Tagebücher 1910-1924
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1919

Zuchthaus Ebrach, Sonntag, d. 27. April 1919

Jubiläum. Heute ist's gerade ein Jahr her, daß morgens ein Schutzmann bei uns erschien und mir den Ukas des Generalkommandos I. A-K überbrachte, der mir Traunstein als Zwangsaufenthalt anwies. Es folgte der Tag im Polizeigefängnis in der Ettstraße, wohin Zenzl mir zu essen brachte, und am nächsten Morgen der Transport in die Gefangenschaft. – Und heute sind's gerade vierzehn Tage her, daß morgens drei Soldaten der sogenannten Republikanischen Schutztruppe bei uns erschienen und mich ohne schriftlichen Ukas, im Auftrage einer sogenannten sozialdemokratischen Revolutionsregierung verschleppten, die sich nachträglich auf Strafgesetzbuchparagraphen besann, um ihrem Gewaltakt ein Rechtsmäntelchen umzuhängen.

(...)

Welch ein Jahr liegt hinter mir!

Wegen zunehmender Unruhen in München (Januarstreik 1918) wird Mühsam nach Traunstein verbannt und unter militärische Aufsicht gestellt. Am 3. November 1918, kurz vor Ausbruch der Novemberrevolution, kehrt er illegal nach München zurück und propagiert das Rätesystem nach russischem Vorbild. Der am 7. November gegründete Arbeiter- und Soldatenrat unter Leitung von Kurt Eisner (USPD) übernimmt die Führung in Bayern und ruft die Republik aus. Als Eisner eine parlamentarische Demokratie anstrebt (Ankündigung von Wahlen), stößt er auf den Widerstand der radikalisierten Arbeiter und Soldaten, die eine proletarische Räteregierung nach dem von Mühsam unterstützten Programm des Spartakusbundes fordern. Eisners Versuch am 10. Januar 1919, die radikalen Wortführer zu verhaften, wird durch Massenproteste vereitelt; Eisner verliert seinen Rückhalt in der Bevölkerung. Mühsam setzt zusammen mit Max Levien (KPD) die Agitation für das Rätesystem fort. Am 21. Februar, kurz vor seinem Rücktritt zugunsten einer SPD-Regierung, wird Eisner von dem monarchistischen Offizier Arco-Valley erschossen. In die nachfolgende Sitzung des Landtags dringt Alois Lindner ein; er schießt auf den rechtsgerichteten Sozialdemokraten Erhard Auer, weil er ihn für den Drahtzieher des Eisner-Mordes hält. Ein Zentralrat aus Vertretern der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte Bayerns tritt die Nachfolge des Landtags an; Mühsams Antrag, die Räterepublik auszurufen, wird vom Zentralrat am 28. Februar mit 234 gegen 70 Stimmen abgelehnt. Am 8. März beschließt der Zentralrat die Wiedereinsetzung des Landtages (SPD-USPD-Koalition unter J. Hoffmann). Doch die Popularität des Rätesystems läßt die Regierung um ihren Rückhalt bei der Bevölkerung fürchten, und sie überläßt dem Zentralrat (am 6. April) die Bildung einer Räteregierung unter (scheinbarer) Mitwirkung von SPD-Politikern, um den Noske-Truppen einen Vorwand für militärisches Eingreifen zu schaffen. Eugen Levine (KPD) durchschaut die Intrige des SPD-Militärministers Schneppenhorst und lehnt die Mitarbeit der Kommunisten ab. Mühsam und Landauer stimmen jedoch, um die Gunst der Stunde zu nutzen, mit den Vertretern der SPD und USPD für die Räterepublik, nachdem sie Programmforderungen der KPD durchgesetzt haben. Der Landtag verlegt seinen Sitz nach Bamberg. Die erste Räterepublik erweist sich schnell als handlungsunfähig. Mühsam versucht »hinter den Kulissen«, die Volksbeauftragten zu revolutionären Maßnahmen zu treiben. In der Nacht zum 13. April werden er und einige andere Aktivisten bei einem Putschversuch der »Republikanischen Schutztruppe« (einer militärischen Formation der SPD-Regierung unter dem Kommandanten Aschenbrenner) verhaftet und nach Ebrach verschleppt. Der Putsch bringt zwar die Räteregierung zu Fall, löst aber Gegenwehr und Massendemonstrationen aus, die die Einsetzung einer neuen Räteregierung unter führender Beteiligung der Kommunisten zur Folge haben. München ist bereits weitgehend militärisch eingekreist. Leviné glaubte nach eigenem Bekunden nicht an einen Sieg, nur an die ehrenvolle Verteidigung der Räteidee.–Die bewaffnete Verteidigung Münchens (u. a. geleitet vom pazifistischen Schriftsteller Ernst Toller) stellte für die weißen Truppen kein ernstzunehmendes Hindernis dar. Am 1. Mai begann die Treibjagd auf die Spartakisten, der Hunderte von Verteidigern und Unbeteiligten zum Opfer fielen. Geschürt wurde die Mordlust der weißen Truppen von der Nachricht, daß Rotarmisten kurz vor der Niederlage zehn Geiseln erschossen hatten. Alle, die mit dieser Tat in Verbindung gebracht werden konnten, wurden »auf der Flucht« erschossen, hingerichtet bzw. zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt. – Ausführlich beschrieb Mühsam 1919 seinen Anteil an den Geschehnissen in: ›Von Eisner bis Leviné‹, Berlin 1929.

Die Traunsteiner Zeit, ein volles halbes Jahr, mit all den Schikanen gegen die eigene Person, Hauptmann von der PfordtensVon der Pfordten (gest. 1923), Überwachungsoffizier in Traunstein, bei dem Mühsam alle drei Stunden vorstellig werden mußte. 1923 Teilnehmer des Hitler-Putsches. heimtückischen Liebenswürdigkeiten, den Wochen meiner Tätigkeit als Banklehrling, dem blutrünstigen und albernen Geschwätz SontheimersJosef Sontheimer (geb. 1876), Kaufmann, Anarchist; am 4. Mai 1919 von weißen Truppen erschossen., den Hysterien des blinden Schreiblehrers, den Peinigungen der philiströsen Kleinstädter, dabei mit dem Gram über die Endlosigkeit und Entsetzlichkeit des Krieges, dann aber der Hoffnung, der Zuversicht und endlich dem Miterleben des Zusammenbruchs der deutschen Ruchlosigkeit, dazwischen der heimliche Verkehr mit Gefangenen, die Besuche Zenzls, die kleinen Abwechslungen: Ziersch, Holz,Arno Holz (1863–1929), Schriftsteller; Zentralfigur der naturalistischen Bewegung 1890. Artur, Streit,Ludwig Streit (1884–1938), Schriftsteller. Maaßen; das tägliche Schachspiel mit Dr. Jäger, die Freundschaft mit Frau SackSack, Paula (1892–1974), Witwe des 1916 gefallenen Expressionisten Gustav Sack. und die Konspiration mit den paar anständigen Bürgern Traunsteins gegen die Lagervogte – lauter Erinnerungen, die aus der Zuchthausperspektive einen eigenen Reiz gewinnen, zumal sie mit der Vorstellung an wundervolle Naturschönheit, an die prachtvolle Bergkette und die mächtigen Wälder, an die Spaziergänge an der Traun entlang oder zur Weinleite verbunden sind. (Mein Gitterfenster hier läßt mich nur ein Stück verregneten Aprilhimmels sehen). – Und dann nach der Befreiung der Aufschwung aller seelischen Kräfte in der ersten Geste der Revolution, die stürmische Beteiligung am Werden des Neuen, die plötzliche Gewinnung der Herzen der Massen, die einen Führer aus mir machten, ohne daß ich es ahnte und wollte, das Drängen zur Tat, zu der die neuen Männer nicht zu bringen waren, mein Kampf gegen Eisner, unsere Verhaftung am 10. Januar, die Riesendemonstration an diesem Tage auf dem PromenadeplatzAmtssitz Kurt Eisners., die unsere Freilassung erzwang, der Jubel des Abends, als wir im Mathäser erschienen und zur Menge sprachen; die Arbeit im Revolutionären, im Münchner, im Landes-Arbeiterrat und im Rätekongreß. Eisners Tod und Begräbnis. Erlebnisse persönlicher Art dazwischen (der Roman MilaMila Deutsch, Freundin Mühsams seit Januar 1919., das Erscheinen Jennys in München), Freude und Ärger mit dem ›Kain‹ und Albert Reitzes treue Freundschaft. Endlich die verfrühte Ausrufung der Räterepublik mit dem jähen Wechsel aller Affekte, Begeisterung, Besorgnis, Enttäuschung, Verzweiflung, Hoffnung, Vertrauen – und dann der Eingriff der Gewalt und die Entfernung von jeder Wirkensmöglichkeit, die vollständige Zerschneidung der Fäden zwischen Zenzl und mir, die lange Ungewißheit über das Schicksal der Freunde und jetzt die Qual zwischen Furcht und Zuversicht, die völlige Ungewißheit, wie wird der Kampf enden, was wird aus dem Werk, was aus mir, den Meinen, meiner Arbeit, meiner Habe, aus der Zukunft werden? Umschlossen von engen kahlen Gefängnismauern, verurteilt zu einem Leben voll harter Entbehrung, voll Unsauberkeit und Armseligkeit, höre ich aus den Zellen meiner Gefährten fröhliches Pfeifen und Singen. Hinter den dicken Mauern dieses Verlieses liegt die Welt, an deren Schönheit, Freiheit und Glück zu arbeiten auch mir wieder gewährt sein wird. Ich glaube an das Glück der Menschheit durch die Revolution. Der Name des Menschheitsglücks aber ist Sozialismus. Bis er verwirklicht ist, darf die Revolution nicht erlahmen. Ich bin für meine Person entschlossen, ihr zu dienen bis zum Siege oder bis zum Tod.

Zuchthaus Ehrach, Montag, d. 28. April 1919

(...) Was in München selbst vorgeht, ist schwer zu durchschauen. Es heißt, LevienMax Levien (geb. 1885 in Moskau), 1905 Emigration in die Schweiz, Bekanntschaft mit Lenin. Studium der Naturwissenschaften (Promotion), deutsche Staatsbürgerschaft. 1914–18 Soldat. Mitbegründer und Funktionär der Münchner KPD; floh nach Wien. Nach Rußland abgeschoben, 1936 vermutlich erschossen. und Leviné-NissenEugen Leviné(-Nissen, geb. 1883 in Petersburg), ab 1904 russischer Sozialrevolutionär, Mitglied der SPD ab 1913; ab März 1919 in München als KPD-Funktionär und Redakteur der ›Roten Fahne‹. Führer der 2. Räterepublik; am 5. Juni 1919 hingerichtet. wollen unter allen Umständen ohne Verhandlung mit dem Bamberger GeschmeißDie bayerische Landesregierung unter Johannes Hoffmann (MSPD). durchkämpfen, während sich unter TollerErnst Toller (geb. 1893), Dramatiker und Lyriker; als USPD-Mitglied und Vorsitzender des Zentralrats führend an der Gründung der Räterepublik beteiligt; Kommandeur der Roten Armee bei Dachau. Zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. 1939 Freitod im New Yorker Exil. eine verhandlungsgeneigte Partei ihnen gegenüberstelle. Ich fürchte diese Unabhängigen, die ihr »kein Blutvergießen« mit besonders großem Talent immer dann plärren, wenn gerade dadurch Schwäche und also Blutvergießen hervorgerufen wird. In Berlin und Bremen hat sich's doch wahrhaftig gezeigt, wie die Bereitwilligkeit zu verhandeln von der Gegenseite zur erbarmungslosesten Brutalität ausgenutzt wird. Wer A gesagt hat, muß auch B sagen. Ich für meine Person stünde in dieser Frage vollständig bei Levien. – Eine Äußerung Leviens soll gedroht haben, für den Fall einer Belagerung Münchens würde er die Bürger reihenweise am Marienplatz erschießen lassen. Ich hoffe, daß er das nicht gesagt hat.

(...)

Heute habe ich mir vom Arzt Veronal erbeten, damit ich nachts schlafen kann, ich, der sonst zwischen Abend und Morgen nie ein Auge auftut. Die Beschwerden über das schlechte Essen fruchten nichts, man muß es halt tapfer hinunterschlingen. Reichlich ist es ja – aber reichliches Schweinefutter, besonders die zähe, häutige Suppe, die sich als »Gemüse« ausgibt. Mit meinem Anliegen, daß bis neun Uhr das elektrische Licht brennen möge, habe ich mich heute unter Berufung auf die Schlaflosigkeit an den Arzt gewandt. Herr Staatsanwalt RothChristian Roth (1873-1934), Staatsanwalt. Rechtsradikaler Justizminister der Kahr-Regierung 1920/21, zuständig auch für die Zensur der Festungshäftlinge. Gab im Landtag und in der Presse Erkenntnisse und Zitate aus Mühsams Tagebüchern preis. hat es mir vorgestern abgeschlagen – er will dem Staat Kohlen ersparen. Ich fragte ihn darauf, was er eigentlich damals gemeint habe, als er uns »jede Erleichterung« versprach. Er krümmte sich und blieb die Antwort schuldig. Meine und der Kameraden Beschwerden über den Saufraß parierte er mit dem Einwand, er habe das Essen neulich selber gekostet und durchaus gut gefunden. Wir werden uns diesen Herrn für die Zeit unserer Wirksamkeit merken. Vors Revolutionsgericht! – und dann mag er nach seinem Rezept von »jeder Bequemlichkeit« Gebrauch machen. Ich bin im allgemeinen nicht gerade rachsüchtig. Aber an diesem Schleicher, der einem nicht offen ins Gesicht schauen kann, wird die Vergeltung meinem Herzen wohltun.

Nachmittag (dreiviertel fünf)

Unser Hofspaziergang ist die erfreulichste Abwechslung am Tage. In zwei – oder drei? – Abteilungen zu fünfzehn bis zwanzig Mann wird man eine Stunde ins Freie gelassen. Zwar halten die Aufseher darauf, daß im Gänsemarsch gegangen wird und ein gewisser Abstand eingehalten wird, damit keine Wechselgespräche stattfinden. Trotzdem unterhalten wir uns ganz leidlich. Außer den Aufsehern, die in der Tür auf uns aufpassen, sind gewöhnlich noch zwei Soldaten bei ihnen zu sehen, die aber meistens bis jetzt hinter der Tür standen. Heute trat eine neue Methode in Wirksamkeit. Die beiden Weißgardisten – ausgesucht widerwärtige Visagen – mußten in der grasbewachsenen Mitte des Hofs stehen, um den wir im Kreis herum spazierten. Die Gewehre unter dem Arm und etliche Patronentaschen am Gürtel, machten die Leute den Eindruck, als ob sie am liebsten jedem von uns eine Kugel in den Kopf schießen möchten. Wie mögen diese Menschen gegen uns verhetzt sein! Aber welche lächerliche Angst spricht doch aus derartigen Sicherungsmaßregeln gegen wehrlose Eingesperrte!

(...)

Zuchthaus Ebrach, Donnerstag, d. 1. Mai 1919

Erster Mai! Wird sich heute die revolutionäre Arbeiterschaft Bayerns zum großen Schlage erheben, um dem bedrängten München beizustehen?Am 1. Mai ist München bereits eingeschlossen und teilweise besetzt.

Ich hoffe und zweifle. Das Wetter ist, wie den ganzen April hindurch, trübe und regnerisch, das beeinträchtigt revolutionäre Handlungen an und für sich erheblich. (Hätte es am 7. November geregnet, dann wäre – mindestens an diesem Tage – der ganze Umsturz ins Wasser gefallen.) Die Regierung HoffmannJohannes Hoffmann (1867-1930), bayerischer Mehrheitssozialist, 1919 bis 1920 Ministerpräsident. hat allem Anschein nach jede Vorsorge getroffen, um gerade heute keine Aktionen lebendig werden zu lassen. Vor allem hat sie die Maifeier in eigene Regie genommen. Selbst wir im Kittchen durften uns wie sonntags einer Stunde verlängerter Nachtruhe erfreuen und werden heute mittag voraussichtlich zur Feier des Tages nach einigem Angeln am Grunde unserer Suppe ein winziges Fetzchen ausgekochtes Fleisch finden.

(...)

Zuchthaus Ebrach, Freitag, d. 2. Mai 1919

(...) Ich glaube – ja, ich weiß, daß die Internationale der kommunistischen Räterepubliken am Ende unserer und der Weltrevolution stehen wird, aber ich verschließe mich nicht den Befürchtungen, die aus dem höchst gewissenlosen Gebaren der gegenwärtigen sozialdemokratischen Gewalthaber erwachsen. Wenn das Kapital der Besitzenden ernstlich bedroht ist – und die durch den fortgesetzten Militarismus veranlaßte beschleunigte Entwertung des Geldes, verbunden mit den Wirkungen der revolutionären Arbeiterausstände, besonders in den Kohlengebieten, macht diese Bedrohung in absehbarer Zeit sehr wahrscheinlich –, werden die reaktionären Mächte das Äußerste wagen, um die Gewalt an sich zu reißen. Die Sozialdemokraten haben dann ihre Pflicht erfüllt, und eine neue Ära LudendorffErich Ludendorff (1865-1937), Generalstabschef im Ersten Weltkrieg, 1920 Teilnehmer am Kapp-Putsch, 1923 am Hitler-Putsch, 1924-28 Reichstagsabgeordneter der NSDAP. mit monarchistisch-despotischer Tendenz blüht auf, die zwar den Untergang des Kapitalismus auch nicht verhindern kann, die aber ein Blutregiment über Deutschland aufrichten wird, das seinesgleichen noch nicht gesehen hat und dessen Ende ich für meine Person bestimmt nicht erleben werde. Denn die »Rädelsführer« werden nicht lange prozessiert werden. Für diese Ära bereiten die Scheide- und Hoffmänner mit ihrer erbärmlichen, feigen, liebedienerischen Verräterpolitik jetzt den Boden, indem sie das zukunftsfrohe Proletariat niederbütteln und die Nutznießer der sich vorbereitenden nackten Reaktion, NoskeGustav Noske (1868-1946), sozialdemokratischer Politiker, organisierte 1919 mit Hilfe der Reichswehr und von Freikorps die militärische Niederwerfung der proletarischen Revolution. 1919/20 Reichswehrminister. Hohenzollern-Wittelsbach, in den Besitz des gesamten staatlichen Waffenarsenals und Verwaltungsapparats setzen. Eines Tages werden ihnen die Augen aufgehen, wenn sie selbst als Opfer ihres Verrats mitgehangen werden. Dann werden sie erkennen, daß ihre wahnwitzige Kommunistenverfolgung dem deutschen Volk mindestens zehn Jahre Freiheit und Glück gekostet haben wird. Nur ein rechtzeitiger Sieg der Revolution über Weimar kann uns dieses Unglück ersparen. Aber die nächste Zukunft liegt in düsteren Nebeln vor uns.

Zuchthaus Ebrach, Montag, d. 5. Mai 1919

Eben erhalte ich den ›Freistaat‹ (das Regierungsorgan der Bamberger) von Samstag. Daraus entnehme ich einige neue Daten über die Münchner Vorgänge, die so entsetzlich sind, daß ich sie vorerst nicht glauben kann. Die letzte Depesche, schon vom 3. Mai, enthält folgende Meldung: »... Die radikalen Führer Egelhofer,Rudolf Egelhofer (geb. 1896), Matrose (KPD); Stadtkommandant von München und Oberbefehlshaber der Roten Armee in der 2. Räterepublik. Am 3. Mai 1919 ermordet. Landauer, Frauendorfer,Heinrich Ritter von Frauendorfer (1855-1921), bayerischer Verkehrsminister 1918-1920. Dr. MenciOder Frau Dr. Menzi? E. M .Hildegard Menzi, Ärztin; Mitglied der KPD-Gruppe in München. (gemeint sind wohl mit den letzten beiden GandorferKarl Gandorfer (1875-1932), Politiker des Bayerischen Bauernbundes, Freund Kurt Eisners; Schriftführer des Arbeiter- und Soldatenrates. und Muckle)Friedrich Muckle (geb. 1883), Berliner Gesandter der Eisner-Regierung. sind verhaftet. Man wird mit ihnen verfahren, wie sie es mit den Geiseln gemacht haben, die sie am Mittwoch und Donnerstag im Luitpoldgymnasium erschossen und in grauenhafter Weise verstümmelt haben, wie sich nun amtlich bestätigt.Die Erschießung von zehn Geiseln am 30. April als Vergeltungsakt gegen die Erschießung von Revolutionären im Kampf um München war der einzige militärische Willkürakt der Räteregierung. Die Opfer waren wegen Aktivitäten gegen die Räterepublik (u. a. Mitglieder der präfaschistischen Thule-Gesellschaft) verhaftet, aber nicht verurteilt worden. Da der Geiselmord als Rechtfertigung für die Massaker der weißen Truppen diente und Gegenstand tendenziöser Prozesse gegen die Beschuldigten war, müssen die Vorgänge bis heute als ungeklärt gelten.

Die Namen konnten infolge der Verstümmelung der Leichen nicht festgestellt werden. Die Erbitterung der Einwohnerschaft ist aufs höchste gestiegen. Egelhofer wurde erschossen ...«

Seit von der Erschießung von Geiseln die Rede ist, bin ich die Angst um Landauer nicht losgeworden. Gerade er hätte sich entschieden dagegen gestemmt. Eine verbrecherischere Verrücktheit wäre ja nicht auszusinnen gewesen. Man nimmt Geiseln fest, um der Gegenseite die Lust zu nehmen, ihren Gefangenen Böses zu tun. In dem Augenblick, wo der Gegner die Gewalt an sich reißt, Geiseln umzubringen, heißt das Leben der eigenen Genossen sinnlos und frivol opfern. Leider traue ich gewissen Führern der KPD in München derartige niederträchtige Dummheiten zu, doch beruhigt mich etwas die Angabe, die Leichen der Erschossenen seien verstümmelt. Das klingt denn doch so nach Greuellüge, daß Zweifel an der ganzen Meldung gerechtfertigt scheinen. Es wäre ja schauderhaft, wenn man gerade Landauer tötete. Was wissen denn diese Barbaren von seinem großen, klaren, starken Geist? Was von seinen Lehren, Bekenntnissen, Werbungen, Leistungen, was von den Bereicherungen, die er als Philosoph und Sozialist diesem Volk gegeben hat? Wie tief mich persönlich dies Furchtbare träfe – davon rede ich nicht, jetzt nicht. Denn ich glaub's nicht und will's nicht glauben. – Um Egelhofer – dessen Tod wird ja ganz positiv behauptet – tat's mir leid, aber das wäre ein Gefallener unter vielen. Ich vertrug mich immer gut mit ihm, und er hat mich manchmal begleitet, wenn ich abends den Schutz einer starken Wache brauchte. Die Verluste der Weißgardisten scheinen doch beträchtlicher zu sein, als man wahrhaben möchte. Der Generaloberarzt meldet unter den Gefallenen u.a. zwei Generäle und einen Oberstleutnant. Mich persönlich ängstigt die Mitteilung, wo die letzten Kämpfe stattfinden. Gegend Dachauer Straße, Schleißheimer Straße, Giesing und südlich vom Hauptbahnhof wird genannt, wo noch Widerstand geleistet werde. Schleißheimer Straße! Das ist also gerade unsere Gegend. Was mag Zenzl machen? Ohne Gruß, ohne Worte, ohne Ahnung in diesen Stunden und Tagen – das ist schrecklich ... Meine Kameraden ergehen sich großenteils in sehr weitschweifenden Hoffnungen. Sie glauben, nach der Besiegung Münchens stünde unsere Befreiung bald bevor. Das glaube ich durchaus nicht. Ich rechne noch mit monatelanger Haft. Sollte aber unerwartet doch die Freilassung kommen, so bin ich noch nicht schlüssig, ob jetzt meine Anwesenheit in München opportun wäre. Ich bin fast jedem bekannt, und bei der Verhetzung der kleinen Geschäftsleute und der Studenten wäre mein Leben vielleicht jetzt dort gefährdeter als je. Vielleicht ginge ich zu Mila nach Bensheim. – Zunächst hoffe ich aber mal auf einen Brief und dann auf den Besuch von Zenzl. Vorher will ich keine Pläne machen.

Zuchthaus Ebrach, Dienstag, d. 6. Mai 1919

Landauer tot. Ich will und kann es nicht für möglich halten und muß es doch glauben. Nur ein kleines Restchen Hoffnung, daß es vielleicht doch nicht wahr sei, ist noch da, und an das klammere ich mich. Die Meldung – im ›Bamberger Volksblatt‹ – lautet: »Landauer fiel in Pasing den Regierungstruppen in die Hände und wurde sicherem Vernehmen nach bei seiner Einlieferung von der Menge getötet.« Gelyncht also – wie Rosa Luxemburg von einer durch Lügen und verleumderische Verhetzung fanatisierte und mordgierig gemachte Soldateska schnöde ermordet. Es ist so furchtbar – so grauenvoll; mein Freund und Führer, mein Lehrer und Genosse. – Und ich sitze da, eingekerkert von denselben Verbrechern, die seinen Tod verschuldet haben, und kann nicht helfen, niemanden trösten, nicht zu seinem Begräbnis gehen, kein Wort des Gedächtnisses für ihn sprechen. Und niemand – auch von denen nicht, die jetzt erbittert sind gegen seine Mörder –, niemand weiß, welch ein Geist hier zerstört ward. Ich sitze in meiner einsamen Zelle und klage und weiß dabei, daß das Verbrechen der eigenen Genossen – die unselige Ermordung der Geiseln – die letzte Ursache der Schandtat ist, die Gustav Landauer zum Opfer forderte. Wer die Geiselerschießung anordnete, der hat endlose Schuld auf sich geladen, der muß unendliches Blut guter reiner Menschen verantworten. So soll auch KlingelhöferGustav Klingelhöfer (1888-1961), Nationalökonom (USPD), Mitglied des Zentralrats und Stellvertreter Tollers als Kommandierender der Dachauer Armee. Zu fünf Jahren und sechs Monaten Festungshaft verurteilt. mit seiner Frau standrechtlich erschossen worden sein. Und gegen die standrechtlichen Erschießungen fehlt uns jetzt jedes Recht zur Entrüstung. Haben doch verblendete verbrecherische Narren der eigenen Seite mit dieser Ruchlosigkeit begonnen. Das Lynchen allerdings war der Bourgeois-Kanaille vorbehalten: und den besten, edelsten, reinsten, größten Mann hat sie sich ausgesucht dazu. Die Kommunisten hatten am 12. April Aschenbrenner in ihrer Hand,Emil Aschenbrenner, Kommandierender der Republikanischen Schutztruppe, der bis März 1919 auch Hitler angehörte; Anführer des Putsches der MSPD-Regierung am 13. April 1919. den Menschenschinder, der mit seinen Trabanten am Hauptbahnhof eine private Prügeljustiz infamster Art etabliert hatte – ihm ist kein Haar gekrümmt worden, und am Tage darauf leitete dieser selbe Mensch die Tragödie ein, die jetzt in München zum Abschluß kommt. Natürlich macht die Presse furchtbaren Lärm wegen der Tötung der Geiseln und schnaubt Rache. Auch mein Blut wird verlangt. Das ›Bamberger Volksblatt‹ schreibt (der Bandit, der sich das leistet, zeichnet A. H.): »Der gewöhnliche Tod des Erschießens ist für die Münchner Bestien viel zu wenig, die bestialischen Verbrecher sollten auf öffentlichem Platze gehängt und als abschreckendes Beispiel für vertierte Gesellen zur Schau gehängt werden. Gleichviel, ob die Toller, Levien und Leviné direkt die Anordnung zu diesen Scheusäligkeiten gegeben haben oder nicht, auf jeden Fall haben sie die Münchner Massen durch Verhetzung bis zu dieser Vertiertheit gebracht, und darum sind sie gleich wie auch die Mühsam und SauberFritz Sauber (geb. 1884), Vorsitzender des Landessoldatenrates. Zu zwölf Jahren Festungshaft verurteilt. KPD-Reichstagsabgeordneter ab 1920. an diesem himmelschreienden Verbrechen mitschuldig, und unerbittlich muß hier die Gerechtigkeit ihres Amtes walten.« Sie lechzen nach Blut, dieselben, die während der vier Kriegsjahre jede neue Schurkentat der deutschen Militärgewalt schreiend gefeiert haben: die U-Boot-Morde ebenso wie die Zeppelin-Angriffe auf London und Paris, die Hinrichtung Fryatts1916 wurde der brit. Kapitän Charles Fryatt weg. versuchten Angriffs auf ein dt. U-Boot von einem dt. Kriegsgericht zum Tode verurteilt u. hingerichtet. und der Miss CavellEdith Cavell (1865-1915), englische Krankenschwester; wurde wegen ihrer Untergrundtätigkeit gegen die deutsche Besetzung Belgiens zum Tode verurteilt und hingerichtet. und alles übrige – und sie, die für die Ermordung Liebknechts, Luxemburgs, Landauers kein Wort des Mißfallens haben, zetern gegen die »Bestien« des Kommunismus, weil das Kapital in Gefahr ist. Wie schrecklich ist dies alles, und wie groß ist unsere Niederlage! Ich zittere um meine Zenzl.

(...)

Zuchthaus Ebrach, Mittwoch, d. 7. Mai 1919

Jedes Zeitungsblatt bringt neue Scheußlichkeiten. Im gerichtlich-medizinischen Institut und in den Friedhöfen lagen bis Montag 250 Tote, verletzt sollen etwa 900 Personen sein. Verhaftet ist jetzt auch Niekisch,Ernst Niekisch (1889-1967), Vorsitzender des Zentralrats (MSPD) bis zur Ablösung durch Toller; maßgeblich an der Ausrufung der Räterepublik beteiligt. Zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt. Zuchthaus Brandenburg 1937-1945; bis 1955 Professor an der Humboldt-Universität in Berlin. Guido Kopp, 1919 Vorsitzender der KPD-Ortsgruppe und Bürgermeister von Rosenheim. der Vorsitzende des Zentralrats, einer der wenigen anständigen Mehrheitssozialdemokraten, Kopp aus Rosenheim soll in Miesbach festgenommen sein. »Gegen 100 Gefangene« heißt es triumphierend im Amtsblatt der Sozialdemokraten, dem ›Freistaat‹, »darunter auch Frauen, wurden, die Hände am Hinterkopf, ins Militärgefängnis gebracht.« Wo man die 5000 Verhafteten untergebracht hat, erfährt man nicht. Aber jeder Verhaftete ist schon eine Beruhigung, – sofern er nicht unterwegs ermordet ist, wie mein armer Freund Landauer, kann er wenigstens als vorerst gerettet gelten. (Wie im Kriege: Auch da nannte ich gern die Gefangenen Gerettete.) Alle meine Kameraden sagten mir auf dem Hof: Sei froh, daß du im Zuchthaus bist, in München lebtest du nicht mehr. Allerdings sehr wahrscheinlich. Offenbar hatte der umfangreiche Spitzeldienst der Bamberger während der Rätezeit für eine genaue Kenntnis der Führer gesorgt, und die mit der Erledigung Münchens beauftragten Offiziere werden, wie seinerzeit im Januar und im März in Berlin, ihre Winke gegeben haben, wem ein Unfall zustoßen solle. Ein Fluchtversuch à la Liebknecht oder eine Aufreizung der Soldaten, wie sie Landauer vorgeworfen wird, oder dergleichen ist ja leicht zu arrangieren.

(...) Man blickt im Geiste um sich: lauter Tote, lauter Ermordete – es ist grauenhaft. Nie ist in Rußland derartig gewütet worden. Mit den Münchner Schandtaten hat Noske sogar seine Berliner Blutorgien übertroffen. Das ist die Revolution, der ich entgegengejauchzt habe. Nach einem halben Jahr ein Bluttümpel: mir graut.

Zuchthaus Ebrach, Sonnabend, d. 10. Mai 1919

Allmählich fängt meine Stimmung an, mich seelisch niederzudrücken. Der Wärter Kraus hat mir eben auf Befragen bestätigt, daß gestern abend einzelne Gefangene Briefe aus München erhalten haben. Ich bin immer noch ohne Nachricht, und die Empfindung, daß auch meine Zenzl in irgendeiner Kerkerzelle sitzt und sich hilflos sorgt und grämt, verstärkt sich. Aber wenn ich nur erst das sicher wüßte! Wenn ich nicht fürchten müßte, daß sie womöglich von Spartakistenjägern verwundet oder gar getötet ist! Heute nacht werden volle vier Wochen vergangen sein, seit die Trennung von ihr und meinem Heim vollzogen ist, ohne daß inzwischen die geringste Verständigung möglich war. Schwere Angst habe ich auch um meine Wohnung. Wenn man da eingedrungen ist und meine Papiere, Bücher, Aufzeichnungen, Manuskripte, Notizbücher vernichtet hätte! Ich kann es nicht ausdenken. Es wäre ein Stück Seele von mir gemordet, und wenn ich – vielleicht binnen kurzem – auf dem Sandhaufen stehe, werde ich mit dem Bewußtsein sterben, daß man vor der Ermordung meines sterblichen Teils an dem, den ich unsterblich hoffte, das Urteil vollstreckt hat. Ich habe mir den Staatsanwalt hergebeten, weil ich versuchen möchte, durch ein Telefongespräch Auskunft zu erhalten. Die Zeitungsmeldungen von München sind weiterhin entsetzlich. An Totenopfern werden jetzt 400 angegeben. Die Weißgardisten hausen grauenhaft. Die Ermordung der 21 armen Teufel, die aus Versehen dran glauben mußten, zeigt, wie »Ordnung« gemacht wird.Am 6. Mai 1919 wurden 21 Mitglieder eines katholischen Gesellenvereins während einer Versammlung »irrtümlich« von weißen Truppen verhaftet, gefoltert und ermordet. Zwei der Täter wurden zu je 14 Jahren Zuchthaus verurteilt.

(...)

Zuchthaus Ebrach, Freitag, d. 16. Mai 1919

(...) In München haben die Schergen jetzt doch eine der entscheidenden Persönlichkeiten der kommunistischen Herrschaft verhaftet: Leviné-Nissen. Ich habe keine sonderliche Sympathie für den Mann. Sein Äußeres, die monotone, tröpfelnde Art seiner Rede (deren Wirkung ein Arbeiter mir mit den Worten erklärte: »Der Druck dahinter macht's!«) ist mir peinlich. Auch ist die Unterstellung, ich hätte mit Schneppenhorst

gemeinsame Sache gemacht und das Proletariat verraten, Levinés Arbeit gewesen. Aber ich hoffe für ihn, daß er sich von dem Verdacht, er sei an der infamen Geiselerschießung beteiligt gewesen, wird reinigen können. Sonst stände es schlimm um ihn.

Nachmittag (Zeit: ?)

Nachricht. Gott sei Dank! Von Zenzl Brief und Paket. Sie ist selbst mit dem Jungen auf dem Lande, um sich zu sichern, wie sie sich ausdrückt. Anscheinend hat die Polizei ihr den Rat gegeben, aus dem Umkreis meiner früheren Tätigkeit, das heißt, aus der drohenden Liebestätigkeit der Mitmenschen zu verschwinden. Gott sei Dank! – Als der Wärter mir die Pakete geöffnet und Butter, Speck und Eier zum Vorschein gebracht und endlich Umhüllungen geprüft und mir den Brief ausgehändigt hatte und ich sah, daß Zenzl selbst geschrieben hatte, und als der Mann endlich draußen war und ich den Brief mit der lieben, raschen und doch unausgeschriebenen Schrift und der unbefangenen Orthographie gelesen hatte, da mußte ich mich erst an die Pritsche halten, weil ich etwas Schwindelgefühl spürte, und dann habe ich wie ein kleiner Schulbub geheult, daß es mich geschüttelt hat. Ein Ei gab mir die Kraft wieder, und nun bin ich so froh wie seit Wochen nicht mehr. Zenzl lebt, ist frei und gesund. Da schert's mich den Teufel, was Polizei und Militär mit meinen Sachen angestellt haben. Alles ist beschlagnahmt. Meinetwegen. Vernichten werden sie meine Tagebücher und Aufzeichnungen wohl nicht... Ein Brief an Zenzl ist schon fertig, hoffentlich kommt er heute noch fort. Alle weiteren Schreibereien – an Haase, an den Münchner Staatsanwalt, an Mila, der ich eigentlich schreiben wollte – lasse ich für morgen übrig. Jetzt will ich zuerst ein Stück Speck und noch ein Ei zu mir nehmen – schade, daß ich kein Brot habe, aber etwas Zwieback habe ich, darauf wird Butter gestrichen, so kann ich gleich von allem Guten kosten und mich kräftigen. Eben wurde ich von Amts wegen gewogen: 56 Kilo. Mein Gewicht in München war ungefähr 63 Kilo. 7 Kilo Abnahme in kaum fünf Wochen ist allerdings erheblich. Eine Stärkung ist die Gefangenschaft nicht.

Zuchthaus Ebrach, Montag, d. 19. Mai 1919

(...) Zenzl hat mir einen Riesenlaib Brot geschickt, dazu eine Brotmarke für ein Pfund, für das mal ein Stück Kuchen gekauft werden kann, und etliche Stücke Zucker, die etwas Feuchtigkeit angezogen hatten und die ich dem Sträfling geschenkt habe, der mir vorher durch die Tür hereingerufen hatte, es sei ein Paket für mich da. Ich kann den Zucker entbehren, zumal ich heute durch einen Aufseher für 68 Pfennige ein Paket Kunsthonig kaufen konnte. – Der Brief, den mir die gute Zenzl schreibt, klingt unendlich traurig, und mir wurde sehr weh dabei ums Herz. Diese Frau hat mir der Himmel selbst geschickt. Wüßte sie nur, wie gut ich das weiß. Ihre Klugheit, Natürlichkeit, Güte, Derbheit, Ehrlichkeit, verbunden mit Kraft, Mutterwitz, Anmut und Schönheit, ihre unbestechliche Hingabe an die Aufgabe, die sie sich gestellt hat, der Kunst zu dienen, indem sie den Künstler pflegt, ihr klares Verständnis für meine Ideen und ihre schöne, keusche und starke Liebe – welche Perle von Frau habe ich. Der eine Fehler, den sie hat, ist so verständlich und sollte mir eigentlich wohltun: ihre Eifersucht, die sie nicht wahrhaben will. Gute, liebe Zenzl! Ich bin nun mal nicht für die Treue geschaffen – und wenn dann mal eine Nacht nicht im Ehebett, sondern bei Mila herumging – warum mußte ich dann Lügen erfinden, und wir konnten nicht ohne stumme Vorwürfe (oder auch ausgesprochene) darüber hingehen? Aber jetzt, wo wir getrennt sind, wie schön ist da ihr völliges Vergessen dieser Konflikte (die ja daheim auch schon vergeben waren). Sie sehnt sich »unsinnig nach all dem kleinen Glück, das war«. Oh, ich auch! ich auch! – Sonst kaum ein Wort von ihren Gefühlen: »Es ist so dumm, hier zu schreiben, daß ich Dich liebe. Das weißt Du ...« Sonst nur Sachliches. Und wie Arges! »Ich kann nicht in die Georgenstraße. Die Leute sind so verhetzt, ich darf als Deine Frau mich nirgends sehen lassen.« Wenn man das Glück will für die Menschen! Und diese prachtvolle ruhige Sicherheit, mit der sie resigniert: »Alles das, mein teurer Gatte, ist zu ertragen, Du weißt, daß ich nicht mehr erwartete!« – Und was hat die arme Frau in jenen Tagen ausgestanden! Auch sie war verhaftet, wurde aber von den Polizeibeamten anständig behandelt. Alle unsere Bekannten scheinen sich schlecht benommen zu haben. »Bis jetzt war ich verlassen, die Freunde, die gut zu mir gewesen sind, sind nicht zu finden, die andern hatten Angst, die Frau Mühsam zu beherbergen.« Das ist ihr so selbstverständlich. Sie schreibt es mit Blei auf ein zerknittertes altes Briefkuvert.

(...)

Zuchthaus Ebrach, Sonntag, d. 25. Mai 1919

(...) Eine kleine Aufmunterung erhielt ich vorhin: ein Kassiberchen. Ein Genösse aus Nürnberg fragt mich nach einem gewissen Fischer, vor dem ich mal im ›Kain‹ gewarnt habe. Das weckte mir die Erinnerung an die eigentlich beste Zeit der Revolution, als ich im Braunauer Hof die »Vereinigung Revolutionärer Internationalisten«Ende November 1918; ein Zusammenschluß des radikalen Flügels des Revolutionären Arbeiterrats. Die VRI ging Anfang 1919 in der KPD auf; Mühsam wurde »Hospitant« der von ihm gegründeten Vereinigung. Die politische Abgrenzung der KPD richtete sich nun auch gegen die Anarchisten. schuf. Wäre Levien nicht gekommen mit seinem Parteidoktrinarismus, dann wäre die Einigung des revolutionären Proletariats, wie ich sie von Anfang an wollte, ohne Reibungen und Schwierigkeiten in München Tatsache geworden. Noch gestern sprach ich im Hof mit Bastian darüber. Es ist ein Jammer, daß der Partei- und Bonzengeist auch den radikalsten Flügel der Revolution infiziert hat. Der schändliche Bruderzwist am 7. April,Gründungsversammlung der Räterepublik: Eine Abordnung der KPD unter Leviné kritisierte die dilettantische Vorbereitung, erhob den Vorwurf des Verrats gegen Mühsam und verweigerte die Beteiligung an der Räterepublik. dessen Opfer ich im Kindlkeller war, und die ganze Verwirrung, die darauf folgte und die an dem Unglück, das jetzt über dem Lande ist, die Hauptschuld trägt, wäre uns erspart geblieben, wenn nicht die Parteihengste in die Hürde gejagt wären und hätten die Disziplin nicht über die Idee gestellt. – Wenn ich den Prozeß jetzt überlebe und schreibe später die Geschichte der Münchner Revolution, dann muß gerade diese Seite der Begebenheiten in sehr helles Licht gestellt werden.

Zuchthaus Ebrach, Freitag, d. 30. Mai 1919

(...) Der kleine Genösse HofmannHofmann, Anton (geb. 1897), Mitglied der KPD. gab mir einen Artikel aus einem Münchner Skandalblatt ›Die Republik‹, worin der Herausgeber, ein gewisser Binder, das Tollste an Verhetzung leistet, was man sich überhaupt denken kann. Jede Verleumdung ist dem Burschen recht. Levien, Toller, ich, Nissen, Sauber – einer nach dem anderen wird mit Dreck beworfen, bis keine appetitliche Stelle mehr übrigbleibt. Ich komme beinahe noch am besten weg, will aber doch zitieren, wie dieser dunkle Ehrenmann mich charakterisiert: »Dieser verkommene Literat, der in seinem Leben nie gearbeitet hat, der schon äußerlich in seinem widerlichen Schmutz wie eine Kreuzung zwischen einem Pavian und einem Bantuneger aussah, hat auch einmal ein Prosawerk von sich gegeben.« Als dieses »Prosawerk« folgt dann der kleine Ulk am Schlusse meines ›Kraters‹, ›Das Verhör‹, das irgendein Schmock zufällig entdeckt hat und das jetzt in allen Meinungszüchtereien gegen mich zeugen muß. Zenzl schickt mir einen Haufen weiterer Zeitungsausschnitte, den ich noch nicht genossen habe. Aber ich bin gefaßt. Die arme Frau schreibt von einem Artikel, in dem man sogar sie in den Schmutz zerrt und ihr nächtliche Herrenbesuche vorwirft, die sie in meiner Abwesenheit zu empfangen pflege. Das sind die Gentlemen und Kavaliere, die im Namen des Volkes reden und Recht, Ordnung, Sicherheit, Ehre, Anstand und Ruhe wieder in Deutschland heimisch machen wollen. Wie tief heruntergekommen muß das Land in der Tat sein, daß solche Verbrecher am Seelischen eines Volks seine Wortführer sein dürfen. Jetzt aber will ich mir ruhig die Hosen meiner Seele bis über die Knie hochkrempeln und entschlossen in den stinkenden Unrat der Zeitungsausschnitte hineinwaten. Nase zu – vielleicht komme ich doch durch den Pfuhl.

Zuchthaus Ebrach, Sonnabend, d. 31. Mai 1919

Widrigkeiten aller Art. Vorhin kam ein Paket von Mila, während ich gerade an Zenzl einen Brief schrieb. Tabak, Zigarren, eine Schreibunterlage und etliche Bücher. Während ich mich gerade in großer Freude in den Reichtum versenkte, kullerte mein Füllfederhalter vom Tisch. Ich hatte lange damit zu tun, ihn durch Bearbeiten mit dem Messer überhaupt wieder gebrauchsfähig zu machen. Aber er funktioniert noch nicht, wie er soll. Alle Augenblick gibt es Störungen und die Schrift ist klexig. – Immerhin: es geht wieder. – Die Lektüre der Zeitungsausschnitte entsprach meinen Erwartungen. Die Tinte wird zu Unrat, die die deutschen Schmöcke zur Erziehung des deutschen Volkes verspritzen. Der Unrat aber wird zu Blut, wenn es sich tief genug in die Gemüter der Leser gesenkt hat. Nur ein Beispiel: Die ungeheuerliche Verleumdung, daß wir die Vergesellschaftung der FrauenMit der Propagandabehauptung, die Enteignung des Privatbesitzes an Produktionsmitteln (Vergesellschaftung oder Sozialisierung), wie sie von den Revolutionären proklamiert wurde, erstrecke sich auch auf die freie Verfügbarkeit bürgerlicher Ehefrauen, wurden Angst und moralischer Abscheu vor den »vertierten« Spartakisten erzeugt. einführen wollten, kehrt immer wieder, und ein Blatt leistet sich die Ruchlosigkeit, Landauer diesen Vorwurf nach seinem Tode noch zu machen, sozusagen als Nachruf. Es handelt sich um ein Berliner antisemitisches Erpresserblättchen, das bezeichnenderweise ›Wahrheit‹ heißt. Man kann bei dieser schamlosen Verhetzung des Volkes – in den kleinen Zeitungen der Provinz, von wo natürlich die Mehrzahl der Regierungstruppen stammt, ist es am ärgsten – den Leuten, die in uns die schandbarsten Verbrecher sehen müssen, ihren Vandalismus kaum übelnehmen. Alle Schande trifft nur die Zeitungsschmierer, dieses bildungs- und ehrlose Gesindel, das für jede Verräterei nach festen Sätzen käuflich ist und das seine Lumperei den naiven Lesern als Gesinnung auftischt. So ist der Krieg gemacht worden, so wird die Revolution sabotiert, so wird dem armen Volk heute noch die Schuld der deutschen Führung – die zugleich die Schuld der deutschen Presse ist – verborgen, und so wird Haß, Kriegslust, Rachedurst für kommende Zeiten schon jetzt vorbereitet. Wer später einmal die Geschichte unserer Tage frei von Parteinahme schildern will, muß den Lügen und Verleumdungen der Presse nachgehen, um die Verblendung und Roheit der Menschen zu begreifen.

(...)

Zuchthaus Ebrach, Sonnabend, d. 7. Juni 1919

Leviné ist tatsächlich hingerichtet worden. Das Gesamtministerium, das immer noch nur aus »Sozialisten« besteht, hat »keinen Anlaß gefunden«, das vom Standgericht ausgesprochene Todesurteil »im Wege der Gnade zu mildern«. Sie haben es gewagt, sie, die all ihr Lebtag beweglich gegen die Todesstrafe geeifert haben, die die Aberkennung der Ehrenrechte gegen politische Delinquenten immer als finstere Reaktion bezetert haben, sie, die in Dutzenden von Volksversammlungen die Schrecken des SozialistengesetzesBismarcks ›Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie‹, 1878–1890 in Kraft. geschildert haben, das doch gegen die gesetzlose Willkür, die sie selbst gegen wirkliche Sozialisten anwenden, eine Institution der Milde, Duldsamkeit und Menschenliebe war – sie haben es gewagt, gegen einen überzeugten Marxisten das Todesurteil ausdrücklich zu bestätigen und vollstrecken zu lassen, da nämlich Leviné »den Bürgerkrieg in München auf dem Gewissen habe«. Merkwürdig. Wer die Tatsachen kennt, weiß, daß von den Bamberger Herren Truppen nach München hineingeschickt wurden und daß der Bürgerkrieg erst begann, als die Nosketruppen, die landfremden Elemente,Ironische Umkehrung des verbreiteten Propagandaklischees, die Revolution sei von »landfremden Elementen« nach Bayern eingeschleppt worden. ihre Befreiungstätigkeit aufnahmen. (...)

Leviné ist nach dem Bericht tapfer und stark in den Tod gegangen. Er weigerte sich, den Kopf zur Wand zu drehen und ließ die Weltrevolution leben, ehe ihn die Salve hinstreckte. Wir waren keine Freunde, Leviné und ich. Unsere Beziehung beschränkte sich auf seine Angriffe gegen mich am 6. und 7. April. Während er am 6. in der Generalversammlung der KPD sprach und mir die Fahrt mit SchneppenhorstAm 4. April 1919 fuhr Mühsam nach Nürnberg, um dort die Ausrufung der bayerischen Räterepublik zu propagieren. Im selben Abteil saß Schneppenhorst, der sich der Räterepublik zur Verfügung gestellt hatte, aber als Militärminister der derzeit in Nürnberg residierenden bayerischen Landesregierung die weißen Truppen zu Hilfe rief. Leviné leitete aus der gemeinsamen Fahrt den Verratsvorwurf gegen Mühsam ab. nach meiner Rede vorwarf, regte ich mich sehr auf und äußerte meinen Ärger zu den Umstehenden. Da trat eine reizvolle junge FrauRosa Leviné (1890–1979), KPD-Funktionärin, 1934 Emigration nach England. auf mich zu, die mir sagte: »Glauben Sie mir, Nissen schätzt Sie sehr.« Ich erwiderte, daß seine Behauptungen gerade nicht diesen Eindruck auf mich machten, worauf sie erklärte: »Aber ich weiß es. Ich bin seine Frau.« Ich lief damals vor Wut einfach aus dem Saal, und daraus haben wohl viele ein Eingeständnis meiner Schuld geschlossen. Ein persönliches Gespräch habe ich mit Leviné nie geführt. Im Zentralrat haben wir nur einige Male ein paar Worte gewechselt und uns höflich die Hand gedrückt. Sein Anteil an den Ereignissen in München war kein guter. Seine Verbissenheit hat die Einigung des Proletariats verhindert. Levien stand völlig unter seinem Einfluß. Ich bin überzeugt, daß sonst Levien schon in der Nacht zum 7. April den Anschluß der KPD an die Räterepublik bewirkt hätte. Levinés Persönlichkeit erhält durch seinen Tod eine Folie, über die sich die Bamberger Henker nicht zu freuen haben werden. Dies ist mein Glaube an die Kraft der Gerechtigkeit: daß sich jede Schuftigkeit letzten Endes als Dummheit erweist. Die Herren Hoffmann, EndresFritz Endres (1877–1963), sozialdemokratischer Politiker und Gewerkschaftler, bayerischer Justiz- und Innenminister 1919/20. und Gelichter sollen sich je wieder in eine Münchner Volksversammlung trauen!

(...)

Zuchthaus Ebrach, Montag, d. 9. Juni 1919

(...) Leider sind die Unabhängigen keineswegs so unabhängig, wie sie tun. Die Herren Haase, KautskyKarl Kautsky (1854–1938), führender sozialdemokratischer Theoretiker des mittleren Flügels (Zentrist); 1917 Mitbegründer der USPD, die eine demokratische Ordnung des friedlichen sozialen und internationalen Interessenausgleichs anstrebte. und BarthEmil Barth (1879–1941), zentristischer Gewerkschaftspolitiker, ab 1917 USPD, 1921 Übertritt zur SPD. haben uns nach Eisners Tod die ganze Kompromißsuppe, die uns jetzt im Magen liegt, eingebrockt. Und nun erläßt die Partei einen beweglichen Aufruf gegen die zentrifugalen Bestrebungen in Deutschland. Jetzt, wo es nur eins geben kann: die Zertrümmerung des Staats von Grund aus, die Zerrüttung seiner Wirtschaft so schnell wie möglich, damit nicht der etappenweise Einsturz noch viel mehr Opfer fordert – jetzt regen sie sich über die Pfälzer, Rheinländer etc. auf, die Sehnsucht haben, unter lebensmögliche Verhältnisse zu kommen. Das ist die marxistische Verblödung. Einheitsstaat! brüllen sie – die Spartakisten sind die Schlimmsten dabei – und wollen deshalb den alten Bismarckstaat retten, der je eher je lieber zusammengeschlagen gehört. Wenn die Menschen bloß zu der Einsicht kommen wollten, daß es völlig gleichgiltig ist, wo entlang die Staatsgrenzen laufen. Auf die Glückseligkeit der Menschen kommt es an, nicht auf die Art ihrer Einpferchung. Größtmögliche Bewegungsfreiheit des Einzelindividuums ist anzustreben, deshalb größtmögliche Selbständigkeit aller Gemeinden und föderative Verbindung der Bezirke, Länder und Reiche, bei der die Abgrenzung Nebensache, die Berücksichtigung der Eigenarten alles ist. Sie sind für das Rätesystem und für die Zentralisation. Wenn das kein Widerspruch in sich selbst ist, bin ich ein Esel. Lenin, dieser stramme Marxist, hat es schließlich eingesehen und den Lokalsowjets Autonomie gegeben.Mühsams anarchistisches Konzept des Föderalismus zielte auf lokale und individuelle Autonomie und die Abschaffung jeglicher Zentralgewalt. Seine Berufung auf Lenin verkennt jedoch die Machtstrategie der Bolschewiken: Das russische Rätesystem (Sowjets) benötigte die lokalen Räte, um nicht nur die Parteigenossen, sondern alle durch die Räte vertretenen Werktätigen unter die Kontrolle der Partei zu bringen.

Aber in Deutschland scheint es unmöglich zu sein, eine Dummheit auszulassen. Nun Landauer tot ist, werde ich der einzige sein, der den Weg der Revolution klar erkennt. Ob ich aber der Aufgabe gewachsen bin, die parteibesessenen Genossen aller revolutionären Richtungen auf diesen Weg zu drängen, ist eine bange Frage. Ich habe viel Schweres hinter mir in den letzten sieben Monaten – ich fürchte aber, daß ich das Schwerste noch vor mir habe. Aber stark sein ist alles.

Zuchthaus Ebrach, Dienstag, d. 10. Juni 1919

Mir ist gar nicht wohl. Leibschmerzen und anscheinend Fieber. Ich führe diesen Zustand auf das Stück Wurst zurück, das es gestern nachmittag als Beilage zu den Pellkartoffeln gab. Ein in allen Farben schillerndes, mit einer Papierhaut umspanntes Produkt, schwammig und weichlich, über dessen Herkunft man sich in den verschiedensten Betrachtungen ergehen könnte. So eine Scheibe wurstartigen Gebildes gibt es jede Woche einmal, und verdächtig ist mir das Zeug schon immer vorgekommen. Daß aber direkte Vergiftungserscheinungen eintreten können, hätte ich doch nicht gedacht. Ich werde mich künftig bei dieser Zusammensetzung der Soupers bloß an die Kartoffeln halten.

(...)

Zuchthaus Ebrach, Sonnabend, d. 14. Juni 1919

(...) Der Fall Leviné und die verrückten Urteile in Würzburg (jetzt ist Klingelhöfer in München zu fünfeinhalb Jahren, und zwar unter Zubilligung mildernder Umstände (!) verknallt worden) schaffen eine günstige Atmosphäre für neue Erregungen im Volk, dabei wird die moralische Kraft ungemein gestärkt durch die Nachrichten, die aus Ungarn kommen. Dort siegt die Rote Armee der zehnmal totgesagten Räterepublik so gründlich über Tschechoslowaken und Rumänen, daß die Erwürgung des Bolschewismus durch die einige Militärgewalt des verbündeten zentralistischen und ententistischen Kapitalismus ein stark abgeblühter Hoffnungstraum geworden ist. Dazu kommt die prachtvolle revolutionäre Resistenz der Franzosen, durch die Rußland zu Atem kommt und Koltschaks Träume vernichtet werden. Das sind Realitäten. Wenn dazu noch die Meldungen aus Wien stimmen, wonach dort die Kommunisten einen großen Schlag vorhaben – was wollen Noskes Weiße Garden dann wohl noch lange aufhalten? Wenn Österreich Räterepublik ist, können wir in Bayern getrost den Kampf wieder aufnehmen. Dann sind wir nicht mehr die Insel wie im April, sondern die Brücke ist geschlagen nach Sowjet-Ungarn und Sowjet-Rußland, und die Revolution ist gewonnen.Auch im zusammengebrochenen Habsburgerreich hatte sich eine starke Rätebewegung entwickelt. Die Hoffnung auf den revolutionären »Brückenschlag« über Österreich und Ungarn nach Rußland und das Scheitern der westlichen Interventionstruppen in Rußland, die gemeinsam mit konterrevolutionären russischen Einheiten (unter Koltschak u. a.) das Sowjetsystem beseitigen wollten, bestärkte die Siegeszuversicht der deutschen Revolutionäre. Die ungarische Räterepublik unter Bela Kun wurde im August 1919 von rumänischen Truppen niedergeschlagen.

Auch Deutschland wird noch zu seiner heroischen Stunde kommen.

Zuchthaus Ehrach, Mittwoch, d. 25. Juni 1919

(...) In München hat es in der Feldherrnhalle eine rührende Demonstration gegeben. Man hat die ›Wacht am Rhein‹ und ›Deutschland, Deutschland‹ gesungen (von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt – soll Deutschland über alles brüderlich zusammenhalten, d. h. jetzt von einem französischen zu einem litauischen, von einem italienischen bis zu einem dänischen Gewässer), und dann haben sich die Befreierscharen zu einem Zuge formiert, und Oberst EppFranz Xaver Ritter von Epp (1868-1946), Bataillonskommandeur im Ersten Weltkrieg; sein Freikorps war maßgeblich an der Niederschlagung der Münchner Räterepublik beteiligt. Teilnehmer am Hitlerputsch 1923, ab 1933 Reichsstatthalter von Bayern. und General v. OvenErnst von Oven (geb. 1861), Oberbefehlshaber der weißen Truppen in Bayern. haben erhebende Ansprachen gehalten, wobei die schwarzweißrote Fahne geschwenkt wurde. Soweit ist Münchens Befreiung nun schon gediehen. Macht nichts. Für das Proletariat sind alle solche Scherze demonstrationes ad oculos.

(...)

Stadelheim, Donnerstag, d. 3. Juli 1919

Folgender Kassiber wurde mir gestern von einem Gefangenen zugesteckt: »Hochachtung Herrn Mühsam! Teile Ihnen mit, daß Toller am 15. Juli zur Verhandlung kommt. Gustav Landauer wurde am 2. Mai hier in Stadelheim erschossen. Ich selbst trug Landauer ins Leichenhaus. Der Zahlmeister sagte: Dieser politische Jude wollte hier in Bayern regieren? Ein Schriftsteller wurde am 2. Mai erschossen. Nach dem Tod wurden ihm seine neuen Schuhe von einem Unteroffizier ausgezogen. Weiße Garde? Der Zahlmeister stand daneben. Später seine Hose und seine Strümpfe wurden ihm auch ausgezogen. Eine Schande, wie man mit den Leichen hier umging. Hochachtungsvoll! (Ich habe die Orthographie verbessert.) So wurde in Bayern »Ruhe und Ordnung« hergestellt. Ich mag nicht dran denken. Der Gedanke an Landauers schreckliches Ende läßt mich nicht mehr los – und an der Stätte seiner Ermordung eingesperrt zu sein! – Mir geht's nicht sonderlich mit der Gesundheit. Heut war ich beim Arzt und habe mir Brom verordnen lassen, da ich keine Nacht schlafen kann. So hoffe ich, daß ich am Montag wenigstens ausgeruht vor Gericht erscheinen kann. Gestern war endlich Dr. Baudorf hier. Der erste Eindruck war unsympathisch. Immerhin scheint der Mann kein Dummkopf zu sein, und seine arrogante Art mag vielleicht vor dem Standgericht, das nach einer Bestimmung vom Jahre 1813 zusammengestellt ist, zweckmäßig sein. Ich habe ihm erklärt, daß der einzige Punkt, in dem ich mich zu verteidigen wünsche, der Vorwurf ist, ich hätte aus Gewinnabsichten gehandelt. Im übrigen fühle ich mich nur dem Proletariat gegenüber auf dem Verteidigungsposten und werde im Gegenteil dem Staatsanwalt selbst Material liefern dafür, daß ich nicht erst seit dem 4. April auf dem Standpunkt des Rätesystems gestanden habe. Er müsse sich darauf gefaßt machen, daß ich ihn desavouiere, wenn er dem Gericht zum Munde redet. – Übrigens sehe ich der Prozeßverhandlung sehr ruhig entgegen, ärgere mich aber, daß man mich mit sieben Mitangeklagten zugleich prozessieren will. Für die stenographische Aufnahme wird, wie Zenzl mir schrieb, mein Vetter Walter Mühsam sorgen. Ich beabsichtige, falls der Verlauf meiner Erwartung entspricht, später daraus eine Broschüre draus zu machen.

(...)

Stadelheim, Freitag, d. 4. Juli 1919

(...) Die Sozialisten aller marxistischen Richtungen treiben mit ihren Unitaritätsphantasien ein bedenkliches Spiel. Statt der kommunalen Autonomie die Wege zu ebnen, wozu sich Lenin längst hat entschließen müssen,Vgl. Eintragung 9. Juni 1919. befestigen sie den Zentralismus, aus dem sich der Obrigkeitsstaat und mithin der Kapitalismus stets neu entwickeln muß. Es ist bitter für mich, das Verderben neu fundieren zu sehen und mit meiner Einsicht ganz allein zu sein. Einmal wird der Tag kommen, wo die bayerischen Bauern sich gegen die preußische Präponderanz erheben werden, und gegen die Bauern wird der Sozialismus, der dann im Werden sein wird, einen schweren Stand haben. Vielleicht werden dann die Revolutionäre von heute begreifen, warum ich der KPD niemals beitreten konnte. Zentralisation im Kampf, selbstverständlich! Aber diese Zentralisation darf nur die Völker umspannen, die den gleichen Kampf miteinander kämpfen wollen. Aber für Aufbau und Entwicklung, Selbständigkeit, Autonomie, Freiheit bis in die einzelnen Gemeinden, bis ins einzelne Haus! Und Föderation, Vertrag, Gemeinschaft, die nirgends an Staatsgrenzen stoßen darf. Dann ist Sozialismus, Kommunismus, Freiheit der Menschen und der Völker möglich. Aber wann wird diese Erkenntnis die Parteihürden sprengen? Die Weltrevolution hat einen langen Passionsweg vor sich.

München (Neudeck), Samstag, d. 12. Juli 1919

Zehn Uhr vormittags. Um zwölf Uhr ist Urteilsverkündung. Die ganze Woche hindurch hat der Prozeß gedauert, und gestern sind die Plädoyers gehalten worden. Der Antrag des Staatsanwalts gegen mich lautet auf zehn Jahre Zuchthaus und zehn Jahre Ehrverlust. Doch glaube ich kaum, daß das Gericht auf Zuchthaus erkennen wird, obwohl ich es dauernd durch die Betonung seines Klassencharakters gereizt habe. Ich selbst habe im Schlußwort erklärt, daß die Konstruktion des Staatsanwalts, daß es sich nur um Beihilfe zum Hochverrat handle, gewaltsam sei und daß das Standgericht nur die Möglichkeit habe, mich freizusprechen oder den Weg zu schicken, den Leviné gegangen ist. Am Schluß meiner Rede ertönten lebhafte Bravorufe im Zuhörerraum, und ich darf mir sagen, daß durch den Verlauf des Prozesses meine Rehabilitation beim Münchner Proletariat vollkommen ist. Ja, wie mir gestern bestimmt versichert wurde, sei die Arbeiterschaft entschlossen, für den Fall, daß auf Zuchthaus gegen mich erklärt wird, in den Streik einzutreten, so hoch wird mir meine Haltung vor dem Standgericht, dem ich allerdings Grobheiten genug gesagt habe, angerechnet.

(...)

Nachmittag (gegen 6 Uhr?)

Nun wissen wir also Bescheid. Wenn es nach dem Willen des Standgerichts geht, habe ich die nächsten fünfzehn Jahre meines Lebens in Festungshaft zu verbringen. Ich denke, daß die Dauer meiner Absperrung zwischen fünfzehn Wochen und fünfzehn Monaten betragen wird, jedenfalls aber das Ende der »Strafe« dem fünfzehnten Tage näher liegen wird als dem fünfzehnten Jahre. Im Urteil wird angesprochen, daß ich als treibende Kraft des ganzen »Hochverrats« anzusehen sei, daß ich deshalb nicht, wie der Staatsanwalt beantragt, bloß wegen Beihilfe, sondern wegen Teilnahme zu verurteilen sei, daß zwar mildernde Umstände angenommen worden sind (sonst hätte man mich zum Tode verurteilen müssen), daß aber mein an Psychopathie grenzender Fanatismus (von jetzt ab werde ich bei den Schmöcken als gerichtsnotorischer Irrsinniger gelten) die Aussetzung der Höchststrafe rechtfertige. Ich habe das Urteil ohne besondere Emotionen entgegengenommen, und meine Zenzl – das weiß ich – wird ebensowenig davon erschüttert sein.

(...)

Stadelheim, Montag, d. 14. Juli 1919

(...) In der ›Zukunft‹ vom 14. Juni, die mir LedererMoritz Lederer (geb. 1888), linker Verleger und Schriftsteller. schickte (wie mir Mila schreibt, soll der in Berlin abhanden gekommen, also wohl verhaftet sein), schreibt Harden im Zusammenhang mit Betrachtungen über den Justizmord an Leviné und die Konterrevolution in München über mich ein paar Worte: »Der von Seichtlingen bespöttelte Dichter Erich Mühsam kam aus dem Dickicht seines Literatur-Anarchismus noch nicht in Klarheit, war aber im Ethos des Wollens unbeirrbar. Eines wohlhabenden Apothekers Sohn, der aus hansischer Bourgeoisbehaglichkeit ins dunkel ungewisse Leben der Ärmsten schreitet: Hut ab, ihr Lümmel«, etc. etc. ... Ich glaube, daß mich aus dem Dickicht des »Literatur-Anarchismus« nun doch das neue Licht aus dem Osten in Klarheit geführt hat. Ich habe vor Gericht ausgesprochen, daß der Bolschewismus die Brücke schlägt zwischen Marx und Bakunin. Hier ist der Überbau aller kommunistischen Erkenntnisse. Das Rätesystem mit der weitestgehenden Autonomie der lokalen Sowjets, der Internationalismus bis zur Konsequenz der Aufhebung aller Staatsgrenzen, die proletarische Diktatur als Mittel zum Zweck der Sozialisierung der Wirtschaft, der vollständigen Beseitigung jeder Ausbeutung und endlich der Eliminierung des Proletariats selbst, die Herbeiführung der wirtschaftlichen Gleichheit der Konkurrenzbedingungen zwischen den Individuen und damit einer Gerechtigkeit, auf die der verjüngte Begriff der Demokratie in einer von allem Pharisäismus, aller Demagogie und Verlogenheit gereinigten Bedeutung Geltung gewinnt, die unbeirrbare Rücksichtslosigkeit im Destruieren kapitalistischer und staatsautoritärer Rudimente bei gleichzeitigem Neuschaffen sozialistisch-kommunistischer Grundlagen der Gesellschaft, die Besinnung auf die Organisierung der Produktion als Magd des Konsums und auf die Dezentralisation der Wirtschaft zum Zweck ihrer Intensivierung – das alles sind die praktischen Ergebnisse des Bolschewismus, die den Bonzen aller sozialistischen und anarchistischen Richtungen den Weg zeigen sollten, auf dem die Einigung des Proletariats und der Völker sich vollziehen kann, ohne daß die Frage, ob der große Affe Marx einen blauen oder einen feuerroten Arsch hat, die Gemüter zu erhitzen brauchte. Ob Lenin selbst aber diese ganze ungeheure Bedeutung seines Werks als Fundament der über alle Theorien und akademische Streitereien triumphierenden revolutionärsozialistischen Internationale ganz erkennt? Vielleicht bleibt es mir vorbehalten, den sittlichen Sieg des Bolschewismus der revolutionären Welt und mit ihr auch den Bolschewisten selbst aufzuzeigen und dazu beizutragen, daß in den bevorstehenden Endkämpfen der Weltrevolution der Bruderkrieg zwischen den Revolutionären selbst vermieden wird und der Geist des Bolschewismus sich als das versöhnende Element der Liebe und der Gerechtigkeit über alle Orthodoxie und Voreingenommenheit hinweg bewähren kann. Dann wird uns der Sieg sicher sein.

Stadelheim, Samstag, d. 19. Juli 1919

Der Hofspaziergang mit Toller steht noch bevor. Doch war ich heute schon längere Zeit mit ihm in der Badezelle beisammen, wo wir zugleich ein Wannenbad nehmen durften. Er berichtete mir aus der Zeit der zweiten Räterepublik eine Reihe peinlicher Vorfälle. So hat man Landauer ein paar Tage vor seinem Tode aus einer Versammlung, in der er nur als Zuhörer anwesend war, hinausgejagt mit der Begründung, daß man einen Anarchisten, der niemandem verantwortlich sein wolle, nicht dulde. Leviens Arbeit. Meine gleich bei der Gründung der KPD geltend gemachten Befürchtungen, daß das Bonzentum und mit ihm die verkappte Reaktion durch Parteigeist und Intoleranz wieder groß werden müßten, hat sich erschreckend berechtigt gezeigt. Levien, Leviné, Dietrich,Dietrich, d. i. Willy Budich (geb. 1890), KPD-Funktionär in München während der Räterepublik, wurde in Berlin verhaftet. 1938 in der Sowjetunion erschossen MortenMorten, d. i. Ewald Ochel, Volksbeauftragter für Volksaufklärung in der zweiten Räteregierung (KPD)., SchumannHermann Schumann, erster Sekretär der zweiten Räteregierung (KPD). – alle die Unbekannten, die plötzlich auftauchten, plötzlich ohne Ahnung von den Münchner Spezialverhältnissen die Führerschaft an sich rissen, haben böse Schuld auf sich geladen. Das Merkwürdige ist, daß ihr Wirken, obwohl sie doch zum großen Teil Russen warenLevien, Leviné, Towia Axelrod u.a. waren linke russische (bzw. deutsch-russische) Intellektuelle, die vor dem Zarismus nach Deutschland geflohen waren und als erfahrene »Berufsrevolutionäre« beträchtlichen Einfluß in der KPD ausübten. und den Bolschewismus in Erbpacht zu haben glaubten, so gänzlich dem Sinn der bolschewistischen Ideen entgegengesetzt war wie nur irgend möglich. Der revolutionäre Massenwille darf nie und nimmer einem Parteiwillen untergeordnet sein, sonst haben wir genau das wieder, was wir in der sozialdemokratischen Partei und den Gewerkschaften bekämpfen: Bürokratie und Kasernenhofdisziplin. Das Bekenntnis allein muß die Massen einigen, das Bekenntnis zu Sozialismus, Kommunismus, Rätedemokratie und Internationale. Dem Verlangen der Bonzen nach unbedingter Anerkennung von Parteivorstandsbeschlüssen führt zum Kadavergehorsam und führt zu der Zersplitterung des Proletariats, der wir alles Scheußliche der letzten Monate zuzuschreiben haben.

(...)

Stadelheim, Sonntag, d. 20. Juli 1919

(...) Mein Hofspaziergang war gestern eine wirkliche Erholung. Toller und ich hatten uns viel zu erzählen. So erfuhr ich von ihm die Abenteuer, die er von seiner Flucht bis zu seiner Ergreifung erlebt hat. Sein Reklamebedürfnis – von dem sein Prozeß deutlich Zeugnis gab (drei Anwälte, darunter Haase, und eine ganze Schwadron literarischer Sachverständiger, die ihm seine dichterische Genialität bezeugen mußte) und seine mächtige Eitelkeit kamen voll auf ihre Rechnung. Aber er ist bei alledem ein lieber Kerl und ein im Wollen und Denken sauberer Mensch. Schauderhaft war mir's, als er mich noch einmal zur Exekutionsmauer führte und mir die Hautfetzen zeigte, die neben den Blutspuren trotz aller Mörtelverkleisterungen immer noch von der Schande der Bamberger Massenmörder zeugen. Mir war gleich anfangs bei meinen Rundgängen aufgefallen, wie niedrig großenteils die Schüsse in die Mauer geschlagen sind. Ich erklärte mir das aus der Besoffenheit der Weißgardisten, die ja von allen Augenzeugen bestätigt wird. Toller wußte eine andere, einleuchtendere und scheußlichere Erklärung dafür. Die Wächter, die dabei waren, haben ihm erzählt, daß sich diese Burschen einen Jux daraus machten, bei der Erschießung der Frauen und Mädchen auf die Geschlechtsteile zu zielen. So unvorstellbar eine so tierische – nein! Tiere sind nicht zynisch! – eine so entsetzliche Grausamkeit ist, die Einschläge in die Mauer bestätigen die Tatsache. Aber die Verbrecher sind ja wir, nicht die gedungenen Lümmel der Herren Noske, Hoffmann und Schneppenhorst.

(...)

Stadelheim, Dienstag, d. 22. Juli 1919

(...) Gestern hatte ich während des Spaziergangs mit Toller Gelegenheit, den Mörder Eisners von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Er wurde, den Kopf noch dick verpackt, über den Hof geführt. Mein Gott! was für ein Jüngelchen! Rotbackig, mit einem Babymund, eine Zigarette rauchend, kindlich freundlich, mit offenen blauen Augen, noch ohne eine Spur von Bart, mich neugierig musternd, so stellte sich mir die historische Persönlichkeit des Grafen Arco-Valley dar.

Sehen so die Mörder aus? Ich faßte erst lange, nachdem er verschwunden war, den Gedanken, daß dieser säuglingsähnliche Knabe eine schreckliche Tat begangen habe, zu der ungeheurer Mut, unglaubliche Energie und ein vollkommener Verzicht aufs Leben gehörte. Feige Mordtat! schrien damals die revolutionären Blätter, wie bei anarchistischen Attentaten immer die reaktionären Zeitungen feige Mordtat! geschrien hatten. Nein, feige war die Tat des jungen Menschen gewiß nicht. Sie war über jede Kritik tapfer, und verbrecherisch nur aus dem Gesichtswinkel des Revolutionärs. Sollte ich einmal in dem Revolutionstribunal sitzen, das Arco abzuurteilen hat – ein Todesurteil wüßte ich zu verhindern. Man möchte sich solch entschlossene jugendliche Helden auf unserer Seite wünschen. Ein Schuß, der so sicher wie die, die Eisner gefällt haben, ein Jahr früher Wilhelm II. oder Ludendorff getroffen hätte – ich glaube, durch ihn wäre der Menschheit unendlich viel Blut erspart worden.

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»Festung« Ebrach, Sonnabend, d. 26. Juli 1919

Abends neun Uhr. – Seit halb ein Uhr mittags bin ich an Ort und Stelle und war bis jetzt in bester Gesellschaft mit Freunden und Genossen in Umständen, die, an dem Zustand seit dreieinhalb Monaten gemessen, wie Freiheit schmecken. Ich berichte aber nach der Reihe. Am Mittwoch wollte es mein gutes Glück, daß das Essen von Zenzl selbst gebracht wurde, die es mit ihrer erstaunlichen Energie fertigbrachte, mir in der Zelle beim Packen zu helfen. Mir erleichterte das Bewußtsein den Abschied, daß die ungeheure Arbeit, die mein Aufenthalt in Stadelheim ihr verursachte, nun aufhört, und daß wir uns doch jedenfalls noch vor ihrer Abreise in die Schweiz hier noch einmal sehen werden, wo wir endlich auch einmal wieder allein sein dürfen. Um halb vier Uhr wurde ich in den Zeiserlwagen verladen, durfte aber, da ich der einzige Fahrgast war, im Raum zwischen den Käfigen beim Begleiter Platz nehmen. Es ging über Neudeck, wo ich in ein Transportauto zu etlichen Leidensgenossen umsteigen mußte, zum Polizeipräsidium. Dort wurde mir ein Empfang zuteil, den ich nicht erwartet hatte, der mir aber eine riesige Freude machte. Ich stieg als der letzte aus dem Wagen, als ich plötzlich aus Dutzenden von Mündern »Mühsam!« rufen hörte. Mein Erstaunen war sehr groß. Als ich mich umsah, sah ich alle Fenster voll von Köpfen, die mich mit Zurufen, Bravos und Händeklatschen begrüßten. Lauter gefangene Genossen.

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Die Bamberger Umgebung ist landschaftlich wunderschön, so daß die Fahrt, die ein dreiviertel Stunden dauerte, sehr reizvoll war, zumal die absonderliche Situation den Reiz noch erhöhte. Um halb ein Uhr mittags kamen wir an. Herr Rabenstein, der Aufseher, begrüßte mich mit freudigem Handschlag, dann wurden wir in das Gebäude geführt, das früher ein Bestandteil des Zuchthauses war, dann durch ein angehängtes Pappschild dank unserer Einlieferung im April zum Untersuchungsgefängnis umgetauft war, und an dem jetzt ein neues, sogar gedrucktes Pappschild mit der Aufschrift »Festungsgebäude« hängt. Schon der Empfang hinter diesem Eingang bewies, daß jetzt wirklich eine Änderung im Geiste des Hauses vor sich gegangen war, denn ein Chor von vierzig vergnügten Hochverrätern stand dort zusammengedrängt, umschloß mich und sang die ›Arbeitermarseillaise‹, während mir von einigen Genossen Rosen und rote Nelken in die Hand gedrückt wurden. Ich war ehrlich gerührt, auch hier, wie am Mittwoch im Polizeigefängnis, gleich mit dem Beweis der allgemeinen Liebe begrüßt zu werden. – Es ist jetzt bald elf Uhr, und so lange wird das Licht gebrannt. Ich will mich aber nicht im Dunkeln ausziehen und gehe jetzt schlafen. Morgen Fortsetzung über den ersten Nachmittag meiner fünfzehnjährigen Strafvollstreckung.

Ehrach, Sonntag, d. 27. Juli 1919

Nach der Empfangsoration wurden uns Neuen die Zellen angewiesen. Ich bekam die ehemals WadlerscheArnold Wadler (geb. 1882), Rechtsanwalt; Wohnungskommissar und Mitarbeiter Mühsams in der Räteregierung. Zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, 1924 amnestiert. mit der Nummer 69. Der Zuchthaussträfling, der uns schon früher bediente, brachte mir das Essen (Spinat und Brot), und dann konstatierte ich die Neuerungen. Der Lokus ist aus der Zelle herausgenommen, leider auch nachts, so daß ich mir wahrscheinlich doch noch einen Topf ausbitten werde. Im übrigen fand ich in der Zelle im Gegensatz zu früher ein Bierseidel, eine Tasse, ein Besteck, zwei Teller und sogar einen Aschbecher. Eine weitaus wichtigere Neuerung ist aber, daß unsere Zellentüren bei Tag und Nacht geöffnet bleiben, so daß wir einander nach Belieben besuchen können. In der Halle unten steht ein großer Tisch mit Bänken und Stühlen, auf dem eine Unmenge Zeitungen ausgelegt sind.

(...) Von zwei bis fünf Uhr ist (außer den Vormittagsstunden von neun bis elf) Erholungszeit im Freien, zu der ein großer Garten zur Verfügung steht, in dem man für uns Sitzgelegenheiten geschaffen hat und wo es sehr fidel zuging. Ringkämpfe, Wettläufe wurden veranstaltet. Einige spielten Brettspiele (auch Schachpartner habe ich schon gefunden), und alle reden hoffnungsvoll von den kommenden Dingen der Revolution. Jeden Abend von sechs bis acht ist in der Halle allgemeine Zusammenkunft, bei der jeder Wochentag sein eigenes Programm hat. Gestern erstattete WaiblToni Waibl (1889-1969), Aktivist der Rätebewegung; floh 1921 auf dem Transport nach Niederschönenfeld. den Überblick über die politische Lage, an den sich eine lebhafte Diskussion schloß. Dann zog man sich, da dann die Gitter abgesperrt werden, die die Etagen voneinander trennen, in die verschiedenen Stockwerke zurück, wo die Nachbarn einander noch bis elf Uhr besuchen können. Ich zog es vor, das Tagebuch vorzunehmen, wozu ich heute die Stunde zwischen fünf und sechs Uhr benutze. Heut vormittag wurde ich zu einer wichtigen Konferenz in Klingelhöfers Behausung gerufen. Es handelte sich um die Gründung einer Kommune, die wir hier vorbildlich einrichten wollen. Die Obliegenheiten (Bibliothek, Zeitungswesen, Basareinrichtungen usw.) sollen unter den geeigneten Genossen verteilt werden. Eine eigene Küche soll eingerichtet werden – sie ist schon von der Regierung bewilligt worden –, in der zwei Köche, die wir unter uns haben, für uns sorgen sollen. Nun ist die Schwierigkeit die, daß wir viele völlig unbemittelte Genossen unter uns haben, die wir mit durchschleppen müssen. So hatten wir genügend Beratungsstoff. Besonders lebhaft wurde die Frage diskutiert, ob wir nicht, wie ich vorgeschlagen habe, im Hause nur mit Blechmarken zahlen sollen. Wir müssen noch die Kaufleute hören. An einem der nächsten Abende wird dann das Plenum über alle diese Dinge entscheiden und die Kommissariate wählen. Der Sonntag – heute – ist der Kunst gewidmet. Es werden, wie ich höre, Gesangsvorträge, Musikstücke und Gedichte geboten werden. Ich werde den Genossen das Gedicht ›1919‹›1919. Dem Andenken Gustav Landauers‹: vielstrophiges Gedicht auf die Münchner Revolutionszeit. Entstanden am 8./9. Mai 1919, im selben Jahr erschienen im Verlag Leon Hirsch, Berlin. vorlesen.

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Ebrach, Montag, d. 28. Juli 1919

Abends neun Uhr. Nur ein paar kleine Notizen. Der Kunstabend gestern verlief sehr nett. Ein Schauspieler GärtnerRolf Gärtner, Schauspieler; an der Inszenierung von Mühsams Drama ›Judas‹ 1922 in Nürnberg beteiligt. trug schlecht und recht unterschiedliche Gedichte vor: Hermann Conradi,Hermann Conradi (1862–1890), Lyriker (Weltschmerz, soziale Anklage und Leidenschaft); übte starken Einfluß auf die frühe Lyrik Mühsams aus. Rudolf HerzogRudolf Herzog (1869–1943), rechtsgerichteter Unterhaltungsschriftsteller. und neben Belanglosigkeiten von FinckhLudwig Finckh (1876–1964), nationalistischer Schriftsteller; deutschtümelnde Heimatliteratur, Propagandist der »Ahnenforschung«. und anderen DörmannsFelix Dörmann (eigtl. Biedermann, 1870–1928), österr. impressionistischer Dichter aus dem Freundeskreis Hermann Bahrs. ›Ich liebe die hektischen kranken Narzissen‹, ein Gedicht, für Revolutionäre so geeignet wie Schlagsahne für Leoparden. Ein Genösse Reichert las aus LatzkosAndreas Latzko (1876–1943), ungarischer Autor deutscher Sprache; pazifistische Novellen ›Menschen im Kriege‹ (1917). schönem Buch ›Menschen im Kriege‹ den ›Abmarsch‹ und dann gab ich einige Revolutionsgedichte aus dem ›Kain‹Der fünfte Jahrgang des ›Kain‹ erschien von November 1918 bis April 1919 in neun Ausgaben. zum besten, wovon das ›Trutzlied‹ mit dem Refrain »Wir geben nicht nach!« mächtigen Beifall fand. Auch ›1919‹ wurde sehr günstig aufgenommen. Vorher hatte ich den Genossen meine ›Räte-Marseillaise‹Mühsam hatte der ›Marseillaise‹ einen neuen Text unterlegt; in: ›Brennende Erde‹. diktiert, die inzwischen etlichemal im Chor gesungen wurde und jetzt schon das allgemeine Bruderlied ist.

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Heut abend war Aussprache über die Konstitution unserer Kommune. Jeder Genosse mußte in einem Kommissariat einen Posten übernehmen. Ich wurde ins Kunstkommissariat gewählt, habe aber außerdem ein Amt übernommen, das mich täglich zwei Stunden Arbeit kosten wird. Von morgen ab werde ich täglich von zwölf bis zwei Uhr Sprechstunden abhalten, um den Kameraden in allen Rechtsangelegenheiten, als Ratgeber, Briefsteller, Tröster etc. zur Verfügung zu stehen. Also Winkelkonsulent der Festungskommune. Ich werde wohl viel Arbeit damit haben, glaube aber, den Freunden auch wirklich nützlich werden zu können. Auch unserm Genossen Niekisch haben wir eine tüchtige Arbeit aufgepackt, das Archiv der Kommune zu schaffen. Die Verteilung der Ämter ist also erfolgt. Jetzt muß sich's zeigen, ob die Kommunisten, wo sie aufeinander angewiesen sind, kommunistisch werden arbeiten können.

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Für den Winter droht eine unerhörte Kohlennot, der Zentner steigt schon jetzt auf zehn Mark, Butter kostet in München rationiert fünf Mark das Pfund, und die Ernte wird natürlich elend werden, da der Boden seit fünf Jahren vernachlässigt ist. Alles das ist natürlich unsere Hoffnung. Es kann nicht schlimm genug kommen, um dem Volk die Augen darüber zu öffnen, daß alles Geschrei von Ruhe und Ordnung Schwindel ist und daß das Bestehen der kapitalistischen Wirtschaft selbst, nachdem sie ihre Existenzberechtigung und -möglichkeit durch Krieg und Zusammenbruch widerlegt hat, jede Rückkehr geregelter Zustände ausschließt. Es kann gar nicht genug gestreikt werden, um die Katastrophe, die doch unvermeidlich ist, zu beschleunigen, da jeder Aufschub nur mehr Opfer verlangt und der Reaktion weitere Gelegenheit schafft, ihr Ende in Proletarierblut schmerzloser zu machen.

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Ebrach, Dienstag, d. 29. Juli 1919

Vorerst eine höchst erfreuliche Neuigkeit. Von Zenzl traf heut nachmittag ein Telegramm ein: Gedichtbüchl und Tagebücher gekommen. Welche Freude! Der Verlust besonders aller meiner Verse seit 1914 hatte mich seit drei Monaten entsetzlich deprimiert und merkwürdigerweise auf meine Produktion völlig lähmend eingewirkt. Außer dem Gedicht ›1919‹ habe ich seit meiner Verhaftung nichts Poetisches zustande gebracht, da doch die Absperrung sonst gerade den Trieb zu dichten hätte befeuern sollen. Gott sei Dank wird das jetzt vorbei sein – mir ist eine furchtbare Last vom Herzen. – Einen kleinen Dämpfer auf diese Freude setzte mir eben die Sitzung unserer Kommune, die sich noch mit ihrer Konstitution zu befassen hatte. Schon jetzt bei den allerersten Gehversuchen zeigt sich der instinktive Widerstand der Menschen gegen die Zumutung, irgend etwas von der eigenen Bequemlichkeit dem Gesamtnutzen zuliebe preiszugeben. Ich sprach gegen das Hasardspielen, das unter einer kleinen Gesellschaft von Genossen eingerissen ist und schon dazu geführt hat, daß ganz Mittellose, die aus den Mitteln, die von den übrigen, die doch alle nicht reich sind, zusammengesteuert waren, Unterstützung erhalten hatten, das Geld sofort an bessersituierte Kameraden im Mauscheln oder 21 verloren. Ich schlug vor, daß bares Geld innerhalb der Kommune überhaupt nicht mehr in Umlauf kommen solle, sondern Blechmarken einzuführen seien, die rationiert abgegeben werden sollen, damit sich keiner besser oder schlechter in der Frequenz der Kantine und des Basars stelle als der andere. Für Kartenspiele solle der Grundsatz aufgestellt werden, daß sie nicht um Geld gehen dürfen.

Große Entrüstung bei den Beteiligten. Niemand will sich in seiner individuellen Freiheit beschränken lassen, und die Berufung auf soziale Pflichten verweht im Winde. Wir werden noch böse Hindernisse im Wege finden und alle gemeinsame Energie aufwenden müssen, um der Welt trotz allem zu zeigen, daß Kommunisten doch fähig sind, eine Kommune zu schaffen. Erziehung der Menschen ist alles. Ich kam während der peinlichen Auseinandersetzungen, in denen sich der primitive Egoismus der Leute so plump enthüllte, auf den Einfall, ein Beispiel wirken zu lassen und gab die Erklärung ab, als man gerade die Möglichkeiten zur Geldbeschaffung erwog, daß ich meine ›Räte-Marseillaise‹ hiermit zur Verfügung der Ebracher Festungskommune stelle, d.h. daß sie vervielfältigt und ganz zugunsten der Kommune verbreitet werden solle. Man rief zwar Bravo, wird aber morgen wieder ebenso starrköpfig an der kleinsten Gewohnheit und dem eingebildetsten Bedürfnis festhalten wie heute. So war's schon vor achtzehn Jahren in der Neuen Gemeinschaft, so bei den Anarchisten, bei den Genossen vom Sozialistischen Bund und bei meiner Gruppe Tat: Die Sache wird begriffen und für gut befunden, die Idee nimmt Gestalt an und soll Praxis werden – und da steht den Menschen der Mensch im Wege. Das Menschliche scheitert an den Menschlichkeiten. Aber mein Glaube ist stark zum Bergeversetzen. Die Widerstände müssen überwunden werden. Sie werden überwunden werden.

Ehrach, Samstag, den 2. August 1919

Dieser Tag wird mir zeitlebens in freundlicher Erinnerung bleiben. Nicht bloß, weil heute von Zenzl außer einem Korb mit viel Gutem (Wäsche, neue Stiefel, Speck, Kaffee mit Kochapparat, Anzug, Krawatte, Lektüre etc.) und mein geliebtes Notizbuch – diesmal das richtige, lang und schmerzlich vermißte – ankamen, sondern wegen der entzückenden Feier, zu der sich die Hochzeit unseres Kameraden Spohrer gestaltete.

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Aus dem Garten waren Lorbeerbäume, aus den Zellen alle vorhandenen Blumentöpfe herbeigeschleppt worden, und die Festtafel, die sich in imposanter Länge durch die Halle streckt, war festlich gedeckt – mit Bettleinen, das man der Gefängnisverwaltung zu diesem Zweck abgebettelt hatte. Außer der Braut waren noch drei Frauen, Gattinnen oder Freundinnen anderer Genossen, anwesend. Das Diner entsprach freilich nicht ganz der Aufmachung. Ein Topf Suppe und ein Topf Wirsinggemüse für jeden – und dafür standen feierlich zwei Teller und ein Besteck mit Messer und Gabel vor jedem Platz. Aber kaum je wird es eine fröhlichere und in sich einigere Hochzeitsgesellschaft gegeben haben als unsere 55 Festteilnehmer. Dann wurde Bier kredenzt, einer stiftete Zigarren. Und als es dann Kaffee gab, zu dem unsere Köche einen Kuchen gebacken hatten, wurde mir zum ersten Mal mein heut von Zenzl erhaltener Kaffeekrug mit prachtvoll starkem, echtem Kaffee serviert. Ich hielt dann die eigentliche Festrede auf das junge Paar, bei der ich die freie Ehe als ideale Ehe pries, nämlich die, die innerlich frei ist und in Freiheit sich auswirkt und ihre Kinder in Freiheit großzieht.

(...) Der Coup der Veranstaltung war aber eine groteske Parodie auf den katholischen Pfaffendienst, die – aus der Perspektive eines Frommen – die tollste Blasphemie darstellte, die ich noch erlebt habe. Pfeiffer führte den Umzug an, statt eines Kreuzes einen Besen vor sich hertragend. In Badetüchern und weißen Decken, mit Zylindern und sonstigen grotesk-komischen Kopfbedeckungen und Bekleidungen, auf Gießkannen und ähnlichem Gerät blasend, bewegte sich der Zug mehrmals um die Halle, wobei er ganz in dem Ton der kirchlichen Lethargie einen unglaublich zotigen Text sang. Da wir alle Gottlose waren, wurde kein Ohr gekränkt, und wir konnten unbefangenen Herzens Tränen lachen. – Am Ende des Programms wurde getanzt. Bedauert wurde nur, daß wir nicht die Erlaubnis erhalten hatten, einen Photographen kommen zu lassen, der uns die schöne Feier zu späterem Gedächtnis festgehalten hätte. Spohrer – ein Münchner Friseur und seine junge hübsche Frau haben eine Hochzeit zwischen Gefängniszellen gefeiert, wie sie nicht leicht ein Ehepaar in aller Welt erlebt hat. Wir alle aber, die daran teilnahmen, werden diesen Tag als versöhnendes Intermezzo in unserer Gefangenschaft mit ins künftige Erinnern nehmen, und was ihn schon heute so wertvoll macht, ist der Beweis der Kameradschaft, der erfindungsreichen Solidarität, die in wenigen Stunden ein reizendes Festprogramm entwarf und ohne Störung naiv und schön, vielgestaltig und doch einheitlich zu Ende führte. Mir selbst kamen bei dem ersten Teil des Programms, den alle meine blasierten Freunde als Ausbund von Kitsch bezeichnet hätten, Tränen in die Augen, und bei den humoristischen Vorträgen und Darbietungen, bei denen man in jedem Varieté »geschmacklos« geschrien hätte, habe ich gelacht wie seit der Kindheit nicht mehr. Heute fühlte ich, wie tief ich diesen proletarischen Prachtmenschen in meiner Seele verbunden bin.

Ebrach, Samstag, den 9. August 1919

Abends. Es steigen Wolken auf am Horizont unserer Festungshaft. Aus Passau kommt die Nachricht, daß aus Oberhaus, unserer Schwesterfestung, 25 unserer Genossen geflüchtet sind. Wie bei uns scheinen auch dort etliche recht unsichere Kantonisten unter die Gefangenen geraten zu sein. Die Zeitungen melden, daß man einige Flüchtlinge in München am Bahnhof in Empfang nahm (schon die Dummheit, mit der Bahn bis München zu fahren!) und daß die mit ganz unglaublicher Aufrichtigkeit erzählt haben, wie sie die Flucht bewerkstelligt haben, wobei sie überdies ausplauderten, die Wachen hätten geschlafen. Nun war heute der Minister Müller-Meiningen hier. Wir haben ihn zwar nicht zu sehen gekriegt, aber Klingelhöfer hatte nachher eine Besprechung mit Wirthmann,Wirthmann, Assessor; Vorstand des Zuchthauses Ebrach. und jetzt fand eben in seiner Zelle eine Konferenz im engen Kreise statt, dem er Bericht erstattete. Danach drohen uns schon für die allernächste Zeit scheußliche Schikanen, die durch die Herausgabe einer Hausordnung – die diesmal von der Regierung erlassen werden soll – ermöglicht werden sollen. Unsere Freiheiten, soweit man davon hier reden kann, sollen in der empfindlichsten Weise beschnitten werden. Die Besuche sollen eingeschränkt, die Besucher durchsucht werden. Briefe, die politische Betrachtungen oder Mitteilungen über unsere Kommune oder sonst irgend etwas enthalten, was die Öffentlichkeit über unser Ergehen aufklären könnte, sollen zurückgehalten werden. Der Assessor hat Anweisung, schon jetzt in weitem Umfang mit der Einführung dieser reizenden Neuerungen zu beginnen.

(...) Wir werden uns darauf berufen, daß die Behandlung der Festungsgefangenen gesetzlich festgelegt ist und daß wir die Bestimmungen nicht bloß nicht einschränken lassen werden, sondern ihre volle Durchführung verlangen werden, da dann auch Urlaub und andere Vergünstigungen vorgesehen sind, von denen wir bisher noch gar nichts gemerkt haben. Offenbar will die konterrevolutionäre Horde die Festungshaft durch Verordnungen allmählich in Gefängnis umwandeln, so daß wir womöglich auf unsere Geselligkeit und alle übrigen Merkmale der custodia honesta verzichten müssen. Das tollste ist, daß Beschwerden nicht mehr herausgelassen werden sollen, so daß wir einen umfangreichen Kassiberdienst einrichten müssen, wenn wir die Außenwelt orientieren wollen, wie es uns geht. Und damit wollen die Idioten der Regierung ihre Position festigen! Sie werden sich täuschen. Sie schaffen neuen Haß, neue Ressentiments, besonders bei unseren Frauen, und verhindern natürlich die Verbindung zwischen uns draußen doch nicht.

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»Festungshaftanstalt« Ansbach, Montag, d. 8. September 1919

Samstag früh ging's also los.

(...) Unter dem Gesang meiner ›Räte-Marseillaise‹ verließen wir den Zellenbau, der mich vom 15. April bis zum 26. Juni und vom 26. Juli bis zum 6. September beherbergt hat. Im Bahnhof schloß sich uns Frau Hagemeister mit ihren beiden Kindern, die gerade zu Besuch waren, an.

(...) Wieder unter Gesang ging es weiter nach Ansbach, ins Amtsgerichtsgebäude, dessen von uns bewohnten Korridor man jetzt feierlich Festungshaftanstalt nennt. Vier Genossen, die bisher in Landsberg untergebracht waren, begrüßten uns: Max MehrerMax Mehrer (geb. 1891), Stadtkommandant von München ab 24. April 1919; Rücktritt am 1. Mai wegen der Geiselerschießungen. vom Münchner Soldatenrat, Dosch,Johann Dosch (1893–1930), zu drei Jahren Festungshaft verurteilt. Polizeipräsident während der zweiten Räterepublik, Wollenberg,Erich Wollenberg (1892–1973), Führer der Roten Armee an der Dachauer Front, zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt. Unterstützte Zenzl Mühsam in ihrem Prager Exil 1934–36. Tollers Generalstabschef und der kleine Markus Reichert, dem ich gleich freudig um den Hals fiel, weil doch einer von der echten Münchner Garde dabei war. Sie waren am Tag vorher angekommen und hatten sich widerstandslos nachts einsperren lassen. Wir erklärten sofort, unter keinen Umständen den Verschluß der Stuben zuzulassen. Der Anstaltsleiter, ein Staatsanwalt Edelmann, kam. Lange Auseinandersetzung, bei der ich das Wort führte und körperlichen Widerstand in Aussicht stellte, falls der Versuch gemacht würde. Der Mann sah ein, daß er nichts ausrichten könne und erklärte, Bericht an die Regierung machen zu wollen und von dort Bescheid abzuwarten. Wir sind also bisher nicht eingesperrt worden.

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Ansbach, Freitag, d. 19. September 1919

Gestern ist im SeidelprozeßDie im Geiselmordprozeß verhängten Todesurteile wurden sämtlich vollstreckt. das Urteil gesprochen worden. Doppelte Todesstrafe gegen Seidel und Schickelhofer, einfache Todesstrafe gegen vier weitere Angeklagte, drei Freisprüche und gegen die übrigen je fünfzehn Jahre Zuchthaus. Nie ist ein Tendenzprozeß tendenziöser durchgeführt worden als dieser.

(...) Wie sich die Regierenden die spätere Wirkung ihrer Taten vorstellen, wissen die Götter. Wer nach unserer Befreiung versuchen wollte, die erregten Massen zu bremsen, würde selbst zerrissen werden. Ich selbst bin allmählich, sehr im Gegensatz zu meiner Vergangenheit, so weit, daß ich die grundsätzliche Abkehr vom Blutvergießen nicht mehr verantworten kann. Die Reaktion hat uns gezeigt, wie gearbeitet werden muß, um die Gegner kleinzukriegen. Wir sind durch unsere Menschlichkeit verantwortlich geworden an all dem Blut und Jammer in Bayern. Wenn Noske sich jetzt zu der Anschauung bekannt hat, er wolle immer wieder das Leben von ein paar Tausend Tollköpfen opfern, um Hunderttausenden von Bürgern die Ruhe zu sichern, so müssen wir sagen: Besser das Leben einiger tausend Konterrevolutionäre aufs Spiel setzen als Hunderttausende Proletarier umbringen lassen. Ich bin durch die Ereignisse seit fünf Monaten ein anderer geworden. Tolstoi ist überwunden – ich kenne und will nur noch Bakunin. Mit dem beschäftige ich mich intensiv. Immer deutlicher wird mir meine geistige und seelische Abstammung von diesem Rebellen sans phrase. Ich bin aber nun auch darauf gekommen, daß die Lehren Lenins durchaus von Bakunin kommen und nicht von Marx.Mühsam hält an diesem Irrtum fest, um sein Revolutionskonzept darauf zu errichten. Er verstand die russische Oktoberrevolution als originär anarchistische Aktion, die mit kommunistischen Maßnahmen (Diktatur des Proletariats) gesichert werden müsse und daher die vorübergehende Koordination durch die Kommunistische Partei benötige.

Daß sogar Lenin selbst das leugnet und Marx und Engels als seine Evangelisten hinstellt, ist nur ein neues, fast tragikomisches Licht auf dem Lebensbild Bakunins. Sein ganzes Leben hindurch hat der Idealist und Enthusiast von dem abstrakten Ökonomiker und ganz unrevolutionären Temperament Marxens Schläge bekommen. Jetzt, wo sich Bakunins Methoden – das Rätesystem ist ganz sein Eigentum – praktisch durchsetzen, muß er sogar noch auf die Vaterschaft der Idee zugunsten des Säulenheiligen verzichten, der nun einmal nach der traditionellen Proletarierbibel das Privileg hat, daß alle Wahrheiten von ihm stammen müssen. Als Bakunin mit der Pariser Kommune eine herrliche Bestätigung seiner Ansichten erfuhr, da wollte ja auch Marx die ganze Organisation seinem Verdienst zuschreiben. Mein Übertritt zur KPD, der mir nicht leicht geworden ist (die ErklärungAbgedruckt in: ›Die Aktion‹, 18. Oktober 1919. wird wohl in diesen Tagen in der kommunistischen Presse erscheinen, wenn nicht die Bonzen etwa ihr Veto einlegen), hat nicht zum mindesten den Zweck, Bakunin die Stellung im internationalen revolutionären Proletariat wiederzugeben, die ihm gebührt. Meine Broschüre ›Die Einigung des revolutionären Proletariats‹›Die Einigung des revolutionären Proletariats im Bolschewismus‹. Fertiggestellt im März 1920 in Ansbach, im September 1920 aus der Haftanstalt geschmuggelt, nachdem die erste Fassung beschlagnahmt worden war. Das 3. Kapitel erschien im Februar 1921 in ›Die Aktion‹, weitere Kapitel in loser Folge von Januar bis Oktober 1922. Die Aufforderung zur revolutionären Offensive, verknüpft mit scharfer Kritik an der gemäßigten Politik der KPD, entsprach noch dem Programm der AAU, der die ›Aktion‹ nahestand, hatte aber ihre Aktualität weitgehend eingebüßt (vgl. Eintragung vom 23. März 1920). wird den Versuch dazu im größeren darstellen. War es möglich, nach fünfzigjähriger Besessenheit vom Marxismus die Arbeiter zur Erkenntnis zu bringen, daß wir sachlich recht hatten, dann kann auch vielleicht das schwerere Werk gelingen, die Persönlichkeit zu rehabilitieren, der die Revolution alles dankt und die zu entthronen, die das Unglück der Entseelung des revolutionären Temperaments zum großen Teil verschuldet hat. Wann ich die Broschüre beginnen werde, weiß ich noch nicht.

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Ansbach, Samstag, d. 27. September 1919

(...) Als wir noch beim Abendbrot saßen, erschienen der zweite und der dritte Staatsanwalt. Letzterer ist erst seit Anfang der Woche im Hause und wirkt nun hier als Zensor und als unser Professionsschurigler.Hans Vollmann, Vorstand der Festungshaftanstalt Ansbach, dann Niederschönenfeld bis zu seiner Ablösung 1921.

Ein Schnösel, der es gleich von Anfang an mit dem Ton des forschen Korpsiers versuchte. Ich hatte als erster schon am ersten Tage eine sehr stürmische Auseinandersetzung mit ihm. – Die beiden Herren eröffneten uns also, daß das Ministerium ihnen Befehl gegeben habe, uns von nun ab um halb zehn Uhr in die Zellen einzusperren, und daß sie mit Bedauern zwar, aber ohne Einrede diesen Befehl vollziehen würden. Natürlich gab es unheimlichen Krach. Wir erklärten einmütig, daß wir uns nicht fügen, sondern gegebenenfalls gewaltsam Widerstand leisten würden. Indem wir uns gegenseitig empfahlen, uns unser Verhalten noch einmal zu überlegen, zogen die beiden ab, und wir berieten dann, wie wir uns verhalten würden.

(...) Währenddessen war es halb zehn geworden, und das Drama begann. Die beiden Staatsanwälte traten ein, hinter ihnen in der offenen Tür des Gemeinschaftsraumes standen die Wärter. Neben den beiden betrat ein Wachtmeister der Ansbacher Ulanen das Zimmer. In langer Rede forderte der zweite Staatsanwalt uns noch einmal auf, uns in unsere Zellen zu begeben, da er sonst Gewalt anwenden werde. Der Wachtmeister fragte dazwischen: Wollen die Herren gehen oder nicht? Wir hörten alles stillschweigend an, erst ganz allmählich antworteten wir in vollkommener Ruhe und setzten wiederholt auseinander, daß wir eine rechtswidrige Handlung in diesem neuen Zwang erblicken und daß unser Entschluß feststehe. Währenddem sahen wir, daß sich hinten auf dem Korridor Ulanen sammelten, bewaffnet mit Bajonetten und Handgranaten, die sich die Verhandlungen neugierig mit anhörten und ganz offenbar sehr erpicht darauf waren, die schlimmen Spartakisten mores zu lehren. Es hat sich herausgestellt, daß die Weißgardisten gegen den Willen der Staatsanwälte hinaufgegangen waren, deren Situation dadurch nicht einfacher wurde. HagemeisterAugust Hagemeister (geb. 1879), als Würzburger Vertreter des Landessoldatenrats im Zentralrat zu zehn Jahren Festungshaft verurteilt, starb in der Haft am 16. Januar 1923 (siehe dort). machte schließlich den Vorschlag, wir würden alle im Gemeinschaftsraum bleiben, die Zellen könnten dann ruhig verschlossen werden, aber in Einzelhaft ließen wir uns nicht sperren. Das Kompromiß wurde nach langem Hin und Her angenommen, also ein großer Sieg für uns. Unsere Staatsanwälte versprachen überdies, alles zu versuchen, um das Ministerium zur Zurücknahme der Anordnung zu bestimmen. Es wurde ausgemacht, bis die Entscheidung des Ministeriums da sei, würde die Einsperrung aller Genossen zusammen im Gemeinschaftsraum erfolgen. Fiele die Antwort dann negativ aus, würden wir in den Hungerstreik eintreten. Die Weißgardisten zeigten deutlich ihre Unzufriedenheit mit diesem Ergebnis und verlangten, daß wir in die Zellen sollten. Die Genossen Dosch und Reichert bekamen Nervenanfälle, und unser Leben war schwer bedroht. Nach längerer Zeit erst gelang es den Staatsanwälten, die Leute zum Fortgehen zu veranlassen. Die Nacht verblieben wir dann, auf dem Boden schlafend, im Gemeinschaftsraum, sehr stolz auf unseren Sieg, beschlossen aber angesichts der ungeheuren Roheit, uns mit undisziplinierten weißen Garden zu bedrohen, sofort in den Hungerstreik einzutreten.

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Ansbach, Freitag, d. 3. Oktober 1919

Vorgestern abend haben wir nach fünf Tagen Hungern zuerst wieder Nahrung eingenommen. Ich bin matt, habe Leibschmerzen und spüre jeden Nerv. Wir haben den Streik verloren, da wir unsern Zweck nicht erreichten. Die Zellen bleiben nachts verschlossen, ja, heute hat uns der III. Staatsanwalt (Dr. Vollmann heißt der tüchtige Beamte) einen Schrieb des Justizministers verlesen, wonach er sich den Erlaß einer ganz neuen Hausordnung vorbehält, falls wir uns nicht brav verhalten. Bedenkt man, daß alle Vorwände, die Verschärfungen vorzunehmen, von der reaktionären Presse erfunden worden sind, dann weiß man, was diese Ankündigung bedeutet. Wir mußten die Demonstration aufgeben, weil das Befinden, besonders Reicherts, derart bedrohlich wurde, da wir die Verantwortung nicht tragen konnten, die Herr Müller und seine Willensvollstrecker kaltlächelnd auf sich nehmen. Das ist der positive Ertrag des Hungerstreiks, daß wir jetzt wissen, daß Herr Müller-Meiningen lieber die Opfer seiner Parteijustiz verrecken läßt, als daß er von seiner rechtswidrigen Verordnung abstünde, und ferner, daß die Aufmerksamkeit des ganzen Reichs auf die Zustände in der Ansbacher Festungsanstalt hingelenkt worden ist. Besonders die Soldatenattacke auf uns erregt großes Aufsehen. Die Mannheimer ›Rote Fahne‹ z.B. bringt einen sensationellen Artikel über einen »Mordanschlag« auf die Ansbacher Festungsgefangenen. Die offiziöse Correspondenz Hoffmann verbreitet dagegen eine Nachricht, die den Anschein erwecken soll, als ob nur ich in den Hungerstreik getreten wäre. Man merkt die Absicht. Über den Verlauf der fünf Tage ein paar Notizen. Am dritten Tag (Montag) dispensierten wir WestrichAugust Westrich (geb. 1891), sechs Jahre Festungshaft wegen Hochverrats. von der Teilnahme. Er ist magenkrank und schützte Lebensgefahr vor. Da wir seinen Charakter kannten, hielten wir es für besser, Dispens zu erteilen als Streikbrecher zu züchten. Gleichwohl ist es sehr wahrscheinlich, daß Mehrer und Dosch in den Tagen ohnedies kräftig gefressen haben, vielleicht auch Riedinger,Gustav Riedinger (geb. 1895), Kommandant der Roten Armee, zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt. der übrigens plötzlich als Zeuge nach München fortmußte. Am Montag erlitt Dosch eine Art epileptischen Anfall (schon in der Nacht von Freitag auf Samstag hatte er etwas Ähnliches gehabt), und wir gaben auch ihm Essensfreiheit, und am Dienstag fing auch Renner,Josef Renner (geb. 1889), wegen Hochverrats zu vier Jahren Festungshaft verurteilt. der im Felde einen Unterleibsschuß davontrug und ein Bein so weit einbüßte, daß eine Maschine es funktionstüchtig machen muß, wegen seiner Herzschwäche, die am vierten Hungertage eine Katastrophe befürchten ließ, mit unserem Einverständnis zu essen an. Am schlimmsten war unser kleiner Markus Reichert dran. Er war schon von Sonntag ab bettlägerig. Im Felde hatte er einen schweren Nervenschock; bei seiner Verhaftung wurde er von Weißgardisten grauenvoll mißhandelt, er ist damals dem Tod kaum entronnen. Furchtbare Schläge auf den Kopf, stundenlang fortgesetzt, Kolbenstöße gegen den Rücken des ohnehin gebrechlichen, am Stock gehenden Invaliden – und schließlich haben ihn die fürchterlichen Menschen sechsmal unter Androhung der Erschießung an die Wand gestellt, um Denunziationen von dem kleinen Helden herauszulocken, der aber fest blieb. Als Folge blieben Nervenanfälle, die sich unter der Wirkung des Hungerstreiks grauenvoll steigerten. Am Dienstag, überhaupt dem schlimmsten Tag dieser denkwürdigen Demonstration, hatte der arme Junge – er ist ein Kind und dalberte, solange er sich gesund fühlte, wie ein Elementarschüler zwischen unsere ernsten Gespräche – einen Anfall von erschütterndem Ausmaß. Der Anblick des zuckenden Leibes, der schreiend auf dem Boden lag, zwischen zerbrochenen Tellern, die er im Fallen zertrümmert hatte, meine Versuche, mich dem bewußtlosen Genossen verständlich zu machen, die Hilflosigkeit auch des Arztes, der zufällig zur Stelle war – über den Anstaltsarzt hier, dem das Wohl seiner Patienten ganz einerlei ist, wenn er sich nur die Zufriedenheit der Staatsbehörde nicht verscherzt, wäre ein spezielles Kapitel zu schreiben –, die ganze Episode machte einen schrecklichen Eindruck auf mich. Es ergab sich jetzt die Notwendigkeit, für die Nacht für die ganz schwer Kranken, vor allem für Reichert, Vorsorge zu treffen, daß sie Hilfe jederzeit bereit fänden. Reichert hatte trotz all unserem Zureden den Abbruch des Streiks, ehe nicht wir – Hagemeister, Hartig,Rudolf Hartig (geb. 1893) oder sein Bruder Valtin Hartig (geb. 1889), zu zwei bzw. sieben Jahren Festungshaft verurteilt. ich, OlschewskiWilhelm Olschewski (1871-1943), zu sieben Jahren Festungshaft verurteilt. und Waibel – kapitulierten, konsequent abgelehnt. Deshalb trug ich dem Staatsanwalt schon am Montag einen Kompromißvorschlag an, indem ich ihm auseinandersetzte, wir könnten den Konflikt aus der Welt schaffen, wenn er aus eigener Machtvollkommenheit anordnete, daß im Interesse der durch Krankheit unmittelbar am Leben Gefährdeten vorerst die Zellentüren offen blieben, damit, wenn sie rufen, wir ihnen Beistand leisten könnten. Ihm schien das einzuleuchten, er meinte aber, allein nichts verfügen zu können, und so kam der Dienstag. Auch Dosch hatte an diesem Tage einen sehr schweren epileptischen Anfall. Am Nachmittag verfügten Staatsanwälte und Ärzte plötzlich, daß Dosch und Reichert sofort ins Garnisonslazarett nach Nürnberg sollten. Todkranke Menschen, die seit vier Tagen nichts gegessen hatten! Und in ein Militärlazarett, direkt in die Klauen der Feinde! Beide weigerten sich rabiat und stellten den äußersten tätlichen Widerstand in Aussicht. Der Transport unterblieb tatsächlich. Nun verlangte ich aber entschieden, daß die Zellentüren offen blieben, da der Zustand Reicherts höchst bedenklich war. Es gab eine äußerst erregte Auseinandersetzung zwischen mir und dem Dr. Vollmann. Wir schrien beide nach Noten, wobei er insofern im Vorteil war, als er erstens seit Samstag alle Mahlzeiten gewissenhaft eingenommen hatte und ich keine, und daß er über disziplinare Strafmittel gegen mich verfügte, ich aber nicht über ihn. Der Mann hatte wahrhaftig den guten Geschmack, mir das Verbot von Besuchsempfängen anzudrohen und furchtbar über meine »Drohungen« zu zetern, als ich ihm den Appell an die Öffentlichkeit in Aussicht stellte. Zur Charakteristik des Mannes: Am ersten Tage unserer Bekanntschaft, als ich Ursache hatte, ihm erregt Vorhaltungen zu machen, verbat er es sich, daß ich ihn »antöne« und »anpflaume«.

(...) Besonders bezeichnend fand ich es für ihn, als neulich ein Handwerker hier war, dem er einen Einwand zurückweisen wollte. Er hätte »trotzdem« sagen können oder »nichtsdestoweniger«. Sein Ausdruck war aber: »Nichtsdestoweniger-trotz!« – Casino – Kneipe – Mensurboden: damit ist der ganze Kerl fertig. – Unser Disput am Dienstagabend schloß damit, daß der Staatsanwalt mit der Versicherung davonlief, daß er Unterhaltungen mit uns künftig nicht mehr führen werde. Die Zellen sollten also zugesperrt werden. Die Verantwortung übernahm er, was leicht war, wenn man sich nur dem Justizminister, aber sehr schwer, wenn man sich auch dem eigenen Gewissen verantwortlich fühlte. Vorher hatte mir der Mann aber noch eine recht interessante Tatsache mitgeteilt, nämlich, daß ich meine Genossen zu dem Hungerstreik terrorisiert habe. Beweise dafür habe er schwarz auf weiß von Genossen selbst. Ich könne sie sehen, bloß nicht gleich. Als ich gestern einen Brief hinunterschickte, mit dem Ersuchen, mir das Schriftstück vorzulegen, schrieb er zurück, er habe nur gesagt, er könne die Beweise schwarz auf weiß vorlegen, nicht aber, er wolle es auch. Nach meinem aggressiven Verhalten und meinen fortgesetzten Drohungen mit der Öffentlichkeit habe er aber keine Veranlassung, mich in seine Akten einblicken zu lassen. Es ist für uns alle klar, daß der Verräter unter uns Mehrer ist, wie sich denn längst zwei Parteien herausgebildet haben, deren eine, Mehrer, Dosch, Westrich und Riedinger vom kleinen Reichert den bezeichnenden Namen »Bourgeoisklub« beigelegt erhalten hat. Renner, ein braver Kerl, aber kreuzeinfältig und ein schrecklicher Nerventrampel, pilgert brav hinüber und herüber. Er hat von der Spaltung anscheinend noch gar nichts gemerkt. Am Mittwoch früh sahen alle ein, daß der Streik sich nicht durchführen lasse. Für Fortsetzung waren bloß noch Hagemeister (ein Prachtkerl von Charakter), ich und der sterbenskranke Reichert. Ich gab meinen Widerstand dann mit Rücksicht auf Reicherts Leben auf, ebenso auch Hagemeister. Wir setzten aber, sehr gegen den Geschmack besonders Waibels und Hartigs, dadurch, daß sich Olschewski unserer Auffassung anschloß, durch, daß wir wenigstens bis Mittwoch abend halb sieben weiterhungerten. Freitag um halb sechs Uhr abends hatten wir die letzte Mahlzeit vor dem Streik eingenommen, so daß wir dann die Aktion genau fünfmal 24 Stunden durchgeführt hatten, so daß also das äußerste und gefährlichste Kampfmittel Gefangener gegen die Kerkermeister durch uns nicht kompromittiert war. – Für mich wird diese Kampagne vielleicht noch ein böses Nachspiel haben. Als am Freitagabend die beiden Staatsanwälte uns den Ukas des Müller brachten, geriet ich so in Wut, daß ich losbrüllte: »Müller-Meiningen ist ein ehrloser Lump, bitte teilen Sie ihm das mit, damit ich es öffentlich beweisen kann!« Ich habe dann noch hinzugesetzt, auch der Minister Hoffmann sei ein ehrloser Lump. Gestern hat nun unser Staatsanwalt Olschewski mitgeteilt, er habe meinem Wunsch gemäß die Äußerung an den Herrn Justizminister übermittelt. Jetzt bin ich gespannt, ob mich der vor Gericht stellen läßt. Wenn mir auch die Aufregung eines neuen Gerichtsverfahrens und die Möglichkeit, vielleicht ein Jahr in Einzelhaft gesetzt zu werden, den Wunsch nahelegt, die Sache möchte unterbleiben, so wäre andererseits die Gelegenheit, einen politischen Prozeß, in dem ich die ganze Korruption dieser konterrevolutionären Halunken aufdecken könnte, vor einem ordentlichen Gericht auszubreiten, politisch so wertvoll, daß ich auch eine Entscheidung, die mich von neuem Zentrum eines Bürgerspektakels werden ließe, mit Ruhe und im Gefühl, der Revolution nützen zu können, hinnehmen würde. Augenblicklich bin ich sehr matt.

(...)

Ansbach, Sonnabend, d. 11. Oktober 1919

Also wieder mal richtiggehend eingesperrt – aber dieses Mal nicht aufgrund einer eingeleiteten Untersuchung oder in Erfüllung eines ordentlichen Rechtsspruchs, sondern auf unbestimmte Zeit, deren Grenze fünfzehn Jahre ist, auf einfachen Befehl des von mir der ehrlosen Gesinnung bezichtigten Ministers Müller zur Bestrafung einer Äußerung, die ich nie getan habe.

(...)

Jedenfalls haben wir nun den dokumentarischen Beweis, daß die »Genossen« Dosch, Mehrer, Riedinger und Westrich in diesem Tagen, wo der Bogen bis zum äußersten gespannt ist, wo die Solidarität, die sie zum Beginn der Hungerstreiks am lautesten bekundet und dann zuerst gebrochen haben – wir wissen jetzt bestimmt, daß von Anfang an bei Mehrer heimlich gegessen wurde –, unsere ganze Waffe gegen die Brutalität unserer Kerkermeister ist, hinter dem Rücken der Kameraden mit den Feinden konspiriert und uns durch ihre Intrigen in die scheußliche Lage versetzt haben, die jetzt an Waibel und mir manifestiert wird.

In dem Exposé an den Landtag, das ich RadbruchGustav Radbruch (1878-1949), Jurist und SPD-Politiker, Schulfreund Mühsams, Reichsjustizminister 1921/22 und 1923. gegenüber erwähnte, kramt Müller-Meiningen bekannte Ladenhüter aus, erzählt von dem Terror, der gegen die anständigen ElementeWiederkehrende Bezeichnung für die willfährigen Häftlinge, die zum Teil Zuträgerdienste leisteten, um Vergünstigungen zu erwirken. in den Festungen verübt wird (mir klingen die Ohren) und bringt Zitate aus den Briefen dieser »anständigen Elemente«, die von dem sittlichen Tiefstand zeugen, mit dem wir »Rabiaten« diese armen Denunzianten und Spitzel peinigen. Material für meinen Prozeß: Hat der Kerl Ehre, der die Verräter der eigenen Genossen, die Zuträger und Überläufer als anständige Elemente empfindet? Daß er sie für seine Zwecke braucht, nehme ich ihm nicht übel. Aber daß er öffentlich eine solche Gesinnung anständig nennt, das kennzeichnet sein eigenes sittliches Niveau. – Für die kommende Revolution sind Erfahrungen mit solchem Genossengesindel natürlich äußerst wertvoll. Soweit Nachrichten von den anderen Festungsanstalten hergelangen, zeigen sich überall die gleichen trüben Erscheinungen, die wir ja auch schon in Ebrach beobachtet haben. Aber vier von elf ist doch ein recht hoher Prozentsatz an Verrätern.

(...)

Ansbach, Dienstag, d. 14. Oktober 1919

Am meisten beschäftigt mich mein Eintritt in die KPD, der von meinen Freunden mit sehr gemischten Gefühlen aufgenommen wird und dem ich selber noch mit recht gemischten Empfindungen gegenüberstehe. Mein alter, treuer, bewährter Genosse Albert Reitze schmetterte mir auf die Erklärung, die die kommunistische Presse von mir brachte, ein »Herzliches Beileid!« zu, das ich äußerst bitter empfand. Ein Brief, den er mir hinterhersandte, war dann freundlicher. Aber er spricht von politischer Extravaganz und läßt schlimme Befürchtungen für mein Seelenheil durchblicken. Heut habe ich ausführlich geantwortet. Nein – ein Bonze will ich nicht werden, und wenn ich in die Partei gehe, so geschieht es, um den Parteigeist von innen heraus zu bekämpfen. Maßgebend für den Entschluß waren mir die häufigen Vorwürfe der besten Kameraden

(...), daß alles anders gekommen wäre im April, wenn ich damals schon Parteimitglied gewesen wäre. Ich glaube das selbst. Die Überraschung in der Nacht zum Fünften im Kriegsministerium, wo die drei uns allen damals noch ganz unbekannten Vertreter der Partei, Schumann, Dietrich und Leviné, plötzlich mit der Absage kamen, wäre uns erspart geblieben. Angenommen, Leviné hätte mich auf seinen Standpunkt gebracht, so hätte ich bestimmt verhindern können, daß die Ausrufung beschlossen worden wäre, da ich den Revolutionären Arbeiterrat bearbeitet hätte, oder meine Meinung wäre gegen die Levinés durchgedrungen, dann wäre die entsetzliche Spaltung des Proletariats im entscheidenden Augenblick nicht erfolgt, die Hinausschiebung bis zum 7. April wäre verhindert worden, Schneppenhorst und Konsorten wären nicht in die Lage gekommen zu intrigieren, und vielleicht wäre alles gut geworden. Sobald ich wieder draußen bin, will ich an der Stelle arbeiten können, wo ich meine Arbeit selbst für am wichtigsten halte, und es kann leicht sein, daß es die Arbeit an der Partei sein wird, sich über den Charakter als Partei zu erheben und das Aufnahmebecken für alle wirkliche Revolution zu werden. Ein Preisgeben meiner Ansichten, Absichten, Ziele und Ideale liegt demnach nicht in meinem Parteibeitritt. RingelmannErnst Ringelmann (geb. 1887), zu sechs Jahren Festungshaft verurteilt. ist natürlich glücklich darüber, ebenso Waibel, Reichert und die übrigen Festungskommunisten. Ob sie in der Partei viel Freude an mir erleben werden? – Vielleicht werde ich schneller wieder draußen sein als ich hineingekommen bin: Wenn nämlich die Doktrinäre, die jetzt schon gegen die Sünder von der syndikalistischen Seite die große Feme aussprechen, Oberwasser kriegen. Nein, zum Bibelgläubigen sollen sie mich nicht machen. Ich bleibe Anarchist und Bakunist. Was mich zum Bolschewisten macht, ist die Erkenntnis, daß wir um die proletarische Diktatur nicht herumkönnen. Levien ist ebenfalls viel eher Schüler von Bakunin als von Marx. Darüber will ich in meiner Broschüre über ›Die Einigung des revolutionären Proletariats‹ den Beweis führen. Damit werde ich wohl in den nächsten Tagen anfangen, nachdem ich gestern das Manuskript meines neuen Gedichtbandes ›Brennende Erde. Verse eines Kämpfers‹ an den Kurt-Wolff-Verlag abgesandt habe.›Brennende Erde‹, Gedichtsammlung 1912-1919, erschienen 1920. Es soll Zenzl gewidmet sein, deren Liebe über alle Begriffe schön ist. Ihr soll mein Leben in Treue gehören, wenn ich's fertigkriege, sogar in körperlicher. (...)

Ansbach, Dienstag, d. 21. Oktober 1919

(...)Ich werde zur Zeit durch ekelhafte Erscheinungen am eigenen Körper in der Erinnerung an die Vortrefflichkeit der freistaatlichen Einrichtungen Bayerns wachgehalten. Ein Schnupfen, daß mir dauernd die Nase trieft, ist auf die Gewöhnung ans Haus mit seiner unterschiedlichen Temperatur zurückzuführen. Seit ein paar Tagen leide ich aber an einem Ausschlag, der mit scheußlichem Jucken verbunden ist. Der Arzt hat Einreibungen verordnet und behandelt jetzt auf Krätze, obwohl die Symptome etwas anders sind. Entsetzt aber war ich vorhin, als ich statt des Juckens plötzlich auf dem Rücken ein schauderhaftes Kitzeln fühlte und schnell hintereinander zwei Läuse erjagte. Bei meiner ängstlichen Reinlichkeit. Verdammte Zuchtanstalten! Wenn ich alles vergessen sollte, was jetzt an Niedertracht gegen uns ausgesonnen wird – dieser Schweinerei will ich gedenken, dafür gibt's keine Verzeihung!

Ansbach, Mittwoch, d. 29. Oktober 1919

(...) Ich hätte gern noch etwas über die Spaltung der KPD geschrieben, die mich nun nach sechs Wochen Parteizugehörigkeit wieder zum freien Mann macht.Nach dem 2. Parteitag der KPD im Oktober 1919 wurden die ›Heidelberger Leitsätze‹ verkündet, die unter anderem eine Abkehr von der revolutionären Offensive und ein Bekenntnis zum Parlamentarismus beinhalteten. Der radikale Flügel der Partei wurde damit faktisch ausgeschlossen und sammelte sich ab April 1920 in der Kommunistischen Arbeiterpartei (KAPD) und der mit ihr verbundenen Gewerkschaft Allgemeine Arbeiterunion (AAU). Mühsam wahrte kritische Distanz auch zu diesen Formationen, obwohl in ihnen viele seiner Forderungen vertreten wurden, und näherte sich in der Folge anarchosyndikalistischen Positionen an. Damit hoffte er eine Revolutionsbewegung der »wirklichen Revolutionäre« unter Ausschluß der linken Parteien ins Leben zu rufen. Aber ich bin müde. Nur soviel: Ich habe das Gefühl, als hätte ich einen zu engen Hut abgenommen, der mir die Stirn eingeklemmt hatte. Es war eine Mordsdummheit gewesen.

Ansbach, Freitag, d. 14. November 1919

(...) Hier im Hause werden die Zustände täglich unmöglicher. Heut ist die Spannung zwischen den beiden Parteien zur Explosion gekommen. Es hat Prügel gesetzt. Riedinger – den wir noch glaubten als vorübergehend verirrt in Gnaden wieder in unsere Gemeinschaft aufnehmen zu können, hat wegen eines Briefes an Koberstein, in dem er und die drei anderen als Verräter und Häuserschleicher bezeichnet waren, heute früh Waibel im Waschraum überfallen und ihm die Nase blutig geschlagen. GrasslPaul Grassl (geb. 1894), als Mitarbeiter der Münchner Polizeidirektion zu einem Jahr und zehn Monaten Festungshaft verurteilt. verprügelte dann Riedinger. Mehrer, der bösartigste der angenehmen Gesellschaft, beschimpfte Grassl, drückte sich aber, als es ihm an den Kragen gehen sollte. Als die beiden Helden dann die Frechheit hatten, sich mittags zum gemeinsamen Essen einzufinden, nahm sich Grassl Mehrer noch nachträglich vor. Die Folge war, daß nicht Riedinger, sondern Grassl in Einzelhaft kam. Der Staatsanwalt ließ uns übrige sieben, die wir inzwischen beim Waibel auf der Bude saßen, einsperren, um jede Intervention unmöglich zu machen. Wir hatten dann Einzelauseinandersetzungen mit ihm, ich fast eine Stunde lang, und ich habe ihm wieder allerlei Liebenswürdigkeiten gesagt und ihm die Parteilichkeit gegen die Genossen, die Charakter zeigen, zugunsten der anständigen Elemente geradeheraus vorgehalten. Unsere Beschwerde an Justizministerium wird natürlich unberücksichtigt bleiben. Neulich hatte Mehrer von seiner Frau Besuch und empfing sie in seiner Zelle, während Olschewski seine beiden Söhne in Gegenwart eines Aufsehers im Besuchsraum empfangen mußte. Als O. es ihm vorhielt, erhielt er zur Antwort: »Wie man sich benimmt!« Also ganz offene Belohnung für Spitzeldienste. Aber es ist scheußlich, daß man die Revolutionsspekulanten, die uns draußen schon das Leben verbittert haben durch ihre Lumperei, im Kerker auch noch um sich dulden muß. Vielleicht schon in der nächsten Woche will Zenzl zu mir kommen. So erbittert ich sein werde, wenn ich in den kalten Raum zu ihr herunter muß, wo kein freies Wort zwischen uns gewechselt werden kann – ich werde in dem brutalen Eingriff in unsere Ehe die Anerkennung sehen, daß ich ihnen auch noch in Fesseln ein verhaßter Feind bin. Einverstanden !

Ansbach, Donnerstag, d. 20. November 1919

(...) Starken Eindruck in meiner Rede machte es augenscheinlich, als ich mitten in erregten Vorwürfen gegen die gehässige Amtsführung Vollmanns auf ihn zeigte und ausrief: » – und morgen wird er wieder meine Briefe lesen und Quälereien gegen mich ausdenken.« Ich hatte bestimmt auf mindestens sechs Monate gerechnet. Das milde Urteil wird allgemein als schwere Niederlage der drei Staatsanwälte und Müller-Meiningens empfunden. Die Zeitungen, soweit sie bis jetzt Berichte gebracht haben, verschleiern natürlich den Eindruck des während der Verhandlung entstandenen Bildes ganz. Morgen werde ich wohl wieder etliche Beschimpfungen gegen meine Person und meinen Charakter lesen.

(...)

Ansbach, Freitag, d. 28. November 1919

Häusliches: Zwischen dem ersten Stock, wo die Gefängnissträflinge, und dem zweiten, wo wir unsere Behausung haben, wurde gestern die Treppe durch eine neue, schwere Käfigtür vergittert. Kein Zuchthaus der Welt kann seine Insassen besser verwahrt halten, als es jetzt mit uns geschieht. Müßten wir auf die Freiheit warten, die auf dem Wege des Ausbruchs erfolgt, dann könnten wir weiße Haare kriegen und immer noch in diesem elenden Verlies sitzen. Meine kleine Zelle bekommt freilich plötzlich ein höchst vornehmes Aussehen. Toni Waibel und Renner haben gestern und heute gearbeitet, um Tapeten über die Bettecke zu kleistern, und darauf sind die Zeichnungen von Grete WeisgerberGrete Weisgerber (1878-1968), Malerin und Graphikerin, in erster Ehe verheiratet mit Albert Weisgerber. geheftet. Morgen werden die anderen Wände mit rotem Papier dekoriert und mit Bildern behängt: Landauer, Tolstoi, Bakunin, Kropotkin, mein toter Freund Schultze-Morax und mein sehr lebendiger Freund Toni selbst, wie er in Würzburg am 7. April von einem Auto herunter die baierischeDie Schreibweise »Baiern« wurde in der 1. Räterepublik amtlich eingeführt und von Mühsam bis 1921 beibehalten. Räterepublik proklamiert und ferner Zenzl werden in Photographien um mich herum gruppiert. Wahrscheinlich kriegen wir in diesen Tagen noch eine Reihe Photographien von uns selbst und zwar als Gruppe und in Einzelbildern. Das Nexö-GeldMartin Andersen Nexö (1869-1954), linker dänischer Schriftsteller, befreundet mit Erich und Zenzl Mühsam; unterstützte sie mit Geldspenden. ist für diesen Zweck ausgeworfen worden.

(...)

Ansbach, Donnerstag, d. 11. Dezember 1919

(...)Ich wollte eigentlich noch über die Diskussion des Abends heute referieren, die sich um die wirtschaftlichen Maßnahmen bzw. um die Auslandspolitik drehte, die wir nach Ergreifung der Macht zu befolgen haben würden. Ich will nur die Meinung niederlegen, die ich persönlich äußerte. Ich fand, daß wir für den Fall, daß unsere soziale Revolution kommen sollte, ehe die Ententeländer und ehe Norddeutschland soweit sind, zunächst für die Sättigung der Menschen sorgen müßten. Dazu brauchen wir Kredit und kursfähiges Geld. Da wir die Versailler Bedingungen unbedingt erfüllen müßten, bliebe nur ein Weg, um die Einfuhr der nötigen Existenzmittel zu erreichen: Verpfändung der Naturkräfte und der Verkehrsmittel. Um aber die Beschlagnahme der baierischen Wälder, Eisenbahnen, Elektrizitätsanlagen etc. durch kapitalistische Konsortien zu verhüten, sollten wir die Verpfändung auf Umwegen vornehmen, nämlich uns unter die Vormundschaft Rußlands begeben, durch Vermittlung der Sowjetrepublik Kredite aufnehmen und die Pfänder als Garantie ihr in Verwaltung geben. – Diese Andeutung wird zu meiner Erinnerung genügen. – Eine große Genugtuung erlebte ich durch einen Brief, mit dem sich SinowjewGrigori Sinowjew (1883-1936), 1. Vorsitzender des Exekutivkomitees der Kommunistischen (auch: Dritten) Internationale (Komintern). Sinowjew hoffte, die von der KPD ausgeschlossenen Linksradikalen einzubinden und so die Spaltung der Linken in »rechte und linke Opportunisten« zugunsten einer leninistischen »Partei neuen Typus« zu überwinden. Der Konflikt um die »Offensivpolitik« (direkte Anbahnung der Revolution) hatte die KPD-Führung seit 1919 gespalten. Der rechte Flügel (bis 1921 Levi), der für den Aufbau einer Wahlpartei plädierte, setzte sich gegen den linken durch, versagte aber in den nachrevolutionären Unruhen bis 1923. im offiziellen Auftrag des Exekutionskomitees der kommunistischen Internationale an das Proletariat wendet, der eine Ohrfeige für die KPD-Zentrale bedeutet. Da wird die Einigung mit Syndikalisten und Anarchisten verlangt und das Bekenntnis zum Parlamentarismus als untergeordnete Frage aus den prinzipiellen Streitereien ausgeschaltet. Dann sollten sich die revolutionären Proletarier in einer toleranten großen kommunistischen Partei einigen. Fast ganz mein Einigungsprogramm. Nur für Deutschland keine Partei, sondern eine Föderation!


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