Hans Morgenthaler
Matahari
Hans Morgenthaler

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Gewaltmenschen.

Als die Traglasten verteilt waren, brachen wir auf. Hinter dem Tempel von Kanburi auf sandig-staubigem Weglein verschwanden die Kuli einer nach dem andern im Wald.

Hollukki marschierte an der Spitze neben dem Führer, ich selber schlenderte hinter der Kolonne drein, zusammen mit Aris. Mir war unbehaglich an diesem Morgen. Ich hatte Aris vor den Kopf gestossen. So oft sein Gesicht mich ansah, schien es ohne Worte zu fragen: «Tuan, wie kannst du nur – – – – – – – – ?»

Wie manchmal hatte er mir nicht schon erklärt: «Tuan, wenn wir Kuli brauchen, dann wollen wir sie schon selber auswählen; dann bezahlen wir sie und können befehlen!»

Und jetzt heute, da wir doch ein Unternehmen vor uns hatten, das in der blauen Ferne der siamesisch-birmesischen Grenzberge unbestimmt und geheimnisvoll auf uns wartete – – – da war dieser Tuan drauf eingegangen von einem Adeligen aus der Stadt, der doch gewiss nichts verstand von Wald und Biwak und Reise, sich Leute geben zu lassen und hatte obendrein diesem die Bezahlung der Mannschaft nach Rückkehr überlassen. Das war zu stark!

«Tuan, wie sollen wir da noch Gewalt über die Leute haben – – – ?» Trotzdem ich die Entrüstung begriff, sagte ich nur kurz: «Aris, glaubst du wirklich, dein Herr tue jemals etwas, das nicht das 206 Bestmögliche ist?» Und für mich dachte ich: «Es gibt wahrscheinlich kein Land auf der ganzen Erde, wo man es jedem recht machen kann.»

War nicht auch ich nur ein Untergebener und bekam Befehle, manchmal gescheite, manchmal solche, die dumm waren. Diesmal musste ich artig tun mit diesem siamesischen Grafen aus Bangkok, weil er meiner Firma einen ganzen Berg voll Erz verkaufen wollte. Da war ein bischen Zutrauen gewiss am Platz, wenn schon ich Dutzende von Male auf irgendeines Unbekannten Wort hin zwecklos in den Wald hinausgelaufen war und eigentlich immer Grund hatte, Enttäuschungen zu befürchten.

Im letzten Moment vor der Abreise hatte Aris herausgefunden, dass der vornehme Mann selber keine Ahnung habe von der genauen Lage des wertvollen «Elefantenberges», dass er mittellos sei und ohne das Geld meiner Firma nie eine Expedition auszurüsten im Stande wäre, um den Erzberg vorschriftsgemäss, und wie des Königs Gesetz es befiehlt, in Besitz zu nehmen und einen Plan davon zu machen. Auch hatte Aris mit seiner Spürnase längst Leute entdeckt, die uns über den «Elefantenberg» besser Aufschluss zu geben vermochten als der Stadtmensch, der nie vorher dort war und uns etwas zum Kauf anbot, das er gar nicht besass und kaum vom Hörensagen kannte.

Dschungelleute, wie alle Menschen mit hartem Beruf, sind stolz auf ihr Handwerk. Ganz selbstverständlich sah Aris auf diesen Städter, der kaum gerade stehen konnte 207 (vom Wandern und selber mitreisen ganz zu schweigen), sehr geringschätzig hinab.

«Nein, Tuan, so wollen wir nicht. Was hat das für einen Wert. Dieses Minenland können wir selber entdecken, ohne diesem faden Stadtnarren erst Komplimente zu machen und ihm schliesslich noch ein unverdientes Trinkgeld zu geben.»

Der vornehme Mann, der von einem Adeligen nicht einmal die Form hatte – er war eine Art altes, giftiges Heinzelmännchen – war mir von früher her wenig gewogen, da ich über ein anderes seiner Minenländer für ihn unvorteilhaft rapportiert hatte. Und jetzt war zu erwarten, dass er sein Möglichstes tun würde, um zu verhindern, dass wir den «Elefantenberg» ihm vor der Nase wegschnappten. Um so mehr als er wusste, dass Aris und ich im Wald keine Kinder seien.

Darum, um ihn nicht zu argwöhnisch zu machen, hatte ich mich mit seinen Abmachungen betreffend die Kuli möglichst rasch einverstanden erklärt und nur mir verbeten, dass sein persönlicher Diener mitkomme, ein Kerl, der mir schon früher einmal im Wald mehr geschadet als genützt hatte. «Er solle mich ziehen lassen, ich würde die noch sehr unbestimmte Sache untersuchen und ihm dann schon seinen Anteil geben», sagte ich zu dem Alten.

Er erklärte sich einverstanden: «Gut Herr, Ong, mein Diener kommt nicht mit» – – –

An all dieses dachte ich während des Marschierens. Es war ein frischer Novembermorgen, mit leichtem 208 Nordostwind, etwa wie ein Hochsommertag zu Hause, und ich begann meine Wanderung, die ein paar Tage weit gehen sollte, stärker und fröhlicher als ich es sonst vermochte im heissen Siam. Erst begegneten wir mancherlei Leute, die nach Kanburi zu Markt gingen, kamen noch an vereinzelten Hütten vorbei, dann wurde es einsamer, der Weg verlor sich im Staub, und ich hing meinen eigenen Gedanken nach, die nie bunter und lebhafter durch meine Seele ziehen als an einem Wandermorgen, wenn ich noch frisch bin, aber doch schon die ersten Spuren von Müdigkeit sich bemerkbar machen wollen.

Wir waren noch keine drei Stunden weit gegangen, als Aris auf einmal hinter mir aufzubrummen begann, und als ich zurückschaute, kam richtig schon unter seiner Traglast keuchend des alten Grafen Diener.

Ich liess ihn unbeachtet, hoffend, dass er bald irgendwohin abschwenken werde. Aber einen Verdacht wurde ich doch nicht los, nämlich, dass er von seinem Herrn geschickt sei, mit unserer Kolonne laufen werde und ausspionieren sollte, was ich Sachverständiger am Berg oben täte, und die Hauptidee: Gewiss wollte der Graf einen seiner eigenen Getreuen schicken, damit der dann am Ort einen Plan aufnähme; nur einen rohen, nach dem ungefähren Stand der umliegenden Berge und Täler und nach der aufgehenden Sonne orientierten. Und diesen Plan würde der Spion dann irgendwie seinem Herrn in Gewaltmärschen zustellen, bevor ich Weisser zurück wäre, und so könnte dann der Alte das wertvolle Land, das noch freies Kronland war, mit einer Konzession 209 belegen, und mich würden unterdessen meine Kuli irgendwo im Wald an der Nase herumführen oder gar hocken lassen, so dass ich zu spät käme – –.

Als drum dieser Mann abends im gleichen Tempel sich zum Rasten anschickte wie wir und der Wortbruch des Alten offenbar wurde und ich zu merken begann, wo hinaus die Angelegenheit laufen wolle, da kam ich in Aufruhr und liess dem Kerl deutlich sagen, dass er sich zum Teufel scheren solle, oder ich würde seinem Herrn mit keinem Wort raten, was für Aussichten der Elefantenberg biete.

Aber Aris kam mit der drastischen Antwort zurück: «Der Kerl wird doch mitkommen – – und wenn wir ihn totschlagen – –.»

Er war Halbrasse China-Siam, von geschmeidigem Körperbau und hatte ein chinesisches «Rede-Herr-dein-Knecht-höret»-Gesicht. Aber das war nicht echt. Wenn ich ihm in die grünen Schlitzaugen sah, da er etwas ins Blaue hinein behauptet hatte, kniffen die schmalen doch jedesmal aus. Und so finster und dunkel wie seine Haut war, klang sein Name: Tschong Ong.

Auch über die Leute, die ich als Träger mithatte, liess sich allerlei sagen. Aber nicht viel Gutes. Während ich es früher mit lieben, dienstfertigen Braunen, die einer dem andern in ihrer Bereitwilligkeit glichen, zu tun hatte, war hier eigentlich jeder einzelne ein ausgeprägter, scharfgeformter Misscharakter. Alles lauter wilde, rohe Gandjaraucher, Leute mit Leidenschaften, Menschen, die von diesem opiumartigen oder schlimmern Laster besessen 210 waren, selbstherrliche Kerls, die unter der Herrschaft des Gandjakrautes sich angewöhnt hatten, frech selber nach ihrem Recht zu sehen, Ichmenschen, die rauchen wollten um jeden Preis und längst den egoistischen Zug des Rauchräuschlings ihrem ganzen Leben und all ihrem Tun aufgeprägt trugen.

Der Führer, der uns den Weg weisen sollte, war der schlimmste. Seine grosse Pfeife aus Bambus schwang er Tag und Nacht in der Hand. Er war von untersetzter Gestalt, seine Stimme klang heiser, und er redete auf seine eigene Art mit mir, stellte sich dicht vor mich hin und glotzte mit seinen tierhaften, wie im Fieber irren Augen an mir vorbei. Der alte, papierene Tropenhelm, den er aufgestülpt hatte, gab ihm eine Art Nimbus und Herrschaft über die übrigen. Wenn er Halt machte, um umständlich die grosse Wasserpfeife zu rauchen, was während des Marschierens nicht möglich war, konnte weder Aris noch ich mich durchsetzen, sondern wir mussten zusehen und dulden, dass es schon zu Beginn mit der Ordnung in der Gesellschaft schief ging.

Ich war da in einem merkwürdigen Gang begriffen. Märchenhaft fern mochte mein Ziel liegen. Es war mir nur bekannt, dass vor Jahren eine Schar Weisser eine Expedition in jene Gegend ausgeführt hatte. Sie reisten wohlbewaffnet und reichlich mit allem Nötigsten versehen den Fluss hinauf bei günstigem Wasserstand.

Und ich war nun so dumm oder übermütig oder bescheiden, das Gleiche zu Fuss zu versuchen, mit sieben 211 mir völlig unbekannten Leuten, fast ohne Proviant, harmlos und so wie man auf einen Spaziergang geht.

Tag um Tag legten wir etwa 15 Meilen zurück, morgens mit der Sonne aufbrechend, durch lichte Bambus- und Dornenwälder, wo der Weg sich verlor, und es war mir ein Rätsel, wie die Leute immer wieder sagen konnten: wir sind richtig. Manchmal war der Weg – – für mich unbemerkbar, einzig dadurch gekennzeichnet, dass an irgendeinem Ast vor einem halben Jahr ein Zweiglein abgeschnitten worden war, wie der Führer sagte.

Unaufhaltsam im Kulilaufschritt ging es vom letzten Dorf weiter in die Buschwaldeinöde hinein, wo keine Hütten mehr waren, keine Menschen wohnten und wo der Einzelwanderer bald zugrunde ginge.

Wo nur grenzenlos verlassene Hügel, trockene Kalkhöcker zur Seite des Weges standen, wo der Wald jetzt kahl und tot war und grosse Flächen zähen, schon arg vergilbten Elefantengrases kümmerlich von einer Regenzeit zur andern sich durchzuschwindeln bemühten.

Viel herrlicher als es uns Kulturmenschen meist zum Bewusstsein kommt, ist das Gefühl der Kraft. Ich habe diese Entdeckung im Dschungel immer wieder neu gemacht. Diesmal, auf dieser Fahrt, fühlte ich mich stark genug, jedem Vernunftsgedanken hohnzulachen und das seltsame Unternehmen bis ans Ende zu führen, käme da, was da wolle. Das Fieber war aus meinen Knochen noch einmal gewichen, der winterliche Monsun hatte die Hitze gebrochen, und ich war ganz von jener alten, wundervollen Unternehmungslust und Tatkraft erfüllt, 212 wie ich sie früher in den Bergen besass, aber viel zu wenig hochschätzte und pflegte.

Tschong Ong lief immer noch hinter uns drein (die zwei ersten Tage hatte ich umsonst gehofft, er würde irgendwohin abzweigend uns verlassen). Während des Marsches hielt er sich zwar an den Schluss, blieb für Stunden unsichtbar, aber sobald wir rasteten, rückte er nach. Er war von einer unglücklichen, täppischen Dreistigkeit, und statt wenigstens sich nicht noch unbeliebter zu machen, als unbedingt nötig war, redete er wichtig, stand meinen Leuten im Weg und tat so, als gehörte er zu meiner Kolonne.

Es war um die Mitte des dritten Marschtages, wir waren durch lockern Bambuswald und über weite Flächen gelben Grases, wo höckrige Kühe und halbwilde Büffel weideten, an einer Schlucht angelangt, in der das spärliche Wasser zu einem kleinen Becken gestaut war. Da geschah es, dass, wahrscheinlich zufällig und ungewollt, der unglückselige Geselle sein Reisbündel mir knapp vor die Füsse stellte und mir so nahe trat, als wir Halt machten, dass ich ganz unwillkürlich und ohne dass die weiseste Vernunft da irgendetwas hätte zu verhindern vermögen, sein Plunderbündel aufnahm, sobald er seine blöde Stimme erhob, und es in weitem Bogen fortschmiss. Das ging unheimlich rasch; alle verhängnisvollen Taten, die man hintendrein fast bereuen möchte, geschehen rasch.

Ehe das Bündel recht aus meiner Hand war, merkte ich, dass ich zu weit gegangen sei. Verflucht schlank und etwas erhöht stand Ong vor mir, das Messer in 213 der Faust. Ein Raubtier in Chinesenhosen. Und es lag eine seltsame Schwüle über uns zweien und den übrigen, die aufsahen und wortlos unsern Zweikampf, der zwar nur in Gebärden und stummer Augensprache bestand, verfolgten. Dass ich sein Eigentum weggeworfen hatte, das war zu viel für diesen Wilden, das tat ihm mehr weh als böse Worte. Jetzt war etwas zerbrochen in ihm.

Aber Tschong Ong, der todtreue Halbsklave eines echt asiatischen Despoten, der am Befehl seines Herrn hing wie ein Hund, verzog sich schliesslich doch wortlos, wenn auch knurrend, vor dem Nimbus des Weissen. Umkehren jedoch wollte er auch jetzt nicht. Jedes selbständige Urteil fehlte ihm; er erkannte nicht, dass von jetzt an sein Mitgehen seinem Alten mehr schaden würde als nützen, da ich Weisser, nachdem der Hass doch einmal zu offenem Ausbruch gekommen war, jetzt unter keinen Umständen mehr seinem Herrn würde helfen wollen.

Umgekehrt achtete ich viel zu wenig auf den Vorfall und ahnte nicht, einen wie tief verletzten Feind ich jetzt hinter mir hatte, als wir weiter landeinwärts drangen. Der Wald wurde immer knorriger und unwirtlicher, und das Weglein enger, und ich empfand die Einsamkeit und die menschenleere Gegend um mich wie einen tiefen Schmerz. 214

*

Abends schliefen wir in der Schlucht von Sadong unter freiem Himmel. Mitten im Bachbett, auf dem Kies, spreitete Aris mein Segeltuch aus, das Matrazlein drüber; rechts davon richtete er auf einem Bündel Farrenkraut sein Lager her und zu meiner Linken eines für Hollukki. Die Kuli schleppten Stösse von Holz herbei, klapperten mit ihren Kochtöpfen herum und schickten sich an, für eine kalte Nacht gerüstet zu sein.

Das Bachbett war steilufrig, tiefeingefressen, und die Bäume standen beidseitig hoch und schwer. Wieder begann das tausendfältige Singen und Jauchzen ringsum im Wald, und von den Bergen herab strich ein kühler Wind. Ich war müde und befand mich in jener glückseligen Feierabendstimmung, wie sie nach langem Marsch und rauhem Tagwerk in solch einsamen Landstrichen über den Wanderer kommt. Je einfacher die Umwelt, umso näher das Glück!

Als nach dem Abendessen der Mond über die Kronen der Bäume stieg und silbrige Nebelchen allen Waldhängen entlang segelten, fragte Aris, seine Pfeife anzündend: «Tuan, wie viele Steine wohl heute?» (Er meinte, wie viele Kilometersteine – die ihm von der Eisenbahn bekannt waren – sind wir gewandert.)

Als ich sagte: «Wohl fast dreissig!» wurde er stolz. Aris war so, war Idealist und verstand, sich seiner Kraft zu freuen. –

Tschong Ong hatte ich ganz vergessen. Abseits hatte 215 er seinen eigenen Holzstoss angezündet, er schien sich besser aufführen zu wollen, und mir kam der kleinliche, steckköpfige Mann so unbedeutend vor und so altertümlich-primitiv, dass ich nichts Böses von ihm befürchtete. Wenn einer so stumpfsinnig am Befehl seines Herrn hing –, wie sollte ein solcher sich zu einer rassigen, selbständigen Tat aufzuraffen vermögen. Wohl fuchtelte er gelegentlich wuchtiger als nötig mit seinem langen Messer herum und redete manchmal laut mit sich selber – aber – das tun schliesslich viele, die viel allein sind.

Manchmal sassen ein paar der Träger an seinem Feuer, selbstherrlich ihre Pfeifen rauchend; später war er allein. Ununterbrochen rieselte der Bach über die blanken Kiesel, Aris schlief vielleicht schon, Hollukki hatte all die Kochtöpfe und Pfännchen und andern Kostbarkeiten längst in die Körbe zurückgebeigt, die Mehrzahl der Leute ruhte schon, als auch ich mich niederlegte, als auch mich das plätschernde Bächlein ins Reich der Träume hinübersang. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Als wir am nächsten Morgen in wuchtigen Stössen durch den goldenen Wald weiterzogen, kam Aris geheimnisvoll auf mich zu, und sein Gesicht war starr, und seine Augen waren gelb, als er hastig hervorstiess: «Tuan, es ist gestern am Feuer hart gesprochen worden gegen dich! Der Kuki weiss es. Ein Kuli hat ihm in der Nacht alles verraten. Der Herr werde den Elefantenberg nicht lebend erreichen!»

216 Es liegt in der Natur der malayischen Sprache, die Einzahl und Mehrzahl nicht immer genau unterscheidet, dass ich nicht sofort verstand, wie gross die Verschwörung sei.

Einen einzelnen Mann würde ich niemals fürchten, aber ich konnte da den Verdacht nicht los werden, dass vielleicht alle meine Träger samt dem Führer, dass vielleicht diese ganze Bande mit ihren Opiumaugen beabsichtigte – – – –

– – – – kurz, ich erwartete nicht gerade nette Enthüllungen.

Der Führer, eine Art Herkules und Muskelmensch in Braun sang wüste heisere Kriegs- und Jagdlieder, in denen immer wieder das dunkle Wörtlein tai = tot vorkam, und manchmal belustigte es ihn, mir ins Gesicht zu kreischen, dass ich ungewollt meinte, er fluche, oder mit mir schön zu tun, so artig und verdächtig liebenswürdig, als wollte er – ein echter, vorsichtiger Buddhist – eine bald folgende Schlechtigkeit mir gegenüber schon vorher durch Gutes tilgen.

Aber Aris erklärte immer wieder, wenn ich fragte, was sagen sie jetzt, höre hin, was reden jetzt jene zwei miteinander, warum nimmt jetzt jener starke Kerl das Messer an sich – immer wieder meldete Aris:

«Nichts, Tuan, ich glaube, sicher ist nur Ong wütend, und alle andern sind uns sicher vielleicht gut – –»

Mir aber war jetzt das freundlichste Wort des einen und das unmenschliche Grunzen des andern gleich unheimlich und Feindlichkeit verratend, und als dann die 217 ganze Horde, da wir den Weg endgültig verloren hatten, ratlos und tatlos um mich stand, da dachte ich: Hu – wie lustig müsste das unter Waldmenschen sein, diesen Weissen an einen Baum zu binden und dem Tiger zurückzulassen.

Jetzt redeten alle Bäume zu mir, und in den harmlosesten Dingen glaubte ich Zeichen kommenden Unheiles zu ahnen, und das Dutzend Schlitzaugen, diese Schar fremder Asiatengesichter, die mich da so kalt umgaben, kamen mir auf einmal vor wie mein Schicksal. Verrat sagte jedes Blatt, das fiel, und jede Wolke, die für einen Augenblick das unstete Dämmerlicht des Waldes noch ungewisser machte.

Zwar jener Kraftkerl, der immer noch so ergeben zu mir sprach, der würde gewiss auf meiner Seite stehen – –

– – – – und doch, wie einfach und leicht wäre es für die Bande, einen Vorwand zu Tätlichkeiten zu finden, wie schnell erwachte manchmal Aris' Zorn – – ein paar Messerhiebe, und im Schweigen des endlosen Waldes würde mein letztes Geheimnis für immer gut aufbewahrt bleiben.

Und auf einmal musste ich an mein Buch im gelben Köfferchen denken. Jetzt würden seine Seiten dann irgendwo im Bambusgestrüpp vermodern, der Wind würde Blatt um Blatt wenden und alle meine Entbehrungen und Anstrengungen wären umsonst gewesen. Und am meisten plagte mich der Gedanke, dass ich jetzt meinen Lieben zu Hause nicht würde zeigen können, dass ich 218 ein Anderer geworden sei, ein Grösserer, wie ich in der rauhen Welt draussen, wie ich in der Einsamkeit der Wälder zu einer neuen Lebensauffassung gekommen, wie ich gewachsen sei.

Ihnen, die mich oft klein und verzagend gesehen hatten, wollte ich doch so gern einmal zeigen, wie ich jetzt zu grosser Ruhe und Kraft gelangt sei, wie ich jetzt den starken Glauben an die Welt in mir trage, das ruhige Wissen um eine Erdengegend, wo noch nicht die Kompliziertheit der Gesetze das Leben der Menschen vergiften, wo ich noch die Möglichkeit ahnte, glücklich zu werden und gefasst auf mein eigenes Leben hinabzuschauen. Wo ich fatalistisch alles, alles mit in Kauf nehmen lernte, ohne an Arbeitskraft einzubüssen, ohne zusammenzubrechen, durch Not und Tod heilig bestrebt, Höchstwerte zu schaffen, meine eigenen Wege gehend und unbekümmert darum, welchen Preis ich dafür bezahlen müsste.

Von all diesen wichtigen Erlebnissen und Erfolgen würde ich nie mehr Kunde geben dürfen, es würde mir immer ein bischen der Schein des Geflohenen, des vor dem Leben und sich selber in die Welt hinausgelaufenen anhaften. «Verreck am Sacramentostrom!» wie es so herb im schweizerischen Auswandererlied heisst.

Alle diese Gedanken gaben mir eine grosse innere Festigkeit und eine zähe Gier, weiterzuleben, und so abgemessen bestimmt wie meine Schritte, wurden jetzt meine kurzen Befehle, und ich beobachtete mich da, als wäre ich ein anderer, wie vor meinem eigenen Menschen 219 stehend und hatte Freude an ihm, wie er sicher und tapfer unter all den Kanaillen stand, einen derben Entschluss um die Lippen, und mit ruhigen Augen, die von der geistigen Überlegenheit des Weissen sprachen.

Ebenso wenig einladend musste den Leuten Aris' Gesicht erscheinen. Er liess das Weisse oder eigentlich Gelbe seiner auch-Schlitzaugen spielen wie ein verratener Malayen-Pirat aus dem fünfzehnten Jahrhundert, als er entschlossen und schön zu mir sagte: «Bai'-lah, kita pun darah merah! Kalu Tuan misti mati, kita mati dhuluh! – – Wohlan, auch unser Blut ist rot! Tuan, wenn du sterben musst – wir sterben vorher!»

Und es war ein feiner Pakt, den wir da miteinander schlossen. Ich versprach ihm, saubere Rache zu nehmen, wenn ihm das geringste Härchen gekrümmt würde. Ich glaube, die Kuli mussten unsern Bund ahnen und ich denke nicht, dass einer unter ihnen den Mut gefunden hätte, auch nur zu vermuten, ich besässe nicht doch irgendwo im Versteckten eine Schusswaffe oder sonst etwas Furchtbares zu meiner Verteidigung.

Was aber nicht der Fall war. Mit Bambusspazierstöcken standen Aris, Hollukki und ich den ellenlange Messer tragenden Leuten gegenüber.

Etwas vom seltsamsten, das mir der Herrgott in meine Wiege zu legen beliebte, ist ein gutes Mass einer Art Leichtsinn, oder vielleicht besser gesagt, guten Glaubens, Hoffnungsglaubens an die Zukunft: «wir werden schon sehen – – !» Wie wäre ohne ihn das Leben zu ertragen! Oder vielleicht war es nur Faulheit, die mich 220 scheu gemacht hatte durch all die Gesetzesvorschriften durchzugehen, die sogar in Siam hinten nötig sind bis zur Erlaubnis, «ein Gewehr mit sich führen zu dürfen».

Tatsächlich habe ich zwei Jahre lang auf allen meinen Reisen nie eine Waffe getragen.

Mein Leben lag jetzt in Aris' Hand. Leicht hätte er seines gegen meines ausspielen können. Er wusste, dass ich wehrlos sei. Wenn er zu mir hielt, und ich müsste sterben, so würde auch er sterben müssen. Sieben gegen drei. Ai, wie ich da sein Gesicht anders anzusehen begann, wie auch es, meines besten und einzigen Freundes Gesicht mir auf einmal fragwürdig erschien. Sind nicht gerade die besten Menschen und solche, die äusserlich ohne Spuren des Schlimmen sind, im Grunde oft Verbrechernaturen!

Hatte ich nicht auch ihn etwa grob anfahren und roh behandeln müssen! Würde er mir immer verziehen haben? War er da nicht selber in einer Aug' um Auge, Zahn um Zahn – – – Handlung erheischenden Lage? Oder würde er mir nicht vergessen haben, dass ich seinen höchsten Traum nach einem Heim und einer Frau in Erfüllung brachte?

Hollukki war weniger beteiligt bei dieser Angelegenheit. Er war klein und nebensächlich und verlor den Humor nicht. (Was sein ungeheuerlicher Bambusprügel bewies). Vielleicht war seine Verehrung und Auffassung vom Wesen jedes Weissen grenzenlos hoch, vielleicht nahm es ihn wunder, wie das würde, wenn sie den Tuan totschlügen. Wahrscheinlich war das der Ausdruck der 221 chinesischen «Herzlosigkeit», der Konzentration jeglichen Interesses ausschliesslich nur auf Leute der eigenen Familie und all deren viele Ahnen. Immerhin schien er überzeugt, dass auch für ihn etwas günstiges aus dem Köfferchen fallen würde, sobald der Tuan tot wäre.

Wenn Ong mit dem Messer herumfuchtelte, tröstete er mich: «Tida apa! Das tut nichts! Ong ist vielleicht nicht tapfer genug bis zum Tod!»

Da es ein zweifelhaftes Unternehmen ist, Chinesen-Seelenstimmungen untersuchen zu wollen, hielt ich mich mehr an Aris, der durch sein zorniges Gesicht seine Stellung zu meinen Gunsten kundgetan und gewiss nicht mehr viel Sympathie bei den andern hatte.

Gut, dass ich bei Kraft war und von Anfang an streng mit den Leuten verfahren war. Ein Tuan sollte seinen Kuli immer ein wenig unheimlich vorkommen, wie ein Herrgott, der zugleich Teufel ist. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Glücklicherweise stellte sich dann als einigermassen wahrscheinlich heraus, dass nur der eine – Tschong Ong – mir rechtschaffen feindlich sei. Die andern schienen mehr nur in Erwartung eines frisch-fröhlichen Aktes und in halber Teilnahmslosigkeit dabei zu sein. Aber sobald es zum Blutvergiessen käme, würden sie dann rasch Stellung nehmen. Das war doch auch sicher. 222

*

Ich spüre noch heute die heisse Sonne im Rücken, noch sehe ich, wie wir, die letzten Spuren des Weges verloren, am Ufer standen, ringsum hohe Berge mit ewigen, undurchdringlichen Wäldern bedeckt, unzugänglich und feindlich. Ich sehe noch diesen Fluss vor mir, bald reissend und über zackige Felsen polternd, bald zu langgestreckten Seebecken gestaut, die tiefgrün – unergründlich schienen. Es war nachmittags drei Uhr geworden, das Gefühl stieg in mir immer dringlicher auf, dass der Abend nicht mehr fern sei, dass bald die Nacht da sein werde, und das letzte Dorf mit Schutz und Ordnung schon mehr als hundert Kilometer hinter mir liege.

Die Träger stritten hin und her mit dem Führer und manchmal glaubte dieser, seinen Weg gefunden zu haben, und immer wieder versuchten die Leute, mit hastigen Schritten aus der einsamen Gegend einen Ausweg zu finden.

Die Reisbündel waren klein geworden. Das Fleisch war aufgegessen und ein Umkehren, mit dem Gedanken an das ich zu liebäugeln begann, war unmöglich. Da 223 wäre auf mehrere Tagereisen kein Reis für die Kuli aufzutreiben gewesen und die rohe Herde von Menschen wäre wahnsinnig wild geworden, und hätte – –

Essen ist hier in der Natur draussen zu wichtig und eine Art Gottesdienst, von dem es keine Beurlaubung gibt. Es kommt nicht vor, dass ein Kuli aus einem Nützlichkeits-Grund das Essen hinausschiebt, am wenigsten dann, wenn es ihm gratis über den Lohn hinaus versprochen wurde. Und dies zu tun, war ich töricht genug gewesen.

Es schien mir, als hörte ich die gereizt knurrenden Magen um mich, die kein wohlwollendes Verständnis für die Tatsache übrig hatten, dass auch ich bereits die letzten Fetzen meines verflatternden Idealismus' zusammenraffend, zum (kuli)narischen, einem Europäermagen wenig holden Menu «Farnkraut mit Bambusrattenbraten» übergegangen sei.

Da lagen Komplikationen und Schwierigkeiten vor mir, die an das Fragezeichenhafte des Begriffes «Schicksal» mahnten.

Sah vielleicht deshalb in ihrer Unerspriesslichkeit die Welt umso goldener aus? Das Licht der Sonne, die in den Tropen meist zu steil und hoch steht, um in die Augen zu fallen, leuchtete jetzt an diesem Novembernachmittag gerad und stark in mein Gesicht. Eine Felswand blendete aus der Geschlossenheit zusammenhängender Wälder heraus, fern und doch nahe in ihrer Helligkeit und wie ein marmorenes Schloss.

Und dann auf einmal, als wir wieder ratlos am 224 Steilufer standen über einem der tiefen, seeartigen Becken des Flusses, rief uns übers Wasser herüber ganz unerwartet ein Waldmensch an und konnte uns den Weg weisen.

Das Dorf, wohin wir wollten, sei zwei Tagereisen entfernt und nur Ortskundige könnten den Weg über die Berge finden. Aber wir sollten mit ihm kommen, er wolle uns einen Waldmenschenrastplatz zeigen, wo wir die Nacht zubringen könnten, und am nächsten Tag würden wir dann eine andere Niederlassung erreichen, wo wahrscheinlich Reis zu finden sei.

Es seien zwei, drei Waldhütten da, birmesische Nomaden hätten ein fliegendes Dörflein angelegt, um Bambus zu schlagen, den sie in grossen Flossen zu Tal bringen, um ihn in den Reisfelderebenen, wo die Leute wenig Baumaterial haben, zu verkaufen.

Wie oft bin ich aus der Einsamkeit zu Menschen gekommen! Ich habe mich nie so über Menschen gefreut, wie über die, die ich da im Begriff war, zu begegnen. Mochten es die primitivsten Wilden sein, ich war froh, nicht mehr der Willkür der eigenen Leute allein überlassen zu sein. Sicher würden wir auch solche finden, die meine und Aris' Partei ergreifen würden.

Auf ein paar ineinander verschränkten Bambusstangen querten wir einer um den andern den Fluss. Tschong Ong, dem ich nicht wehrte und nicht half, um weder Strenge noch Schwäche zu verraten, schwamm in kinoheldenhafter Abenteuerlichkeit über das tiefe Wasser, 225 sein Reisbündelchen auf ein paar Ästen vor sich herschiebend, die schwarzen Beine seiner Hosen bis unter den Bauch gerafft, das blanke, funkelnde Messer zwischen den Zähnen. –

«Tuan», sagte Aris, als wir auf einem verlassenen Hügelnest weisser Ameisen sassen, mitten zwischen den drei, vier Laubhütten, wo nackte Kinder herumpatschten und eine junge Frau, die nur ein kurzes Lendentuch trug, die abendlichen Hausarbeiten verrichtete.

«Tuan, wie viele Jahre habe ich schon! Ich bin mit meinem Vater durch ganz Java gereist, war bei den Kopfjägern in Borneo, ich bin von Singapur her die ganze Malakkahalbinsel heraufgekommen, aber so etwas habe ich noch nicht gesehen. Solche einfache Hütten, solche unbedeckte Menschen.»

«Das sind Birmesen, Aris, die gehören eigentlich hinter die Berge.»

Die schlanke, junge Wilde stampfte Reis, und bei jedem Schlag, in den sie die ganze Pracht eines geschmeidigen Körpers legte, sprangen ihre silbernen Halsspangen rhythmisch auf und ab, und ihre straffen, kleinen Brüste zitterten im Takt.

Wenn ein Chinese hier vielleicht nichts besseres zu tun gewusst hätte, als seiner Verachtung über diese nackten Tiermenschen Ausdruck zu geben – Aris war nicht so. Er verstand es, bei diesem Anblick Freude zu empfinden.

«Wohin neues wir nur immer wieder kommen, immer wieder ist's auf eine bessere Art verrückt in diesem 226 Land!» war der Sinn seiner erstaunten Gedanken, die er da vor mir auskramte.

Oft nahm er als der einzige, der zu fühlen verstand, wie ich, neben solchen Primitiven eine sonderbare Würde an und begann mit mir zu reden, als ob auch er ein Weisser wäre, als sollten die Naturmenschen spüren, dass er trotz seiner braunen Haut besser sei als sie. Jetzt sagte er mit der selbstverständlichen Gelassenheit eines Hofphotographen: «Wie schade, dass es schon zu dunkel ist zum Photographieren!» – –

«Aris! – Wo ist Tschong Ong?»

«Tuan, Ong tut uns jetzt nichts, aber heute Nacht müssen wir wachen, wir sind nicht wenig weit weg im Wald, und Ongs Messer ist sehr spitz und sehr scharf. – Silaka!» –

Das war eine feierliche, bange Nacht. Die Minuten zogen an mir vorüber, jede einzeln, behaglich sich spreizend und ohne zu eilen. Wortlos lag ich neben Aris, den Rücken einigermassen gedeckt unter einem Dach, während Tschong Ong, das Messer in der Hand, am Feuer der Kuli gross sprach. Wir waren ganz im Banne jener wortkargen äussern Ruhe, unter der sich verzweifelte Sprungbereitschaft verbirgt.

Seltsam der Moment, als unter den Waldleuten bekannt wurde, dass einer der Ankömmlinge mich Weissen umbringen wolle. Wie dieses Gerücht von Hütte zu Hütte ging, zu der unsrigen kam, zu Ohren des Dorfältesten, dem ungeschriebene Gesetze befahlen, mich zu schützen. Wie sein Weib, ein Waldmensch mit 227 kreiselartigen Holzkeilen in den langgezogenen Ohrlappen, mit ihrer Haarturmfrisur über der niedrigen Orang-Utan-Stirne und Silberspangen um den Hals – wie die da plötzlich aufhorchte, wie sie auf einmal mit grossen, scheuen Augen mich musterte und abzuwägen schien, ob der Fremde wirklich ermordenswert sei. Und ihr hartes Gesicht, das nicht Ja und nicht Nein sagte. Wie ich da aber doch es wie angenehm empfand, dass sie, eine Frau, Interesse für mich zeigte und wie ich, fast wie Rettung erhoffend, immer wieder hinübersehen musste.

Und diese Gefühle: Wenn man, das Waldsiamesisch nur halb verstehend, alles mögliche (und unmögliche) zu hören vermeint und sich mit seiner überhitzten Phantasie zurechtzulegen sucht; diese Beratungen des Dorfhäuptlings mit seiner Frau in birmesischer Sprache, in Lauten, die ich nie vorher hörte, in wieder ganz neuen und ganz fremden, gurgelnden Kehltönen.

«Mit einem solchen Messer ist ein Kopf im Nu ab!» meinte einer am Feuer, wo die Kuli den letzten Reis mit allem möglichen Notbehelf, Wurzeln, Fröschen und dergleichen, zu einem dicken Universalgericht verarbeiteten und das letzte Huhn umbrachten. Sie schnetzelten diesen Leckerbissen in kleine Stückchen, die Knochen und fast auch die Federn mit – sicher sah ich sie die in kleine Scheibchen geschnittenen Hühnerklauen fressen. Waldleute haben rauhe Gurgeln.

Ob diesen lebensfröhlichen Betrachtungen erwachte mein alter Humor, und ein lustiger Einfall drängte sich mir in den Sinn, vielleicht war's ein Traum.

228 Ich malte mir aus, wie romantisch das würde, wenn meine Gastwirtin, das Waldweib mit den Holzpflöcken in den Ohrlappen, den Beschluss fasste, mich zu retten. Wenn sie mitten in der Nacht mir ein Zeichen gäbe, ich solle ihr folgen. Ich sah mich schon durch den nächtlichen Wald ihr nachsteigen über die Berge. Ich betrat schon die Kalksteingrotte mit den Stalaktiten, wo sie mich versteckte. Jeden Tag brachte sie mir frischen Reis und Gemüse. Und eines Morgens einen jungen, starken Jäger, der mich heim zu den Menschen führen wollte. Ich bedankte mich artig bei meiner wenig lieblichen Schutzgöttin, und als ich ihr ein paar Silbertikale gab, streifte sie zwei ihrer Armspangen ab und steckte sie an mein Handgelenke. – – –

Aber als für einen Augenblick ihr breites Gesicht im frischangeblasenen Feuer auftauchte, schwand bei dem kalten Anblick alle Hoffnung auf Erfüllung meines Traumes. –

Es war bald licht und bald dunkel. Die Biwakfeuer, um die die Träger schlafend lagen, lohten auf und verflackerten. Räuchlein zogen dünn und fein durch den Busch, der kleine, halb vom Bambus gesäuberte Platz zwischen den armseligen Wohnstätten war ein zitterndes, fortwährend wechselndes Getanze von Lichtflecken und Schatten, war nicht Tag und doch auch nicht richtige Nacht.

Manchmal drangen verschlafene, fremde Laute von den abseitsgelegenen Hütten herüber, zwei, drei Büffel scharrten immer wieder an einem Baum, und von Zeit 229 zu Zeit schnitt der wehleidige Schrei eines verfolgten Hirsches durch den stumm im Licht des Halbmondes schlafenden Wald.

Hie und da erhob sich einer der Braunen geräuschlos von der Erde, halb in seine Lumpen gehüllt, und dann spannte sich erwachend jeder Muskel in mir, um bereit zu sein, falls Tschong Ong's des Verrückten Gesicht sich aus dem Tuch herausschälen sollte. – – –

Auch ganze lange Bilderbogenreihen aus meinem Leben zogen da durch meine Seele. Warum bin ich solch ein Wanderer? Warum zieht es mich immer wieder dahin, wo keine andern Weissen sind? Warum kann ich Ruheloser nur da glücklich sein, wo das Leben so zäh erzwungen werden muss und jeden Augenblick aus sein könnte! Was trieb mich in diese fernen Waldberge?

Ich Sinnloser! Und hatte doch Freunde zu Hause gelassen, die nicht so sind, und achtete sie und ihre Leistungen. Und verstand und schielte immer wieder zu jenen hinüber, die das heimatliche Leben als etwas Kostbar-Schönes zu nehmen und einzurichten verstehen.

O, es ist etwas Furchtbares in mir, etwas vom Tier her, etwas Unbezähmbares, das Freude hat am Wilden, am Weiten und Unbegrenzten, ein aufbrausendes Etwas, das Abwechslung will und mich immer wieder fortreissen wird zum Unsteten. –

Oder wäre jetzt dieses hier etwa eine auch nur um ein Haar bessere Sorte Biwak, als jenes einstige 230 «irgendwo ganz allein in den Gletschern unter einen Stein liegen?» – Jetzt, da ich immerhin nicht mehr so ganz nur im Zeichen phantasiegetriebener Jugendlust im Wald herumsegelte, sondern – – Arbeit, Zweck und Zukunft voraus – – –

Ong lag unter seinem weissen Tuch am Feuer, halbversteckt durch einen Bambusstrauch. Aris atmete schwer und sog die Nachtluft gierig ein wie ein Tier, als wollte er jetzt umso gründlicher schlafen, da er in der zweiten Hälfte der Nacht würde Wache halten müssen.

Köstlich schön war es jedenfalls! Das stand fest bei mir, wenn es mir auch fern lag, zu singen.

Und es war mir, als sähe ich auf einmal weit in meine Zukunft voraus, und es schien mir, als ob es doch möglich werden könnte, dass ich mich einmal noch zu ganz menschlichen Höhen würde erheben dürfen

– – aber jedenfalls geht es bis dahin noch eine steile Treppe hinauf, dachte ich später, mit vielen, vielen Stufen. – – –

Dann rüttelte ich Aris wach und schlief selber, zwar unruhig und lückenhaft, aber doch bis weit in den hellen Morgen.

*

Ich habe schon allerlei harte Marschtage begonnen, auf holperigen Wegen und da Abenteuer aller Arten nur so auf mich zu warten schienen – – –

231 aber ein anderes Ding ist es, wenn die Gefahr, die dir dräut, Mensch heisst. Zu wissen, dass hier, wo einer für den andern einstehen sollte, um zum guten Gelingen zu führen, hier in diesem dunklen, wilden Wald, den kein Einheimischer allein zu queren wagt, hier in diesem knorrigen Dornbusch, in diesen finsteren Schluchten, wo nie die Sonne hindringt, hier zu wissen: Letzte Nacht hat einer unter deinen Leuten sein Messer frisch gewetzt für dich – –

Um den verrückten Kerl nicht unnötig zu reizen, zog ich mit meinen beiden Getreuen tüchtig aus, die Kuli zwischen ihm und uns lassend. Aber Ong wusste wohl, dass jetzt sein Moment gekommen sei. Er wurde immer theatralischer. Sein hageres Gesicht spiegelte sein vom Gandjarauchen geschwollenes Gehirn wider, der Befehl seines Herrn steckte hinter jedem Muskel und jede Runzel wiederholte des alten, misstrauenschwangeren Siamesenzwergen Worte: Wenn nötig – –

Und immer näher kamen wir der entscheidenden Stelle, immer nötiger wurde ein Handeln. Auf niedrig-ausgehauenen Sakayweglein, wo kaum die kleinen Eingeborenen gradaufgehen konnten, und der lebende Tunnelbogen des Waldes sich über uns schloss, schleppten und keuchten die Kuli vorwärts, schweissnass und manchmal stürzte einer. Die derben Zehen griffen scharf in die hartgetretenen Lehmstufen. Einmal scheute ein grosses Tier, ob Hirsch oder Panter weiss ich nicht, aufraschelnd fort, ganz dicht neben unserm Zug, und flüchtete sich ungesehen in die Geborgenheit der hohen, von keinem 232 Menschen je betretenen Bergkämme. Bald krabbelten wir an glattgespühlten Felsen dem Ufer entlang, bald bogen wir in schwarze Schluchten ab, kreuzten scharfe, steile Hügelrippen, dann wieder schauten wir zwischen Bäumen durch auf das tiefe Tobel, wo das gewundene Silberband des Flusses unbekümmert um Menschensorgen, Zeiten und Zeiten nicht achtend, ewig gleich und stark und frei dem Meer zurauschte.

Ich war am Ende meiner Kräfte, nicht der Körperkräfte, wohl aber der geistigen Zuversicht. Seit Stunden lief, mit dem Messer fuchtelnd, Tschong Ong ein paar wenige Meter hinter mir drein, blindwütend, verrückt und unaufhörlich nach meinem Leben zielend. Und zu all den Schwierigkeiten des Weges, da ich in den Fluss zu stürzen drohte, da die Dornen und Ranken und das Geschlinge des dichten Waldes mich hinderten, zu all dem «fiebrig-einem-unbestimmten-Ziel-zuhasten» kam noch die Aalgewandtheit dieses saubern Chinesen, der blitzbereit auf jene erste Schwäche lauerte, die ihm mich in die Hand geben würde. Ich kam mir vor wie eine zum Brechen gespannte Feder.

Aber Aris war immer nah. Manchmal fürchtete ich, das Messer könnte ihn treffen. Dann schüttelte mich jedesmal ein Wutanfall. Die Kuli, müd und fast zu Tod geschunden unter den Lasten, befanden sich in jenem verwegenen Gemütszustand, da sinnlose Rohheit und lustige Mordgier aus dem geringfügigsten Anlass erwachen.

Aber plötzlich kam eine Entspannung. Wir standen 233 vor einem Schirmhüttlein am Fluss. Ein Dorf war in der Nähe, Gewalt, Ordnung. Ich habe mehr als einmal staunen müssen, wie weit und bis in welch ferne Wildnis hinein das siamesische Auge des Gesetzes seinen nützlichen Blick zu werfen vermag. Ong wurde auf einmal klein.

Und schliesslich am neunten Tag der Reise stand ich auf dem Elefantenberg oben, die Flinte eines Dorfhäuptlings in der Hand, hämmernd und schweres Silbererz schlagend und zeichnend und schreibend und den ganzen geheimnisvollen Apparat europäischen Geistes spielen lassend. Steine, die wertlos waren, wurden verpackt neben Erzproben, um den Spion auf Irrwege zu leiten.

Aber auch er, Tschong Ong, stand stolzer als je auf dem Platz. Vier von den Kuli hielten jetzt offen zu ihm.

Einer unter diesen – ein ehemaliger Soldat – verstand sich aufs Plänezeichnen.

Zudem musste ich bald merken, dass hier, so weit entfernt von der Hauptstadt, meine weisse Haut sich als unzuverlässiger Talisman erwies. Durch ein seltsames Manöver, all meinen Silberlingen zum Trotz, gewann Tschong Ong von Stunde zu Stunde mehr Boden im Herzen des Dorfobern, und als wir nach zwei Tagen uns anschickten, die Rückreise den Fluss hinunter auf einem Bambusfloss durch die menschenleere Gegend anzutreten, da war ich überzeugter als je, dass etwas sich ereignen werde.

Merkwürdig, dachte ich, als ich das Floss bestieg, 234 warum warten die Kerls so lange, wo ist der Ort, da ich sterb . . . – – – –

Würde es einfacher sein, dem Herrn einen Stoss zu geben mit einer der langen Ruderstangen, unversehens, aber möglichst nahe einer dieser brausenden Stromschnellen – – – ?

Als wir den Waldbürgermeister verliessen, sagte ich daher berechnend zu ihm und so laut, dass es auch alle Kuli hörten: «Also, ich danke dir! Und vergiss dein Leben lang nie, dass du heute am 9. November mich Weissen dieses Bambusfloss hast besteigen sehen.»

Ich erfreute mich, abgesehen von einer mehr und mehr zunehmenden nervösen Unruhe, die sich in alle meine Gebärden und Gedanken und in all mein Tun und Lassen einzudrängen versuchte, grösster Behaglichkeit, wie etwa ein Kapitän auf einem Luxusdampfer, als wir da so den Fluss hinunter irgendwo unbekanntes hintrieben.

Das war vielleicht einer der schönsten Morgen meines ganzen Lebens. Ich sass behaglich auf meinem Bettsack, ein Segeltuch vor die Sonne gespannt, und mein ganzes Hoffen und Wünschen und die Dankbarkeit meines Herzens galt der Schönheit der Welt. In Schlangenbogen, bald gravitätisch langsam, bald reissend schnell schwammen wir abwärts, manchmal im Schatten, und manchmal glitzerte mir der Fluss das Bild der Sonne in tausend Scherben zerlegt hell ins Gesicht.

Königsfischer in der ganzen Unwahrscheinlichkeit ihres bunten Gefieders schillerten durch die Luft, 235 Hornbillvögel rauschten wie Drachen von hohen Bäumen auf, und an beiden Ufern lärmten Affen mit jener Ahnungslosigkeit, die ihrem Leben eigentümlich ist.

Um mein eigenes sorgte ich mich nie weniger als jetzt, weil daran zu denken unangenehm war, und eine rasch kürzer werdende Spanne Zeit einen grossen Wechsel, endliches Entrinnen aus dem Bann der Gewalt oder das endgültige Ende bringen würde. Dankbar war ich mit ganzem Herzen, dass dieser Morgen noch so schön sei.

Meine sieben Kuli auf dem engen Floss hockten stumpfsinnig herum. Mit ihren Traglasten hatten sie zugleich die letzten Reste von Gehorsam niedergelegt. Ich spürte, wo ich hinsah, glimmenden Trotz und Hass unter der Härte ihrer starren Gesichter.

Aris war stumm. Sein Antlitz war aufgedunsen, seine Augen versteinert vom Wachen. Jetzt griff er selber an die langen Lenkstangen und spannte die ganze Kraft seines in harter Arbeit erzogenen Körpers an, wenn wir in den strudelnden Bogen einer Stromschnelle kamen oder rasch entschlossen eine enge, holperige Abkürzung hinabschossen, statt der langsamen, sichern Hauptrinne des Flusses zu folgen.

Ich sass so tief in die Betrachtung der Waldwelt ringsum verloren, und unser Schifflein glitt meist so sacht und scheinbar so wenig menschlicher Hilfe bedürftig dahin, dass ich ganz erstaunt war, als es plötzlich einen mörderlichen Stoss absetzte und uns eine der Hauptstangen wegschlug.

236 Tschong Ong war nicht mit uns. Die Ruhe einer halben Nacht opfernd, hatte er sich ein lottriges, viel zu schmales und darum gefährliches Privat-Flösslein (es waren kaum sechs oder sieben Bambusstangen) notdürftig zusammengebunden, und auf diesem schaukelte er, durch Schreien und Plaraggen sich selber Mut machend, hinter uns drein, ein Spielball der Wellen.

Ein paarmal fehlte nicht viel – – –

Die Fahrerei des Verwegenen machte auf meine Flossmannschaft denselben Eindruck, wie etwa ein Gelehrter oder ein Verrückter auf das gewöhnliche Volk. Meine Leute ahnten etwas von Grenzenlosigkeit in dem Kerl, konnten sich aber weder zu uneingeschränkter Bewunderung, noch zu völliger Missbilligung Tschong Ong's endgültig aufraffen.

Auch dort, in den grünen seeartigen Becken, wo der Wald sich im glatten Wasser spiegelte und unser etwas schwerfälliges Fahrzeug fast stilliegen blieb, arbeitete Aris ununterbrochen. Wir wussten beide nicht, wohin die Fahrt eigentlich ging. Wie alle Flüsse, schlängelte auch dieser in der menschenleeren Einöde in verschlungenen Bogen herum, weit, weit ab vom Weg des Anmarsches, und unsere Kuli hatten gewiss ihren ganz bestimmten Plan. – – –

Aris wollte so weit wie möglich am ersten Tag, hoffentlich bis über die Schlucht von Sadong hinunter, möglichst bis in die Nähe der ersten Dörfer.

Drei lange Tage, durch kurze Biwak im Ufergebüsch unterbrochen, fuhren wir auf dem Fluss. Die Kuli, halb 237 in Meuterei, halb des seltsamen, sie eigentlich wenig angehenden Unternehmens müde, ruderten ungern, warteten nur noch auf den Lohn.

Wieder nahmen sie, wie es bei gewalttätigen, aber feigen Leuten so ist – Vernunft an, sobald die ersten, vereinzelten Hütten auftauchten. Nur jene letzte Nacht stand noch im Bann dieses abenteuerlichsten Reischens, das ich in Siam je unternahm.

Wir waren irgendwo im Ufergestrüpp gelandet. Auch Ongs Floss war da. Die Nacht war aber jetzt dunkel und mondlos, und da war auf einmal meine Widerstandskraft zu Ende. Die zitternden Lichter der Lagerfeuer warfen die Schatten der Gebüsche in phantastischen Formen überall hin, und ich konnte Tschong Ong jetzt nicht mehr wie früher im Mondlicht überwachen.

Jeder Schatten konnte sein rächendes Messer herbringen, ich spürte schon die kühle Klinge im Nacken, fröstelte und verzog mich in Aris' Begleitung, meine Würde durch ein kluges Wort wahrend, in eine Hütte am Ufer, verbarrikadierte die Türe und schlief, – schlief, schlief – – –

* * *

Es gelang schliesslich Tschong Ong den Plan vom Elefantenberg seinem Meister zu übergeben einen halben Tag bevor ich zurück war, und unter Benutzung des Regierungstelegraphen hat der alte, siamesische Graf gewiss seine Mine gesichert.

238 Aber gewonnen hat er doch nichts. Zwar weiss er jetzt, wo der Berg liegt, aber was für Ausbeutungsmöglichkeiten er biete, was der Elefantenberg wert sei, das wird er bei Lebzeiten nie erfahren (und selbst kann er nichts unternehmen), das wird mein Geheimnis bleiben – meines und das jener grenzenlosen, menschenleeren Wälder. 239

 


 


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