Hans Morgenthaler
Matahari
Hans Morgenthaler

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Dschungelwanderungen.

Unbändig und stark zu reisen, unbekümmert um Mühsale und Strapazen, immer froh und bereit zu sein, eines zweifelhaften Planes wegen ein paar Tage weit in den Wald hinauszulaufen – – – war meine erste und heiligste Pflicht in Siam.

Manchmal bestand meine Hauptarbeit darin, überhaupt an den Ort, der in Frage stand, als erster Weisser hinzugelangen.

Alle meine Dschungelfahrten verliefen ähnlich wie der Mond zu- und abnimmt. Ab nahmen vom Moment der Ausreise an der Luxus und die Bequemlichkeit, erst ging's ein Stück weit auf der siamesischen Eisenbahn, dann vielleicht auf dem Motorboot einen Tag weit oder zwei, das Kanu kam an die Reihe oder der Büffelkarren nahm mein Gepäck auf, und zuletzt schlug es mich in Begleitung von einigen Kuli noch vollends in den Wald hinein.

Zu nahm das Erlebnis, manchmal regelmässig mit der Entfernung von Gesetz und Ordnung und mit der Dauer der Reise, aber nicht immer.

Während wir einst in den Bergen die unwirtlichsten Regionen absichtlich aufsuchten, und von dort die tiefsten Eindrücke heimbrachten, waren mir in Siam das Beste die Walddörfer mit ihren Menschen und nicht etwa der einsame Urwald, der zu ungesund und schrecklich war, um auf die Dauer begehrenswert zu bleiben.

*

38 So viel Tausende von Meilen die Eisenbahn und das siamesische Flussboot mich mitnahmen, so weit ich auf dem runden Rücken von Elefanten durch das Land ritt – es drängt mich, nicht all jenen Hilfskräften, Schiffsleuten und Führern zuerst zu danken, sondern vor allem vor meinen zwei treuen, zwar dünnen, aber trotzdem noch starken Wanderbeinen ehrfürchtig den Hut zu lüften.

Die Elefanten waren zu langsam, den kleinen siamesischen Ponies frassen die Krokodile bei Flussübergängen mit Vorliebe die Beine ab, Büffelkarren waren sehr holperig, und so wurden Fusswanderungen und Märsche in der Enge des Waldes oft das einzige zuverlässige Mittel zum Vorwärtskommen. Und Siam, mein Lebensabschnitt, den ich kurzweg mit «Dschungel» überschreiben möchte, und der ein abgerundetes Bild in mir formt, wie ich meine Jugend vielleicht durch das eine Wort «Berge» kennzeichnen darf – mein ganzer, zwei Jahre langer Aufenthalt in den Tropen war eine ununterbrochene, ruhlos-unruhige Wanderung. –

Aris, der sich vom gewöhnlichen Minenkuli zur Höhe eines Vorarbeiters emporgearbeitet hatte, war stark, und der härteste Marsch war für ihn ein Spass. Ich bedauerte manchmal, dass die mit seinem Berufe verbundene Würde ihm nicht erlaubte, die geringste Last zu tragen.

Nicht so dschungelfest war Hollukki. Er hatte seine Jugend in den stillen Häusern von Stadteuropäern verbracht, aber irgendeine versteckte Lust (was so ein fixes Ideelein nicht alles vermag!) liess ihn in diesem Wanderleben doch auch eine Art Freude finden, und sein von 39 einem frühern Meister übernommener Tropenhut glänzte oft stundenlang vor mir durch einen heissen Tag, freundlich in all dem Grün, um so freundlicher, als Hollukki gleichzeitig der Träger meiner Feldflasche war.

Ich selber schlenderte ohne alles Gepäck hintendrein oder weit vor der Kolonne voraus, nichts als den Bambuswanderstock in der Hand und etwa den zierlichen japanischen Schirm, wenn ich nicht auch diesen aus lauter Faulheit Hollukki überliess.

Die Kuli streiften vor Antritt des Marsches alles ab, was Spärliches sie an Kleidung hatten, nur ein kurzes Schamtüchlein blieb. Wenn sie Chinesenhosen trugen, rollten sie die weiten Seidenbeine wie Turner die Hemdärmel auf, so hoch, als ihre Anatomie das irgendwie zuliess.

Auffallend war, wie sie den Regen fürchteten. Sogar die Fischer auf dem Meer waren wasserscheu und wickelten sich sorgsam in Jacken und Tücher ein, wenn's regnete. Ich dachte umsonst, für sie wäre die beste Flucht vor dem Nasswerden das vollständige Entkleiden und Wegwerfen ihrer paar Lumpen.

Auf heissen Reisen traten wir an unser Tagwerk mit dem Gesichtsausdruck von Bauern, die auf unfruchtbarem Boden säen, wie Verschuldete, als wäre uns ewig nichts als Hartes und Mühsames bestimmt.

Dann bestand meine Freude und gleichsam der einzige Lohn, den der Tag bringen konnte, in Begegnungen mit Dschungelleuten und anderen merkwürdigen Dingen.

Man sieht oft an einem einfachen Rastplatz am Weg, 40 an einer Bootshaltestelle, an einer Flusskreuzung mehr verschiedene und vor allem echtere Menschenformen als alle Theater der Welt sie darzustellen vermöchten.

Aber was mich da immer wieder mehr packte als die extravaganten Toiletten und die hochnäsige Blasiertheit eines indischen oder chinesischen Gentlemans, waren die Naturfiguren:

Mutter mit Kind, Frau Polizeikommissär in braun (und wie würdevoll!), geplagter Ehemann (einen Hahn unterm linken und einen eigenen Sprössling unterm rechten Arm schleppend) und derartige ungewohnte und doch vertraute Bilder.

Trotz aller Würde, die meine weisse Haut ohne besonderes Zutun mir verlieh, waren die Landleute im Umgang vertraulich. Ahnungslos traten sie oft an mich heran, ihre unbedeckte Seele mir wie ein Geschenk anbietend.

«Herr, du hast haarige Beine – – – ! was meint deine Frau dazu – – – ?»

Mit diesen offenen Worten sprach mich einst ein Reisbauer an, als ich irgendwo am Weg unter einem Marktstand zur Rast sass.

Er fragte mich das teilnehmend, interessiert. Seine Stimme zitterte leise. Es schien ihm unerhört. Ich fühlte, er bedauerte oder beneidete mich.

«Luck mi, mai mi? – hast du auch Kinder?» redete Aris alle Frauen an, die wir auf dem Marsch trafen. Und wenn eine verneinte, schnitt er eine verächtliche Grimasse: «Nicht einmal das kannst du!» Männer fragte er kurz und bündig: «Wo ist deine Frau?»

41 Es steckte ein tiefer Zug menschlichen Mitgefühls in Aris. Von Natur aus und ohne dass er persönliche Vorteile aus seinen intimen Fragen zu ziehen versuchte, redete er so mit den Leuten.

Manchmal machte ich mir einen Spass daraus, ihn in feierlicher, halb poetischer Form zu begrüssen:

Tsche Aris, ana' Tsche Hassan
tudschu kali sa-malam
mau dschumpa satu prampuan,
tapi – – – t'a bulih.

Mit diesem Sprüchlein, das ich mir aus einem malayischen Liedlein zusammengereimt hatte, empfing ich etwa Aris des morgens.

Es heisst nichts, deutet aber viel an:

«Aris, der Sohn des Hassan, versuchte gestern abend siebenmal eine Frau zu treffen – aber – vergeblich – – !»

Aris liebte den Vers nicht. Er konnte sich nie völlig überzeugen, wie ich's meinte, ob ich aus dem Gefühl des Beherrschens der Sprache heraus so redete, oder ihm etwas ausspioniert hatte, oder – – – nicht mehr ganz bei Trost war. –

Ganz von selber hatte ich mir angewöhnt, Leute, die ich begegnete, fröhlich zu begrüssen, wie es Landessitte ist und immer soviel an Witz mitsprühen zu lassen wie möglich.

Eines Ochsenkarren-Führers Sympathie, der bei schlechtem Wetter nicht fahren wollte, gewann ich schliesslich so: 42

Klap ma tschak pa –
Non mia di kwa – – – !

Wenn du aus dem Wald heimkommst, wird es für dich um so schöner sein, wieder bei deiner Frau zu schlafen.

Auch die billige Weisheit einfacher Reime, wie z. B. die der folgenden:

Fon mai mi – dön dai di –
Fon tok mak – dön lambak.

vermochte Wunder zu wirken.

«Wenn kein Regen fällt, ist das Reisen schön, bei Regen ist es furchtbar.»

Andere Begriffe liegen diesen Leuten nahe als uns.

Von der Kritik der reinen Vernunft hatte ich nie zu erzählen, von unreiner Vernunft habe ich nie viel bemerkt. –

Alle Dschungelleute, die man unterwegs begegnet, haben den Urwaldblick, krumm und gehemmt und knorrig. Tausend Wunder spiegeln ihre Augen wider, und fortwährendes Sprungbereitsein vor Überraschungen sieht daraus.

Auch ich empfand es wie ein Schmerzgefühl, auf grosse Entfernung blicken zu müssen, wenn ich aus monatelanger Enge und Wirrnis des Waldes in die offenen Reisfelder kam.

Oft bin ich ganz allein, mit dem krummen Waldmesser den Weg selber schneidend, in den Dschungel gelaufen und habe mich etwa verirrt.

43 Das ist so fein und geht so rasch. Du watest etwa einen Bach aus (die Wege, die grad dahin führen, wo du hinmöchtest, fehlen ja immer). Der Bach schlängelt sich irgendwo Kuckucks hin, bis dir das Hirn summt vor lauter Kompassnadelzwirbeleien, und dann merkst du plötzlich, du bist verteufelt weit weg, und wenn nicht im nächsten Moment der erwartete Fluss sich findet, oder der und der Baum, den du von früher her kennst, dann musst du die ganze lange Strecke, die du gekommen ist, dich zurückzufinden suchen.

Da wird der Wald plötzlich zehnmal dichter; jede Liane täuscht dir eine Schlange vor, die Affen heulen auf einmal wie wilde Katzen; dein Hund erschrickt hinter jedem Strauch, und wenn du dann im Sand des Bachbettes dich heimzuerraten suchst, deiner eigenen, merkwürdig krummen Spur entlang und findest da plötzlich dicht daneben die frische Fährte eines grossen Raubtieres – dann kannst du einen tiefen Blick tun in das Wesen dieser schutzlosen Wilden, die im Dschungel geboren sind und im Wald einmal sterben werden. –

Eines hat mich immer wieder mit Staunen erfüllt: Mochte ich den dunkelsten, schreckhaftesten Waldmenschen begegnen, so einen, dessen Haut runzlig war wie ein alter Baumstamm, einen mit verdrehten Augen und zerzausten Haarsträngen – wenn ich so einen nach dem Weg fragte und über die Gegend, bekam ich gewiss deutlichere Auskunft als das zu Hause der Fall ist, wenn ich über Land gehe.

Und die wildesten Wilden schrieben für mich Briefe 44 mit der Genauigkeit von graphischen Künstlern. Das rührt daher, weil all die vielen siamesischen Tempel zugleich Schulen sind, wo die Priester unterrichten. Schreiben und lesen ist für die Siamesen ein Zeitvertreib wie etwa das Ballspiel. –

Tiefen Eindruck machten auf mich immer Begegnungen mit Elefanten, besonders in Dörfern, wo sie oft grösser als einzelne Hütten waren.

Einmal begegneten wir mitten im Wald einem Züglein von sechs Tieren. Auf vieren von ihnen sass je ein Siamese, und als ich fragte: «wohin?» hiess es schlagfertig: «Wir gehen spazieren!» – – –

Eines der grossen Tiere war ein Mutterelefant mit zwei zierlichen Bébé. Als ich fragte, ob die jungen Elefanten in der Gefangenschaft geboren seien, sagte Aris: «In der Gefangenschaft werden die Elefanten traurig und wollen keine Jungen.»

Mir ist, als rühre meine tiefe Sympathie für die klug blinzelnden Tiere seit daher – – – 45

* * *

Jubelnde Harmonien, brausende Gemütsstimmungen und Lieder schüttelten mich – Wandertage sind mir das, was feineren Leuten Konzerte – an jenem Neujahrstag, als ich fünfunddreissig Kilometer, hart am Meeresufer, nach Sitschon lief. Das Inland lag im Morast der Regenzeit versunken, und nur im knirschenden Sand, dicht am Saum der Wellen, war ein Marschieren möglich.

Über einen stillen Flussarm, zwischen schlanken Stämmen durch, hatte ein Boot uns vom Nachtquartier (einem buddhistischen Tempel) her zur Sandbarre am Meer geführt. Und jetzt waren wir unterwegs. Im Singen des stürmenden Monsuns, Staubregengischt der am Ufer sich überstürzenden Wellen im Gesicht, in losem Treibsand, mühsam Schritt um Schritt, acht Stunden lang dem Ziel zu.

Nie so wie auf harten Märschen singt meine Seele. Leben heisst bei Kraft sein und das beweisen. Wir Männer sind nie bereit genug – – – bereit zu allem – – –.

Das ganze Tagwerk lag vor mir, als Sandstreifen, der zu erledigen war, unweigerlich, in mühsamer Pflicht und so, wie vor den meisten Menschen die Arbeit liegt. Ein wolkenverschleierter Hügel ganz am Ende des strassenweissen Uferbandes war mir am Morgen schon gleichbedeutend mit Ende, Ruhe und fernem Feierabend.

Manchmal, wenn der Strand von angeschwemmten Baumleichen und Wurzelstöcken versperrt war, traten wir in den Schatten geschlossener, wie stille Gärten 46 dastehender Kokoswäldchen – Gärten der ewigen Natur – keine Hütten, keine Menschen – und dann glitzerten die, von schmalfiedrigen Palmenblättern gesiebten Sonnenstrahlen in tausend Lichtfunken von den ledrigen Unterholzstauden zurück.

Kleine Eidechschen mit blauschillernden Flughäuten trabten hurtig wie Drachen ihren Schlupflöchern zu, grosse, bunte Falter segelten, ein Spiel ihrer eigenen Wonne, wie bunte Fetzen, im wunderlich-unbestimmten Flug, der ihnen eigen ist, durch die warme Luft, und dann bog auf einmal unser im Sand sich fast verlierendes Weglein zum Meer zurück, dessen grosses, weites Schimmern immer und immer wieder uns stark ins heisse Gesicht fiel.

Aris, Hollukki und die Kuli waren weit voraus. Auf Wanderungen liebe ich allein zu sein. Allein mit meinen Gedanken. Wie wenige Menschen wirklich zu wandern verstehen! Wie viele ruhen, ehe sie je gewandert sind! Wie wenigen ist vergönnt, auf eine reiche Lebensreise sich einst besinnen zu dürfen und im milden, schönen Rückblick auf vergangene Zeit zu wachsen.

Weit vor der Küste draussen lag eine schwerfällige Dschunk vor Anker, ein Chinafahrer, dessen nackte Segelstangen ruhlos mit dem Wind hin- und herschwankten. Manchmal neigten sie sich bis fast aufs Meer.

Ich studierte den Sand wie früher den Schnee.

Allmählich lernte ich ihn kennen. Der beste Grund zum Marschieren war der feuchte Streifen ausserhalb der Reichweite der Durchschnittswellen, der nur von den 47 grössten Spritzern getroffen und halbfeucht und wie ein Stubenboden blank gefegt war. Höher am Ufer im trockenen Sand wurde jedes Gehen zur Qual.

Jedesmal, wenn wir Strecken lockern, angehäuften Flugsandes querten, holte ich meine Kuli ein, die unter den schweren Lasten keuchten.

Millionen glänziger Schneckenhäuschen und Muschelscherben lagen am Strand, und ich bewunderte die harten Füsse meiner Leute, die unbeschadet darüber liefen.

Harte Märsche sind wie sonst nichts geeignet, seine eigene Meinung vor sich selber zu heben. Ich bin nie überzeugter, ein brauchbarer Mensch zu sein und meine Pflicht getan zu haben, als abends nach beschwerlicher Wanderung.

Die Sonne war meist hinter Wolken verborgen, die sich in dunkeln Schichten über das Meer vorschoben, aber manchmal brannte sie plötzlich und stark hervor. Dann leuchtete jedesmal der Sand weiss wie ein Schneeband auf, und das bewegte Meer, selber grün und dunkel, rauschte jetzt mit seinen silbernen Wellenkämmen höher und heller als zuvor, da die Schatten drüber lagen, und es wie mit dunkler Last niederzuhalten schienen.

Nachmittags schlief der Wind zeitweise ein, der chinesische Dreimaster entfaltete seine spitzigen Segel und kreuzte, oft auf der Seite liegend, unter der Wucht der stossweise immer noch kräftigen Brisen in weitausholenden Zügen dahin, dunkel vor der flach gewölbten Horizontlinie, mit dem Leib im Meer und mit den Segelflügeln in den Himmel greifend.

48 Später warf er nochmals Anker, zog die ausgestreckten Fühler mutlos ein und wartete wieder.

Auf Reisemärschen wird mir froher zu Mut, je länger sie dauern. So schön das Vorausahnen all der Wanderfreuden ist, besser ist die Gewissheit: jetzt noch ein bischen, ein gutes Stück Vorarbeit ist getan, jetzt noch ein paar Minuten aushalten, dann wird der Tag zum Erfolg.

Wie auf endlosem Firnfeld bewegten wir kleine Menschlein uns in der weiten Welt, fast ohne Hoffnung auf baldiges Ende. Schon wurden unsere Gelenke warm, der Schweiss rann in Strömen unter dem Helm hervor, Dunst durchfeuchtete meine Kleider und noch war nichts Neues zu erspähen, keine Abwechslung zu erwarten, nichts als Sand, Sand und Meer.

Aber, wie oft im Leben die grössten Ereignisse plötzlich und unerwartet auftauchen, tat sich auf einmal hinter der Düne das schmale Wasser einer stillen Lagune auf, wo ein hochgestauter Fluss seine Fluten kümmerlich durch den Sandgürtel ins anstürmende Meer abzuschieben versuchte.

Die Kuli stellten ihre Lasten ab, ich setzte mich behaglich in den warmen, zum Binnenseelein abfallenden Sand, die Ellenbogen auf die Knie, den Kopf in die Hände gestützt und schaute, dankbar ob der Rast, über das Wasser.

Der Sandrücken fing jede Brise auf, die Bucht lag windstill, ihr Spiegel leuchtete wie ein Glasscherben, die volle Sonne brach durch die Wolken und hielt mich Wandermüden angenehm warm. Nur wenn ich aufstand, 49 traf mich ein leiser Windzug vom Meer her; immer noch rauschten dort in halb regelmässigen, halb ungeordneten Scharen die weissen Schäfchenwellen dem Ufer zu. Der chinesische Segler hatte auch wieder ein Fährtlein versucht und brüstete sich stolz und froh in entfalteter Segelpracht.

Als ich, mich wieder in den Windschatten duckend, über den ruhigen Binnensee schaute, löste sich gegenüber am Strandwald ein kleines Boot los, das sich in gebrochener Linie, bald hieher, bald dorthin steuernd, in langsamem, unberechenbarem Weg auf mich zu bewegte.

Aber, als ich mich schon auf etwas Neues freute, auf Menschen und ein kurzes Gesprächlein, wandte es sich plötzlich wieder hinweg und schien nichts mit mir zu tun haben zu wollen. Offenbar fand es seinen Zweck in sich selber. Es war ein kleines Fischerboot.

Ziegelrot klaffte der Himmel über dem grünen Rand der Mangroven, die Wolken im Westen hatten sich zu grossen Kugeln zusammengezogen und hatten noch schnell (gleichsam eh' es Nacht sein würde) ein blankes Stück Himmelsraum freigegeben. Da hinein versank die Sonne.

Und im purpurenen Schein, der von ihr ausging, näherte sich mir das Kanu wieder und ich erkannte jetzt deutlich zwei Menschen darin, einen Mann und eine Frau.

Ich sass vollkommen allein. Meine Träger hatten längst ihre Bündel aufgenommen und waren auf dem Weg zum nahen Dorf verschwunden.

Der Sand, in dem ich sass, war trocken, die windstille 50 Bucht lag wie ein Honigteich vor mir und mitten in seiner einfachen Welt schwamm das Fischerboot.

«Siamesen rudern eh' sie gehen können», dachte ich früher schon, da ein zehnjähriger Bengel mich «rettete», als ich mich im kleinen Nussschalenkanu in einer Stromschnelle beinahe eigenhändig ins frühe Grab gesteuert hatte.

Wie auf einem See aus reinem Gold, bewegte sich das Schiffchen, jetzt in der leuchtenden Strasse, die die untergehende Sonne in meine Augen glitzerte, es selber und die Silhouetten seiner zwei Menschen tiefschwarz vor all der Helle, dann, ein Schlag mit dem Ruder, und auf einmal flitzte es silbern, wie ein springendes Fischchen, sonnabseits in den Schatten.

Immer wieder, in kurzen Abständen, klatschte das mit Bleikugeln beschwerte Wurfnetz ins Wasser. Bald ruderte er, bald ruderte sie. Wenn er ruderte, wartete sie, mit dem Netz in der Hand im Schnabel des Bootes stehend, schlank, wie gegossen, wie ein schönes Standbild, und wenn sie ruderte, legte er sich abwartend vor.

So boten die zwei Naturmenschen in ihrem gemeinsamen Bemühen, ihrem Leben gerecht zu werden, ein Bild gelöster Zwei-Einheit.

Ruhig glitt ihr Kanu übers Wasser, nicht ein Schäumchen verriet das Eintauchen des Ruders, und nur das Klatschen des Netzes klang von Zeit zu Zeit, wie ein Wort der Natur, zu mir Klugem, Einsamem an der Sandbank herüber.

Unbekümmert um die Schönheit der Welt, der Sonne 51 nicht achtend, die weissen Wolkentürme vergessend – ruderten sie.

«Rudert ihr für immer?» hätte ich gern gefragt, dachte aber statt dessen, still im Sand sitzend, rasch drei Gedanken weiter voraus – – «Ruderwahnsinn!»

Und leise, und ohne auf irgendetwas zu achten und so wie jenes Schifflein über den Honigsee schwamm, glitten meine Gedanken jetzt den weiten Entwicklungsweg der Menschheit zurück zum – Ruderstadium.

War nicht vielleicht einstmals eine Zeit, da auch meine Vorfahren auf dieser Stufe der Treppe zum höheren Menschentum standen, da auch für sie Rudern, Leben und Leben, Rudern bedeutete, eine harmlose, fern zurückliegende Zeit, da auch wir prächtigen weissen Menschen solch einfache Ruderer waren. – – Und auf einmal bedauerte ich fast, dass der Schöpfer seine Versuchsreihe – Entwicklungsstudien am höheren Tier «Mensch» – nicht auf jenem Punkt schon abbrach.

Oder wäre eine solche Welt zu langweilig? Nichts als Ruder – Ruder – Ruder – Paare?! – – –

Wenn es dem Herrgott heute einfiele, wieder darauf zurückzukommen. Wenn er plötzlich sich sagte: «Genug des bunten Entwicklungsspieles! Es wird besser sein, ihr rudert wieder! – –

Wenn Herr Millionär Meier seine feiste Gattin wieder im Ruderboot spazieren führen müsste! – – –

Und – – sie – – ihn! – – –

Ruhig glitt das Schifflein über den See. Immer wieder in kurzen Abständen klatschte das mit Bleikugeln 52 beschwerte Wurfnetz ins Wasser. Das klang jedesmal wie ein Wort der Natur. Bald ruderte er, bald ruderte sie. Wenn er ruderte, wartete sie mit dem Netz in der Hand, wenn sie ruderte, legte er abwartend sich vor – – – monoton-einförmig: das Boot und die zwei Menschen darin, wie für ewig gemeinsam zum Rudern bestimmt – verdammt – – hoffnungslos!

Da rief mich Aris über das Wasser herüber mit seiner hellen Stimme an, ich erhob mich, und, müd im ganzen Körper, aber das Herz frisch voll Übermut, wanderte ich den schattig gewordenen Sandstreifen entlang und als ich, nahe dem Dörflein, im zerbrechlichen Boot eines Fischers über die Lagune fuhr, mahnte mich weinerliches Kindergeschrei, dass auch diese einfachste Menschheit hier rastlos unterwegs nach einem fernen Ziel sei. –

Während sich von Nordosten her eine drohende Regenwand vorschob, trat ich unter das Dach meines chinesischen Wirtes, und bezog eines der stelzbeinigen Hüttchen, die hinter den Luftwurzeln dichter Mangroven standen. Das Meer hatte sich jetzt weit zurückgezogen, und die nackte, braunschwarze Uferzone am Rand des Niederwassers dampfte und gärte in Zersetzung. – –

*

Früh am nächsten Morgen, als die Affen wie verspätete Nachtbuben in den Fruchtbäumen lärmten, kroch ich aus dem Moskitonetz. Hollukki hockte schon beim Kaffeebrauen, und Aris trommelte auf seinem Bauch, damit ein tüchtiger Klumpen Reis drin Unterkunft finde. Nach 53 dem Frühstück brachen wir auf, vom Meer uns wegwendend ins Innere. Im Busch jubilierte der Tagwachtvogel (die siamesische Lerche, die genau unsere europäische Tagwacht trillert), die Fischerhütten blieben zurück, und überschwemmte Reisfelder und schmutzstarrender Niederwald nahmen uns auf.

Vereinzelte Zuckerpalmen standen wie Schachbrettfiguren im Geviert der durchweichten Äcker, in denen der Saatreis in grünen Inselchen saftig aufging.

Wie immer in der Nähe der Dörfer schreckten wir vielen Leute ganze Rudel von halbwilden, plumpen Büffeln auf, die in ungestüm patschender Hetzjagd, die Kälber angsterfüllt blökend, durch knietiefen Schlamm irgendwohin rasten.

Die Sonne schien vom klaren Himmel. In der Nacht war Regen gefallen und das Grün des Waldes war verstärkt.

An sonnigen Wandermorgen brechen tausend Quellen der Lebensfreude und Phantasie in meiner Brust auf, ich fühle mich stark, die dunkeln Sorgen sind weggelegt, mein Tag steht strahlend vor mir und von seltenen Liedern und Weisen erfüllt wie die Gegend, durch die ich schreite.

Und ich freue mich, noch frei und noch nicht um irgendeiner der üblichen, zwar auch schönen Ideen willen in Europa stecken geblieben zu sein. – – –

Langsamer und zäher als am Vortag ging diesmal die Reise quer durch die Felder, oft weglos (der Weg war ein Strom) in zäher Verbissenheit, aber trotzdem fröhlich. Wir wussten alle, dass dieses Marschieren zur 54 Zeit der Überschwemmung, oft knietief im Wasser, die Schuhe im klebrigen Lehm verkeilt, ohne Humor ganz unerträglich wäre.

Die Kuli haben ihre eigene Art zu gehen, den Chinesenlaufschritt, immer ein paar Schritte rennend, dann zwei, drei gemächlich, dass ich sogar leergehend Mühe habe, mitzutraben – – durch den spritzenden Kot.

In rechtwinkligen Kehren zogen wir durch die flachen Reisfelder der Niederung, jetzt auf schmalen, schlüpfrigen Lehmmäuerlein, dann über gefällte Baumstämme, die wie Brücken über die tiefsten Bachgräben lagen. Und je und je, unangenehm trotz der Wärme, bis an den Bauch hinan durchs Wasser.

Dann nahmen uns vom Urwald überwölbte Hohlwege auf, an deren Rand wir vorsichtig und immer wieder ausgleitend von Baum zu Baum uns vorwärtstappten, fortwährend über knorrige Wurzeln stolpernd und in Gefahr, in die Tiefe der, von Büffelhufen zerpflügten, bodenlosen Wegmitte zu fallen.

Jeder Schritt war Anstrengung. Jeder Atemzug bedeutete Gift in die Lungen, die Luft war feuchtheiss, und wenn ich für einen Augenblick zu verschnaufen versuchte, fröstelte mich vor Hitze.

Lange vor Mittag war jedes Gespräch unterm Druck der Sonnenstrahlen verstummt.

Nur Aris, der Starke, rief etwa einem, in ein tiefes Wasserloch taumelnden Träger zu: «Ai-i-i! Bruder, was willst in dem Elefantenbadeplatz drinnen mit deinem Gepäck ? Mach mir des Tuan's Matrazli nicht nass!»

55 Auch ich war auf solch anstrengenden Märschen immer besser gelaunt als in der Stadt. Ich weiss heute noch nicht, was eigentlich die Triebfeder ist zu solch harten Unternehmungen. Vielleicht mag es die Freude sein, die sich sicher einstellt, wenn die Mühen vorbei sein werden, das vorausgeahnte «schmunzelnd-sich-zurückerinnern-dürfen»: was habe ich doch für Sachen gemacht, als ich noch jung war – – –

Oder solche Taten entspringen aus dem Verlangen heraus nach Echtem und Grenzenlosem, aus dem «sich immer und immer wieder einen neuen Beweis der Lebensberechtigung erbringen wollen.»

Patsch, patsch stapften wir im Gänsemarsch durch den Kot, Wasserbüffel weideten nebenaus, unförmliche Tiere, weisse kleine Reiher auf dem Rücken, die ihnen das Ungeziefer aus der Borstenhaut frassen. Jedem von uns stand im Gesicht mit derbem Zug das Wort «Wandern» geschrieben, die Kuli fluchten leise und lachten gleich darauf, wenn ein Pechvogel in den Schmutz stolperte.

Ich hatte von jeher das Gefühl, aus einem Manne könne unmöglich viel Rechtes werden, wenn er zeitlebens in der Enge geordneter Alltäglichkeit bleibt. Einer, der nicht auch durch die Sumpfniederungen unseres lieben Planeten ging, kann beim besten Willen nie die Pracht seiner Hochregionen völlig verstehen.

Und so ausgeprägt ist bei mir diese Meinung, dass das Gute und Schöne und Feine nur aus dem Verzweifelten, Rohen und Derben seinen Ursprung nehmen könne, diese Überzeugung wurzelt so tief in mir, dass es mich oft an 56 allen Haaren, vom Geordneten, Schönen und Üblichen weg und zum Gewalttätigen hinzieht. Denn mir ist zum Voraus schon, als ob daraus irgendeine Harmonie, eine Idee oder Stimmung aufgehen werde, dass da irgendetwas um so viel Schöneres, Erhabeneres und Edleres entstehen müsse, als meine Tat unvernünftig oder roh ist.

Und ich bin so überzeugt, dass, je grösser z. B. ein Kunstwerk ist, es aus um so tieferen Abgründen der Mühsal und Verzweiflung – ja meist sogar des Verbrechens aufgebaut sei, dass Kunstwerke für mich überhaupt, zum vornherein, stillschweigend Werke sind, die einer malt, formt, schreibt, statt sich zu ersch . . . . – – –

Nie fliegen meine Gedanken beschwingter und kühner als auf dem Marsch. Einen Kuli vor mir, ein Trüpplein laufender Menschen hinten, so mitten im galoppierenden Zug, von raschem, tief pulsierendem Leben umgeben und selber drin, achtete ich der Hitze und Mühe des Weges kaum, sondern dachte, phantasierte, lachte mit meinem kurzen Schatten, sang schweigend oder plauderte laut mit fernen Freunden über zehntausend Meilen weg.

Sumpf breitete sich ringsum. Die Sonne schaute mit rundem Gesicht aus jeder schmutzigen Lache. Kochend schmorte sie auf unsern Rücken, und statt dass der Wald, in den wir immer wieder eintauchten, uns Kühlung brachte, hockte uns dort die triefende, heisse Luft umso dumpfer auf.

– – – am Rand der Kultur. Am äussersten Rand der Kultur. Im Dschungel Indiens. Vielleicht bald tot 57 – – – Malaria, Ruhr, Typhus. Heute noch um so fester am Leben! Fortwährend im Streit mit dunkeln Mächten und Trieben – – – Gott, Stern, Teufel – – – – Schicksal – – – – – – – – – –

Abends war der Dorfkönig Pöt unser Wirt. Erst am nächsten Morgen erreichten wir die Mine, die ich begutachten sollte. Zwei Tage wühlte ich dort in Stollen und Schächten herum.

Während drei weiteren trabten wir denselben furchtbaren Schlamm- und Sandweg heim.

Eine kurze «Rast» im Hauptquartier und – – eine neue Reise.

So ist mein Beruf.

Wie das weitläufige Tagwerk eines prähistorischen Nomaden, verstärkt und erschwert und – herrlich gemacht durch die seltsamen, zwingenden Pflichten wie ein Prophet sie so hat. 58

* * *

Einmal stand ich ungefähr vor dem folgenden Problem: Lim Tschuang wollte mich von der Ostküste der Halbinsel aus einen grossen Fluss hinauf in die Bergkette bringen, die nahe der Westküste die Wasserscheide bildet. Nach einer mehrere Tage langen, beschwerlichen Flussfahrt sollten wir das Gebirge nur etwa vierzig Kilometer von der Westküste entfernt erreichen. Einen kurzen, vernünftigen, wenn möglich das ganze Jahr mit Booten fahrbaren Weg dorthin zu finden, war meine Aufgabe.

Es war aussichtslos, die Mine, um die es sich handelte, von Osten her zu bearbeiten wegen der zu grossen Transportschwierigkeiten – – wenn ich aber einen günstigen Zugang nach Westen ans Meer finden könnte, dann würde dieser Platz – – – vorausgesetzt, alle übrigen Faktoren seien günstig, es sei genügend Erz da, in guter Konzentration usw. – – – mit Erfolg auszubeuten sein.

Also ein ganz nettes Unternehmen, ein bischen idealistisch-geographisches Abenteuer, ein bischen Wirklichkeit mit realistisch-ökonomisch-vernünftigem Hintergrund.

Lim Tschuang sah nicht wie ein richtiger Zinnsucher aus, eher wie ein städtischer Angestellter oder Schreiber. Er hatte grad so einen Hochschein von der englischen Sprache, dass ich immer wieder meinte, ich sollte versuchen mit ihm englisch zu reden, aber besser verstand er über Hollukki weg mein Malayisch. 59 Unpraktisch gekleidet in blaues Kaki, einen Schlips um den Hals, hätte er mir mit seinem Antrag eigentlich gestohlen werden können, wenn ich nicht im letzten Moment gesehen hätte, dass seine Beine wirklich über und über mit den bösen Bisswunden des Dschungel-Blutegels bedeckt waren.

Hollukki und er gehörten derselben Chinesenkaste der Heylam an, der Einwohner von Heynan, jener grossen Insel, die vor der Bucht von Tongking im südchinesischen Meer liegt, und von wo fast alle chinesischen Kukis und Boys herstammen.

«Auch Lim Tschuang war früher Koch,» erzählte Hollukki, «jetzt tut er nichts anderes mehr als im Wald herum nach Zinn suchen. Er hat in R. eine siamesische Frau und aus dem Ertrag der Reisfelder, die diese besitzt, lebt Tschuang ganz nur noch seinen Abenteuern.» «Er kennt ein Zinnland, das sehr reich ist,» fügte Hollukki begeistert und gern seinem «Bruder» helfend bei.

Aris zeigte keine grosse Lust für die Sache:

«Was versteht so ein Heylamboy vom Dschungel – !» knurrte er, «solch ein Suppenbrauer, ein Hühnermetzger. Das sind alles krummbeinige Menschenaffen und vom Reisen und Waldhandwerk ahnt so einer nicht einmal etwas im Schlaf – – – !»

Als ich bescheiden zwischen seine grossen Worte hineinwarf: «Ja, er ist zwar nur ein dummer Opiumraucher, scheint an Grössenwahn zu leiden und hat wahrscheinlich im Opiumrausch zum erstenmal vom reichen Minenbesitzer geträumt – aber seine Beine sind 60 immerhin voll Dschungelwunden, er war wirklich selber im Wald!» – – – gab Aris jeden Widerstand auf:

«Tuan, wir braune Leute sind weniger klug, du wirst es schon wissen, wenn du reisen willst, kommt Aris mit!»

Als wir in dem grossen Dorf an der Flussmündung genügend Vorräte für unsere zehntägige Fahrt zusammengemarktet hatten und das Motorboot einer chinesischen Reismühle uns für einen Tag weit versprochen war, fuhren wir los.

Jedermann lachte darüber, dass ich bei dem Regen den Fluss hinauf wollte. Aber Lim Tschuang versicherte so hartnäckig immer wieder: «In den Bergen oben ist's trocken!» dass ich ihm zuletzt glaubte, um so mehr, als ich früher schon gehört hatte, dass das Wetter oft an der Ost- und der Westküste ganz verschieden sei zu ein und derselben Jahreszeit.

Wuchtig zwängte sich unser Motorbötlein durch die hochangeschwollenen Fluten. In ganzen Inseln trieben Fetzen des Waldes stromabwärts, grosse Bäume, frischentwurzelt und noch grün kollerten daher, alles war grau vor Regen, der Himmel, die Luft und die Ausreise war umso weniger erfreulich, als Lim Tschuang um keinen Preis verraten wollte, wohin wir genau genommen eigentlich gingen.

Auf hohen Ufern lagen einzelne Hütten in lorbeerlaubdunkeln Zitronenwäldchen, breitarmige Baumwollbäume standen eigentümlich gespreizt mit meterlang herabhängenden Bohnenhülsen da, und oft führten steile 61 Fussweglein von unsichtbaren Häuschen durch den Lehm ans Wasser herunter, wo Bade- und Wäscheplätzlein mit einem Zaun aus Bambusstangen abgegrenzt waren zum Schutz gegen Krokodile.

Das schokoladebraune Wasser kräuselte sich im strömenden Regen und mehr als einmal sahen wir den hocherhobenen dreieckigen Kopf einer elegant dem Ufer zuschwimmenden Schlange aus den Fluten ragen.

Auch einigen wenigen Booten begegneten wir und hie und da ertönte von irgendwoher aus dem Busch die kurze Frage: «pai nai? – – Wohin gehts?»

Abends flackerten ein paar Lichter auf. Aussteigen! Ein bischen durchs Wasser waten! In eine Siamesenhütte liegen! Das war der erste Tag.

Auf einem ganz schmalen, wackeligen Flussboot ging's dann noch sieben Tage weiter. Hochkant liegend hatten Hollukki und ich unter dem aus Rattan geflochtenen Dach knapp Platz. Aris kauerte mit Lim Tschuang zu unsern Füssen, während die drei Ruderer draussen, zwei hinten und einer in der Spitze des Bootes standen.

Stundenlang glitten wir gleichmässig und langsam dahin; noch war der Fluss breit und sanft. Erst nach zwei Tagen wurde er reissend, so dass die Ruder nicht mehr genügten und unser Fahrzeug nur noch unter äusserster Anstrengung mit Hilfe langer Stangen Ruck um Ruck aufwärts gestachelt werden konnte.

Dicht am inneren Uferbogen der Flussschlingen wurde dem Gebüsch entlang geschlichen, wo die Strömung gering war, und dann plötzlich und listig an einer 62 günstigen Stelle quer über einen Wirbel auf die andere Seite zugesteuert. Meist verloren wir bei einem solchen Uferwechsel etwa fünfzig Meter. Das erste Mal, als plötzlich ringsum die tobenden Wasser rauschten und ich da so eingepfercht lag und die Bootskuli einander laute Kommandoworte zuriefen und schnaubten und fauchten und ihre Muskeln anspannten, dachte ich an Gefahr, während ich später, als ich die gute Schwimmkraft der Siamesenboote kannte, es jedesmal fast bedauerte, wenn wir glücklich durch den Wirbel durch waren. Denn gerade die Stromschnellen trugen viel dazu bei, diese Flussfahrten kurzweilig zu machen. Nicht selten setzten wir mehreremal an ein und derselben an.

Abends hielten wir etwa bei einem einsamen Haus, weil da die Möglichkeit war, Regenwasser zum Kochen zu bekommen; manchmal fand sich da eine Art Ländte, wo ständig anwesende Flosse und Leute statt einer Brücke die zwei Enden eines wichtigeren Dschungelpfades verbanden. Oder es musste hier schon, wie weiter oben dann regelmässig, mitten im Dschungel, etwa an einer grasbewachsenen Lichtung, die Nacht zugebracht werden.

Ich schlief meist mit Hollukki zusammen im Boot, während die andern am Ufer sich ein Obdach suchten.

Einmal erwachte ich im selben Moment, als unser Schiffchen sank. Irgendein schwerer Traum hatte mich zu weit an den Bootsrand gedrückt, bei jedem tiefen Atemzug war unterm Verdeck an einer lecken Stelle ein Tränlein Wasser eingedrungen, und ungefähr bis Mitternacht genügte es, das Boot zum Sinken zu bringen.

63 Das Brot und einige weniger liebe Sachen schwammen davon, aber die Kiste mit den Silbertikalen blieb.

Alles war nass. Der Zucker zusammengeschmolzen. Ein Huhn war ertrunken.

Am nächsten Tag suchte ein jeder von uns sein Bestes zu trocknen und vor dem Moder zu retten; Aris seine Festhemdchen, Hollukki chinesische Medizinen, Lim Tschuang nestelte ein verklebtes Büschelchen von Rechnungen und Quittungen mit schönen, aber unheimlichen chinesischen Ziffern und Zahlen auseinander, als fürchtete er, ein Guthaben könnte frühzeitig erlöscht und einem seiner Schuldner Heil widerfahren sein. Als ich mein Tagebuch und die Photographien nur feucht und nicht nass fand, atmete ich erleichtert auf.

Hollukki aber meinte vorwurfsvoll:

«Tuan, wie kannst du sagen, nicht so schlimm, all dein Tabak und dein Bett ist nass!» –

Wir näherten uns den Bergen. Immer reissendere Stromschnellen wechselten mit stillen, tiefen Becken ab, aus denen mit Tropfstein behangene Kalkwände einige hundert Meter aufragten.

Bewegungslos lag ich im Boot, das bei jedem Ruderschlag erzitterte. Einbäume mit muskulösen Jagd-, Wald- und Wassermenschen kamen dahergeschossen; bei einem einsamen Haus waren Fischernetze zum Trocknen ausgehängt und eine riesige Krokodilhaut.

In den wirbligen Strecken hopste und satzte unser leichtes Schiffchen in lustigen Sprüngen herum, drohte manchmal seinen eigenen Weg gehen zu wollen, etwa 64 einen steilen Wasserfall hinab in ein Strudelloch am Fuss einer überhängenden Fluh; aber immer wieder gelang es den gewandten Braunen, es auf vernünftige Bahnen zu bringen. Nach der langen Fahrt durch den grünen, abwechslungslosen Wald war jetzt endlich etwas Neues zu sehen. Diese Felsen und Berge mit den emporklimmenden Bäumen taten mir in den Augen wohl.

Eines Abends hatten wir Halt gemacht in einer Schleife des Flusses. Auf dem Kies waren die Lagerfeuer schon entzündet, um die lästigen Sandfliegen zu vertreiben, und dichte Schwaden von gelbem Rauch verbreiteten sich der Niederung entlang flussabwärts.

Hornbillvögel, wie rauschende Blasebälge, liessen sich auf einem benachbarten grossen Baum nieder, immer wieder kurz aufschnarrend, auffliegend, dass ihre gelb-weiss-schwarzen Leiber sich am Himmel abzeichneten. Fliegende Hunde, die tags wie lebloser Plunder irgendwo zwanzig Meter hoch in den Ästen hängen, erwachten und begannen ihre zittrigen, unsteten Flüge.

Aus weiter Ferne schauten in langen, höckrigen Reihen scharfgeformte Dolomitenzacken über den Wald, und, etwas abseits von meinen Leuten sitzend, hatte ich dasselbe Gefühl absoluten Alleinseins, wie ich es früher im Spätherbst in den Bergen über dem Nebel kannte. Fortsein von allen andern, von allem Schlechten, mit sich allein sein und seiner wenigstens so gut wie möglichen Göttlichkeit.

Als ich ans Feuer der Kuli trat, meinte Aris: «Heute muss wieder jemand im Boot schlafen, sonst wird unser 65 Gepäck gestohlen, den Waldleuten kann man nie trauen – – –.»

«Hollukki, willst du?» fragte ich.

Hollukki grinste, und schliesslich war natürlich wieder ich der Waghals, während meine Leute unter einem überhängenden Stamm ein geschütztes Plätzchen zum Schlafen fanden.

Ich sass lange wach und aufrecht. Über den dunklen Wald schimmerte eine bleiche Felswand herüber. Ich dachte: Wie lange werde ich so reisen müssen, wie fern ist die Rückkehr nach Hause und wie – unsicher. So lieb und treu diese Boys zu ihrem Meister schauen, eben so gefährlich sind sie. Ich konnte es beim besten Willen Hollukki nicht als Sünde anrechnen, wenn er schon zum Abwaschen die Teller einfach schnell in den Bach streckte und sie nachher mit einem Lappen ausrieb. Und noch viel weniger wollte es mir gelingen, ihm seine unbewussten Untugenden abzugewöhnen. Zweifachen Trost fand ich immerhin darin, dass er das Wasser, das ich wirklich einnehmen musste, peinlich gut kochte, und in einem Grundsatz der Bakteriologie, der in einem abgelegenen Fach meines Hirnes merkwürdig lang liegen geblieben war und jetzt ganz nützlich manchmal hervorrumorte: Auf Metall sterben Mikroben rasch!

Nachdem wir noch zwei Tage weit durch völlig unbewohnte Zackenberge gefahren waren, zuletzt eine mit flachen Kieseln ausgelegte, wie eine Bergstrasse im Licht der Sonne hellglänzende Strecke hinauf, wo die Kuli das Boot wie einen Handschlitten zogen, erreichten wir auf 66 einmal ein sanftes, offenes Talbecken mit einem ganz menschlichen Dörfchen, das zwischen der granitenen, hohen, aber weichgeformten Hauptkette und der wilden Kalkspitzenlandschaft friedlich gebettet lag, tief in den Bergen.

Siamesen und Chinesen wohnten da. Die ersteren hatten die Frauen und Hütten beigesteuert, die Chinesen die Kraft und den Bienenfleiss, und so formten die da eine Lebensgemeinschaft hinter den Bergen, die nur dadurch getrübt war, dass eine gefrässige Krankheit an radikal jedem von ihnen herumnagte.

In ihrer Abgelegenheit fühlten sie, dass sie auf die Westseite der Halbinsel gehörten und redeten stolz vom Weg dahin – sonst wären sie doch elende Hinterwäldler.

Sogar ein paar riesige Wasserbüffel besassen sie, die unmöglich von der Ostküste her den Fluss heraufgereist sein konnten.

Aber als ich am nächsten Morgen aufbrach, den Weg nach der Westküste zu suchen, die zwei besten Führer mit, da blieben wir mitten im Wald drinnen stecken, und hohe, steile Berge machten die Transportaussichten nach Westen ans Meer vollständig aussichtslos, um so mehr, als die ganze Gegend auch aus andern Gründen wenig einladend aussah.

Ein erster, rascher Überblick sagte mir: Nicht dran zu denken! Aber ich tat doch eine Zeitlang als ob – – – hauptsächlich weil ich Lim Tschuangs Hilfe zur Rückreise brauchte.

Obschon ich Gefahr lief, die Gunst Aris' zu verscherzen 67 und vor ihm dumm zu erscheinen, liess ich hier und dort eine Schürfung vornehmen, an Stellen, wo beim besten Willen kein Erz zu erhoffen oder gar zu erwarten war. Und ich setzte mich einigemal nieder, reinigte meine Brille, zog wichtig das Notizbuch heraus und schrieb ein Gesätzlein nieder.

Tschuang musterte mich jedesmal misstrauisch, Hollukki schien schon gewittert zu haben, dass mir dieses Landstück wenig gefalle. Es ist erstaunlich schwierig, sein innerstes Denken vor seinen Dienern zu verbergen.

Hollukki spürte schon an der Art und Weise, wie ich mich vor meinen Suppenteller setzte, ob oder ob nicht. – – –

Wenn Lim Tschuang meine Notizen, die ich da schrieb, hätte lesen können, wäre ich heute vielleicht tot.

Die erste, niedergeschrieben auf einem Erdhügelchen, auf moosbewachsenem Stein, ganz im Dornengeschlinge:

«Maccaroni ist eigentlich das einzige Menschliche auf solchen Dschungelreisen!»

Und die zweite Notiz, fast ebenso wichtig:

«Heirat ist vielleicht der beste Trumpf, der im Spiel ‹Leben› ausgeteilt wird. Und gute Trümpfe spart man auf.»

Immer wenn's brenzlig und dumm wird im Leben, wenn ein Mensch sich verpfuscht vorkommt und Enttäuschung über Enttäuschung auf ihn niederregnet, dann erwacht in ihm irgendein letzter versteckter (Galgen-)Humor, erbarmt sich seiner und ist so freundlich, dem armen Menschlein von anderweitig, beliebig woher, die nötige Energie zum 68 Weiterleben zu verschaffen. Das Leben ist kolossal weitsichtig und auf längere Dauer (längere Dauer als es manchmal scheinen möchte) eingerichtet. Immer wieder findet sich ein Trost.

Auch Lim Tschuang hatte unter der Last seiner (von mir ab)geknickten Hoffnungen schwer zu schleppen. Wie ein König war er in den Wald gezogen, seiner Zukunft sicher, behaglich, wie am Vorabend des Abschlusses seines Lebens- und Bombengeschäftes, und jetzt hatte dieser eigentlich sehr unscheinbar und gar nicht besonders klug aussehende Tuan ihm alle seine Träume zerstört. – – –

Wäre er ein bischen weniger geckenhaft gekleidet gewesen, hätte mir seiner erbarmt. –

Auch er fand dann aber am gleichen Abend noch sein Ränklein zur Hoffnung zurück und zu neuen Räuschen.

Während der Heimfahrt am andern Morgen sass er auf unserm Schiffchen mit graublaugelbgrünlichem Gesicht wie einer, dessen erst kürzlich in mühsamem Feldzug eroberter Schwiegervater unerwartet plötzlich verkracht ist.

Durch Hollukki machte er einen letzten krampfhaften Versuch, zu ergründen, ob meine Meinung über das Land nicht etwa doch günstig sei.

Statt aber darauf einzugehen, fragte ich Hollukki:

«Kann ein Krokodil auf einen Baum klettern ?» – –

«Nein Tuan! Das kann ein Krokodil nicht.» –

«So soll es gefälligst im Wasser bleiben – – – !» 69

* * *

Köstlich wurden mir flüchtige Besuche in Bangkok, der Hauptstadt.

So drei Tage weit, über tausend Kilometer mit der Eisenbahn durch den Wald zu sausen, das Herz voll lohender Träume, den Plan zu einer Konzession über ein reiches Stück Land in der Tasche, an Hütten vorbei, und Dörfern, durch Wald, Wald, Busch, über weite salzblütige Steppenfelder nahe dem Meer, aus denen gerillte, wogenzerfressene Kalkwände grau emporschiessen – !

Plötzlich wieder etwas von Bewegung und Geschwindigkeit in sich zu spüren, zu ahnen, dass der fieberdunkle, verworrene Schneckentempo-Wald denn doch nicht das einzige auf der Welt sei.

70 Am dritten Nachmittag der Fahrt durch die offenen Reisfelder Bangkok zuzufliegen, dem Leben zu, an den im Abendlicht der Trockenzeit wüstenbergblau, wie eine Mondlandschaft daliegenden Radburi-Hügeln vorbei.

Zu sehen wie die Dörfer stattlicher und die Menschen häufiger werden. Glutumsprüht mit dem lottrigen Zug durch den Abend – –. Der Grossstadt zu – –.

In der Dunkelheit, des von tausend Flackerlichtern erhellten Bahnhofgewimmels anzukommen. Einzutauchen in dieses siamesisch-chinesisch-malayisch-hindostanische Stimmgewirr.

Und dann in die Stadt hinabzuschwimmen über den grossen Strom und ganz verwirrt plötzlich im grellen elektrischen Licht des modernen Europäerhotels zu stehen – – –

Kaum zwei Tage da, wieder fort. In den Wald.

Wieder den Menam hinauf zur Bahn bei Tagesgrauen. Zwischen all den schwimmenden Bretterbuden und Flosshäuschen durch, die so gut wie grösste Steinpaläste ein ruhiges Heim zu sein vermögen. (Das ist, was in der Eile an diesen Wohnungen auffällt).

Lotosblumeninseln, die langsam den Fluss hinabziehen.

Über dem Häusergewimmel in fröstelnder Kühle ein grasgrüner Morgen.

Zur Linken der Glaskachelbau des Tscheng Tempels, grau wie ein Felsberg in die Luft ragend, und rechts die türmchenreiche Silhouette des Königspalastes, die mit goldenen, grünen, blauen und roten Glitzerziegeln herüberfunkelt.

71 Und drüber: tausend Aasgeier und Möven – –.

Im Takt des Motors an einer Tempelfront vorbei, mit ihren ewigkeitlichen, wie aus Urgotthirnstoff geschnitzten Legenden vom «Guten und Bösen», die dich eindringlich anschauen, zum Nachdenken zwingend, und die nicht wie jene flauen Spielzeugtempel Europas sind, die man nachgerade kennt, sondern anders, östlich-uralt und deshalb neu.

Im Zwang seines Berufes so flüchtig und ohne sich vertiefen zu dürfen, an all diesen Wundern vorüberzuhasten und dann stundenlang in der Bahn allein oder gar mit gleichgültigen Nebenmenschen sich durch den endlosen, eintönigen Wald in die Wildnis zurückzulangweilen, traurig und bitter darüber, dass im Leben Zeit und Geld und Musse nie da zur Verfügung stehen, wo man mit diesen köstlichen Dingen etwas anzufangen vermöchte – – –. 72

* * *

Heisse Tage und kühle Nächte verbrachte ich auf dem Meer. Durch laue Abende trieb mein Boot unterm eintönigen Takt der Ruder flussabwärts. Vom Ufer klangen helle Stimmen herüber, wenn wir zwischen den zerstreut in Palmengärten liegenden Hütten durchglitten, wo im Schein grosser Holzfeuer braune Frauen, im warmen Hauch der Nacht den Oberkörper entblösst, der rhythmischen, wie Spiel anmutenden Arbeit des Reisdreschens oblagen, wo nackte Kinder sich tummelten und von wo der betäubende Duft seltener Früchte und Blumen über uns und das glückliche Land sich ergoss.

Dann legte sich all das Schöne wie eine weiche Decke um mich und beim ununterbrochenen, leisen Beben des Bootes müde werdend, fiel ich in Schlaf, aus dem ich erst wieder aufgerüttelt wurde, wenn Fu Seng, der alte verwitterte Fischer an der Mündung des Flusses das knarrende Segel hochzog.

Und wenn ich dann unterm Dächlein meines schwimmenden Häuschens hervorkrabbelte, noch ein wenig starr und steif, lag die schöne Welt gross und wunderbar hoch vor mir, Wolkenschlösser standen am Himmel, das Meer erstreckte sich unfassbar weit und durch die zarten Dunstschleier im Osten brach leuchtend der Morgen – –.

Wie manchmal bin ich so aus dem sumpfigen, Mangroven bewachsenen Unterlauf eines Flusses ins weite Meer hinausgefahren, das mir nach all den schwülen, fiebrigen Unannehmlichkeiten des Innern sich auftat, wie 73 einem die Sonne über einem grossen Glück aufgeht, das Meer, das mir mit seinen frischen Brisen immer wieder neu und immer mehr der Inbegriff wurde des Herrlichen, des Starken und Gesunden.

Über ein Dutzend mal hat mich Fu Seng auf dem Golf von Siam in seiner chinesischen Dschunk mit dem dunkelrotbraunen Fischflossensegel geführt. Manchmal schossen wir kühn und pfeilschnell auf einer Kante vorwärts, manchmal dörrten unsere Knochen in der Windstille des Tropenmittages. Dann schnitt der Palmenstrand vom blendend weissen Strich der Küste scharf und kontrastreich ab, überragt in rauchig verträumter Ferne von den blauen siamesischen Bergen.

Oder es stieg ein Gewitter über den Horizont herauf, und der Alte hielt dem Ufer zu, bis der Anker Grund fasste. Dann lagen wir rauchend zusammen unter dem Schutzdach aus geflochtenem Rattan, Wellen sprangen auf mit weissen Schaumkronen, das Unwetter ergriff und schüttelte uns, und wenn das Meer sich wieder glättete, legte er seine blecherne Opiumpfeife weg und griff wieder zum Steuer.

O, und wie manchmal hab' ich mit Seng in stoischer Ruhe und zeitlos wie er vor einer Flussmündung auf die Rückkehr der Flut gewartet, im Sand festgerannt – – !

Wie ein brauner Fischer stieg ich dann ins kleine Kanu, mich selber mit dem Kellenruder durch die abendlichen Wasser schaufelnd. Scharen schwarzweiss gestreifter Störche standen wie Fussballmannschaften vor Beginn des Spieles herum, dunkelrote Möven mit scharfen 74 Flügelspitzen kreischten, kühne Bogenlinien über den Himmel schiessend und wackelköpfige Kraniche schnitten so tiefernst-gelehrte Gesichter, dass nur die Brillen zu Profaxen fehlten.

Am Ufer suchten graue Stelzvögel nach Futter, auf blitzraschen Beinchen im Zickzack kreuz und quer rennend wie verrückt gewordene Spaziergänger.

Eintönig quollen die matten Wellen des Niederwassers heran. Schwere Segler lagen kieltrocken auf der Seite. Lange Stangen, das Merkmal all dieser Meeresufer, stachen in den Himmel, Zaunreihen siamesischer Fischgärten ragten weiter aus dem Meer als zur Hochwasserzeit und deshalb auffällig.

Allmählich kam dann die Flut langsam emporwachsend, die ersten leichten Boote überwanden die Barre am Flusseingang, mein Fährmann gab auch mir ein Zeichen und endlich, nach ein paar Stunden Flussfahrt, winkte mir mit festem Boden ein Obdach, endlich wurde ich erlöst von der Enge meiner kleinen chinesischen Dschunk. 75

* * *

Mit glühenden Farben haften in meiner Erinnerung Bilder von Büffelkarrenfahrten.

Während im südlichsten Siam regelmässige tägliche Regen fallen, kehrt weiter im Norden jedes Jahr eine monatelange Trockenzeit wieder, die das Land in eine Art Steppe verwandelt. Dann holperten meine Reisekarren, eigene Melodien singend, über die steinhart gebrannten Reisfelder. Staubverhüllt girrten und quitschten die Schweren über rauhe Wege oder bis an die Achsen im weichen, den Räderlärm dämpfenden Sand, von breithornigen Wasserbüffeln oder flinken indischen Kühen, mit dem Fetthöcker im Nacken, gezogen.

Der lichte Buschwald war versengt, Laub bedeckte den Boden wie im nordischen Winter.

Früh, wenn die Nacht noch im Wald sass, brachen wir auf. Buschfeuer röteten den Horizont, Aschenstriche von in der unsäglichen Tröckne wie Streichhölzer von einem Ende zum andern verbrannten Baumstämmen lagen am Weg. Allerorten zwischen geschwärzten Gebüschen glimmte der Boden unter dem Flaum grauer Asche.

Die Landschaft war in Schweigen gehüllt, war leidend und auch wenn die Sonne aufging war ringsum kein Leben. Kein Vogel sang, und wir Alle verschmachteten fast, schon am frühen Morgen.

Lange vor Mittag wurde Halt gemacht. Dann stürzten Menschen und Tiere an die Zisterne, in der das Wasser gelb und tief stand.

76 Zäh und träg dahinschleichende Stunden habe ich durch schlaffe Mittage verbracht. Salzige, graue Farben lagen über der staubigen Niederung, flimmernde Hitze brütete über dem kahlen, schattenlosen, im Steillicht der Sonne unwirtlich und feindlich dastehenden Wald. Meine Haut wurde ledrig. Das Wasser schmorte in meinen Knochen.

Erst spät Nachmittags, wenn die grösste Glut vorbei war, wurde zum Weitermarsch gerüstet. Oft lag die nächste Zisterne mehr als einen Tagesmarsch entfernt, so dass das Wasser in Bambusröhren mitgeführt werden musste.

Wie wuchtige Bilder aus der Urgeschichte der Menschheit waren die einzelnen Szenen aus diesem Wanderfahrtenleben: Groblochtige Karren. Lagerfeuer. Nomaden und Jäger. Wie manche Nacht lag ich da unter den Sternen halbnackt auf der ebenen Erde, warm und heiss wie sie und voll in den kühlen Abend aufschiessenden Lebens.

Zuletzt schlief ich todmüde ein, um kurz nach Mitternacht, wenn der Mond steil am Himmel stand, wieder aufzubrechen.

Nie ist mir die Abhängigkeit der Braunen von Tag und von Nacht, und ihre trotzdem so herrliche Zeitlosigkeit mehr zum Bewusstsein gekommen als dort, nie ahnte ich tiefer, dass unstillbare Wanderlust zu den Grundeigenschaften der Menschenseele gehöre, dass sie ein Erbteil sei, uns allen gegeben, das wir aus uralten Zeiten von unsern Vorfahren auf den Lebensweg mitbekommen haben. – – –

Eines Abends versank die Sonne blutrot im Westen 77 und schon stieg unnatürlich gross die gelbe Scheibe des Mondes auf. Die Luft war klar und trocken wie in der Wüste. Meine Karren waren zum Lager zusammengestellt.

Da kündete girrende Rädermusik die Ankunft einer neuen Karawane an. Bläulicher Dunst, der Rauch der Lagerfeuer hatte sich ausgebreitet und hing in den vertrockneten Kronen der Bäume wie ein Schleier.

Ich sass an eines der klotzigen Räder gelehnt, als die fremden Fuhrwerke dicht neben den meinen zum Kreis zusammenfuhren. Einundzwanzig Gespanne in einer Staubwolke. Unter den Sonnendächern ahnte ich Menschen, ein ganzes Dorf auf der Wanderschaft nach bessern Weidegründen.

Männer sprangen von den Deichseln, Ochsen muhten erlöst, Zigeunerleben erwachte und bald war die Luft erfüllt vom herben Geruch angebrannter Erde.

Einem der Wagen entstieg eine schöne Frau. Vor meinen Augen spaltete sie Holz, machte Feuer, kochte, reichte einem Säugling die Brust, und manchmal sprach sie in knappen aber tief melodischen Sätzen. Ihre Haut war kastanienbraun, ihr Frauengesicht weich und mild in der Mondnacht – – – – – – – – – – –

Lange Abende wurden mir zu Träumen,
ganz erfüllt vom Widerschein des Lagerfeuers
auf der kupferbraunen, runden Haut
einer Frau.
Abende, da ich stundenlang andächtig sass
und unerhört tief hineinfühlen durfte
ins Mysterium des Lebens – – –. 78

* * *

Wenn ich von den Dschungelfahrten müd und abgespannt nach S. in mein Hauptquartier zurückkam, wohnte ich in einem Haus, das ich nie vergessen werde. Es war im üblichen Stil tropischer Bungalows gebaut, meine Firma hatte es von der Regierung gepachtet und es war (vielleicht deshalb) im Laufe der Zeit arg verlottert. Regen, Sonne und Mondlicht fanden leichten Zutritt, die weissen Ameisen bauten ihre bröckligen Tunnelweglein wandauf, wandab und den Holzbohrkäfern war es schon fast geglückt, den Hauptstützbalken zu knicken.

Mit seinen vielen Erkern und Winkeln, mit dem tanzsaalweiten Verandaboden und dem breitausladenden Dach war Rong Pi Bun, wie die Ruine hiess, alles andere eher als gemütlich und nachts das reinste Gespensterschloss.

Mein Feldbett stand da in einem dumpfen Kämmerlein von echt chinesisch abgeschlossener Bauart (über dem Rossstall), wo das Einschlafen ein ebenso grosses Kunststück war wie das «zur Zeit erwachen».

Aber auch sonst hat dieses Haus wenig freundliche Bilder in mir zurückgelassen.

Vom frühen Morgen bis spät in den schwülen Nachmittag kamen chinesische Handelsleute, mit meiner Firma marktend und feilschend, manchmal unbegreiflich zäh und ernst und langwierig redend, manchmal auch eigentümlich kreischend, dass ich anfangs nie recht wusste, ob sie's freundlich meinten oder fluchten.

Alte, dürre Minenbesitzer mit dunkelgrünen Yadeitarmspangen sprachen vor in tuschschwarzen, vornehmen 79 Gewändern, und schöne jugendlich-frische Chinesen, europäisch herausgeputzt und im Gefunkel goldener Siegelringe und Uhren, mit seidenen, aber lächerlicherweise über die Hosenbeine (zur Schau) gelegten Sockenhaltern und anderweitigen Zierereien.

In dem düstern Geschäftslokal sassen zwei Angestellte – auch wieder Chinesen – die unheimlich gewandt und mit unglaublicher Geduld aus dem Siamesischen ins Englische, aus dem Englischen ins Chinesische, aus dem Siamesischen ins Malayische und hin und zurück und kreuz und quer übersetzten, Briefe schrieben um Geld, und Briefe lasen wegen Geld.

Auch all die vielen, dicken Bücher, die in einem Schrank standen, schrien Geld, und jedes Wort, das da gesprochen wurde, war Geld, bald war es Pfundgeld, bald wurden siamesische Tikale addiert oder in Singapurdollaren irgend etwas berechnet. Und die andern Weissen, die etwa neben mir noch da waren – lauter ehemalige Europäer (das ist eine treffende Diagnose für sie) – auch die waren Geld, zwar meistens erst hoffentliches.

Da sah ich manchmal so tief in den scheusslich nüchternen Betrieb «Handelsfirma im Osten», dass ich fortrennen musste, um mich beim Anblick der nächsten Kokospalmen zu besinnen. Wenn ich dann durch die Schattenalleen der wunderschönen Palmengartenstadt ins freie, offene Reisland hinausstürmte, lag etwa ein neutraltintenblauer Nachmittag über dem Land, oder die Überreste eines verhaltenen Gewitters hingen in Fetzen um die fernen, 80 in zartem Dunst verschwimmenden Gipfel der Waldberge.

Statt dass ich, von den harten Reisen «heim» kommend ein Heim fand, blieb alles mir fremd und kalt an dem furchtbaren Haus, selbst feindlich, und von jener seelenlosen Tierigkeit erfüllt, die überall da im Osten sich zeigt, wo der Einfluss Europas hindringt. Kein Freundeswort hörte ich da, kaum eine Spur von Mitgefühl habe ich gefunden, Tag um Tag musste ich, alle Gewalt und Selbstzucht zusammennehmend, versuchen, anders zu erscheinen als ich bin, und krampfhaft vermeiden, je etwas durchblicken zu lassen von meiner grossen Sehnsucht nach «gescheit», nach «schön» und nach «gut». – –

Diese fortwährenden Eindrücke, jedesmal wenn ich für ein paar Tage ins Hauptquartier kam, waren so stark, dass ich auch abends, wenn das wüste Geschäftstreiben verstummte, das Gefühl der Verlassenheit, des unter einem fremden Spuk leidens, nicht recht los zu werden vermochte.

Ich erinnere mich so gut noch wie das kam. Wie ich von Tag zu Tag stummer und vergifteter wurde von diesem Leben um mich, wie ich mich Abend für Abend schlaflos wälzte auf dem schmalen Bett unterm Mosquitonetz, dumpf mich aufbäumend gegen eine ungeheure schwarze Macht, die mich immer unwiderstehlicher hinabziehen wollte in jene Welt des Ekels. (Ich weiss heute, dass mich damals eine unheimliche Furcht «auch so zu werden wie jene» plagte).

Aus solchen gequälten Tagen heraus wuchsen mir 81 unvergessliche Nächte, die ich in dem ungeheuerlichen Hause erlebte. Die ruhige Weisheit, die von jener einen ausging, die ich hier zu schildern versuche, werde ich nie mehr verlieren.

Wieder lag ich in meinem Kämmerlein. Es war dumpf und dunkel um mich und nur durch ein paar Ritzen in der Wand drang spärliches Mondlicht in bleichen Bändern. Das ganze Haus bebte in fieberndem Leben. Tjock, tjock lachten die milchigweissen Geckoeidechschen von der Decke herab, Fledermäuse jagten unter dem Dach, von Zeit zu Zeit einen raschen Abstecher durch das Luftloch meiner Zimmertüre machend. Meine Hunde, durch die Schatten des ungeheuerlichen Baues erschreckt, rannten ununterbrochen, wie von bösen Geistern besessen über den weiten Holzboden, und wenn ich vermeinte, endlich zu schlafen, krachte es irgendwo im Holz, Bohrwürmer, an die Rastlosigkeit der Zeit erinnernd, krippelten in der Wand und dann summte scharf eine Mücke auf, dicht neben meinem linken Ohr – gewiss schon im Netz!

Unterm Haus stampften unaufhörlich die Hengste. Im Dorf drüben kläffte eine ganze Meute halbverhungerter Pariahunde, die niemand füttert und niemand totschlägt wehleidig, ekelhaft und ohne Rast. Dann und wann hörte ich eine Stimme von der Strasse her, und unhemmbar und unendlich in seiner Fülle und Mannigfaltigkeit drang das Zirpen und Summen der Tropennacht durch die dünnen Bretterwände herein, in unermesslichem Schwall, in allen Tonarten. – – – –

Europäer im Osten, die schlaflos liegen, sagen zum 82 Dschaga, dem indischen Wächter ihres Hauses: Geh, ruf' ein Mädchen!

Kurz und selbstverständlich sagen sie das, und der Dschaga holt das Verlangte, wie etwa ein Kellner eine Zeitung bringt, die man will.

Sollte ich wirklich länger stumpfsinnig allein – – in diesem ungastlichen Haus – – – – – – – – – – – – Ich möchte so eine Braune zu mir nehmen, wie man einen seltenen Vogel in einen Käfig nimmt, wie man schillernde Schmetterlinge mit weichem Schleier vorsichtig einfängt, zum staunend verehren und anbeten.

Wäre das nicht prächtig!

Ich möchte sie in meinem Kämmerlein empfangen: So, endlich kommst du! und sie liegend und gehend und höckelnd betrachten wie ein richtiger Künstler. Wie ein Maler möchte ich mich vor sie setzen, aufs Bett, zigarettenrauchend.

Würde da nicht ein Bildnis entstehen, ein mit Mataharis Farben gemaltes, ein glutüberhauchtes, ganz lebendig-echtes, und das würde dann für immer meines bleiben. Ich würde es mit mir nehmen dürfen durchs ganze Leben, mit mir heim nach Europa, wo die Sonne so blass scheint, wo niemand von Braunen träumt und alles so jämmerlich weiss ist.

Habe ich nicht längst eines ums andere meiner westlichen Vorurteile dem Osten preisgeben müssen? Bin ich Dreissigjähriger nicht immer noch jederzeit bereit «Beiträge zu meiner allgemeinen Bildung» zu sammeln? –

83 Ungeduldig stampften die Hengste im Stall. Tjock, tjock schnalzten die kleeblattfingrigen Eidechschen, verspätete Theaterbesucher – Besucherinnen! schwatzten die Dorfstrasse hinunter hell und laut und zukunftsicher –.

Da musste ich auf einmal an das hohe, im Mondlicht jetzt gewiss gespenstisch weiss leuchtende Grabmal aus uralten Zeiten denken, das dicht hinter dem Haus stand, kegelförmig, spitz und wie extra hieher gestellt als Mahner: «O ihr dummen, kurzlebigen Menschlein mit euren tödlichen Wünschen und Ängsten. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Ist das Sünde, braun herrlich zu finden! Ist nicht braun braun, weil weiss nur weiss ist! Ist das schlecht von mir «Ja!» zu sagen, wenn Tsin mich frägt: «Tuan, darf ich dir Siamesenmärchen erzählen, darf ich dir bunte Schmetterlinge fangen, damit du Freude hast – – ?» – – – erhob ich mich da nicht mit plötzlichem Ruck, bin ich nicht der Wand nach geschlichen, habe leise die Tür aufgemacht – –:

«Dschaga, geh, rufe Tsin!»

Und nickte der Dschaga nicht verstohlen: «Ja, Tuan!»

War ich da trunken, war ich verzaubert, als ich im Schatten des Palmenblattdaches sitzend in die flimmernde Mondnacht staunte – – stumm, zaghaft, hoffend und zweifelnd.

Und dem Dschaga nachsah, wie er über den bleichen Torweg geräuschlos meinen Blicken entschwand, wie da von irgendwoher in abgerissenen Takten Siamesenmusik 84 herüberflutete, bald weich und halbverschwommen wie die Nacht, die mich umgab, bald aufstachelnde schrille Flöten- und Pfeifenjauchzer. O, und diese dumpfen Gongschläge, die der Nachtwind, erst vereinzelt und dann in immer tollerem Wirbel von einem fernen Tempel her an mein Ohr trug – – –.

Habe ich da nicht klar, ganz klar, wie durch eine Brille aus reinstem Kristall weit vor mich gesehen, meine Zukunft gesehen, bis sie auf einmal abbrach – – –.

Warum das alles, wenn doch nicht – – – ?

Warum dieses braun – – – ?

Wollte ich da nicht dem Dschaga nachrennen: «Halt! Halt! Rufe Tsin nicht!» – – – und – lachte dann doch nur gell auf über meine Feigheit – – – – – !

Ganz still ist Tsin bei mir eingetreten, wie ein Sonnentag auf Regentage folgt – – sie allein ein ganzer Festzug.

Und mit ihr ist eine grosse Ruhe, die beglückende Zuversicht über mich gekommen: so du mein Leben, jetzt versteh ich dich endlich und irre nicht mehr an dir vorbei. Nicht länger sollst du über mich faden Kerl lachen. Und jetzt soll es ein für allemal aus sein mit jener furchtbaren Angst, die mich manchmal peinigt, wenn ich mir vorkomme wie einer, der Schönes und Gutes ersehnend und durstig nach Freude ausschauend, doch blindlings am wahren Dasein vorüberrennt. Jetzt hoplaho würde zugegriffen!

Ich stellte Tsin ein Schälchen Reis mit köstlich duftenden Gewürzen auf. Und dann sass sie da, den balligen 85 mit schlanken Händen vor–stossend, wie etwa eine Klavierkünstlerin ihrem Spiel vor–greift, rasch über den ganzen Tastenbereich.

Später war sie eine Zeitlang nur «essen».

Als ich ihr eine Zigarette reichte, war sie eine ganze Spanne Zeit hindurch nichts als «rauchen». Und manchmal interessierte sie sich für irgendetwas anderes, und das ganze bischen Leben in dem herrlichen Wesen drin richtete sich auf dieses Etwas, eine Falte an meinem Kleid, ein Härlein auf meinem Scheitel oder sonst eine Kleinigkeit, und dann, mitten im Betrachten schienen ihre dunklen, wie gemalten Augen diese Angelegenheit zu vergessen, so vollständig zu vergessen, wie wir Europäer nicht mehr zu vergessen vermögen, und abirrend irgendwo weithin zu schauen, gleichsam heimgehend, vielleicht Jahrtausende voraus – vielleicht zurück. Dann war sie wie eine Dichterin. So kurz, so flüchtig wie eine Ahnung und doch voll Seele ist die Stimmung, in der ein Dichter ein Werk tut. Dichten heisst für einen kurzen Moment natürlich sein, sich selbst sein – alles übrige vergessen.

Und ich fühlte, wie ich da in diesem, einem Waldreh ähnlichen, kulturlosen Ding ein Wesen vor mir habe, das wie ein Blümlein am Berghang, wie ein Vögelein auf dem höchsten Dschungelbaum, wie ein Fischlein im weiten Meer sei, dass von ihm dasselbe Geheimnisvoll-Ewigkeitliche ausgehe wie vom Schnee einer unberührten Bergspitze, wo Begriffe Geltung haben, die wir Kulturmenschen kaum mehr verstehen, und ich mit all meinen Ängsten und in der Enge all der mich bedrängenden «du musst» 86 und «du sollst» und «du darfst nicht» wusste jetzt, dass ich nie mehr würde zurückkehren dürfen zu jenem Glückszustand des natürlichen Menschen mit seinem unbewussten Leben.

Da wurde ich ernst. Und die flackernden Augen Tsin's, die mich fragend anblickten, und die wie zwei dunkle Flammen in ihrem ruhigen Gesicht drin sassen, wurden traurig, und ihre samtenen Wimpern zitterten leise und sanken demütig herab, als hätten sie Angst und wollten fragen:

Tuan, warum freust du dich nicht? Warum kann ich es dir nicht recht machen?

Ich aber blieb starr und im Banne des einen Gedankens: Tsin, du hast die Zukunft für dich! Tsin lache, frohlocke, singe – dein ist das Leben.

Es wurde ganz still in dem engen Stübchen, nur durch die schmale Öffnung über der Tür drang das tausendfältige, nimmermüde, nimmersatte Leben der Tropennacht in mächtigem Schwall herein. Tjock, tjock lachten die Geckoeidechschen, und es war ein einziger Jubel ringsum: Tsin hat die Zukunft für sich!

Und schliesslich sagte ich es ihr.

Aber Tsin verstand nicht. Sie umschlang jetzt mit ihren braunen Armen mein linkes Knie, streifte mit ihren weichen Händen das weite Seidengewand zurück und küsste mich auf den Oberschenkel – – – – – –. 87

 


 


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