Tagebücher 1910-1924
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1911

München, Sonntag, d. 7. Mai 1911

Der elende Tripper! Ununterbrochen macht er sich bemerkbar, stört mich in meinen Absichten, lahmt meine Aktionen, vergiftet meine Laune. Nun laboriere ich seit drei Wochen daran, und noch merke ich fast gar keine Besserung. Morgen will ich noch einmal zu Hauschild. Ich muß der Schweinerei endlich energisch zu Leibe gehen. – Gestern abend war es wieder gräßlich. Emmy war im Café – ich hatte vorher im Luitpold Eduard Joël und Frau getroffen –; sie war sichtlich geil auf mich und bat mich, ich möchte sie, ehe ich in die Torggelstube gehe, heimbegleiten. Ich tat das, ging mit hinauf zu ihr ins Atelier und regte mich an ihren Küssen furchtbar auf. Dann zog sie sich um, und ich sah sie nackt, was mich so toll machte, daß ich vor Schmerz und Wollust hätte schreien mögen. Das enge Suspensorium wäre unter dem Druck des mächtig gestrafften Gliedes beinahe gerissen. Wir waren beide sehr betrübt, daß wir nicht tun konnten, worauf wir beide brannten. – Genau dieselbe Geschichte wie vor fünf Jahren in Wien, wo ich nackt neben der ebenfalls geschlechtskranken Irma KarczewskaIrma Karczewska (1890-1933), Wiener Schauspielerin aus dem Freundeskreis um Karl Kraus, in dem Mühsam 1906 verkehrte. lag. Wir küßten uns wie wahnsinnig und mühten uns, wenigstens mit Mund und Fingern einander Genüge zu tun, aber schließlich war der Widerstand des Schmerzes doch immer noch größer als der Antrieb der Lust. Das war damals die Tragik: daß wir uns erst kennengelernt hatten und dann bald auseinandergingen, so daß wir nie dazu kamen, einen richtigen Koitus miteinander zu vollziehen.

Schon nachmittags war ich bei Emmy gewesen. MoraxKarl Schultze (1882-1916), Klavierspieler und Mitorganisator der Gruppe Tat. und Frl. Vital waren da, und ich zeichnete einen Bilderbogen zu der Schauerballade, die Emmy und Morax zusammen bei KathiKathi Kobus (1854-1929), Wirtin des Simplicissimus. vortragen wollen. Es sind sehr lustige Bilder geworden, die Emmy sehr primitiv und dadurch um so wirksamer antuschte. – Eduard Joël ist ein netter Kerl. Aber unsere Interessen gehen doch allmählich weit auseinander, und ich kann nicht leugnen, daß ich seine Gesellschaft um so mehr schätze, je deutlicher mir die Möglichkeit scheint, von ihm Geld für den ›Kain‹›Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit‹ erschien monatlich von April 1911 bis Juli 1914, als »reines Revolutionsorgan« vierzehntäglich von Dezember 1918 bis April 1919. Alle Beiträge in den Vorkriegsausgaben waren von Mühsam verfaßt. herauszuschinden. Angebohrt habe ich schon. Heute nachmittag werde ich wieder mit dem Ehepaar beisammen sein. Ob etwas herausschauen wird?

Nach dem Intermezzo in Emmys Atelier begleitete ich sie bis vor den Simpl. Das süße Ding trug auf dem ganzen Wege Leuchter und Kerzen in der Hand, damit sie auf dem Heimweg die Treppen hinauffinde, zumal sie die Nacht EngertErnst Moritz Engen (1892-1987), Graphiker und Silhouettenschneider. versprochen hatte. Sie erzählte mir das ganz arglos und mit vielem Bedauern darüber, daß ich nicht imstande bin, meine Pflicht zu tun. Sie könne unmöglich so lange allein schlafen. Daß es gerade Engert sein sollte, war mir sehr fatal. Aber wer will den Weibern ihren Geschmack vorschreiben?

Dann also Torggelstube: Im Residenztheater war die Premiere der ›Ratten‹ von Hauptmann gewesen, dazu Sonnabend, wo die Halbe-GesellschaftDie Kegelgesellschaft ›Unterströmung‹ im Keller der Torggelstube. Max Halbe (1865-1944), Dramatiker und Romancier mit guten Kontakten zum Theater, war eine Zentralfigur der Münchner Boheme seit 1895. erschien. So saß also eine lange Tafelrunde versammelt: Halbe und Frau, Waldau,Gustav Waldau (1871-1958), Münchner Schauspieler. Mi von Hagen,Mia von Hagen, Münchner Schauspielerin. Steinrück, Dr. Mannheimer, das Mockerl,Auch: Moggerl. Johanna Terwin (1884-1962), jugendliche Charakterdarstellerin am Münchner Residenztheater und im Reinhardt-Ensemble, Erfolge mit ›Lulu‹ und ›Nora‹, verh. mit Alexander Moissi. Lina Woiwode,Lina Woiwode (1886-1971), Schauspielerin. Basil,Fritz Basil (1862-1938), Münchner Hofschauspieler. Dr. Kutscher,Artur Kutscher (1878-1960), Prof. für Literatur- und Theaterwissenschaft in München, veranstaltete Seminare und Lesungen zur Gegenwartsliteratur. RößlerCarl Rößler (1864-1948), österr. Schriftsteller und Lustspielautor. usw., wozu dann noch Wedekind und schließlich Feuchtwanger und Dr. Uhde-Basmeir kamen. Es wurde reichlich Bowle getrunken. Ich hatte das Zusehen und mußte allerlei schlechte Witze deswegen ertragen. – Wir schrieben eine Glückwunschkarte zu dem Erfolg der ›Ratten‹ an Gerhart Hauptmann. Die Terwin war wieder sehr lieb. Der Rest der Gesellschaft blieb bis nach halb vier Uhr nachts. Dann trennten wir uns. Gustl Waldau und besonders Steinrück waren stockbesoffen.

(...)

Von Papa kam eine Ansichtskarte mit dem Holstentor drauf, in der er mir für die Gratulation zu seinem Examenstag und für die Zusendung der »Drucksache« dankt und über seinen (recht günstigen) Gesundheitszustand berichtet. Meine Andeutungen, daß ich zur Fortführung des ›Kain‹ Geld brauche, hat er nicht verstanden. Außer anderen Briefen einer von einem anonymen »Freund«, der die erste Nummer »passabel« fand, über die zweite schimpft und mich warnt, das Publikum zu ignorieren. Ob der Mann recht hat? Lion Feuchtwanger erklärte mir gestern genau das Gegenteil: Die zweite Nummer habe ihm in jeder Hinsicht besser gefallen als die erste. Er lehnte das Programmgedicht ›Kain‹Eröffnungsgedicht in der ersten Nummer des ›Kain‹, in dem Mühsam den biblischen Brudermord als Urform des anarchistischen Rebellentums darstellt. entschieden ab. (...)

München, Montag, d. 8. Mai 1911

(...) Nach dem Theater Simplicissimus. Emmy hat ein Verhältnis mit dem kleinen Keller angefangen. Ich Esel habe die tolerantesten Prinzipien, dazu noch einen Tripper und war doch eifersüchtig. Natürlich ließ ich mir nicht das mindeste merken. Aber es ist doch eigentümlich, wie lieb ich das kleine Hurenweib habe. Sie trug mit Morax zusammen die schöne Ballade vom Räuber vor, der seinen Bruder abmurksen will und an seiner »blassen Brust« das Bild der Mutter findet. Der große Bilderbogen, den ich dazu gezeichnet habe, wirkte sehr lustig zu dem Leierkastenlied. Eine peinliche Überraschung wurde uns dadurch zuteil, daß die IchenhaeuserWahrscheinlich Eliza Ichenhaeuser (geb. 1869), Berliner Schriftstellerin und Frauenrechtlerin. plötzlich mit Else Lasker-SchülerElse Lasker-Schüler (»Tino von Bagdad«, 1869-1945), die bedeutendste Dichterin des Expressionismus. das Lokal betrat. Die eifersüchtige Megäre, die komplett wahnsinnig ist, hat Emmy in Berlin mit Schimpfreden und Drohungen nachgestellt. Nun war das arme Kind ganz verängstigt. Ich hoffe, sie fährt bald wieder ab. Es wäre recht widerwärtig, wenn Emmy wieder keine Ruhe vor ihr hätte. Ich bin aber entschlossen, trotz aller Freundlichkeiten der törichten Frau gegen mich und trotz meiner Verehrung für manche ihrer Gedichte, Emmy sehr energisch gegen sie zu verteidigen. – Heut nachmittag war Emmy bei mir. Sie erzählte, daß Keller bei ihr geschlafen habe. Wir gingen in den Englischen Garten, wo wir uns viel küßten, dann aß sie bei mir Mittag. – Danach ging ich zu Hauschild, der sich meinen armen Schwanz besah. Er verulkte mich, daß ich in meinen Jahren noch solche »Kinderkrankheiten« bekäme. Aber er fand, daß sich der Zustand wesentlich gebessert habe, empfahl mir, die bisherige Behandlung energisch fortzusetzen und riet wieder sehr von Spritzen ab. Er stellte mir in Aussicht, daß ich in vierzehn Tagen gesund sein könne. Noch vierzehn Tage! Aber wenn nur dann die Geschichte vorüber ist!

München, Dienstag, d. 9. Mai 1911

PfemfertFranz Pfemfert (1879-1954), Publizist und Verleger, Herausgeber der ›Aktion‹, 1911-1932, Förderer des Expressionismus, in den zwanziger Jahren linksradikale Positionen. schickt mir die beiden letzten Nummern der ›Aktion‹, in denen die Enquete über Kerr›Die Aktion‹, April/Mai 1911. Alfred Kerr (1867-1948) Schriftsteller und einflußreicher Berliner Theaterkritiker bis 1933. Mühsams Beitrag zur Umfrage ist abgedruckt in Nr. 10, 27. April 1911. fortgesetzt wird. DehmelRichard Dehmel (1863-1920), nachnaturalistischer Lyriker und Schriftsteller. schreibt ganz dumm, Eise Lasker-Schüler macht mindere Knittelverse, KurtzRudolf Kurtz (1884-1960), Kritiker und Essayist des Expressionismus. spreizt sich, und die übrigen sind ziemlich belanglos. Ob Kerr viel Nutzen von der Umfrage haben wird? – Erfreulich war mir, daß das Blatt unaufgefordert eine ganz gut redigierte und ziemlich auffällige Annonce des ›Kain‹ bringt. Wüßte ich nur erst, wie Nr. 3 bezahlt werden soll!

(...)

Nach dem Abendbrot traf ich im Bauer Emmy mit Morax und Ida, Keller und Engert. Emmy war sehr aufgeregt, da gleichzeitig mit der Ichenhaeuser die Else Lasker-Schüler in einer Ecke des Lokals saß. Das verängstigte Kind fürchtete Revolver und Vitriol. Mir fiel mal wieder die angenehme Aufgabe zu, zu parlamentieren. So setzte ich mich zu der Lasker und kam auf Umwegen zu dem Thema Emmy. Ich erreichte das Versprechen, sie werde während der Zeit ihres Münchner Aufenthalts nicht mehr den Simpl betreten noch Emmy im mindesten nahetreten. Als ich zu Emmys Tisch zurückkam, war sie gerade dabei, einen Zustand zu kriegen. Ich begleitete sie mit Keller zusammen nach Hause, und sie stieß schreckliche Drohungen gegen Elschen aus. Auch noch solche Geschichten!

Abends Torggelstube.

(...)

München, Mittwoch, d. 10. Mai 1911

Die Angelegenheit Else Lasker-Schüler – Emmy spitzt sich dramatisch zu. Ich erhielt einen langen Brief von Elschen, in dem sie Emmy als »geiles kleines Nähmädchen« beschimpft, in deren Mund ihr »erlauchter« Name (an einer anderen Stelle »die Majestät meines Namens« – immer dick unterstrichen) nichts zu tun habe, und worin sie schließlich erklärt, sie lasse sich das Betreten öffentlicher Lokale nicht verbieten. Ich hielt es für ratsam, diplomatisch zu sein und schrieb einen langen vorsichtigen Antwortbrief, von dem ich auch noch eine Abschrift nahm, so daß mir wieder die Zeit, wo ich hätte arbeiten mögen, zum Teufel ging. Ich bat die Lasker, mir persönlich den Gefallen zu tun, den Simpl zu meiden. Abends im Café kriegte ich dann einen weiteren albernen Brief, in dem unter anderem stand, sie (Tino von Bagdad) habe in Berlin nur Emmy aus dem Cafe entfernt wissen wollen, um den einzigen Ort, wo man sich aufhalten könne, nicht verflachen und verhuren zu lassen. Im übrigen: »Bei Philippi sehen wir uns wieder.« – Ich ging also mit in den Simpl, um bei eventuellem Krach Emmys Partei nehmen zu können. Aber Elschen kam nicht. Jedenfalls vermute ich, daß ihre Hysterie sie nicht ruhen lassen wird, bis nicht der Krach da war. Und wenn sie ihn nicht provoziert – Emmy ist auch nicht die Zahmste. Nachmittags kam Rößler ins Cafe und dann zu mir zum Abendbrot. Auch Emmy erschien. Die beiden geilten sich aneinander auf, und nach dem Essen legte sich Rößler auf den Diwan und es begann ein Piacere, zu dem ich sittsam das Gaslicht ausdrehte. Da ich merkte, daß Emmy sich ganz auszog, und so schon wie auf Kohlen stand, da die Gruppe Tat auf mich wartete, ließ ich die beiden bald allein. – Es ist seltsam, daß ich auf den alten Rößler nicht eine Spur eifersüchtig bin. Die ganze Geschichte gestern machte mir einen diebischen Spaß. Ich mußte über Emmys unbefangene Selbstverständlichkeit sehr lachen. Sie ist schon ein erotisches Genie. Sie will immer und jeden Mann, und jede Situation ist ihr recht.

(...)

München, Donnerstag, d. 11. Mai 1911

Gestern abend, als ich mit Halbe und Genossen von der Kegelbahn aus zu Kathi Kobus kam, saß Elschen Lasker mit der Ichenhaeuser richtig im Lokal. Emmy hatte sie vorher nicht bemerkt, bekam jetzt aber, als sie die Frau sah, wieder richtige Zustände der Todesangst, so daß wir schleunigst aufbrachen und in ziemlich großer Gesellschaft ins Stefanie gingen. Ich schrieb der Lasker von dort aus einen Brief, in dem ich ihr erklärte, ich sehe in ihrem Verhalten einen Akt der Geringschätzigkeit gegen mich und betrachte daher unsere freundschaftliche Beziehung als erledigt.

(...)

München, Sonntag, d. 14. Mai 1911

(...) Die Lasker-Geschichte nimmt allmählich die Formen einer komischen Groteske an. Meinen Brief, in dem ich ihr die Freundschaft kündigte, schickte sie mir zerrissen zurück, mit der Aufschrift, sie verbitte sich strengstens (dick unterstrichen) jede weitere Belästigung. Morax übergab mir die Fetzen und bestellte mir zugleich die spätere Mitteilung der Dame an mich, sie habe es nicht so gemeint. Und nun beteiligt sich auch die Ichenhaeuser – Emmy nennt sie unhöflich Frl. Siechenhäuser – an der Korrespondenz. Gestern bekam ich einen total verstiegenen Brief von ihr. Wenn ihr Diener Jehovah ermittle, daß ich ein Hurenvieh sei, so müsse ich Millionen Meilen weit von ihrem Lande fortgehen. Scheißtrommel! – Inzwischen hat Emmy selbständig Schritte unternommen, um die Dichterin Tino loszuwerden. Sie hat veranlaßt, daß ihr von Berlin aus ein Telegramm ins Cafe Bauer geschickt wurde, wonach sie sofort nach Hause zurückkommen möge. Natürlich ist sie darauf nicht reingefallen und hat angeblich das ganze Material der Polizei übergeben. Wenn das wahr ist, wäre sie als Käsehändlerin entlarvt. Die Zeit ihres Münchner Aufenthalts kann immerhin noch recht unterhaltende Intermezzi bringen.

München, Mittwoch, d. 17. Mai 1911

Vor genau einem Monat kam die Gonorrhöe zum Ausbruch. Heute kann ich sagen, daß es etwas besser geht. Aber noch ist Ausfluß da, und der kleinste alkoholische oder sexuelle Exzeß kann mich wieder ganz herunterbringen. Dabei sehne ich mich maßlos nach Umarmungen. Es ist so viel Kraft aufgespeichert, dabei das ganze Interesse so auf den Genuß konzentriert, daß ich mich mitunter vor Geilheit kaum zu lassen weiß. Gestern nachmittag kam ich zu Emmy. Sie stand splitternackt in ihrem Atelier und wusch sich. Trotz meines Zustands küßte ich sie wie ein Rasender. Das gute Kind freut sich auch auf die erste Nacht, wo es wieder gehen wird.

(...)

Der Maler OppenheimerMax Oppenheimer (»Mopp«; 1885-1954), Besuch der Akademien Wien und Prag, expressionistischer Zeichner. ist wieder in München. Er stellt bei Tannhauser aus. Der Kerl hat eine unverschämte Schnauze. Das Urbild eines Prager Judenbengels. Aber sachverständige Leute erklären ihn für sehr talentiert, und Heinrich Mann ist anscheinend immer noch mit ihm befreundet. KokoschkaOskar Kokoschka (1886-1980), österr. Maler, Zeichner und Schriftsteller. behauptet allerdings, als ich ihn hier zuletzt sprach, Oppenheimer plagiiere ihn. – Er kam abends ins Cafe Bauer. Wir gingen dann in die Torggelstube, wo die Herren Rößler, Strauß,Ludwig »Lulu« Strauß, Rechtsanwalt. MeßthalerEmil Meßthaler (1869-1927), Theaterdirektor in München, Förderer Wedekinds. und noch einer, dessen Name mir nicht einfällt, pokerten. Ich kibitzte bei Rößler, der mir aus jedem größeren Pott, den er zog, eine Mark abgab. Ich kam um sechs Mark bereichert heim. Rößler wohnt jetzt hier in der Pension. Heute früh hatte ich schon seinen Besuch.

München, Freitag, d. 19. Mai 1911

(...) Mit dem ›Kain‹ bin ich noch immer völlig im Rückstand. Ich muß endlich mal mit SteinebachMax Steinebach (geb. 1877), Drucker und Verleger des ›Kain‹ und anderer Veröffentlichungen Mühsams bis 1919. sprechen, um zu erfahren, ob die nächste Nummer überhaupt sicher herauskommen kann. An Julius MuhrÖsterr. Bergwerksbesitzer und Literaturmäzen; Bewunderer und Förderer Peter Altenbergs. in Wien habe ich geschrieben und ihn um eine Unterstützung für das Blatt gebeten. Aber es scheint sehr fraglich, ob er schicken wird. Vielleicht gibt Steinebach selbst Kredit, so daß es weitergehen kann. Jedenfalls bin ich sehr in Sorge. – Daß Papa sich nicht rührt, ärgert mich schwer. Ich habe es ihm wirklich nahe genug gelegt, mir zu helfen, und er brauchte sich, wenn er mir schon 3000 Mark vorstreckte, deshalb auch nicht einen Schnaps entgehen zu lassen. Ich begreife den alten Mann nicht. Er muß sich doch sagen, daß der Wunsch, er möchte sterben, nachgerade Leidenschaft in mir werden muß. Ich habe keinen Anzug am Leibe, mit dem ich mich in einträglicherer Gesellschaft sehen lassen kann. Ich trage zerrissene Stiefel, weil mich die 4 Mark 50 reuen, die das Besohlen kostet. Ich habe viel zu wenig Wäsche, und überall hapert's und fehlt's. Sobald der Vater stirbt, bin ich ein begüterter Mann. Warum macht er mir das so fühlbar? Sehr merkwürdig!

München, Montag, d. 22. Mai

Donnerwetter, der 22.! – Von der neuen ›Kain‹-Nummer ist noch gar nichts da. Ich muß wirklich diese Blätter etwas vernachlässigen, will ich das Meinige für das Blatt tun. Ich weiß noch nicht einmal, was alles hineinkommt. Über den Hauptartikel bin ich noch ganz im unklaren. Gestern, als ich an die Arbeit wollte, rief mich Emmy aus dem Café Bauer an, ich möchte hinkommen. Dort kam nach einiger Zeit Wilhelm MichelWilhelm Michel (1877-1942), Publizist; Verfasser eines Buches über Max Oppenheimer (1911). und Frau, und wir gingen ins Stefanie, wo ich mit Michel Billard spielte. Nachts zu Emmy aufs Atelier. Das ist eine wüste Bude. Ein mächtiger Raum, dessen ganzes Mobiliar in einem dürftigen Lager, einem Ecktisch, einer primitiven Waschvorrichtung, ein paar unterschiedlichen Sitzgelegenheiten und einer Staffelei besteht. Alles unglaublich verschmiert, ein wüstes Durcheinander von Abfällen, Papier, kleiderähnlichen Stoffen und Malgerätschaften. An den Wänden Zeichnungen von allen Bekannten und Heiligenbilder, Kreuze und ähnliches. Denn Emmy ist katholisch-fromm und trägt sich mit der Absicht, zum Katholizismus überzutreten. Morax und Ida und Engert lagerten in dem Atelier, in dem Emmy, angetan oberhalb mit einem verschlissenen Herrengehrock, unten mit feinen batistenen Höschen, herumsprang und den schmierigen Engert karessierte. Morax besaß eine Familienkarte für die Blumensäle, und wir beschlossen, allesamt dorthin zu gehen. Wir nahmen vor dem Café Bauer eine Droschke, aus dem Cafe kamen noch Keller und Otten,Karl Otten (1889-1963), expressionistischer Schriftsteller, Mitarbeiter der ›Aktion‹. die sich mit Morax in eine zweite Droschke setzten, und nun fuhr die ganze groteske Kavalkade unter dem erstaunten Grinsen des zusammengelaufenen Publikums davon. Wir sahen wüst genug aus. Ich auf dem Rücksitz, nach vorn Engert, dessen Abgeschabtheit nachgerade beängstigend wirkt und der in seiner unerhörten Länge, mit dem gewaltigen Maul, der schwarzgeränderten Brille, den wilden Haaren und den dürren Bewegungen unerhört auffällig wirkt. Neben ihm die kleine, verhutzelte, proletarische, kränkliche, unsagbar häßliche Ida Weber und dann Emmy mit dem goldigen kurzen Jungenhaar und dem schwarzen Käppi drauf, dem verschlissenen Gehrock, den sie jetzt als Paletot trug und dem grünseidenen Fetzen, den sie zur Verdeckung des weißglänzenden Kragens darüber gewickelt hatte, und den violetten Strümpfen, die sie leger auf die gegenüberliegende Bank legte, damit ich ihre Beine streicheln konnte. So fuhren wir durch alle Hauptstraßen, was an dem schönen Sonntagnachmittag erhebliches Aufsehen machte, zumal ich oft erkannt wurde.

In den Blumensälen selbst war es ziemlich fad. Am besten gefiel mir eine Kinematographen-Nummer, wo ich zum ersten Mal einen bewegten Film auf dem Film dargestellt sah, der von den Zuschauern (in effigie) zertrümmert wurde. Emmy juchzte wie ein kleines Kind und klatschte bei jedem Reklamelichtbild in die Hände. Wir haben allesamt all unser Geld ausgegeben und fuhren nachher mit den letzten Groschen per Straßenbahn zurück. Auch die Fahrt war noch recht fidel.

Dann begleitete ich Emmy und Morax bis vor den Simpl und ging ins Stefanie, wo ich Schach spielte. Nach kurzer Zeit rief Emmy mich telefonisch an. Ich solle sofort hinkommen, es sei etwas Dringendes. Morax hatte mich rufen lassen, weil vier Kriminaler, darunter die, die ihn seinerzeit verhaftet hatten, da waren. Nun fürchtete er, daß die Polizei etwas gegen ihn im Schilde führe. Da die unsympathischen Gäste bald gingen, ging ich ins Stefanie zurück, wo ich Heinrich Mann und Oppenheimer traf. Mann scheint mit der BenatzkyJosma Selim, verh. Benatzky (1884-1929), Kabarettsängerin. auseinander zu sein. Er erzählte, daß die Lasker-Schüler – sie treibt sich noch immer in München herum – ihm aus heiler Haut Krach gemacht habe, weil er angeblich ihren Mann – Herwarth WaldenHerwarth Walden (1878-1941), Schriftsteller und Herausgeber der expressionist.-avantgardistischen Zeitschrift ›Der Sturm‹; war 1901 kurz mit Eise Lasker-Schüler verheiratet. ausgerechnet! – einmal nicht ehrerbietig genug gegrüßt habe. Sie beschimpfte ihn ganz unglaublich: Das Bild, das Oppenheimer von ihm gemalt habe, sei viel zu bedeutend. Er sei nur der Text zu Oppenheimers Musik etc. Mann sagte, er habe sie dabei die ganze Zeit freundlich angelächelt, denn er glaube, sie sei irrsinnig. Das glaube ich auch.

(...)

München, Sonnabend, d. 27. Mai 1911

Von vorgestern ist einiges zu notieren, vor allem eine arge Sünde. Emmy verführte mich zum Koitus. Ich warnte sie, ich sträubte mich, ich kämpfte gegen mich, aber ich war schwach. Nun werde ich sie wohl angesteckt haben, und Kätchens Tripper wird die Runde durch München machen. Gestern ging, wie mir schien, Emmy mit BolzHans Bolz (1887-1918), expressionist. Maler und Zeichner. nach Hause, – und auch auf Oppenheimer scheint sie es abgesehen zu haben. – An mir rächte sich die Überanstrengung sehr unangenehm. Nachmittags saß ich mit Emmy im Café und spielte gerade mit Morax Schach. Da kam Engert herein, die gewaltige Mähne bis auf die Haut weggeschoren. Er sah scheußlich aus, und ich machte eine entsprechende Bemerkung. Da schlug er mir – ganz ohne feindliche Absicht – seinen Hut auf den Kopf und muß dabei eine sehr empfindliche Stelle, wohl das Ende des Rückenmarks, getroffen haben. Ich glaubte, ich müsse sterben. Das Blut schlug erst in den Kopf, dann zum Herzen, ich tastete umher, und Emmy erzählte, ich hätte furchtbar ausgesehen, mit verdrehten Augen und grünen Lippen. Wer weiß, was für ein bedenkliches Symptom das ist. Ich will doch für alle Fälle meine Bestimmungen für den Todesfall treffen. Eines Tages sterbe ich, und dann fällt womöglich der Ertrag meiner Arbeiten statt Johannes Nohl meiner Familie zu. Und das will ich wahrhaftig nicht verantworten.–

Mit dem ›Kain‹ geht es langsam vorwärts. Am 3. Juni soll die dritte Nummer erscheinen. Ich denke, morgen werde ich das ganze Heft fertig haben. Aber der Dalles ist scheußlich. Ich bin ganz und gar abgebrannt. Doch fand ich eben ganz zufällig in den Abgründen einer zerrissenen Westentasche, tief im Futter vergraben, ein 50-Pfennig-Stück. Es ist doch etwas mit den Unterteufeleien. Ich habe nicht etwa nach der Münze gesucht, aber ich bin überzeugt, wenn ich's nicht ganz nötig gebraucht hätte, hätte ich sie auch nicht gefunden. Jetzt wieder an die Arbeit!

München, Mittwoch, d. 7. Juni 1911

(...) Gestern traf ich im Hofgarten Heinrich Mann mit HerzogWilhelm Herzog (1884-1960), Dramatiker und Publizist, Herausgeber der Zeitschrift ›Pan‹ 1900-1911. und Oppenheimer. Ich ging mit ihnen noch einmal in die Ausstellung der Oppenheimerschen Gemälde bei Tannhauser. Er hat ein neues Porträt von H. Mann fertiggestellt, das in vielem besser ist als das erste, doch aber auch stark karikaturistisch wirkt. Im Ganzen hatte ich von der Ausstellung einen noch stärkeren Eindruck als beim ersten Besuch. In den oberen Räumen sind Kollektivausstellungen von Hodler und Uhde. Zu Uhde habe ich wenig Beziehung. Hodler ist für mein Gefühl der tiefste aller lebenden Maler. Er ist der einzige, der Ekstasen gestalten kann.

Im Stefanie sitzt jetzt täglich ein wunderschönes Mädchen, in das ich mich beim ersten Sehen verliebt habe. Ich habe mich erkundigt: Es ist eine Fräulein von Bach, eine Schülerin von WeisgerberAlbert Weisgerber (1878-1915), Vorläufer des Expressionismus in der Malerei. Emmy erzählte mir neulich, daß mich einige Damen der Weisgerber-Schule gern malen möchten. Wenn ich diese prachtvolle Blondine dadurch kennenlernen könnte, täte ich's. Nur muß ich erst gesund sein, ehe ich mich wieder auf irgendwelche erotischen Ausflüge begebe. (...)

München, Dienstag, d. 4. Juli 1911

(...) Ich war die meiste Zeit meines Züricher Aufenthalts mit GrossOtto Gross (1877-1920), Dr. med., Privatdozent der Psychiatrie, 1908 Kokainentzug und Analyse bei C. G. Jung, zwischen 1905 und 1911 häufig in Ascona und München, im Kampf gegen die bürgerliche Sexualmoral mit Mühsam verbunden; gemeinsame Projekte. 1913 in Berlin, als Anarchist ausgewiesen, vom Vater entmündigt und in eine Irrenanstalt verbracht. 1914 Kriegsteilnahme als Arzt; starb an den Folgen der Drogensucht. beisammen, und wir vertrugen uns sehr gut. Zwar war das erste, daß er mir das Versprechen abpreßte, ich müsse für eine Zeitschrift, die er gründen wolle, 100 Franken hergeben. Auch war er zuerst etwas argwöhnisch und wollte vor allen Dingen nichts von meinem Vorschlag wissen, er müsse Johannes Nohl zur Mitarbeit heranziehen. Dem nimmt er den Artikel über Landauers Buch übel, worin er seinen Gottbegriff erläutert. Aber allmählich gewann ich ihn, und wir wurden wirklich Freunde. – Sofie Benz' TodIm März 1911 Selbstmord der an Psychose erkrankten Malerin Sophie Benz. frißt furchtbar an dem armen Menschen. Er hat alles verloren mit ihr, was ein Mensch überhaupt verlieren kann, und oft sah ich ihn in diesen Tagen um die Geliebte weinen. Schrecklich ist auch die Kokainsüchtigkeit bei ihm. Ewig auf dem Sprung zur Apotheke, ewig mit der Schachtel in der Hand und mit dem Kiel in der Nase, die immer verletzt und mit Salbe verschmiert ist. Dabei halluziniert er neuerdings viel, hört Beschimpfungen gegen sich, er sei ein Feigling etc. Ich ging sehr auf seine Art ein und bemühte mich, seine psychoanalytische Methode an ihm selbst unmerklich anzuwenden. Es gelang mir auch allmählich, die Selbstvorwürfe, die er sich wegen Sofie macht, zu entkräften. Jedenfalls bin ich jetzt darüber sicher orientiert, daß er nicht bloß nicht die Anregung zu dem Selbstmord gegeben hat, sondern seit langer Zeit bei Sofie gegen die Tendenz gearbeitet hat, ihn zu begehen. Sehr lange Gespräche – ich antizipiere hier schon die folgenden Tage – hatte ich mit ihm über Frick.Ernst Frick (1881-1956), Schweizer Anarchist (bis 1913), Maler und Bildhauer. Ab 1907 mit Frieda Gross lebend (drei weitere Kinder).

Der hat zuletzt noch mit Sofie Verhältnis gehabt. Er hat dann nach ihrem Tode Gross, der von Schmerz völlig zerrissen war, die Schuld gegeben, und Gross hat infolgedessen eine sehr abweisende Stimmung jetzt gegen Frick. Auch über Frieda sprachen wir viel, die – ich Pechvogel – zwei Tage vor meiner Ankunft in Zürich gewesen war. Ich ließ Gross recht tief in mich hineinschauen und habe die Gewißheit, daß er im günstigen Sinne über mich an Frieda berichten wird. Das muß mir um so wichtiger sein, als doch vielleicht damals, als ich die Geliebte verlor, seine Gehässigkeiten auf ihre Stellung zu mir eingewirkt haben mögen. Er hat mich beim Abschied vorgestern wegen all dieser Dinge sehr um Verzeihung gebeten. Dieses häufige Erinnern an Frieda in dieser Zeit des Zusammenseins mit Gross hat mich furchtbar ergriffen, gerade weil er seinerzeit die glücklichste Periode meines armen Lebens so nah mitangesehen hatte und da er der war, der nachher am hitzigsten gegen mich bei Frieda gewütet hat.

(...)

Sonnabend hatte Gross einen sehr schlechten Tag. ReitzeAlbert Reitze (1869-1933), in der Schweiz lebender Anarchist, tätig als Verbindungsmann und Vertreiber anarchistischer Zeitschriften (u. a. ›Kain‹). und ich zwangen ihn, sich völlig umzuziehen. Er hatte seit vierzehn Tagen das Hemd nicht vom Leibe gezogen gehabt. Er hatte viel Halluzinationen und war sehr unglücklich und gedrückt. Abends vorher wollte er nicht schlafen gehen, und so blieb ich mit ihm bis halb zehn Uhr morgens beisammen. Wir hatten sehr ernste und gute Gespräche, und diese Nacht war es eigentlich, die uns zur Freundschaft zusammenführte. Morgens um halb acht erschien zu meiner Freude im Bahnhofsrestaurant, wo wir Cafe tranken, Gustl Waldau. Merkwürdigerweise duzten wir beide uns, als ob es so sein mußte. Das Auftauchen dieses charmanten Kerls tat mir sehr wohl, da ich von den schwierigen Gedankengängen, in die das Gespräch mit Gross fortwährend zwingt, sehr angegriffen war. Man hielt mich dann doch, eigentlich gegen meinen Willen, den ganzen Sonnabend und Sonntag in Zürich fest. Als ich Sonntagabend, begleitet von Reitze, Gross und noch einem alten braven Genossen zur Bahn ging und dann abfuhr, stand Gross vor dem Zug und weinte.

(...)

München, Mittwoch, d. 5. Juli 1911

(...) Gestern abend kam ein galizisch-jüdischer Student zu mir, dem es schlecht ging. Dr. Ludwig hatte ihn mir rekommandiert. Ich half ihm mit ein paar Groschen aus und lud ihn zum Abendbrot ein. Der Kerl interessierte mich erst nachträglich wegen seiner Äußerung. Er meinte, Juden mit progressiven Ansichten müßten ihre Meinung unterdrücken, weil sie sonst dem Judentum insgesamt schadeten. Ich antwortete ihm, ich würde meine Meinung stets offen heraus sagen, auf die Gefahr hin, daß ich sogar mir selbst damit schadete. Er verstand den Komparativ nicht. – Heut wurde ich schon wieder angeschnorrt, was zwei Mark kostete. Wenn die Menschen wenigstens nicht so demütig dabei wären! Wie Hunde, die geprügelt werden. Widerlich.

(...)

München, Freitag, d. 14. Juli 1911

(...) Emmy wird heute in der Ludwigskirche getauft. Ihr ist das eine prächtige Sensation – und es ist allerliebst zu sehen, wie sich bei ihr der Entschluß, katholisch zu werden, so durchaus deutlich aus Neugier, Sentimentalität und Geilheit zusammensetzt.

(...)

München, Sonnabend, d. 15. Juli 1911

Der Diwan in meiner Stube kann endlich wieder eine Liebesgeschichte erzählen: das Puma war die erste – und wir liebten uns auf das süßeste. Nachmittags schon hatte sie mich ins Stefanie antelefoniert, ich möchte sie abholen. Ich kam zu ihr, und wir wollten wieder Einkäufe machen. Vorher – in ihrem Zimmer – küßte sie mich mehrmals zärtlich auf den Mund, indem sie sorgfältig den Schnurrbart dazu zurückbog. Ich kaufte ihr einen sehr schönen lilaseidenen Shawl und nahm auch gleich für Uli einen geblümten mit (30 Mark gab ich aus – dabei habe ich erst vor einigen Tagen 100 Mark von der Deutschen Bank geholt und muß mir notwendigst einen Anzug kaufen. Das Puma findet, ich sehe in meinem weißleinenen Waschanzug aus wie ein Ostergruß). – Dann fuhr ich also mit Lotte zu mir. Als wir beim Ankleiden waren, kam Rößler und lud uns zu sich zum Abendbrot ein. Was geschehen war, konnten wir ihm nicht verheimlichen, da unsere dürftige Kleidung uns deutlich verriet. Nachher gingen wir drei in Eckels Weinstuben, dann fuhr ich mit dem Puma ins Café Odeon. Sie erzählte, sie habe mit Rößler eine Reise verabredet, während Strich mit seinen Eltern reise, und als ich sie fragte, ob sie nicht auch mit mir kommen würde, war sie sehr einverstanden. Erst meinte sie, sie werde nach der Reise mit Rößler mit mir eine machen, nachher fiel ihr ein, sie wolle doch lieber Rößler ganz schießen lassen und bloß mit mir reisen. Ich war sehr glücklich darüber. Wir verabredeten Weimar. Ihre Adresse wird inzwischen Berlin sein, da ihre Mutter in solchen Dinge gern eingeweiht werden kann und jeden Schutz übernimmt. So kann sie getrost die Korrespondenz mit Strich pflegen, ohne daß er eine Ahnung hat, daß Lotte nicht bei ihrer Mutter in Wilmersdorf, sondern beim Mühsam in Weimar ist. Wenn nur Strichs Abreise zustande kommt! Es wäre herrlich – über alles Maß herrlich! Eine richtige Hochzeitsreise mit Lotte, wie ich dereinst – selige Zeit! – mit Frieda die Hochzeitsreise nach Augsburg machte. Daß es doch zustande käme! Wie reich wäre der Berner PumpIm Juni 1911 verschaffte sich Mühsam, auf den baldigen Tod des Vaters spekulierend, bei einem Berner Wucherer einen Kredit von 3000 Franken, um seine Zeitschrift finanzieren zu können. Bei Antritt der Erbschaft 1915 waren Mühsams Schulden auf 15 000 Mark angewachsen. verzinst!

Wir gingen nachher noch ins Luitpold, wo wir Sörgel und Strich trafen, dann in die Torggelstube. Da der Separatraum schon geschlossen war, mußten wir an einem Holztisch im großen Lokal Platz nehmen. Wedekind saß einsam in unserer Nähe, kaute Bleistift und schrieb. Ein merkwürdiger Mensch, der nicht anders arbeiten kann als im Kneipenlärm und zwischen Kellnerinnen.

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Die »Familie Mühsam« schickt mir eine neue Einladung zum Familientag mit der »Tagesordnung«, die sich aus einem Festmahl und einer »Geschäftssitzung« zusammensetzen soll. Der Zusammenschluß der Familie soll danach eine dauernde Einrichtung werden. Ein hanebüchener Blödsinn.

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München, Dienstag, d. 18. Juli 1911

(...) Sonntag traf ich im Café Emmy. Ihre Taufe hat sie überstanden, und nun redet sie ernstlich vom Kloster. Ich sagte ihr, ins Kloster hineinkommen sei leichter als wieder herauskommen, und als ich sie schließlich fragte, wer denn im Kloster ihr Gärtchen bestellen soll, wurde sie böse und ging. Heute früh, als ich sie im Stefanie begrüßen wollte, schnitt sie mich. Zu dumm! Sie wird kaum einen Freund finden, der es so uneigennützig gut mit ihr meint wie ich.

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München, Donnerstag, d. 20. Juli 1911

(...) Mit Emmy scheine ich es jetzt endgiltig verschüttet zu haben. Heut vormittag traf ich sie im Stefanie mit Bolz. Ich begrüßte sie, hielt ihr die Hand hin und sagte: »Na Emmy, wir wollen uns wieder vertragen.« Erst lächelte sie, dann meinte sie aber – und verweigerte mir die Hand: »Geh mir vom Leibe!« – Ich sagte, was mir im Augenblick in den Sinn kam: »Ich bin ja noch gar nicht drauf.« – Doch kaum war ihm das Wort entfahren, möcht er's im Busen wieder wahren. Zu spät. Tiefe Entrüstung. Nach einer Weile wilder Aufbruch von Bolzens Tisch, der mir berichtete, Emmy habe es ihm übelgenommen, daß er mir nicht gleich an die Gurgel gefahren sei. Nun habe ich womöglich von Hardy Attacken zu gewärtigen. Es ist recht übel.

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München, Freitag, d. 21. Juli 1911

Eben geht Bolz fort. Er erzählt Schauergeschichten von Emmys Zustand, die anscheinend in kompletten religiösen Wahnsinn verfallen ist. Sie verflucht mich und fast alle übrigen Freunde als Ketzer, halluziniert den Teufel, der sie an den Beinen zieht, und in ihrer kleinen armen Psyche scheint es wild herzugehen. Dabei ist sie geil wie nur je, und Bolz hat nach jedem Koitus, den sie zuerst verlangt, die furchtbarsten Flüche und Anklagen gegen ihn und gegen sich selbst anzuhören. Er ist schon ganz verzagt. Das schlimmste ist, daß man das Mädel jetzt jeder Gewalttätigkeit für fähig halten muß. Bolz hat sie schon auf der Straße attackiert, als er mit einer andern Frau ging. Ich muß gewärtigen, daß sie mir mit Revolvern oder Rasiermessern entgegentritt. Das beste wäre schon, sie ginge ins Kloster. Das wird für ihre verwirrte Seele vielleicht besser sein als das Irrenhaus, wo sie den Zwang spüren müßte. Das arme Mädelchen! – und die dreimal gottverfluchten Pfaffen, die ihr wohl obendrein noch die Hölle heiß machen! –

Heut früh – jetzt ist's abends – kam Lotte und holte mich ab, als ich gerade baden gehen wollte. Ich ging natürlich mit ihr ins Café. Ich habe sie sehr, sehr lieb, und jedesmal, wenn sie mir mit sündigem Lächeln von der bevorstehenden Reise spricht, möchte ich sie vor seliger Freude zerfleischen. – Ich habe diese Tage viel an diese Liebe und an die zu Frieda gedacht. Wie ungeheuer töricht sind die Menschen, die da meinen, ein Herz könne nicht gleichzeitig nach mehreren Seiten gezogen werden. Meine Liebe zu Frieda leidet gar nichts durch diese Aufwallung. Denke ich Friedels, dann füllt sich alles Herz mit Sehnsucht und Zärtlichkeit, und doch zweifle ich nicht einen Moment an der Richtigkeit und dem Wert des Gefühls, das mich dem Puma verbündet. Ich kann neben dem Puma sitzen, sie leidenschaftlich zu küssen wünschen, und gleichzeitig an Frieda denken, sie herbeisehnen und in die Luft greifen in der Illusion, ich erfaßte ihre Hand. Und wieder kann ich durch ein Wort, eine Bewegung, einen Blick von Uli zu glühender Liebe hingerissen werden, und dann, fünf Minuten später, wenn ich etwa die VallièreJenny Vallière, Münchner Hofschauspielerin. sehe, deren Hände in Küssen ertränken, kann mit der Uhr in der Hand ihren Atem aufzufangen suchen, bis zu dem Moment, wo ich stürmisch aufbreche, um Lotte zu treffen. Vielleicht ist es dumm und unpraktisch von mir, all das nicht zu verbergen. Aber ich kann nicht anders. Ich könnte mit Lotte im Bett liegen, sie rasend lieben, und ihr gleichzeitig vom Moggerl vorschwärmen. Wie ist es bloß denkbar, daß ich, da ich – das bilde ich mir doch ein – ein Erotiker bin, wie nicht viele herumlaufen, daß ich so maßlos wenig Glück bei den Frauen habe? Die Natur ist gar zu talentlos. Irgendein Kommis bekommt's und weiß nichts damit anzufangen.

Gestern abend in der Torggelstube poussierte ich die Frau Mewes, ehemalige Grete Gräf. Sie ließ sich sogar auf den Mund küssen von mir. Der Vallière und nachher der Frau Weigert küßte ich die Hände – beide sind mit sehr schönen Händen ausgestattet –, und nachher liefen alle drei mit ihren Ehemännern nach Hause. Es ist ganz verrückt. Daß ich mehr oder weniger aufs Onanieren angewiesen bin, das kommt mir wie der infamste Witz vor, den das Schicksal je ausgeheckt hat. – Wäre Strich nur erst fort! Dann geht's mit dem Puma auf Reisen, und der Gedanke daran ist so wohltuend wie die himmlischen täglichen Schwimmbäder im Ungererbad draußen. Puma, süßes Puma! Weiber, süße Weiber! Liebe, süße Liebe!

München, Montag, d. 31. Juli 1911

Wenn der Tag so weitergeht, wie er bis jetzt – es ist Dreiviertel acht Uhr abends – verlaufen ist, dann werde ich ihn als einen der guten Tage meines Lebens buchen können. Morgens holte mich Rößler zum Baden ab. Vorher gingen wir noch ins Café Stefanie. Vor der Tür begegneten wir Emmy. Wir grüßten beide, und Emmy dankte still, so daß ich mich freute, daß sie kein Krampftheater aufführte. Als ich zwei Schritte gegangen war, fühlte ich mich plötzlich von hinten umgefaßt. Emmys Kopf lag an meiner Schulter, und auf der Straße gaben wir uns den Versöhnungskuß. Im Café erzählte sie mir dann, ihr habe geträumt, ich sei gestorben, und als ich dann in meinem grauen Anzug so vor ihr lag, sei es ihr schrecklich gewesen, daß sie sich nicht mit mir ausgesöhnt habe. Übrigens seltsam: Ich habe in der letzten Zeit – wohl, weil ich an das Glück mit dem Puma nicht glauben kann – so oft Todesgedanken gehabt, daß ich gestern für alle Fälle mein Testament gemacht habe. So habe ich doch die Sicherheit, daß mein literarischer Nachlaß nicht einmal in die Fänge meiner Mischpoche fällt. Nach dem Baden Mittagessen in der Torggelstube. Die Vallière war reizend, ich durfte graziös mit ihr zoten. Nachher saßen wir miteinander auf dem Sofa in der Nische des Cafés Orlando und spielten mit einem entzückenden weißen Zwergboxl. Ob Zufall, ob Absicht – ich weiß es nicht, bin aber eitel genug, eher an Absicht zu glauben: ihre Hand fuhr mir dabei in einer Weise zwischen die Schenkel und blieb so lange dort, daß ich meinte, mir müßten alle Hosenknöpfe abspringen. Als ich dann – wie unwillkürlich – mit meiner Hand in die Gegend ihrer engeren Weiblichkeit kam, fühlte ich deutlich die korrespondierende Bewegung ihres Unterleibes. – Trotzdem: daß aus uns zweien einmal – wenn auch nur ein einziges Mal – ein Paar würde, glaube ich nicht. Um die Frau zu kriegen, muß man Gelegenheiten schaffen, die sehr viel Geld kosten. – Im Hofgarten wartete ich vergeblich aufs Puma und ging dann zur Druckerei, wo ich Korrekturen und Revisionen der Nr. 5 las.

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München, Donnerstag, d. 3. August 1911

Also heute soll die Reise losgehen – ob nachmittags oder abends, steht noch nicht fest. Darüber entscheidet das Puma. – Gestern war ich sehr viel mit ihr beisammen. Abends waren wir im Cabaret Benz. Mein alter Cabaret-Kollege von München und Wien, Karl N (...)unleserlich., leitete die Conférence und sang mit seiner mächtigen Baßstimme einiges. Ein paar schlechte Diseusen traten auf, eine ganz nette Ungarin sang Parodien. Mehrere Tanzstücke wurden aufgeführt, darunter sind zwei sehr schöne graziöse Engländerinnen zu erwähnen. Endlich produzierte sich ein Russe namens Andréjé als telepathisches Medium. Die Leistungen selbst – nach dem Willen des anderen handeln – waren gewiß ganz interessant, der Kerl hielt dabei aber so prätentiöse und dumme Reden, daß mir ganz schlecht wurde. Nachher fuhren wir in die Torggelstube, wo an einem Tisch die üblichen Pokerasten – mit Mimi Marlow – wirkten, am Haupttisch die Vallière mit Mann, Egon Friedell,Egon Friedell (1878-1938), Wiener Kulturhistoriker und Feuilletonist. Feuchtwanger und WeigertAugust Weigert (geb. 1877), Münchner Schauspieler. saßen. Friedell verliebte sich, als die Vallière gegangen war, prompt in Lotte, die schon etwas beschwipst war, und fingerte ihr mit seinen Fettpfoten fortwährend im Gesicht herum. Das Puma interessierte sich indessen mehr um den sehr pedantischen Feuchtwanger. Mir war nicht sonderlich wohl bei dem allen. Nachher waren wir alle noch im Orlando di Lasso, und dort wurde mir leider mein schöner Panamahut verwechselt – ich vermute von Friedell. Ich habe dafür einen alten, dreckigen und fettigen Hut bekommen und bin sehr ärgerlich, da ich nun die ganze Reise in verminderter Eleganz machen muß. – Heut habe ich noch allerlei zu tun. Briefe, Zuschriften zu erledigen (Nr. 5 ist heraus und wird morgen plakatiert und vertrieben). – Und nun soll dies Tagebuch auch eine kleine Weile Ruhe haben. Ich will es nicht auf die Reise mitnehmen, damit es nicht etwa aus Versehen dem Puma in die Hände fällt. Auch hoffe ich, daß mir das Zusammensein mit Lotte nicht allzu viel Zeit zum Einschreiben lassen wird. Adjö, München!

München, Dienstag, d. 15. August 1911

In Berlin erhielt ich einen nachgesandten Brief von Wedekind. Darin beglückwünscht er mich zur Entwicklung des ›Kain‹, den er speziell stilistisch außerordentlich gut findet, und schickt mir ein »Memorandum«, betitelt ›Der Zensurbeirat‹,In ›Kain‹ führte Mühsam einen hartnäckigen Kampf gegen die bayerische Zensur, die vor allem wegen ihrer Aufführungsverbote für die Stücke von Wedekind Ärgernis erregte. Der Zensurbeirat war ein Gutachtergremium der Zensurbehörde, dem vorübergehend auch Thomas Mann angehörte. das ich als Material für mein Blatt verarbeiten soll. Es greift zwei Professoren wegen ihrer Gutachten über seinen ›Totentanz‹›Totentanz. Drei Szenen‹, 1906, später unter dem Titel: ›Tod und Teufel‹ an. Ich habe ihm geschrieben, daß ich das Manuskript am liebsten in seiner eigenen Fassung brächte und erwarte nun seine Einladung zum Rendezvous. – In der Torggelstube war es sehr lustig gestern. Egon Friedell war ganz auf der Höhe, und wir amüsierten uns – auch Rößler und Feuchtwanger nahmen daran teil, indem wir Dramentitel erfanden und den Autor dafür ermittelten bzw. für gewisse Autoren Titel ersannen. Nachher deklamierte Friedell den Tasso, wie er lauten würde, wenn er von Shakespeare wäre. Seine Fähigkeit, die Shakespearesche Sprache aus dem Stegreif auf bekannte Verse zu okulieren, ist fabelhaft. Ich erinnere mich aus der Wiener Zeit, wie er alle möglichen Zitate und lange Dramenstellen variierte, indem er die Sprache anderer Dichter darauf anwandte. Später kam Weigert und Frau, dann – an einem anderen Tisch – die beiden Damen, die mittags bei mir gewesen waren, in Begleitung einer schauderhaft häßlichen Person namens Trenk, die Friedell zu poussieren begann. Nachdem sie gegangen waren, drückte ich mich auch bald und ging zeitig schlafen.

München, Donnerstag, d. 28. September 1911

Vorgestern abend war ich mit Strich in der Torggelstube. Sehr angeregte Gespräche mit Wedekind, der allerdings immer schrulliger wird. Seine etymologischen Spekulationen sind fabelhaft. »Kitsch« leitet er kühn von Kunst ab. Ich erklärte es mit der reinen Klanglichkeit des Wortes wie Klatsch, Ramsch ... Pipifax will er mit Pontifex in Zusammenhang bringen. Meine Erklärung »pipi facere«, der Pipimacher, läßt er nicht gelten. Über Wert und Wesen der Frau kämpfte ich an Wedekinds Seite gegen Strich, der alle Emanzipation perhorresziert. Wir vertraten gemeinsam die Auffassung, daß die Frauen nur deshalb nirgends produktive Werte schaffen, weil sie durch die Verbildung der Kultur des Publikums ausgeschaltet sind. Alle Kunst, alle Wissenschaft, alle Technik, alle Arbeit ist Kultur für Männer. Die Emanzipation des Weibes wird das Bedürfnis nach einer Kultur wecken, die das Wesen der Frau mit berücksichtigt. Dadurch werden die Frauen selbst produktiv werden und alle Kultur wird um eine Hälfte bereichert werden, von der wir heute noch gar nichts kennen. Eine Weltgeschichte, von einer Frau geschrieben: was für Perspektiven!...

Auf dem Heimwege setzte ich mit Strich das Gespräch fort und entsetzte ihn durch mein Geständnis, daß mir bisher keine Kunst so tiefe Eindrücke gegeben hat wie die Schauspielerei, die er überhaupt nicht als produktive Kunst anerkennen will. Wo eine EysoldtGertrud Eysoldt (1870-1955), Schauspielerin des Reinhardt-Ensembles. lebt!

München, Sonnabend, d. 30. September 1911

Italien hat der Türkei den Krieg erklärt. Seit drei oder vier Tagen erst hörte man von der Tripolis-AffäreKolonialkrieg gegen das geschwächte Osmanenreich, der mit der italienischen Besetzung von Tripolis und 1912 mit dem Balkankrieg von Seiten Österreichs fortgesetzt wurde., die freilich schon seit einer Reihe von Jahren in der Luft hängt. Nun ist die ungeheure Tatsache akut. Schon liest man von zerstörten Schiffen, natürlich auch vom Jubel der italienischen Bevölkerung. Man muß es der italienischen Regierung zugestehen: Sie hat unglaublich schnell gearbeitet. Die Vorbereitungen waren ganz im Stillen getroffen. So hat auch der Generalstreik, der von der revolutionären Arbeiterschaft inszeniert werden sollte, versagt. Er konnte nicht präpariert werden. Zehntausende und Aberzehntausende junge zeugungsfähige Menschen werden gemordet werden um kapitalistischer Spekulationen willen, und die Kulturwerte beider Länder werden unwiederbringlichen Schaden leiden. – Aber die Begeisterung für den Krieg, der bei aller Schauerlichkeit so sehr nach Kinderspiel aussieht, wird nun gefacht werden, und das groteske Schauspiel, daß sich ganze Völkerteile zu Automaten dressieren lassen und auf Kommando marschieren und schießen und sich totschießen lassen, wird sich immer wieder erneuern. – Dem jetzigen Krieg, ganz real betrachtet, möchte ich doch einen für die Türken günstigen Ausgang wünschen. Nur eine besiegte europäische Großmacht wäre imstande, den imperialistischen Unfug aufzuhalten. Trotz der numerischen und armatorischen Überlegenheit Italiens ist der Sieg der Türken leicht möglich, dann nämlich, wenn genügend revolutionäre Kräfte im italienischen Heer wirksam sind und ganze Truppenteile durch Desertion, Offiziersmorde und Sabotage gegen den Irrsinn ihrer Gängler vorgehen, wenn in den Großstädten Italiens energisch mit wirtschaftlichen Kämpfen gestört wird und wenn die Türken aus dem Kriege eine moslemitische Angelegenheit machen. Die Eingeborenen in Tripolis werden ohnehin auf Seiten der Türken kämpfen, so daß die Italiener wenigstens im Landkriege sehr großen Schwierigkeiten gegenüberstehen werden. 1877 siegte die Türkei über das große Rußland. Vielleicht gelingt's ihr 1911, Italien zu schlagen. Den Preis ihres Sieges werden ihr die Mächte wie damals ja doch rauben, aber das geht unsereinen am Ende wenig an. Wenn nur der Horror vor dem Kriege ganz Europa ins Gebein fährt. Dann braucht uns auch die widerliche Marokko-PolitisierereiIm Juli 1911 erhob Deutschland mit der Landung des Kanonenbootes ›Panther‹ im Hafen von Agadir Anspruch auf Teilhabe am französischen Kolonialbesitz in Marokko. Die Aggression (»Panthersprung«) war der Höhepunkt der Marokkokrise, die im November 1911 durch Verhandlungen beigelegt wurde. nicht mehr als ewige Gefahr auf den Nerven zu liegen. (...)

München, Freitag, d. 6. Oktober 1911

Heut abend schon muß ich im Kleinen Theater auftreten, da Madame Hanako, die zur Zeit dort spielt, plötzlich erkrankt ist. Seit mehr als einem Jahre (Frankfurt) habe ich auf keiner Cabaret-Bühne mehr gestanden, und ich bin recht neugierig, wie ich wirken werde. Gestern abend noch holte ich mir 50 Mark Vorschuß und kaufte mir heute vormittag für 34 Mark einen neuen Anzug bei Isidor Bach. Jetzt gehe ich an die Versendung des ›Kain‹ Nr. 7, der heut erschienen ist. (...)

München, Sonnabend, d. 7. Oktober 1911

Lulu Strauß gab mir gestern den Brief von Onkel LeopoldLeopold Cohn, Onkel Mühsams mütterlicherseits, Mitverwalter der mütterlichen Erbschaft, vermittelte häufig im Konflikt mit dem Vater. an ihn, und der sieht hoffnungslos aus. Er hält die Rentabilität des Blattes für ausgeschlossen und beruft sich auf seine Sachkenntnis, da er Mitbesitzer einer Zeitung sei. Das Ding heißt, glaube ich, ›Waidmannsluster Anzeiger‹ und besorgt die Geschäfte der in Waidmannslust, Hermsdorf, Lübars und benachbarten Dörfern wohnhaften Grundstückspekulanten. Aber weil dieses Blatt schlecht rentiert, ist der ›Kain‹ ein hoffnungsloses Unternehmen! – Das grauenvolle bei solchen Lächerlichkeiten ist, daß sie mich mit meinem ganzen Sein und Wollen hemmen. – Natürlich folgen in dem Briefe dann noch die üblichen Drohungen. Wenn ich weiter größere Schulden mache, würde mich mein Vater auf Pflichtteil mit Zinsgenuß setzen und der Zuschuß der Geschwister – die monatlichen 150 Mark – würden aufhören. Also die Familie versagt mal wieder, da es ja um Dinge geht, die mein Lebensinteresse engstens berühren. Das Geld, das wissen sie, ist ihnen späterhin absolut sicher. Die Zinsen garantiert ihnen Steinebach: ganz gleich. Man will recht haben, man will mir mit Gewalt beweisen, daß die Schriftstellerei ein brotloses Beginnen ist, man will mich am Arbeiten hindern, um mir Faulheit vorwerfen zu können. Die Erbitterung, die sie in mir immer neu schüren, hat in ihren Zahlentabellen keinen Platz. Darüber geht man hinweg. Das legt sich wieder. Wartet! Und wenn ich mich anders nicht rächen kann als durch die Hinterlassung dieser Aufzeichnungen – eure Kinder und Kindeskinder werden sich für euch schämen müssen!

Abends trat ich nun also auf. Ich »arbeitete« nur zehn Minuten und hatte einen Kanonenerfolg. Das freut mich, da ich im Sommer des vorigen Jahres in Frankfurt am Main glatt abstank. Es ist mir eine Bestätigung, daß ich immer mal wieder auf die Cabaret-Tätigkeit zurückgreifen kann, wenn die Geldnot sehr groß ist. Nach Wien würde ich bei annehmbarer Gage ohne weiteres wieder gehen. Sehr amüsant waren die Plakate abgefaßt. Auf denen stand: »Wegen Unpäßlichkeit der Mme. Hanako einmaliges Auftreten von Erich Mühsam.« Es klang, als ob ich für die japanische Künstlerin ihre Rolle spielen sollte. Das Theater war nur sehr mäßig besucht. Aus dem Applaus hörte ich deutlich das kindlich jubelnde Händeklatschen und das helle Gelächter Emmys heraus.

(...)

München, Montag, d. 16. Oktober 1911

Gestern bin ich von Zürich zurückgekommen, und nun habe ich nachzutragen, was sich von Johannes' Aufenthalt her bis jetzt – also vom Elften an zutrug. Das ist nicht wenig. Ich hatte, um Johannes Gelegenheit zu schaffen, einige seiner früheren Freunde wiederzusehen, Strich, KandersAlbert Kanders (geb. 1854), Journalist und Musiker. und WolfskehlKarl Wolfskehl (1869-1948), Schriftsteller aus dem Stefan-George-Kreis. zum Nachmittag zu mir bestellt. Ich las Johannes gerade aus diesen Heften vor (auch Iza war dabei), als Strich und Kanders eintraten. Höfliche, keineswegs sehr warme Begrüßung. Die beiden nehmen Platz. Keiner spricht ein Wort. Ich frage, ob ich etwas anbieten darf und lasse eine Flasche Wein kommen. Endlose Pause. Ich äußere: »Im Theater wäre solche Pause unmöglich.« – Man grinst. Die Situation wurde peinlich, aber keiner fand die Anknüpfung. Endlich kam Wolfskehl, und nun entspann sich ein recht trockenes Gespräch über BaaderFranz Baader (1765-1841), Bergrat, katholischer Philosoph, Gesellschaftstheoretiker und Mystiker., RitterJohann Wilhelm Ritter (1776-1810), Physiker und mystischer Naturphilosoph. und andere ältere bibliographische HerrenAls Gegenströmung zum naturwissenschaftlichen Positivismus und zum Marxismus war die Mystik um die Jahrhundertwende eine geistige Mode, die in Bohemekreisen mit parodistischem Ernst zelebriert wurde. Beliebt war das Sammeln von Büchern vergessener und abseitiger Theoretiker. Zugleich bildete die Mystik das religiöse Fundament des intellektuellen Anarchismus, der vor allem von Landauer an Mühsam vermittelt wurde.. Zum Abendbrot blieben wir allein. Abends hatten wir uns zu Kathi Kobus mit Wolfskehl verabredet. Nachher noch einmal Stefanie. Ich hatte mit Wolfskehl eine lange Diskussion über die revolutionäre Tendenz alles Theaterspielens. Er sagte kluge Dinge. Verständigen konnten wir uns aber nicht. Mit Johannes war ich auch am nächsten Tage wenig allein. Er war sehr lieb. Von Iza habe ich den Eindruck, daß sie auf mich in die Vergangenheit hinein schwer eifersüchtig ist. Am Freitag wollte ich nun in der Frühe nach Zürich fahren, Johannes und Iza mittags nach Wien. Dieser Freitag der dreizehnte wird mir im Gedächtnis bleiben. Eine solche Häufung von Pech und Ärger ist mir lange nicht vorgekommen. Ich ließ mich sehr früh wecken, frühstückte in Johannes' Zimmer und las ihm noch aus dem Tagebuch vor. Um 10 Uhr 20 sollte der Zug gehen. Wir fuhren mit der Elektrischen zur Bahn und erfuhren, daß der Zug seit dem 1. Oktober schon um 10 Uhr 10 fährt. Es war 10 Uhr 15. Der nächste Zug fahre 12 Uhr 50 und sei 8 Uhr 55 in Zürich. Ich telegrafierte sofort an Trindler, und wir gingen nun langsam ins Café Orlando di Lasso. Dort hatten wir uns kaum hingesetzt, als Johannes erklärte, er wolle noch einmal hinausgehen und komme gleich wieder. Er ließ seinen Überzieher zurück, kam aber nicht wieder. Ich war furchtbar ärgerlich, da ich keine Erklärung wußte als die, er habe mal wieder an den Lokalen seiner alten Sünden entlang bummeln wollen und darüber Freundschaft, Verabredung und Eisenbahn vergessen. Um viertel nach zwölf ging ich, schickte einen Dienstmann mit dem Überzieher und einem Brief zu Iza und fuhr um 12 Uhr 50 pünktlich nach Zürich ab, sehr verärgert und übellaunig, daß der Freund ohne ein Wort des Abschieds mich einfach sitzenließ. Jedenfalls beruhigte mich die Tatsache, daß ich ihm 50 Mark gegeben hatte, so daß er nicht in unmittelbare Verlegenheit kommen konnte. Erst auf der Fahrt kam mir der Gedanke, er könnte vielleicht verhaftet sein. So verlief der Rest der Reise recht schlimm; ich war in fortwährenden Zweifeln und Sorgen, und Ärger, Angst, Selbstvorwürfe und alle möglichen Überlegungen ließen mir zu keinem klaren Nachdenken über den Vortrag Ruhe, den ich abends halten sollte. Die Reise schien mir endlos zu dauern. Merkwürdigerweise machte ich unterwegs bei aller Unruhe doch ein recht nettes Gedicht: ›Küsse mich. Gib mir die lüsternen Lippen –‹. Vor Winterthur an einer kleinen Station ging der Zug plötzlich nicht weiter. Mehrmals hörte ich, wie das Abfahrtszeichen gegeben wurde, dann merkte man, wie die Lokomotive anzog. Es gab ein merkwürdiges Geräusch und Gerüttel im Wagen, aber er fuhr nicht los. »Aussteigen!« wurde gerufen, und man erfuhr, daß die Bremse des Wagens, in dem ich saß, nicht funktionierte. Der Wagen wurde also ausrangiert und mit einer Verspätung von drei viertel Stunden ging die Reise weiter. Um dreiviertel zehn kam ich in Zürich an, von zwei Genossen an der Bahn erwartet. Im Sturmschritt in ein Auto und blitzschnell zum Volkshaus, wo ich im großen Saal sprechen sollte. Cilla stand vor der Tür des Hauses und berichtete, schadenfroh lachend, daß schon ein anderer rede. Ich lief die Treppen hinauf und wurde vom Vorstand des Freidenker-Kreises mit Vorwürfen empfangen, die sogleich auch andeuteten, daß ich das ausgemachte Honorar nicht bekommen könne, da die Hälfte der Zuhörer schon weggelaufen seien und ihnen das Eintrittsgeld zurückgezahlt sei. Ich ließ mich auf keine langen Debatten ein und ging in den Saal, wo ein Sozialdemokrat schrecklich trocken und unverständlich von Religionslosigkeit und ähnlichem redete. Offenbar, um mich zu ärgern, zog er die Rede, als ich gekommen war, noch in die Länge. Als er fertig war, verlangte die Versammlung doch noch, mich zu hören, und ich hielt nun einen ganzstündigen Vortrag über Ferrer, der mit sehr starkem Beifall aufgenommen wurde. In der Diskussion sprach nur der Vorredner einiges dummes Zeug, worin er die Notwendigkeit des öffentlichen Zwanges dartun wollte. Ich fertigte ihn leicht ab. Nun war ich total abgespannt und hatte, da ich während der ganzen Reise nichts gegessen hatte, Mordshunger. Aber statt nun gleich ihren Verpflichtungen nachzukommen, debattierten die Herren Oberfreidenker unaufhörlich, ob sie mir zahlen sollten oder nicht. Mich wollte man nötigen, auf der Straße zu warten, bis sie zu einem Entschluß gekommen seien. Ich war wütend und ging dann mit Reitze und noch einigen Kameraden ins Café Laus. Dort kriegte ich nur ein paar Eier zu essen. Während ich mich daran sättigte, erschien ein Mann, trat auf mich zu und stellte sich als Polizeibeamten vor. Er habe den Auftrag, 20 Franken von mir einzuziehen, die ich als Gerichtsstrafe schon seit 1905 schulde. Andernfalls habe er mich zu verhaften, und ich habe sofort vier Tage Gefängnis abzusitzen. Ich hatte das Geld nicht, und Reitze legte es aus. Ich muß das nun an Steinebach als Teilzahlung für verkaufte ›Kains‹ abführen. Die 20 Franken, die man nach mehr als sechs Jahren nun plötzlich von mir erpreßte, sind die Strafe für den »Diebstahl«, den ich damals an den Herren Münzer und Feigel begangen haben sollte. Der Fall sei hier erzählt, damit er in meinen Erinnerungen nicht fehlt. Ich habe damals mit Johannes Nohl in Zürich oben auf dem Zürichberg gewohnt, in der Rütistraße, wenn ich nicht irre. Etwas weiter hinauf, schon am Waldrand, wohnte der jetzige Schriftsteller Kurt Münzer mit dem früheren Inspizienten Feigel in homosexuell-flagellantistischer Gemeinschaft. Die beiden hatten mit uns Verkehr gesucht, den wir auch oberflächlich pflegten, obwohl Johannes sowohl wie ich gegen Feigel von Anfang an die stärkste Antipathie hatten. Wir pumpten die Nachbarn mitunter an, sie uns auch. Nun ging es uns einmal wieder sehr schlecht, wir hatten schon alle Bücher verkauft und hatten nichts zu essen. Johannes bekam einen Schwächeanfall vor Hunger. Ich stürzte zu den Nachbarn, um sie um ein paar Franken anzupumpen, traf sie aber nicht zu Hause. Aber auf dem Tisch bei ihnen lag der ganze fünfbändige ›Cicerone‹ von BurckhardtJakob Burckhardt (1818-1897), schweiz. Kultur- und Kunsthistoriker. »Cicerone. Eine Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens« erschien 1855.. Ich nahm die Bücher, trug sie zum Antiquar und verkaufte sie für zehn Franken unter der Bedingung, daß ich das Recht behalte, sie binnen acht Tagen zum selben Preis wieder auszulösen. Den beiden hinterließ ich schriftlichen Bescheid über den Verbleib der Bücher. Nun kamen sie aber an und erklärten, sie müßten die Bücher unbedingt sofort wiederhaben, da kompromittierende Photographien darin lägen. Als ich die holen wollte, war der Buchhändler inzwischen verreist, und die andern Leute im Haus wußten nicht, wohin er sie gelegt hatte. Inzwischen wurde der Feigel immer zudringlicher und unverschämter. Wir boten ihm die zehn Franken in bar, um die Bücher wiederzuholen. Es half nichts. Er behauptete, die Bücher, in denen Münzers Name stand, gehörten jetzt ihm, und er bestehe auf ihrer sofortigen Herbeischaffung. Da er bei mir hierbei sehr freche Bemerkungen über Nohl machte, schmiß ich ihn hinaus. Er ging zur Polizei und verklagte mich wegen Diebstahls. Inzwischen hatten wir Bücher und Bilder wiederbeschafft, auf denen die beiden Herren allerdings in recht gewagten Stellungen getypt waren. Bei der Verhandlung erklärte ich, mein Vorgehen sei nach allen Gepflogenheiten einer weniger bürgerlichen Boheme-Moral absolut selbstverständlich und korrekt gewesen, und ich würde, wenn ich einem hungrigen Freunde nicht anders helfen könnte, in ähnlichen Fällen wieder genauso handeln. Der Richter erklärte, auch er würde in diesem Prozeß lieber die Rolle des Angeklagten als die des Klägers spielen, mußte mich aber verurteilen. Feigel wurde kurze Zeit danach wegen einer an Benedict FriedlaenderBenedikt Friedländer (1866-1908), Zoologe, aktiv in der Bewegung der »Jungen« (anarchistische Abspaltung von der Sozialdemokratie ab 1890) und in der Emanzipationsbewegung der Homosexuellen. Tätig auch als Mäzen und Reiseschriftsteller. begangenen Erpressung zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. – Also diese 20 Franken Strafgeld hat die sorgsame Züricher Polizei jetzt nach sechs Jahren eingezogen, indem sie mich bespitzeln ließ, wohin ich nach meinem Vortrag ginge, und mich dann im Caféhaus überfiel. – Dann ging ich mit in Reitzes Wohnung, wo ich von diesem Unglückstag ausschlief. – Am nächsten Morgen ließ ich in einer Bank ein paar Mark in Franken umwechseln. Dabei sah ich ein junges Mädchen, das sich einen deutschen Zwanzigmarkschein kaufte. Ein reizendes Geschöpf, jung, zierlich, lebendig. Als ich mit Reitze wieder auf der Straße war, wollte ich sie an uns herankommen lassen. Sie merkte es aber und blieb vor jedem Schaufenster sehr lange stehen, um nicht an uns vorbeigehen zu müssen. Sehr langsam bewegten wir uns zum Café Laus. Noch langsamer folgte das Mädel. Ich ging vor die Tür des Cafés und beobachtete sie. Als sie am Hause davor angelangt war und dort Ansichtskarten betrachtete, nahm ich meinen Hut und ging auf die Straße. Ich sprach sie an. Nach längerem Zögern und Sträuben ließ sie sich auf eine Unterhaltung ein und kam dann auch mit ins Café hinein. Es stellte sich heraus, daß sie am Theater, und zwar an der Oper in Zürich engagiert ist. Ich schlug ihr vor, sie solle nach München kommen, ich würde mich bei einem Cabaret für sie interessieren. Sie war sehr enchantiert von der Idee und schrieb mir ihren Namen auf: Charlotte Gillèt. Sie ließ sich willig von mir Beine und Schenkel abtasten, und wir verabredeten um zehn Uhr abends im Züricher Hof ein Rendezvous (dort hat sie mich leider versetzt). Ich will jedenfalls abwarten, ob sie sich nicht noch bei mir meldet und will versuchen, sie hier irgendwo anzubringen. Denn das kleine frische Balg hat mir ausnehmend gut gefallen. Und in Zürich ein hübsches Mädchen finden, das ist gewiß noch nicht vielen Menschen gelungen. – Reitze und ich gingen dann zum Dr. BrupbacherFritz Brupbacher (1874-1945), Schweiz. Arzt; einflußreicher Vertreter des Anarchosyndikalismus in der Schweizer Sozialdemokratie.. Ich ließ mir von ihm ein Rezept gegen den Bandwurm aufschreiben, der sich in der letzten Zeit wieder sehr unangenehm fühlbar macht, und verabredete mich zum Nachmittag mit ihm in dem neuen Café Odeon. Dort hatten wir sehr gute Gespräche. Er ist viel klarer und in seinen Ansichten ernster geworden als früher und tendiert jetzt stark zum Sozialistischen Bunde. Über FriedebergRaphael Friedeberg, Arzt; bis 1904 linker Sozialdemokrat, danach Anarchosyndikalist in Ascona, gest. 1940. urteilt er jetzt ebenso abfällig wie ich. Nachher kam Reitze und berichtete mir, die Herren Freidenker hätten Dienstag eine Vorstandssitzung, in der sie sich schlüssig werden wollen, ob und wieviel sie mir bezahlen wollen. Da lassen sie mich also erst die Reise machen, hören auch mein Referat und prellen mich nachher um die Kosten. Ein ekelhaftes Gesindel – diese freien Menschen! – Ich sprach noch in verschiedenen Cafés verschiedene Bekannte und schlief diese Nacht – leider allein – im Hotel zum Bären.

Gestern kam ich nun von der unerquicklichen Reise zurück. Die Fahrt über den Bodensee in der herbstlichen Mittagssonne war herrlich schön. Im übrigen dichtete ich auf der Fahrt die zwölf Monatssprüche für den Kalender.»Kain-Kalender für das Jahr I912«, Kain-Verlag München. Enthält neben den 12 Vierzeilern Gedichte, Prosa und Aufsätze.

– Ich fand hier die Gastspielkontrakte des Kleinen Theaters vor, die ich heute dort unterzeichnete. Heut abend muß ich antreten. Außerdem waren Drucksachen da, unter anderem der ›Pan‹, in dem Kerr (der Herzog hinausgeekelt hat) HardenMaximilian Harden (1861-1927), konservativer Publizist (»Die Zukunft«) mit Sympathien für den ethischen Sozialismus; veröffentlichte Gedichte und Aufsätze von Mühsam. wegen einer sexuellen Kleinigkeit frech anpöbelt und in dem ein Nachruf auf Victor Hadwiger steht, von dessen Tod ich dadurch erst erfuhr. Er war erst 32 Jahre alt und ist am Herzschlag gestorben. Obgleich er ein alter Duzfreund von mir war, hatte ich keine allzugroßen Sympathien für ihn. Immerhin ein sehr interessanter Typus und ein großer Sonderling, – dabei ein starkes, wenn auch verwirrtes Talent.

Rößler lud mich telefonisch zu Eckel ein, und da ich inzwischen hier schon Abendbrot gegessen hatte, ging ich nur zu einem Schluck Wein hin. Der KonsulConsuela Diethmann. war auch da, und ich erfuhr zu meinem Erstaunen, daß es nun zwischen den beiden wirklich zu Ende ist. Sie hat ihn mit einem Architekten Lutz betrogen, und er nimmt das schwer übel. Sie haben hier beide die Pension gekündigt, und Rößler will vorläufig ganz von München fort, was ich unendlich bedauern würde. Dann kam noch Heinrich Mann und BrantlMaximilian Brantl (1881-1951), Freund Heinrich Manns., und schließlich ging ich mit H. Mann noch zu Benz, wo wir bis zwei Uhr nachts blieben. Sofie Stöckl ist leider noch krank. Ich will sie morgen besuchen.

Heut war der Konsul bei mir zu Tisch. Wir küßten uns sehr reichlich, und das weitere wird nun wohl auch nicht mehr lange auf sich warten lassen. – In einigen Tagen wird zudem das Puma wieder hier sein, und dann hoffe ich, manchmal recht glücklich sein zu dürfen.

München, Dienstag, d. 17. Oktober 1911

Der ›Komet‹Münchner Satireblatt 1911-12. Mühsam beteiligte sich an der Finanzierung, weil er sich feste Einkünfte davon versprach, verlor aber seinen Einsatz. hat – mit auf meine Anregung hin – regelmäßige Redaktionssitzungen eingeführt, an denen die Hauptmitarbeiter teilnehmen. Gestern fand, da Fuhrmann aus Rußland zurück ist, die erste statt, an der außer den Redakteuren Fuhrmann und Diro Meier, Velrich als Drucker, die Zeichner Lutz Ehrenberger, Bolz und Aller und ich teilnahmen. Die Veranstaltung erwies sich als recht fruchtbar. Ich halte es für möglich, daß das Blatt sich allmählich noch recht tüchtig entwickeln kann, so daß die Mitarbeit daran nicht blamabel sein wird. Meier deutete mir kürzlich an, man denke daran, mich voll mit festem Gehalt als Redaktionsbeirat anzustellen. Ich werde 200 Mark monatlich verlangen. Wenn daraus etwas wird, miete ich das Nebenzimmer, das 40 Mark kosten soll, und werde dann, zum ersten Mal im Leben, getrenntes Schlaf- und Wohnzimmer haben. Ich machte während der Sitzung für 30 Mark Witze, die ich ausgezahlt bekam.

Abends mußte ich im Kleinen Theater auftreten, wo ich bis zum 23. inklusive Kontrakt habe. Ich werde als große Kanone ganz am Schluß abgeschossen. Das Programm vorher war, abgesehen von einer Französin, die ich von Benz her kannte, unsagbar scheußlich. Ich hatte viel Erfolg, zumal mit den kräftigen Sachen, die mir die Zensur erstaunlicherweise sämtlich freigegeben hat (darunter ›Der Komet‹ und ›Thekla‹).»Komet« und »Thekla« in: »Wüste – Krater – Wolken«.

(...)

Heut früh brachte der Geldbriefträger eine Postanweisung aus Zürich. Der Kassierer des Freidenker-Vereins sendet mir »laut Beschluß des Vorstands« ganze acht Mark (zehn Franken). Das Billett allein hat mich 21 Mark 20 gekostet, Auto, Hotel, drei versäumte Tage – ein nettes Geschäft. Vielleicht werde ich die Schweinerei doch noch öffentlich bloßstellen...

(...)

München, Mittwoch, d. 18. Oktober 1911

(...) Von Johannes kommt eine sehr betrübende Karte aus Wien. Er und Iza wurden, da sie keine Anzahlung leisten konnten, nirgends aufgenommen und mußten im Freien kampieren. Julius Muhr, an den ich ihm einen Empfehlungsbrief mitgegeben hatte, war sehr unfreundlich und gab ihnen nicht einmal die Hand. Nun will er die Adresse von Rudolf GrossmannRudolf Grossmann (1882–1942), PS. Pierre Ramus; österr. Anarchist mit großem publizistischen Einfluß, in der anarchistischen Bewegung als Intrigant verschrien. Ich werde ihn außerdem an Hermann BahrHermann Bahr (1863-1934), österreichischer Schriftsteller. rekommandieren. Schade, daß Kraus, der in Gelddingen einer der anständigsten Menschen ist, die ich kennengelernt habe, für Freundschaftsdienste nicht mehr in Frage kommt. Er hat sich doch in seinen Polemiken gegen michMühsam verdarb sich die Freundschaft mit Kraus, nachdem er in einer öffentlichen Kontroverse für Maximilian Harden Partei ergriffen hatte. Ausführlich in: Unpolitische Erinnerungen und »Die Jagd auf Harden«, Berlin 1908. zu schäbig gezeigt. Hoffentlich nützen die 20 Kronen, die ich gestern sandte, bis aufs erste. Ich kann sonst gar nichts mehr tun. Von den Honoraren des Kleinen Theaters habe ich noch Schulden und alles mögliche zu zahlen, und wenn ich daran denke, daß ich von dem wenigen, worüber ich selbst verfüge, in diesem Monat schon über 100 Mark an Johannes weggegeben habe – die Pensionsrechnung zähle ich dabei gar nicht – so kommt mir immer vor, als ob ich doch auch gewisse Rechte selbst auf meine Einnahmen habe. Ich ärgere mich sehr darüber, daß Johannes die 50 Mark, die ich ihm gab, verjuxt hat und daß ich sie jetzt wieder ersetzen soll. Er müßte doch einsehen, daß nur die allerintimste Gemeinschaft zwischen zwei Menschen solche Anforderungen an einen, der selbst arm ist, rechtfertigen kann. Gab ich ihm früher alles und behielt selbst nicht das mindeste, so war das natürlich und in der Ordnung, da ich außer ihm keine Welt hatte. Jetzt hat er seine Frau, ich hundert andere Beziehungen, da muß er mir schon auch einiges Eigenleben zubilligen.

(...)

München, Freitag, d. 27. Oktober

(...) Eben kommt ein Brief von Onkel Leopold, der mir mitteilt, daß wider sein Erwarten meine Geschwister den ›Kain‹ nicht finanzieren werden. Eine unglaubliche Bande. Es wirkt wie Hohn auf mich, daß gleichzeitig die offizielle Einladung zu dem famosen Familientag eintrifft, zu dem ich mich am 12. November einfinden soll. Es wird darin mitgeteilt, daß meines Vetters – Kurt MühsamKurt Mühsam (1882-1931), Dramatiker, Dramaturg, Mitbegründer des Berliner Hebbeltheaters. »Der Sonnenbursch«, 1911. – Drama ›Sonnenbursch‹ am 13. im Friedrich-Wilhelmstädtischen Schauspielhaus aufgeführt wird. Der versteht sich aufs Geschäft und auf Reklame. Pfui Teufel!

(...)

München, Dienstag, d. 31. Oktober 1911

Vor einer Reihe von Monaten verkaufte ich für zwölf Mark diverse Briefe von Dehmel, Wedekind, ScheerbartPaul Scheerbart (1863-1915), skurril-phantastischer Erzähler; befreundet mit Mühsam. Ausführlich in: ›Unpolitische Erinnerungen usw. an den russischen Gauner Glasberg. Jetzt erfahre ich durch den kleinen HoerschelmannRolf von Hoerschelmann (1885-1947), Zeichner (»Simplicissimus«) und Buchillustrator. folgendes: Glasberg hat hier irgendwen um eine große Summe betrogen und ist ausgekniffen. Die Briefe hat er für zwanzig Mark an einen Händler verramscht, mit dem Hoerschelmann wegen Ankaufs unterhandelte. Hätte Hoerschelmann die Sachen nicht entdeckt, so hätte der Mann sie in einem Katalog angezeigt, und ich hätte mir wahrscheinlich große Ungelegenheiten zugezogen, da Dehmel und Wedekind sehr empfindliche Leute sind. Der kleine Hoerschelmann hat es nun freundlich übernommen, die Sache einzurenken und hat den Händler überredet, mir den ganzen Kram zum eigenen Preise zur Verfügung zu stellen. So sehr mich die zwanzig Mark schmerzen werden, so werde ich es natürlich doch tun, zumal der sammelwütige Zwerg mir diesen Preis gewiß gern zahlen wird und ich bei ihm sicher bin, daß mir weiter keine Unannehmlichkeiten drohen. Auch könnte ich bei ihm die Briefe immer einsehen, wenn ich sie brauchen sollte. Und an den Handschriften liegt mir nichts.

(...)

München, Donnerstag, d. 2. November 1911

(...) Der neue ›Pan‹ kam an, in dem Kerr seine unmöglichen Angriffe gegen Harden fortsetzt. Der ist einmal in einem kleinen Nordseebad beobachtet worden, wie er bei offenem Fenster in einem Parterre-Zimmer einer Hure, die er sich von Berlin mitgenommen haben soll, Minett machte. Da die eingeborenen Bauern sich darüber entrüsteten, bot ihm Paul Cassirer,Paul Cassirer (1871-1926), Berliner Verleger und Kunsthändler, veröffentlichte 1914 Mühsams Gedichtband »Wüste – Krater – Wolken«. der zugleich in dem Badeort war, seine Wohnung zu derartigen Zwecken an. Cassirer hat die Geschichte schnell herumerzählt (ich kenne sie seit Monaten durch Heinrich Mann). Wedekind wußte auch davon, und nun beschimpft Kerr seit zwei Monaten Harden in jeder ›Pan‹-Nummer deswegen. »Kleine Unappetitlichkeiten perverser Schwäche«. Saudumm und hundsgemein! Kerr hat wohl nie einem Mädel Minett gemacht? Ich leugne nicht, daß ich es sehr gern tue. Denn der höchste sexuelle Genuß liegt in der Beobachtung des Genusses, den die Partnerin von unseren Bemühungen hat, und die Frauen spüren nun einmal da unten am liebsten die Zunge der Männer (die übrigens auch selbst ein sehr empfindsames Geschlechtsorgan ist). – Hoffentlich ist Harden gescheit genug, sich durch die Schweinerei Kerrs nicht kompromittiert zu fühlen. Ein Vergleich des Verhaltens Kerrs mit dem Hardens (Kerr beruft sich natürlich auf die Priorität Hardens, gegen den daher jede Rücksicht falle) ist ganz verfehlt. Harden hatte ganz verdeckte Andeutungen gegen Eulenburg und GenossenPhilipp Eulenburg, Graf zu (1847-1921), Diplomat und Vertrauter Wilhelms II. Harden hatte 1904 in einer Polemik auf homosexuelle Beziehungen unter den Mitgliedern der preußischen »Hofkamarilla« hingedeutet und damit einen Gesellschaftsskandal ausgelöst. gemacht, hatte sie in ausgesprochen politischem Interesse gemacht und hatte sie durchaus ohne moralischen Vorwurf gemacht. Kerr ist ganz deutlich und zeigt sich moralisch entrüstet. Er macht sich dadurch lächerlich und unter gesitteten Menschen unmöglich. Ich werde wohl im ›Kain‹ diese ganzen Literatengezänke ignorieren. Sie sind zu widerlich.

(...)

Charlottenburg, Sonnabend, d. 17. November 1911

(...) Sonntag war dann der Familientag. Er verlief weniger peinlich, als ich erwartet hatte. Von Bekannten traf ich dabei nur wenige, außer meinen Geschwistern den üblen Vetter Kurt, Laura Rosenthal und Mann, Kantorowicz und Frau, Paul Mühsam,Paul Mühsam (1876-1960), Jurist und Schriftsteller, ein Vetter Mühsams. Görlitz, und einen Herrn Max Mühsam, der mich schon verschiedentlich in Caféhäusern peinlich an unsere Namensvetterschaft erinnert hat. Ich lernte die übrige Mischpoche hinlänglich kennen. Denn 93 Mühsams gibt es im Ganzen nur, und 51 Personen waren anwesend. Bei der geschäftlichen Sitzung am Vormittag führte Papa durch dreieinhalb Stunden den Vorsitz. Verhandelt wurde nicht viel: bloß Formalitäten, und charakteristisch ist, daß sich die lebhafteste Debatte daran knüpfte, ob der Familientag photographiert werden solle oder nicht. Etlichen Herrschaften waren die Zeitungsnotizen (die Herr Georg Bernhard, Plutus, auf dem Gewissen hat, seine Frau ist eine Mühsam) arg in die Nase gestiegen, und sie fürchteten, natürlich wohl hauptsächlich meinetwegen, erst recht kompromittiert zu werden, wenn da noch ein Gruppenbild entstände. So wurde hitzig pro und contra gekämpft. Ich brachte zum Schluß die Aufnahme dadurch zu Fall, daß ich erklärte, ein Bild sei wertlos, zu dem nicht alle, die drauf seien, gerne posierten. Es war das einzige Mal, daß ich das Wort nahm. Zwischen der Geschäftssitzung und dem Diner sah ich mir zur Erholung einen Kientopp an. Das Essen nachher war sehr gut. Ich führte – im geliehenen Smoking – Frau Eva Kantorowicz zu Tisch. Man blieb bis gegen zwei Uhr nachts beisammen, und ich ging dann noch mit besagtem Max und einem Herrn Franz Mühsam ins Theatercafe des Westens. – Im Ganzen war ich von der Veranstaltung angenehm enttäuscht. Es waren ganz nette Menschen dabei. Auch interessierten mich die Physiognomien, und ich konnte feststellen, daß die Mühsams durchweg einen intelligenten Typus darstellen. Merkwürdig ist, daß ein unverkennbarer Familienzug überall – auch, wo seit Generationen Rassenmischung erfolgt ist – erhalten ist. Übrigens stellte Frau Dr. Kantorowicz in Übereinstimmung mit mir fest, daß die Mitglieder aus Mischehen sämtlich gegen die anderen minderwertig aussahen. (Gestern erfuhr ich, daß EllaElla Barth (Braunschweig), mit der Mühsam in jener Zeit Heiratsabsichten verband. Jüdin ist: die erste, die ich je geliebt habe. Wer weiß, ob wir nicht einmal legitime Nachkommen haben werden?)

Mit Papa hatte ich ein Gespräch über den ›Kain‹ – kurz vor seiner Abreise (am Dienstag). Er erklärte, nicht viel von den geschäftlichen Aussichten zu halten, forderte aber vom Drucker einen Überschlag ein und scheint eventuell geneigt, die nötigen 3000 Mark herzugeben. Dann könnte ich der Ehe mit Ella fast ohne materielle Angst entgegensehen. – Jedenfalls konnte ich noch nie so mit dem Alten sprechen.

(...)

München, Dienstag, d. 28. November 1911

Donnerstagabend findet nun endgültig die Versammlung statt, und zwar in der Schwabinger Brauerei. Thema: ›Staat, Kirche, Polizei und Abhilfe‹.Ob die besonders geladenen Künstler kommen werden? Ich habe große Zweifel. Leider zweifle ich diesmal auch an meiner Geschicklichkeit. Man muß abwarten: Vielleicht gelingt's, obwohl ich noch nicht weiß, wie ich einleuchtend machen soll, daß sich die Künstlerschaft wegen der Villany-AffäreVillany-Affäre: Eine Nackttänzerin dieses Namens sorgte zu der Zeit für Aufregung in der Tagespresse. für den tripolitanischen Krieg interessieren muß. Vielleicht findet aber mein richtiges Gefühl im Moment, wo es nötig ist, doch die richtigen Worte. Herr v. KrobshoferOswald Krobshofer (geb. 1883), Prager Maler und Anarchist. schreibt mir, daß von Berlin die Drucksachen gekommen sind. Jetzt erwarte ich seinen telefonischen Anruf.

Gestern zeigte mir Steinebach den Brief, den er an Papa geschrieben hat. Sehr sachlich und einleuchtend. Ich habe einen langen Brief ebenfalls abgesandt, in dem ich Papa auseinandersetzte, daß die Abgabe von 80 Mark monatlich meine Hoffnung, endlich eine eigene Wohnung haben zu können, wieder zerstören würde. Ich denke, mein Brief wird ihn bewegen, die 3000 Mark herauszurücken. Es wäre unglaublich, bliebe er danach verstockt.

München, Mittwoch, d. 29. November 1911

Die Niederschrift gestern mittag unterbrach das Erscheinen Krobshofers, mit dem ich dann zu Steinebach ging. Heut hängen nun überall große gelbe Plakate, auch sind Handzettel genügend zur Stelle, um die Tatsache der Versammlung weithin bekanntzugeben. – Ich freue mich sehr darauf, endlich mal wieder vor den Münchnern stehen zu können und ihnen Dinge zu sagen, die sie von anderen nicht hören. Die ›Münchner Neuesten Nachrichten‹ und die ›Münchner Zeitung‹ hatte ich gebeten, einen beigelegten Waschzettel abzudrucken, der auf die Veranstaltung hinwies. Beide haben es nicht getan. Diese Burschen, die das Maul mit freiheitlichen Redensarten zum Speien voll haben, machen sich die Hosen voll, wenn sie einmal eine wirklich freiheitliche Aktion auch nur ankündigen sollen. Der ›Münchner Post‹Sozialdemokratische Tageszeitung, mit der Mühsam ständig auf Kriegsfuß stand. habe ich natürlich schon gar nicht die Bitte gestellt.

(...) Simplicissimus. Kathi hat – was vorläufig geheim bleiben soll – das Lokal verkauft. Damit wird es wohl endgültig mit dem Simpl vorbei sein. Denn man ging doch letzten Endes nur der Wirtin wegen hin. – Eine kleine Überraschung muß ich aufschreiben, die mir dort bevorstand. Mary IrberMary Irber (1884-1967), Schauspielerin. war dort. Wir saßen an verschiedenen Tischen. Als sie ging und mir adjö sagte, konnte ich nicht umhin, ihr einen Kuß zu geben, und sie hielt, was ich nicht erwartet hätte, ganz brav den Mund dazu hin. Seit Wien, also seit fünf Jahren, der erste Kuß von ihr.

Als ich nach Hause kam heute nachmittag, fand ich einen Brief aus Lübeck vor von Papa. Die Antwort auf meine Bitte um die 3000 Mark. Er schlägt mir das Geld wirklich ab. Zwar redet er sich erst darauf hinaus, daß er momentan kein flüssiges Kapital habe. Die Häuser bringen nicht viel, da fortwährend Reparaturen nötig seien, sein übriges Geld sei in Hypotheken fest, und die Reichsbank ziehe ihm wegen CharlottesCharlotte Landau, geb. Mühsam (1881-1972), Schwester Mühsams. Mitgift sechs Prozent von den Zinsen ab – wenn ich ihn recht verstehe. Die beiden Mitgiften für meine Schwestern in Höhe von je 60000 Mark hat er also seinerzeit aufgebracht, Hans' Laboratorium, das gewiß einige Tausende gekostet hat, hat er bezahlt. Die Hochzeiten meiner Geschwister, deren jede einen großen Batzen verschlungen hat, konnte er auch bestreiten – aber mir gegen gute Verzinsung 3000 Mark zur Sicherung meiner Arbeit zu geben, ist ihm nicht möglich. Nachher kommt dann freilich der wahre Grund: »Alle Deine Unternehmungen trugen den Stempel der Unreife und brachten mir bittere Stunden. Nun, ich will die Geschichte von der Untergrabung meiner Gesundheit nicht noch einmal aufrollen. Ich will mit dem Anfang Deiner Einsicht, daß auch wir es gut mit Dir meinen, mich heute freuen. Von dem Unternehmen mit dem ›Kain‹ halte ich gar nichts. Ebensowenig halten Hans, Grethe, Charlotte, Julius und Leo etwas davon. Es ist ein ganz untergeordnetes Machwerk, das niemals sich Eingang verschaffen wird oder kann.« Und so weiter. Dann natürlich die alte Geschichte: Ich muß »eine feste Anstellung mit festem Gehalt in einem angesehenen Geschäft« finden. Was kann man da machen? Daß ich vom ›Komet‹ Geld im Fixum kriege, erfreut ihn sehr. Sehr schön. Aber er läßt es zu – denn er weiß, seinen Willen, ich soll mein Blatt eingehen lassen, werde ich nicht tun –, daß ich von diesem Gehalt den größten Teil wieder in meine Arbeit hineinstecken muß. Von seiner Gesundheit, die ich untergraben habe, will er nicht reden – und tut's mit diesen Worten schon. Was hilft das? Er ist mit dieser durch mich untergrabenen Gesundheit 73 Jahre alt geworden und ist rüstiger als ich. Wer hat meine Gesundheit untergraben? Wer hat mir »unsagbaren Kummer« gemacht? »Du warst bisher nicht auf dem richtigen Wege.« Aber er war auf dem richtigen Wege, da er ohne Eingehen auf Charakter und Sonderheit des von ihm gezeugten Menschen immer wieder, immer und ewig Dinge verlangte, die diesem Charakter, dieser Sonderheit stracks zuwider sind. Ich hatte von meinem Wunsch geschrieben, endlich aus dem möblierten Zimmer, in dem ich schlafen, essen und arbeiten muß, herauszukommen und eine eigene Häuslichkeit zu haben. Ja, die gönnt er mir von Herzen. Aber die Hilfe, die ich dazu brauchte, gibt er mir nicht. »Vielleicht erlebe ich doch noch Freude, und dann will ich alles vergessen.« Ja, ja. Aber ich werde, solange dieser Vater lebt, keine Freude erleben. Und wenn ich immer – nachher – alles vergessen wollte, wäre das nicht Hohn? – Wie ist es möglich? Wie kann ein Vater so verbohrt sein? Jetzt hätte er Gelegenheit gehabt, ein gutes, mögliches, menschliches Verhältnis zwischen uns herzustellen. Nein! Er weiß genau, ich muß jetzt warten, daß er stirbt, ich muß hoffen, daß er bald stirbt, damit ich, der jüngere, der seinen Ehrgeiz, seinen Stolz, sein Wertbewußtsein hat, leben kann. Er zwingt mich, seinen Tod meine Hoffnung sein zu lassen. Ob er das gar nicht weiß? Ich würde ihn so gern lieben. Aber sein Verhalten zwingt mich, ihn zu hassen. Denn auch in seinem Verhalten sehe ich kein Fünkchen Liebe zu mir; nur das Prinzip: Ich, der Vater, will recht behalten! Es wird also weitergehen müssen, wie es bisher ging. Noch ein paar Jahre Kummer, Entbehrungen, Einschränkungen, Unbequemlichkeiten, Alleinsein, Verbitterung, Lähmung, Unzufriedenheit, Eintrocknung, bis er stirbt oder bis ich kaputtgehe.

München, Sonnabend, d. 2. Dezember 1911

Die Versammlung am Donnerstagabend verlief ganz gut. Der große Saal der Schwabinger Brauerei war zu meiner Überraschung überfüllt. Ich hatte zuerst nur den kleinen, etwa 300 Personen fassenden Galeriesaal bestellt und nur für den Eventualfall den großen. Es kamen aber über tausend Personen. Die Zusammensetzung des Auditoriums war ganz ungewöhnlich. Sehr viele Literaten – unter anderen die BeutlerMargarete Beutler (1876-1949), nachnaturalistische Lyrikerin und Erzählerin; Mühsam lernte sie in der Neuen Gemeinschaft kennen (1901-04). Freksa,Friedrich Freksa (1882-1955), Romancier und Dramatiker, verheiratet mit Margarete Beutler. Halbe, Schaumberger,Julius Schaumberger (1858-1924), Münchner Schriftsteller aus dem Wedekind-Kreis. ScharfLudwig Scharf (1884-1939), Dichter und Kabarettist (›Elf Scharfrichter‹). usw. –, Künstler, Anarchisten aller Schattierungen und das übrige Studenten. Ich sprach eineinhalb Stunden, aber meine Rede stellte mich selbst wenig zufrieden. Sie war gar zu zerrissen. Immerhin sprach ich fließend, und wenn ich aus den vielfachen Unterbrechungen durch Beifall und Jubel schließen darf, wohl auch temperamentvoll und mitreißend. Der Schluß, in dem ich über »Abhilfe« hätte sprechen sollen, kam ganz zu kurz. Ich konnte nur vage Andeutungen dessen geben, was der Sozialistische Bund will.Die Ziele des Sozialistischen Bundes waren in einer Satzung niedergelegt und entsprachen den anarchistischen Auffassungen Landauers: Ausgliederung aus der bürgerlichen Gesellschaft in Siedlungen, in denen freiheitliche Lebensformen entfaltet werden sollten, um dann »auf Wegen, die die Geschichte anweist« den Sozialismus aufzubauen. Mühsam war allenfalls ein skeptischer Anhänger der Siedlungstheorie und setzte auf die Revolte der (sub)proletarischen Massen und deren Bündnis mit der künstlerischen Intelligenz.

In der Diskussion sprachen ein paar Studenten, deren Nüchternheit und Müdigkeit mich ärgerte. Am besten sprach Sirch, der Holzarbeiter, der etwas besoffen war, aber sehr leidenschaftlich redete. Recht widerlich war, daß die Studenten ihn seiner unbeholfenen Ausdrucksweise wegen auslachten. Am Schluß meines Referats war großer Beifall gewesen, untermischt mit Johlen und Pfeifen. Während der Diskussion wurde der Lärm der Studenten immer größer. Sie hatten nur noch ihren Bierulk an der Versammlung. Es war sehr deprimierend, so nahe zu sehen, wie leer diese jungen Menschen aller Herzhaftigkeit und alles leidenschaftlichen Temperaments sind. Ich mußte sie erst »dumme Jungen« nennen, um das Klavierspiel, dem sie sich während der Rede eines jungen Mannes hingaben, zu verhindern. Im Schlußwort sprach ich dann auch nur noch gegen diese Herzenskälte der satten Söhne reicher Leute. – Ich war arg verstimmt von dem Benehmen der Burschen. Viele Leute hatten sich während der Versammlung an mich herangepirscht. Herr Otto Borngräber hatte mir geschrieben und dann mich auch noch mündlich ersucht, auf das Verbot seiner ›Ersten Menschen‹ einzugehen. (Ich tat ihm den Gefallen.) Ein alter Prager Genosse, Vrba, ein feiner Revolutionärstyp mit einem Kopf, gemischt aus Hermann Bahr und Michael Bakunin,Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814-1876), russischer Revolutionär; seine »Philosophie der Tat« bildet die Grundlage des kommunistischen Anarchismus. stellte sich vor. (Ich lud ihn gestern zum Essen zu mir. Ein armer Teufel, der als Modell lebt und dem ich einen Anzug, Stiefel, Mütze und bares Geld gab.) Dann viele Studenten, darunter einer, der mir jüngst einen sehr jugendlichen Artikel ›Kritik‹ geschickt hatte mit der Bemerkung, vielleicht könne ich mit seiner Arbeit oder mit ihm selbst etwas anfangen. Brand heißt der Jüngling. Ich hatte erst Spitzelei auf Homosexualität gewittert und ihm daher erst nach langem Zögern geantwortet, er möge in die Versammlung kommen. Ein weicher blonder Junge. Vielleicht kann das Puma von ihm Gebrauch machen. Die Münchner Zeitungen – die ›Münchner Neuesten Nachrichten‹ und die ›Münchner Zeitung‹ hatte ich vorher eigenhändig eingeladen und gebeten, sie möchten die Versammlung anzeigen, was sie nicht getan haben – brachten keinen einzigen Bericht darüber. Es ist wieder einmal echt. Ich habe noch Platz in der Nr. 9 des ›Kain‹. Wartet, Burschen!

Ich hatte mich in der Erregung so überschrien, daß ich gestern ganz heiser war. Gleichwohl mußte ich bei Kutscher lesen. Ich zog vor, nur Gedichte vorzutragen. Der Beifall war groß und, wie mir schien, wie auch Kutscher mir bestätigte, spontan und ehrlich. Das erfreut. Ich blieb mit einer Anzahl der Studenten und mit Kutscher noch lange beisammen und ging schließlich ins Café Stefanie und dann mit Strich, Lotte, Seewald und Uli zu Kathi Kobus (die den Simplicissimus tatsächlich verkauft hat). Dort hatte ich eine große Freude. Ich saß neben Uli, die mir wieder ganz entzückend schien. Einmal fragte ich sie, ob ich ihr von dem Brezelmann etwas kaufen solle. Sie lehnte ab, nahm mich aber plötzlich beim Kopf und küßte mich. Wie liebe ich das Mädchen um solcher plötzlichen Eingebungen willen. Ich hätte fast geweint vor Freude. – Heut war ich bei Lotte, um ihr einige Schmucksachen zu bringen, die beim Goldarbeiter repariert worden sind. Sie zeigte mir ihre neuen Puppenarbeiten. Sie ist eine große Künstlerin. Persönlich geht's ihr gar nicht gut. Ihre Liebe zu Strich scheint ganz verflogen. Sie ist deprimiert und offenbar unglücklich, was sich auch in ihrem Benehmen gegen mich äußert. Sie kommt nie mehr zu mir zum Essen, und an das andere darf ich schon kaum mehr denken. Daß ich ihr den Hals küßte, schien ihr schon zu viel.

(...)

München, Dienstag, d. 5. Dezember 1911

(...) Nachher ging ich ins Luitpold. Oppenheimer hatte mir im Café gesagt, daß Heinrich Mann dort sein werde. Er belobte mich wegen des ›Kains‹ und meinte, ich dürfe das Blatt unter keiner Bedingung eingehen lassen. Ich klopfte an, ob nicht etwa sein Bruder Thomas, der ja reich ist, die nötigen 3000 Mark herausrücken werde. Mann aber meinte, soviel werde er wohl nicht geben, einiges aber bestimmt. Da Thomas Mann Freitag bei Kutscher liest, werde ich wieder hingehen. Wir kennen uns ja noch gar nicht persönlich.

Im Stefanie stieg wieder der Poker, der diesmal etwa vier Mark Gewinn brachte. Doch ging das Geld drauf, da ich zwei Mark davon dem Puma Schulden zahlen mußte und das übrige – und noch einiges – später mit ihr bei Kathi Kobus ausgab. Wie sollen die Finanzsorgen nur in diesem Monat ausgehen? Schicke ich Ella das Reisegeld, so bleibt fast nichts übrig. Und doch: Dürfte ich's ihr nur erst schicken!

München, Sonnabend, d. 9. Dezember 1911

(...) Wir gingen ins Stefanie, wo wir MeyrinkGustav Meyrink (1868-1932), österr. Romancier (›Der Golem‹), lebte in München und war häufiger Gast im Café Stefanie. trafen. Der hatte mit Roda Roda sich einen künstlichen Kropf patentieren lassen. Er erklärte ihn mir so: Der Kropf ist aus Leder, wird mit rosaseidenem Bändchen umgebunden und hat die Inschrift: »Duke et decorum est pro patria mori.« Damit soll eine Serie von Verhöhnungen gegen die Alpenkunst eingeleitet werden. Der Einfall ist jedenfalls sehr niedlich. – Meyrink erkundigte sich dann bei Albert nach den Bedingungen, wie man Schweizer Bürger wird. Er hat einen vierjährigen Sohn, und damit der einmal nicht Soldat zu werden braucht, will Meyrink ihn Schweizer werden lassen. Da er in Deutschland leben wird, kann ihn auch die Schweiz nicht zur Miliz heranziehen. Ein sehr kluges Verfahren, dem Militär Soldaten zu entziehen, das man unter der Hand kräftig empfehlen sollte.

(...)

Abends war ich wieder bei den Kutscher-Studenten, wo Thomas Mann aus seinem neuen unvollendeten Roman ›Memoiren des Hochstaplers Felix Krull‹Der erste Teil der ›Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull‹ erschien 1911. vorlas. Ich lernte ihn bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal persönlich kennen. Wir hatten nur einmal – vor einem Jahr, als es sich um meinen Protest in der ›Zukunft‹Herausgegeben von Maximilian Harden, der eine Protestnote gegen Mühsams Boykott durch die Presse veröffentlichte. Neben Thomas Mann unterzeichneten Heinrich Mann, Frank Wedekind und Hermann Bahr. handelte, korrespondiert. Gesehen hatten wir uns oft, und ich erinnere mich seiner sogar noch vom Schulhof des Lübecker Katharineums her. Er gefällt mir sehr gut, wenn er auch im Exterieur keineswegs den distinguierten Eindruck macht wie Heinrich Mann. Aber er ist klug, differenziert, sehr geschmackvoll in Reden und Gesten und liest sehr gut, wenn auch ein wenig geziert lübeckisch. Was er las, ist überaus fein und klug. Zwei kurze Abschnitte aus den Jugenderinnerungen des Hochstaplers. Sein erster Theaterbesuch und die exakte Schilderung, wie er sich, um die Stunde schwänzen zu können, krank stellt. Beide Abschnitte brillant stilisiert, voll feiner Ironie und doch wieder voll starker Leidenskonfession.

(...)

Eine Menge Studenten wenden sich an mich wegen Einladungen zu den Zusammenkünften der Gruppe Tat. Erst eben war ich mit einem beisammen: Alfred Henschke,Bekannt geworden unter dem Namen Klabund (1890-1928), Lyriker, Dramatiker, Romancier; Lieder fürs Kabarett. der Gedichte schreibt – ich kenne sie noch nicht – und einen etwas kindlichen, aber ganz netten Eindruck macht. Ich freue mich, doch hier und da Spuren eines echten Idealismus zu finden. Vielleicht läßt er sich konservieren, wenn die junge Begeisterung rechtzeitig revolutionäre Nahrung erhält.

München, Sonnabend, d. 16. Dezember 1911

Nachtragen möchte ich noch von Mittwoch ein Gespräch mit dem jungen Grafen Keyserling, dem Neffen des Schriftstellers,Eduard von Keyserling (1855-1918), baltischer Erzähler, ab 1899 in München lebend (Wedekind-Kreis). der mit uns im Simpl saß. Ich sprach mit ihm über Tolstoi,Lew Tolstoi (1828-1910); auf seine Philosophie der Gewaltlosigkeit berief sich Landauers Konzept der friedlichen Ausgliederung (Siedlungstheorie). Mühsams Temperament neigte jedoch dem Aktionismus zu: Rebellion statt Rückzug. Turgenjew, AndrejewLeonid N. Andrejew (1871-1919), russischer Erzähler und Dramatiker. und andere revolutionäre Russen. Er zeigte lebhafte Sympathie für die Revolution und erzählte mir von mehreren Attentaten auf den Zaren, die ungeheuer kühn unternommen waren, aber durch vage Zufälle vereitelt wurden. Einmal war eine Auster vergiftet worden. Als sie ihm serviert wurde, ließ er scherzhafterweise den ihm bestimmten ersten Austernteller einer kleinen jungen Prinzessin reichen. Sie starb. Ein ganz ähnlicher Versuch wie seinerzeit bei Alexander II. soll auch gegen Nikolaus gemacht sein, daß nämlich sein Zimmer unterminiert wurde. Die Explosion sei auch erfolgt. Doch hatte der Zar, da ein Prinz sich verspätete und die ganze Hofgesellschaft warten ließ, den betreffenden Raum noch nicht betreten. Keyserling behauptete, diese Dinge absolut sicher zu wissen.Obwohl Mühsam für sich selbst jede Form der Gewaltausübung ablehnte, war er stets fasziniert von Attentaten – sofern ihnen »gerechte« Empörung zugrunde lag.

Sie würden aber sehr verheimlicht. Wir sprachen lange über das russische Volk und die revolutionären Hoffnungen in Rußland. Ich hatte den Eindruck, der junge Graf kokettiere etwas mit den revolutionären Ideen. Aber schließlich ist ja in jeder Pose ein echter Antrieb, und mir ist die Pose nach dieser Richtung immerhin weitaus sympathischer als die umgekehrte, für die als Beispiel mein alter Hardy mal wieder in München eingerückt ist. Ich war vorgestern mit ihm und Emmy im Stefanie beisammen, und er erklärte, er halte es jetzt mit der Reaktion und gegen die Humanität. Er trug auch ein bezügliches Buch bei sich. Ich sprach ihm von Überzeugungen und daß er davon nichts verstehe. Aber wir blieben friedlich. Ich habe ihn ja doch sehr, sehr gern.

(...)

München, Sonnabend, d. 30. Dezember 1911

Ich habe heute nicht 300, sondern 500 Mark vom Dreimasken-VerlagVorschuß auf die Veröffentlichung des Theaterstücks ›Glaube, Liebe, Hoffnung‹, entstanden 1911. Es wurde jedoch nicht gedruckt und ist (bis auf den 2. Akt in: ›Kain-Kalender 1912‹) verschollen. bekommen und bin nun für die nächsten Tage und Wochen aus allen Nöten. Johannes soll heute geschickt bekommen (BingHenri Bing (1888-1965), franz. Maler und Karikaturist; zeichnete für den ›Simplicissimus‹. berichtete mir von einem Pumpbrief, den er von ihm bekommen habe), EllaElla Barth. soll kriegen. Der ›Kain‹ ist wieder für den Januar gedeckt, und ich werde sogar noch nach der Zahlung meiner Schulden an Uli und Lotte Geld genug übrig behalten.

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Ein merkwürdiger Zwischenfall stellte im letzten Moment noch in Frage, ob ich überhaupt zum Verlag gehen könnte. Ich stand erst um zwölf Uhr mittags auf und fand meine Schuhe nicht vor der Tür. Das Mädel behauptete, auch keine zum Putzen gefunden zu haben. Kurz und gut: Die Schuhe waren gestohlen. Die anderen sind beim Schuster in Reparatur, und meine alten Stiefel habe ich neulich verschenkt. Ich konnte also nicht fortgehen und tobte. Endlich lieh mir ein Herr Stöhr, Vortragskünstler vom Serenissimus, ein Paar gelbe Stiefel, die halbwegs paßten. Nur war der linke für ihn eigens gebaut, da er an dem Fuß sechs Zehen hat, und so mußte ich mich sehr quälen, bis ich, reich vom Dreimasken-Verlag zurückkehrend, mir auf dem Wege schon ein Paar neue Schuhe für 18,50 Mark kaufte.

Gestern abend war endlich mal wieder eine Gruppenzusammenkunft im Gambrinus. Wir waren nur sehr wenige, mit Morax und mir etwa zwölf Personen, da die eingeladenen Studenten, die wohl alle zu den Ferien fort sind, nicht gekommen waren. Ich sprach, obwohl wir so wenige waren, eine ganze Stunde über die Wahlen, da vier neue Leute dabei waren, die Morax aus der Volksküche herangeschleppt hatte. Wir haben beschlossen, vorläufig wieder alle Freitage im Gambrinus zusammenzukommen. Vielleicht kommt doch noch eine neue ansehnliche Gruppe Tat zustande. – Am sechsten Januar soll ich bei der Freien Vereinigung der Holzarbeiter über die Reichstagswahlen sprechen.

München, Sonntag, d. 31. Dezember 1911

Der ›Kain-Kalender für das Jahr 1912‹ ist heraus. Gott sei Dank. Seit drei Jahren meine erste Buchpublikation. ›Der Krater‹ war die letzte. Der Kalender sieht sauber und hübsch aus. Auch der Inhalt erfreut mich jetzt, da ich das Ganze endlich gedruckt vor mir sehe. Vorne mein Porträt auf gelblichem Kunstdruckpapier (die Photographie der Hänse Herrmann, stehend, mit dem Hut in der Hand), mit Faksimile-Namenszug. Das Büchelchen ist fünf Bogen stark. Ich hoffe, daß die Buchhandlungen es ordentlich absetzen werden, damit Steinebach Mut faßt, weiter zu drucken und weiter zu kreditieren.

Auf meinen Reichtum hin mußte ich schon gehörig bluten, so daß ich heute meinen dritten Hundertmarkschein wechseln ließ. 30 Mark verpumpte ich an Thesing, 20 an Bolz, 10 an den Grafen Keyserling. An Johannes schickte ich 80 Kronen statt 50, an Ella 20 Mark. Uli versprach ich 10 Mark, und ebenfalls 10 Mark schenkte ich eben Frieda Wiegand, die mich diesen Moment verließ – ich hatte das Einschreiben hier bei ihrem Kommen abgebrochen –, und mit der ich das alte Jahr mit einem schön verlaufenen und durch kein Korsett und keinen Klingellärm gestörten Koitus verabschiedete.

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