-1925), 1913-19 Parteivorsitzender der SPD, 1919-25 Reichspräsident. Noske, David, Heine und tutti quanti, sondern für sich selbst. Ob sich der Generalstreik aber zum bewaffneten Aufstand wird auswachsen können, ist vorläufig zweifelhaft, da das Proletariat gar keine Waffen hat und die Reichswehr völlig in den Händen der gegenrevolutionären Offiziere ist. Immerhin: das Chaos steht vor der Tür. Und das Chaos brauchen wir, um der Revolution durchzuhelfen. Daß ich mich doch jetzt mit jemandem aussprechen könnte!

Ansbach, Dienstag, d. 23. März 1920

(...) Das Buch›Die Einigung des revolutionären Proletariats im Bolschewismus‹ ist spätestens übermorgen fertig. Dann schreibe ich das Ganze ab, um vor der Konfiskation bei der Zensur gesichert zu sein. Das Ganze ist ein großer Hymnus auf Bakunin. Es ist seltsam, ich habe ihn noch gar nicht recht gekannt und auch jetzt kein einziges seiner Werke gelesen, alles nur aus Werken über ihn und seinem Briefwechsel mit HerzenAlexander Herzen (1812-1870), russischer Schriftsteller und Publizist, Wegbereiter der revolutionären Bewegung in Rußland. und OgarjowNikolai Ogarjow (1813-1877), russischer Lyriker und Publizist, mit Herzen befreundet. Mitbegründer der Geheimgesellschaft ›Land und Freiheit‹ zusammengesucht. Früher habe ich überhaupt nur über ihn einiges wenige gewußt, von ihm gar nichts gekannt. Und nun finde ich eine Übereinstimmung der Ansichten bis in die Einzelheiten, die mich verblüfft. In den gleichen Worten, in denen ich diesen und jenen Gedanken schon geäußert habe – die Abneigung gegen die Vergottung der Wissenschaft etc. –, finde ich ihn bei ihm antizipiert. Wenn Theosophen mit ihrer Reinkarnationslehre recht haben, möchte ich glauben, in mir wiederhole sich Bakunin. Seinem Pech sähe es auch ganz ähnlich, wenn sein Geist ausgerechnet in den Leib eines deutschen Juden gefahren wäre. Ich lese jetzt Briefe Karl Liebknechts aus dem Felde und aus dem Zuchthaus. Ein wundervoller Mensch so rein wie wenige. Seine Mörder und die Landauers laufen frei durch die Welt. Wie lange noch? – Ich bin guten Mutes. Denn ich glaube an die ewige Gerechtigkeit.

Ansbach, Mittwoch, d. 24. März 1920

Todestag meiner Mutter. 21 Jahre! Das Ereignis lag genau in der Mitte zwischen meiner Geburt und jetzt, und mit ihm fing in der Tat ein anderer Mensch in mir an, lebendig zu werden. Der Widerstand gegen meinen Widerstand war mit dieser Frau hingegangen – der Rebell brach durch. Wäre sie am Leben geblieben und statt ihrer der Vater gestorben, mein Leben wäre in anderen Bahnen verlaufen, mindestens in ebneren, sanfteren. Ich weiß nicht, ob ich's hätte wünschen sollen. Meine Kämpfe haben mich doch sehr reich gemacht. – Der ›Fränkische Kurier‹ ist wieder da. Jetzt habe ich einigen Überblick und bin froh. Die Sachen stehen wieder gar nicht schlecht. Das ganze Ruhrgebiet ist in den Händen der Arbeiter, die eine richtige Rote Armee geschaffen haben und siegreich vorrücken. Es hat viel Blut gekostet, dort und anderswo. Aber das Proletariat hat Wunderbares geleistet. Ich bin so sehr glücklich darüber, daß diese geschmähten deutschen Arbeiter so herrlich erwacht sind. Vielleicht werden sie ihre Positionen diesmal noch nicht halten können, die Widerstände der Bourgeoisie sind furchtbar stark, und sie verfügt noch über das ganze Militär.

(...)

Morgen wird das Buch fertig. Dann kommt das Abschreiben. Mir graut. Und dann kommt das Schlimmste; das Ding in die Welt schicken. Gelingt es, das Manuskript glücklich aus dem Hause zu schaffen, dann wird es gelesen werden und Sensation machen. Meine Lösung der Einigungsfrage ist die einzig mögliche. Und der Weg wird auch gegangen werden. Ich hoffe auf RühleOtto Rühle trat für eine proletarische Sammelbewegung links von den Parteien ein und entsprach damit Mühsams Einigungskonzept. 1921 trat er aus der AAU aus und gründete mit Pfemfert die strikt föderalistische AAU (Einheitsorganisation), danach zog er sich aus der Politik zurück. – und auf ein Machtwort Lenins. Denn die deutschen Parteitrottel brauchen Machtworte. Sonst versumpfen sie völlig. – Ich freue mich dieses Buches. Da habe ich einen guten Dienst getan.

Ansbach, Sonnabend, d. 10. April 1920

(71. Geburtstag der Mutter). Heute kam der ganze Pack Zeitungen nachgeliefert. Ich las fast den ganzen Vormittag, so daß ich heute im 2. Akt des ›Judas‹›Judas. Ein Arbeiterdrama‹. 1921 erschienen im Malik-Verlag Berlin und uraufgeführt in Mannheim. nicht weit gekommen bin. Das Bild, das ich mir von der allgemeinen Lage gemacht hatte, braucht nicht viel retuschiert zu werden. Die Reichswehr ist trotz aller Drohungen mit dem Generalstreik ins Ruhrgebiet einmarschiert, hat wieder schauderhaft gehaust – das baierische Freikorps Epp scheint grauenvoll gewütet zu haben – und SPD, USP, KPD, Gewerkschaften und Regierungen sind ganz einer Meinung, daß durchaus die Zeit für einen neuen Generalstreik nicht günstig sei.Nachdem der Kapp-Putsch zum Generalstreik und zur Bildung einer »Roten Ruhrarmee« geführt hatte, marschierte Anfang April die Reichswehr ins Ruhrgebiet ein und zerschlug die Arbeiterarmee in blutigen Kämpfen. Zenzl hat mir berichtet, daß die Münchner Arbeiterschaft am lautesten nach mir verlangt. Komme ich frei, soll sie sich nicht in mir täuschen. Ich werde nie ein »Führer« werden, sondern nur ein Aufwiegler. Meine Aufgabe wird sein – und ich hoffe da, in Kain die stärkste Stütze zu finden, das ganze Gesindel von Führern endgiltig zu entthronen und dem Volk selbst auf den Kutschbock zu helfen.

(...)

Gefängnis Ansbach, Montag, d. 19. April 1920

Ich bin aus merkwürdigen Gründen gezwungen, vor der Zeit ein neues Tagebuchheft anzufangen. Müller-Meiningen hat einen Gewaltakt begangen, der alles bisher Geleistete in den Schatten stellt. Heut früh erschien bei mir der Verwalter mit zwei Aufsehern – ich wollte mir gerade die Zähne putzen – und erklärte, eine Visitation vornehmen zu müssen. Zunächst an mir selbst. Man fuhr mir in die Taschen, und ich mußte sogar die Strümpfe wieder ausziehen. Dann wurde ich gegenüber in eine andere leere Zelle gesperrt, wohin ich nicht mal Papier und Bleistift mitnehmen konnte (trotzdem ist dort ein Gedicht entstanden). Inzwischen wurde meine Zelle völlig ausgeräumt, und als ich um halb drei endlich wieder herüber durfte, hatte ich lange zu tun, um die Sachen einigermaßen wieder an Ort und Stelle zu bringen. Sieben Stunden habe ich ohne jede Beschäftigung drüben zubringen müssen. Um neun Uhr kam der Verwalter und las mir einen Wisch vor von der Staatsregierung. »Die Festungsgefangenen und Mühsam« sind gründlich zu durchsuchen. Sie werden bis auf weiteres in Einzelhaft gesperrt, der Hofspaziergang fällt weg, keine Zeitungen kommen herein, Besuche werden gänzlich ausgeschlossen. Gründe: Niemand weiß von etwas. Von meinen durchsuchten Sachen vermisse ich bis jetzt: meine sämtlichen Tagebücher vom Oktober 1918 ab; das Reinschriftmanuskript der Einigungsbroschüre (die Kladde ist Gott sei Dank da), die Photographie Albert Reitzes, das dicke Notizbuch mit den Gelegenheitsgedichten und das Heft mit den losen Blättern meines gestern beendeten ›Judas‹-Dramas, also so ziemlich alles, was für mich persönlich, künstlerisch, beruflich und historisch Wert hat. Ich habe mich den ganzen Tag bemüht, den Staatsanwalt zu sprechen, vergeblich. Was draus wird, ist nicht abzusehen. Also vollständiger Abschluß von der Außenwelt – ich vergaß noch: Wir dürfen nur noch Briefe geschäftlichen und familiären Inhalts schreiben und bekommen Briefe mit politischen Erörterungen nicht mehr ausgehändigt. Keine Zeitungen!

(...)

Ansbach, Montag, d. 3. Mai 1920

Der letzte Abend in diesem trüben Verlies, und morgen, denke ich, wird großer Glückstag sein. Ich hatte vorhin den Besuch des Staatsanwalts. Er war sehr entgegenkommend. Zenzl darf hinaufkommen. Wir dürfen eine Stunde allein in der Zelle sein, und aus einer Bemerkung in einem Brief, daß ich ihr eventuell mein Stück vorlesen möchte, nahm der Mann von sich aus Anlaß, mir zu sagen, daß ich das eventuell oben im Gemeinschaftsraum tun könne, er habe auch nichts dagegen, wenn die anderen Genossen dabei wären. Dagegen könne ich ihr das Manuskript noch nicht mitgeben, er müsse es erst durchsehen, da er sich doch auch literarisch interessiere und mich als Dichter kennenlernen möchte. Dann kam etwas Heikles. Er habe die Mitteilung bekommen, in meinem Tagebuch stehe die Absicht vermerkt, meine Broschüre herausschmuggeln zu wollen. Ich habe ihm erklärt, daß mein Tagebuch Stimmungen enthalte, auf die ich nicht festgelegt zu werden wünsche. Im übrigen würde ich meine Frau nicht zu derartigen Diensten veranlassen, um mir ihre Besuche nicht zu verbauen. Es wurde dann ausgemacht, daß sie, was sie mitbringt, in Gegenwart eines Beamten auspacken, und daß das Paket, das ich ihr mitgeben will, dafür unter Aufsicht eingepackt werden soll. – Jedenfalls werde ich in Zukunft meine Einzeichnungen so abfassen müssen, daß sie nicht nur gegen meine Genossen, sondern auch gegen mich selbst unverwendbar sind. In bezug auf die Tagebücher erklärte Helmes, er wisse genausowenig wie ich, wo sie seien und ob ich sie zurückbehalten werde oder nicht. Möglicherweise befinden sie sich in den Pfoten des Vollmännchen, der weiß Gott alles andere als ein Voll-Mann ist. Der könnte da wenigstens Studien über sich selbst machen.

(...)

Ansbach, Donnerstag, d. 3. Juni 1920

Die Spannung ist noch ungelöst. Die Wahlen am kommenden Sonntag werden vielleicht das Signal sein zu neuen Kämpfen, die für uns Gefangene mit Tod oder mit Freiheit enden werden. Aber die »Freiheit« wird neue und vielleicht die bittersten Kämpfe bringen. Ich hatte vorige Woche nach langer Pause die Korrespondenz mit Ringelmann wieder aufgenommen, der jetzt – nach der Auflösung Eichstätts als Festungsanstalt – in Lichtenau ist. Gestern erhielt ich seine Antwort. Der arme Junge ist derart in Abhängigkeit der übelsten Demagogen geraten (die ihn vorher selbst aus der Partei herausintrigiert, ihn nach dem Peccavi aber in Gnaden wieder aufgenommen haben), daß er in unglaublicher Verblendung jede Opposition gegen die KPD als Verrat ansieht. Die vielen Genossen, die angesichts der ruchlosen Opportunitätspolitik Levis und Genossen zur KAP übergetreten sind, nennt er »Verräter« und »Gesinnungslumpen«. Mich persönlich sieht er ebenfalls schon im trübsten Licht und unterscheidet nur noch aus alter Anhänglichkeit zwischen dem Menschen Mühsam und dem Politiker. Rina de HaanKatharina Karreman de Haan, niederländische Linkssozialistin. hat offenbar einmal einen meiner Briefe in der Amsterdamer ›Tribune‹ veröffentlicht, der den OchelsEwald Ochel (Ps. Morten), Mühsam-Gegner in der KPD, sechs Jahre Festungshaft in Lichtenau. schwer auf die Nieren gegangen ist. Ich sehe aus Ringelmanns Brief, der natürlich nur die Auffassungen der Bonzen wiedergibt, daß man mir besonders übelnimmt, daß ich die KPD vor Ausländern als opportunistisch bloßgestellt habe. Ich soll ferner »Geschichte gefälscht« haben bei der Darstellung der Verhältnisse in Baiern nach Eisners Ermordung. Ich habe Rina, von der vor einigen Tagen eine Sendung mit holländischen Lebensmitteln eintraf, gebeten, mir den Brief zu schicken, damit ich weiß, worum es sich überhaupt handelt. Toll ist der Vorwurf, ich arbeite gegen die KP, um mich bei der Zensur für die Freilassung zu empfehlen, was Rina allerdings »vorläufig« noch nicht annehmen wolle. Jedenfalls aber bin ich »Konterrevolutionär«. Die KP ist also schon genau da angelangt, wo die alte Sozialdemokratie aufgehört hat, bei persönlicher Verleumdung, Verdächtigung, Verächtlichmachung, um die eigene Jämmerlichkeit zu bemänteln. Und so ein junger unerfahrener Mensch wie der Ernst wird in dieses System eingefangen. Es ist noch lange nicht sicher, ob ich nicht eines Tages statt von Offizieren von Parteikommunisten an die Wand gestellt werde.

(...)

Ansbach, Dienstag, d. 15. Juni 1920

(...) Die revolutionäre Bewegung in Deutschland ist leider tief gespalten. Ich sehe die einzige Rettung in der kommunistischen Föderation. Aber die Bonzen! Und große Schwierigkeiten sehe ich bedauerlicherweise auch noch von Moskau kommen. Dort orientiert RadekKarl Radek (1885-1939?), deutsch-polnischer Bolschewik; Vertreter der sowjetischen KP in Deutschland, versuchte mit wechselndem Geschick einen leninistischen Kurs in der KPD durchzusetzen. die Genossen über die deutschen Angelegenheiten, und der vertritt ganz die Politik Levis. Hätte ich nicht meinen unerschütterlichen Glauben an Recht und Wahrheit, dann hätte ich Grund, recht trübe gestimmt zu sein. Aber die allgemeinen Auspizien sind günstig. Dazu nehme ich auch das neueste Gerücht, die Gegenrevolution in Rußland sei siegreich angebrochen, Trotzki sei (wieder einmal) tot, Lenin auf der Flucht und General BrussilowAlexej Brussilow (1853–1926), russischer General des Ersten Weltkriegs; stellte sich 1920 der Sowjetregierung zur Verfügung. Diktator. Daß die Bourgeoisie immer wieder solche Lügen braucht, um ihre Gefolgschaft bei Stimmung zu erhalten, beweist ihre Schwäche. Die Weltrevolution läßt sich deswegen doch nicht aufhalten. Sie wird auch in Deutschland vordringen und über die Wilhelminer und Demokraten ebenso hinweggehen wie über die Bonzenkommunisten, die die MärzrevolutionDer Generalstreik gegen den Kapp-Putsch wurde Ende März von den Arbeiterparteien und Gewerkschaften nach der Niederlage der Putschisten für beendet erklärt, um einen Bürgerkrieg zu vermeiden. verraten haben. Ich werde noch in diesem Jahr unter den Meinigen stehen.

Ansbach, Montag d. 2. August 1920

(...) Mit Grassl werden Auseinandersetzungen immer unmöglicher. In unbeschreiblicher Überhebung erklärt er sein völliges Umschwenken zum Parteikommunismus, also ganz alten sozialdemokratischen Ödigkeit für Ausreifung, die ich noch zu begreifen zu alt und verbohrt bin. Diese Häßlichkeiten färben auch auf das persönliche Verhalten ab. Seit vielen Wochen ist hier nicht mehr gesungen worden. Jetzt – vor einer halben Stunde – sagten mir die Genossen gute Nacht, und jetzt höre ich sie in einer ihrer Zellen meine ›Räte-Marseillaise‹ singen. Ich werde also bewußt ausgeschlossen von derlei Abwechslungen. Natürlich möchte ich lieber heute als morgen weg von hier (Jetzt singen sie mein ›Lied der Roten Armee‹.Wahrscheinlich identisch mit ›Rotgardisten-Marsch‹ nach der Melodie ›Ich bin ein Preuße‹, entstanden im Januar 1920. In: ›Revolution. Marsch-, Kampf- und Spottlieder‹, Berlin 1925. Der Autor ist es nicht wert, daran teilzunehmen).

(...) Das wäre alles zu ertragen, wenn diese Menschen nicht die einzigen wären, die in Wochen und Monaten die ganze Gesellschaft um einen bilden. Ich sehne mich nach geistiger Regsamkeit, nach scharfen Diskussionen mit kluger Dialektik, originellen Ideen, kritischer Beargwöhnung aller Meinungen und nach Gesprächen über allgemein Menschliches, auf etwas höherem Niveau als der Tratsch und die Zoten, die hier außer Zeitungsnotizen das einzige Thema bilden.

(...)

Ansbach, Donnerstag, d. 16. September 1920

Zenzl war hier. Die sechs Stunden verrannen viel zu schnell unter Gesprächen und Zärtlichkeiten, und jetzt, da sie wieder fort ist, fallen mir alle möglichen Dinge ein, die ich ihr noch hätte sagen, sie noch hätte fragen wollen.

(...) Von München hierher hatte sie eine englische Genossin begleitet, und Helmes hatte nach einigen Kämpfen die Erlaubnis gegeben, daß auch sie mich sprechen dürfe: von sechs Uhr ab eine Viertelstunde im Besuchsraum. Wir gingen also um sechs hinunter, und ich lernte die Frau kennen. Die junge Person

(...) heißt Rose WitcopRose Witcop (1890-1932), englische Anarchistin ukrainischer Herkunft, Schwester von Milly Witkop, die mit dem deutschen Anarchisten Rudolf Rocker verheiratet war. Ab 1926 enge Zusammenarbeit Mühsams mit Rokker. und ist zum Besuch ihres Schwagers Rocker in Deutschland.

(...) Sie bestellte mir Grüße von Guy Aldred,Guy Aldred (1886-1963), linker Aktivist und Propagandist; lebte mit Rose Witcop. der in London an der Spitze einer Richtung steht, der auch Rose angehört und die ganz die Tendenzen verfolgt, die ich vorläufig allein in Deutschland propagiere: eine Kombination von Bolschewismus und Bakunismus. Die Genossin ist der Ansicht, daß die Bedingungen der 3. InternationaleAuf dem 2. Kongreß der Komintern Juli/August 1920 wurde die Aufnahme kommunistischer Parteien von der Anerkennung der Leninschen Bedingungen (Moskauer Beschlüsse) abhängig gemacht, die vor allem der Einbindung der Linksradikalen in die Leninsche Strategie dienen sollten. am Widerstand der revolutionären Arbeiterschaft in England zerbrechen werden, und wir waren einig in der Ansicht, daß Lenin nach seinen wunderbaren Leistungen für die Revolution jetzt auf einen toten Strang gefahren ist und daß die Revolution über ihn hinweg weitergeführt werden muß. – Ich erlebe immer wieder Überraschungen: Jetzt erfahre ich zufällig, daß mein Name bei den englischen Genossen in besonders hoher Geltung steht: Und hier unter fünf Gefangenen habe ich nur einen, mit dem ich über das, was mich bewegt, überhaupt sprechen kann. Die anderen sind derartig »reif«, daß ihnen jede Diskussion mit mir überflüssig scheint.

(...)

Ansbach, Freitag, d. 24. September 1920

Es liegen schauderhafte Tage hinter mir. Scheußliche Schmerzen, dicke Backe, Einschnitt ins Zahnfleisch, Bohren links und rechts, Unfähigkeit, Festes zu essen, Schlaflosigkeit, Fieber, kurzum: Krankheit in aller Form, die mich gestern sogar ans Bett fesselte. Da spürt man, was Gefangenschaft heißt: Keine Pflege, keine Rücksicht – dafür aber Aufregung, Zank und – Prügel. Jawohl, ich bin heute geschlagen und mißhandelt worden. Natürlich von Weber.Max Weber, Aktivist der Münchner Rätebewegung, trat nach seiner Entlassung aus der Festungshaft von der KPD zur NSDAP über (vgl. Eintragung vom 25. November 1922). Er hatte schon gestern die Gelegenheit, als ich hilflos im Bett lag, benutzt, um mich mit seinen neuesten politischen Erkenntnissen zu malträtieren und mich damit wütend zu machen, daß er von Rühle, der nicht mit den Moskauer Beschlüssen tanzt, behauptete: »Ich garantiere, daß Rühle zu feige ist, sich vor ein Maschinengewehr zu stellen.« Ich bezwang mich stark, sagte aber doch, daß er mir nicht zu einer solchen »Garantie« befugt scheine.

(...) Heut vormittag kam Weber wieder bei mir an. Diesmal hatte er sich Siegfried JacobsohnSiegfried Jacobsohn (1881–1926), Publizist und Herausgeber der ›Weltbühne‹. ausersehen, um unflätig und perfid zu lästern. Und natürlich mußte der Dreckjude heran. Ich vergaß in meinem Fieberzustand leider, daß man dem Mann mit der Geduld eines Irrenwärters gegenüberzutreten habe und verwies ihm die Takt- und Geschmacklosigkeit, in der Zelle eines Juden jemanden damit zu widerlegen, daß er Jude sei. Natürlich war dadurch das Rad erst geölt, und der Kerl konnte es doch nicht unterlassen, Giftigkeiten gegen Zenzl auszuspritzen. Darauf verwies ich ihm die Rede. Er weigerte sich aber zu gehen, so daß ich hinauslief und dann voll Wut, als er nachkam, ein Schimpfwort (ich glaube »Bandit«) sagte. Darauf fuhr er in Gegenwart von Paul Grassl im Gemeinschaftsraum auf mich los. Im ersten Moment legte sich der dazwischen und verhinderte Gewalttätigkeiten, dann aber sah er zu, wie der Mensch sich auf mich fieberkranken schwachen Mann stürzte und mit der Faust auf mein ohnehin geschwollenes Gesicht einschlug. Als Weber einen Moment davon abließ, ging Grassl hinaus. Das benutzte der Irre, mich aufzufordern, den »Banditen« zurückzunehmen, wobei er mich aber als »Lump«, »Verräter«, »gemeiner Jude«, »Volksbetrüger« etc. beschimpfte. Ich nahm den Banditen ohne weiteres zurück. Darauf brüllte er: »Knie nieder! Schuft!« Ich bereitete mich zu einem Widerstand zum Engkasten vor, da ich dieses Theater denn doch nicht gespielt hätte. Ich drängte also an ihm vorbei, um hinauszukommen, wobei der Mensch mich anspuckte. – Nicht der Wahnsinnsausbruch eines verantwortungslosen Psychopathen hat mich empört, aber die Erkenntnis, daß ich als Kranker ihm gegenüber bei Grassl keinen Schutz finde. Warum nicht? Weil ich die Bedingungen der Moskauer Internationale nicht anerkenne. So albern es ist – es ist so.

(...)

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 21. Oktober 1920

Morgen früh werden ich nun eine Woche hier sein, und daß alles inzwischen Erlebte derweil nicht notiert wurde, liegt daran, daß ich hier unausgesetzt von lieben Genossen und Freunden mit Beschlag belegt bin. Ich will – nur um nicht den Zusammenhang zu verlieren – ganz kurz referieren. Freitagnacht die Reise mit zwei Gendarmen in Zivil. Sie unterhielten sich mit mir über Bolschewismus – ich hörte komprimiert sämtliche Einwände des nichtswissenden Spießers mit seinen Geldinteressen.

(...) Von Rain aus ging's zu Fuß die Landstraße hinunter, und als wir in Sicht kamen, sahen wir aus der Anstalt Tücher schwenken, und aus vielen Männerkehlen erklang die ›Räte-Marseillaise‹. Der Empfang unten bei den Beamten war allerdings toll. Überall Aufseher und Soldaten mit Flinten behängt, im Empfangsraum Taschendurchsuchung und Abtastung. Endlich hinauf – zuerst ich allein. Hinter dem Gitter des ersten Stocks drängten sich die Genossen und brachten ein Hoch auf mich aus. Dann öffnete sich die Eisenpforte, und ich lag in den Armen meiner Nächsten.

(...) Ich mußte dann Dutzende von Händen drücken und Namen hören von Kameraden, die ich erst kennenlernte. Man wies mir zwei winzige, enge, einander gegenüberliegende Jammerzellen an, da keine größere Zelle, wie sie die anderen Freunde meist haben, frei war. Die Freunde des zweiten Stocks mußten uns dann verlassen, da hier die schändliche Einrichtung besteht, daß die Gefangenen noch in der Anstalt voneinander abgesperrt werden. Nur in der Hofzeit werden alle Stunde die Gitter für fünfzehn Minuten geöffnet, dann kann man Besuche machen und muß aufpassen, daß man spätestens um fünf wieder zu seinen Penaten kommt. Abends um neun werden die drei Gänge in jedem Stockwerk obendrein noch gegeneinander abgesperrt, im Gang selbst allerdings wird man nicht noch einmal extra eingeschlossen, sondern kann mit den Anwohnern die ganze Nacht zusammenbleiben.

(...) Meine Beruhigung wegen des Empfangs war groß. Ich erfuhr, daß Grassl mit seinen Versuchen, mich zu verlästern, scharf abgefahren war. Er und SchwabMax Josef Schwab (1897–1977), Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrats und der KPD in München, vier Jahre Festungshaft. laufen viel miteinander. Meine Freunde verkehren nicht mit ihnen. Sie schließen sich an andere an. Grassl aber hat hier zu verbreiten versucht, ich hätte ein »Bewährungsfristgesuch« eingereicht. Das Rindvieh! Damit macht er auch alle übrigen Verleumdungen unglaubhaft, denn das hat ihm natürlich niemand geglaubt.

(...) Klingelhöfer berichtete mir dann, daß Reichert behaupte, ich hätte in Ansbach Gelder, die für alle bestimmt waren, unterschlagen. Ich mußte daher an Zenzl Mitteilung machen, um dem kleinen Fanatiker in München diese Art Kampf gegen mich unmöglich zu machen.

(...)

Niederschönenfeld, Freitag, d. 22. Oktober 1920

(...) Die »Intellektuellen« also bilden hier eine Partei: Klingelhöfer, Toller, Niekisch, die beiden Hartig und ein kleiner Anhang, während unsere Gruppe sich sehr scharf dagegen abhebt. Mein Prinzip war von Anfang an dies: Ich nehme keine Partei in Angelegenheiten, die ich selbst nicht miterlebt habe. So stelle ich mich auch durchaus freundschaftlich zu Rudolf und Valtin Hartig und ignoriere es, daß sie von meinen nächsten Freunden geschnitten werden. Ich mied den Verkehr von Anfang an nur mit Grassl, Westrich und Schwab (der bisher kein Wort mit mir geredet hat und mir ängstlich aus dem Wege zu gehen scheint). Nun kam ich aber gleich in eine bewegte Situation hinein, die mich zwang, in einer wichtigen Sache sofort Partei zu ergreifen. Die Hausarbeiten werden hier gegen Bezahlung von sechs Mark täglich von eigenen Genossen geleistet. Nach dem Eintreffen der Ansbacher und Plassenburger Genossen mußte der dritte Gang in den Etagen in Benutzung genommen werden, so daß die Arbeit erheblich vermehrt war. Die Genossen verlangten daher entweder die Einstellung eines vierten Genossen pro Woche – es wird wöchentlich abgewechselt und zur Zeit je drei Genossen beschäftigt – oder die Erhöhung des Lohns auf acht Mark. Die Verwaltung lehnte den vierten »Hansl« grundsätzlich ab und vertröstete wegen der Lohnerhöhung auf den Bescheid des Ministeriums, der wochenlang nicht kommen wird, mutete aber den Genossen zu, inzwischen die bedeutend vermehrte Arbeit unter den alten Bedingungen weiter zu leisten. Eine Versammlung des Stockwerks am Sonntag soll dazu Stellung nehmen, nachdem der zweite Stock sich schon ganz entschieden für Streik ausgesprochen hatte. Die »Intellektuellen« waren für Weiterarbeiten. Ich griff in die Debatte ein und stellte mich selbstverständlich auf einen ganz prinzipiellen Standpunkt wie übrigens die Mehrzahl der Hausarbeit tuenden Proletarier selbst. Der Streik wurde schließlich beschlossen, und ab nächsten Tag lagen die Gänge voll von Dreck, um so mehr, als aus den Zellen aller Abfall auf den Korridor geschmissen wurde. Am Mittwoch früh war Toller bei mir. Da kam Olschewski und berichtete, daß Niekisch und Kiesewetter im Gang auskehrten. Toller meinte sofort, sie werden den Dreck wohl bloß etwas beiseite räumen, hatte also sein Kompromiß gleich bei der Hand, während ich erklärte, das sei offener Streikbruch, für mich seien die beiden Herren erledigt. Die Sache brachte natürlich große Aufregung ins Haus. Niekisch, der eigentliche Macher der Räterepublik, gewählter Landtagsabgeordneter, greift persönlich zum Besen, um streikenden Arbeitern, die noch in der Gefangenschaft ihr einziges kleines Machtmittel anwenden, in den Rücken zu fallen, ebenso Kiesewetter, der sich als Syndikalist geriert. Die wirklich revolutionären Genossen waren einig in der Beurteilung des Falls. Unsere »Intellektuellen« dagegen suchten Entschuldigungen, erklärten, es sei gar kein wirklicher Streik und daher kein Streikbruch und brachten die fadenscheinigsten Argumente für diese Auffassung. KarpfEugen Karpf (geb. 1893), Adjutant Egelhofers, zu zwölf Jahren Festungshaft verurteilt. schickte am Abend einen Zettel an den Staatsanwalt des Inhalts: Die Frage der Hausarbeit habe sich vorläufig in der Weise geregelt, daß die F. G. Niekisch und Kiesewetter die Arbeit kostenlos übernommen hätten. Eine Abschrift des Zettels schlug er gestern früh an das schwarze Brett an. Wir freuten uns natürlich sehr über den guten Witz, anders die Toller, Klingelhöfer, Hartigs und Genossen. Lausbüberei etc. Toller war mindestens viermal bei mir, um mich zu überzeugen, daß nur Karpf und keineswegs die beiden Arbeitswilligen zu verurteilen seien. Ich erklärte mich mit Karpf solidarisch und sagte zu Toller: »Du gehörst zu den Leuten, die das Unglück haben, sich immer an der unrechten Stelle zu entrüsten.« Daß Karpf an den Staatsanwalt geschrieben habe, sei ganz einwandfrei: Er habe sich einfach mit der Partei zur Orientierung in Verbindung gesetzt, die die Streikbrecher ergriffen haben. Toller ist ein guter Kerl, aber er gehört zu denen, die sich aus einer breiigen Allerweltsliebe heraus zum Proletariat »herabgelassen« haben und niemals aus dem Herzen des Proletariats werden empfinden lernen. Nun haben wir zwei deutlich geschiedene Gruppen, die nicht verfeindet sind (nur mit den Streikbrechern lehnen wir den Kontakt ab) aber zwei unvereinbare Anschauungen repräsentieren. Ich gab ihnen den Namen, der gleich akzeptiert wurde: die Streikbrecher und die Lausbuben.

(...)

Niederschönenfeld, Dienstag/Mittwoch, d. 16./17. November 1920

Mitternacht. Ich habe mich bei der Kerze in meine Arbeitsklause gesetzt, die langsam heimlich wird, da ich Tisch und Bücherregal (auch Schrank und Holzschuhe) nun endlich erhalten habe und meine Bücher zum Teil schon eingeordnet sind. Aber der Drang zum Tagebuch entstammt besonderen Umständen, die höchst unerfreulich sind und ihren Ursprung wieder mal bei Grassl haben. Vorige Woche erhielt ich durch Siegfried Jacobsohn zur Verteilung 1000 Mark zunächst angekündigt. Sie sollten unter bedürftige Festungsgefangene verteilt werden, wobei nur die Bedürftigkeit maßgebend sein und auch die Genossen in den anderen Anstalten berücksichtigt werden sollten. Ich setzte mich, um jeden Verdacht der Parteilichkeit zu vermeiden, mit Rudolf Hartig und MurböckGeorg Murböck (geb. 1887), zu vier Jahren Festungshaft verurteilt. zusammen, und wir beschlossen, 300 Mark nach Lichtenau zu senden, die übrigen 700 Mark, damit jeder Empfänger doch eine verwendbare Summe in der Hand habe, unter vierzehn Genossen in Raten zu je 50 Mark zu verteilen. Noch ehe das Geld da war, war der Spektakel da. Es zeigte sich, daß, wenn unter 70 Leuten vierzehn etwas kriegen, ungefähr 56 Unzufriedene entstehen. Es gab schauderhaften Stunk. Endlich kam das Geld – zugleich aber noch eine Postanweisung, ebenfalls von Jacobsohn, über 764 Mark, dem Rest der gesammelten Gelder der ›Weltbühne‹ mit der ausdrücklichen Weisung an mich, die Verteilung vorzunehmen, wie ich's für recht halte. Ich setzte mich diesmal nur mit Murböck zusammen, und wir beschlossen, 150 Mark nach Lichtenau zu senden, 150 Mark an Pestalozza,Hans Graf von Pestalozza, Rechtsanwalt Mühsams und anderer Festungsgefangener. den wir herbestellt haben, damit er eine Reihe von Prozessen für Genossen übernehme (ich selbst will mit ihm nichts Persönliches besprechen, sondern die Möglichkeit erörtern, wie man durch Strafanträge gegen die Vorstände die Rechtswidrigkeit des Strafvollzugs abstellen kann), ferner 200 Mark für den Anwalt des kleinen Olschewski,

(...) und die übrigen 250 Mark wurden, nachdem der Rest von 14 Mark der Kantine zugewiesen war, unter weiteren fünf Genossen verteilt. Murböck, ein prächtiger, charakterfester Genosse, und ich waren einig, daß wir, um Spektakel zu vermeiden und nicht wieder wie wegen der 1000 Mark in die ekelhaftesten Schweinereien gezogen zu werden, über diese zweite Sendung gar nichts sagen wollten. Aber Gott lenkt. Der Spektakel fraß leise weiter. Ich war der Sündenbock, und ich merkte, daß allerhand Gerüchte über mich umgingen. Eins davon lautete dahin, ich hätte schon in Ansbach im Lauf der Zeit 38000 Mark (ausgerechnet!) für die Genossen bekommen, aber nur 2000 verteilt, das übrige für mich behalten.

(...) Ich nahm das blöde Geschwätz natürlich nicht sonderlich tragisch. – Auf der anderen Seite hatte ich mir aber auch den Groll der sattelfesten Parteikommunisten zugezogen, weil ich Gnad bedacht hatte (in Wirklichkeit hatte ich Murböck und Hartig fast allein die Auswahl überlassen).

(...) Gnad war im Zuchthaus, also »Lumpenproletarier«, und mein Standpunkt, ihn gerade deshalb besonders behutsam zu behandeln, wird von den Gläubigen des ›Kommunistischen Manifests‹ sehr verachtet.

(...) Abends haben mir die Genossen noch berichtet, was in der Versammlung noch alles vorging. Man hat einen regelrechten Angeklagten in meiner Abwesenheit aus mir gemacht. Grassl wurde extra geholt, um gegen mich auszusagen, und Westrich, den wir ja auch von Ansbach schon hinlänglich kennen, soll bereits mit dem Staatsanwalt bzw. mit Vollmann vereinbart haben, daß gegen mich Material herangeschafft wird, um mir die Unterschlagung jener 36000 Mark nachzuweisen. Ich habe Gott sei Dank die besten Genossen auf meiner Seite.

(...) Aber doch, wie gräßlich zu denken, daß ich der Bougeoisbande die Freude machen soll, mich vor Gericht gegen den Vorwurf zu verantworten, ich hätte meine Genossen betrogen. Daß die Staatsanwälte alles tun werden, um

(...) alles erdenkliche Material zusammenzusuchen, ist ja klar; und wenn ich auch meine Hände vollständig sauber weiß – semper aliquid haeret; weiter wollen ja diese Leute auch nichts. Dabei ist die arme Zenzl todunglücklich, weil sie das Geld nicht zusammengebracht hat, hierher zu fahren, und ich bin in Ängsten, ob sie genügend zu essen und ein warmes Zimmer hat.

(...) Welch ein Gesindel! Und damit muß ich monatelang und mit manchen von ihnen vielleicht Jahre auf einem Gang zusammenleben! Mir graut im tiefsten.

(...) – Ein Trost ist in all dem Widrigen und Gemeinen: Die Russen siegen wieder. Die Armee des Generals WrangelPeter Nikolajewitsch Wrangel (1878–1928), russischer General, befehligte eine konterrevolutionäre Armee und wurde im November 1920 auf der Krim besiegt. in der Krim ist so gut wie zerschmettert. Und bei uns verleumden die Gelegenheitsrevolutionäre von 1919 als Patentkommunisten einen Mann unter ihnen, der seit zwanzig Jahren auf dem Posten steht und nie den Mut verlor. Wie grenzenlos beschämend!


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