Balduin Möllhausen
Der Piratenlieutenant – Teil 2
Balduin Möllhausen

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Siebenundvierzigstes Capitel. Schluß.

Von einem Erdtheil zum andern, wie ist für den Gedankenflug der Weg so kurz; von ungetrübtem Glück zum Mißgeschick, wie dreht das Rad sich so schnell; vom Gipfel der Freude zu Kummer und Gram, wie wechseln die schillernden Farben der Seifenblase so flüchtig; wie funkeln die Thränen der Freude so lieblich, wie brennen die stummen Zeugen eines tiefen Schmerzes so heiß!

Der Sommer neigte sich seinem Ende zu. Ein schwach pulsirendes Leben war noch einmal aufgeflackert, um sich demnächst langsam der Ewigkeit zuzuwenden.

»Der arme Johannes,« sprachen diejenigen, die mit dem jungen Manne in näheren Verkehr traten und blutenden Herzens die Abnahme seiner Kräfte beobachteten, welche in so unheimlichem Widerspruch zu seinen Worten stand.

»Wer hätte geglaubt, daß ich dem Leben noch einmal zurückgegeben werden würde,« sagte Johannes selbst mit einem schwermüthigen Lächeln. Er fühlte sich so leicht, er athmete so frei – wie er meinte – daß er zuversichtlich hoffte, sich binnen Jahresfrist wieder seinem ursprünglichen Lebensberuf widmen zu können.

Alle, der Professor nicht ausgenommen, stimmten dem von neuen Hoffnungen beseelten Freunde bei, obwohl man dieselben schmerzerfüllt als Zeichen seiner nahen Auflösung betrachtete.

Eberhard und Anna hatten, von einer größeren Reise zurückgekehrt, in Gesellschaft des freundlichen Onkels eines Tages kaum ihren Einzug in der Residenz gehalten, als Frau Kathrin sich sogleich nach der Behausung des Professors verfügte, um sich persönlich von Johannes' Befinden zu überzeugen. Sie hielt dies für unerläßlich, indem sie voraussetzte, daß Anna ihn noch an demselben Tage besuchen würde, und man nicht wissen konnte – sie war ja eine sehr kluge und überlegende Frau – ob ein plötzliches Wiedersehen statthaft sei.

Sie traf Johannes in seinem Lehnstuhl sitzend und mit mehreren von des Professors Hand beschriebenen Bogen beschäftigt. Er begrüßte sie freundlich und sprach von seiner baldigen Herstellung, als von einer unumstößlichen Thatsache, und da Frau Kathrin von dem Professor ihre Verhaltungsregeln empfangen hatte, so zögerte sie nicht, ihn auf den Besuch Eberhards und Anna's vorzubereiten.

Mit einer Freude, welche sein Antlitz gewissermaßen verklärte, nahm er die Kunde entgegen, und längere Zeit plauderte er noch mit Frau Kathrin über seine Genesung und über künftige Tage eines stillen, friedlichen Glückes.

»Es hat Alles so kommen sollen,« sprach er zu der alten gediegnen Freundin, als dieselbe sich von ihm verabschiedete, »die Wege, auf welche wir geführt wurden, erschienen uns zwar seltsam, allein beim Hinblick auf die zurückgelegte Bahn erkennen wir überall eine weise waltende Hand, welche unsere Schritte lenkte, ein treues Vaterauge, welches über uns wachte. Es hat Alles so kommen sollen; selbst des Professors Kunstschätze mußten drüben verloren gehen, um ihm die Mittel zu bieten, mich zu der Reise zu bestimmen, die einen so wohlthätigen Einfluß auf meine zerrüttete Gesundheit ausübte.«

»Was die Kiste enthielt, wissen sie wohl heute noch nicht?« fragte Frau Kathrin wie beiläufig, aber in dem gespannten Ausdruck ihrer großen blauen Augen verrieth sich, wie willkommen ihr eine genauere Auskunft gewesen wäre.

»Ich weiß es nicht,« antwortete Johannes mit rührender Einfachheit, »da der Professor stets sorgfältig vermied, mit mir darüber zu sprechen, so hatte ich keine Veranlassung, ihn deshalb zu befragen.«

Frau Kathrin stellte sich zufrieden; bevor sie indessen das Haus verließ, trat sie noch einmal bei dem Professor ein, und nachdem sie zuerst sehr freundschaftlich gebeten, dann einen heftigen Wortwechsel herbeigeführt und demnächst gelobt hatte, daß ihr Gatte nie wieder eine mit vielleicht gefährlichen Geheimnissen angefüllte Kiste auf seinen Wagen laden würde, verlor der Professor endlich die Geduld. Er nahm ihr das Versprechen ewigen Schweigens ab, und mit entschiedenem, fast trotzigem Wesen forderte er sie auf, ihm zu folgen. Schnell gelangten sie durch mehrere Gemächer in einen großen Saal, der an des Professors Arbeitszimmer stieß und in welchem sich ringsum große Glasschränke an den Wänden hinzogen. In den Glasschränken standen in Reihe und Glied dicht neben einander sauber gebleichte und sorgfältig zusammengefügte Skelette; lauter Affen und Menschen in den verschiedensten Größen und Stellungen, und alle numerirt und mit lateinischen Namen und Bemerkungen übersät.

Ohne Frau Kathrins Erstaunen zu beachten, führte der Professor sie vor einen Schrank, in welchem sich erst drei Skelette befanden.

»Sehen Sie diese beiden prachtvollen Exemplare,« hob er an, auf die zwei letzten Skelette weisend, »und wenn Sie nur halb so verständig sind, wie ich Sie stets gehalten habe, dann werden Sie einräumen, daß das Geld und die Mühe, welche sie mich kosteten, nicht fortgeworfen wurden. Ha! Dieses Glück, die Knochengerüste eines Mulatten und eines in Amerika geborenen vollblütigen Negers mit dem eines in Afrika geborenen vergleichen zu können! Sie wurden von einem warmen Freunde und Verehrer der Wissenschaft drüben auf einem Schlachtfelde –«

»Und mit solch scheußlichen Gerippen hat Herr Johannes sich so lange herumschleppen müssen?« fiel Frau Kathrin ein, die Hände entsetzt faltend.

»Und warum nicht?« fragte der Professor verdrossen.

»Haben bei ihm in der Stube gestanden des Nachts, wenn er schlief?« rief Frau Kathrin noch immer von Abscheu erfüllt aus, »o, wenn der arme Herr das gewußt hätte!«

Eine Weile schaute der Professor sinnend auf die heftig erregte Frau.

»Für mich sind die irdischen Ueberreste eines einstmals warm pulsirenden Lebens nur Bücher, aus welchen ich lerne und lehre,« versetzte er sodann milde und versöhnlich, »für Sie aber, liebe Frau Kathrin, und für jeden Andern können diese ernst mahnenden Bilder des Todes nichts Erschreckendes in sich bergen, so lange Sie mit ruhigem Gewissen und freudiger Ergebung dem letzten Schritt aus dieser Welt in eine andere, unbekannte entgegensehen!«

Frau Kathrin kämpfte gegen Thränen. Wie um den Ausspruch des Professors an sich selbst zu erproben, blickte sie in die leeren Augenhöhlen der grinsenden Schädel. Sie dachte an den armen leidenden Johannes, und tief bewegt und frei von Zorn oder Entrüstung schritt sie dem Professor voran aus dem Saale.

»Wann wäre die geeignetste Zeit, daß sie ihn besuchten?« fragte sie, bevor sie die Wohnung verließ.

»Gegen sechs Uhr,« antwortete der alte Herr, Frau Kathrin die Hand freundschaftlich drückend, »bis gegen fünf Uhr, oft auch noch länger, pflegt er seinen Mittagsschlaf auszudehnen, und finden sie ihn dann am kräftigsten.« –

Und sie kamen denn auch wirklich zwischen fünf und sechs Uhr desselben Tages, sie kamen Beide, die liebliche Anna und Eberhard, und Beide erfüllt von schmerzlichen Ahnungen.

»Um ihn auf das Wiedersehen vorzubereiten,« entschuldigte sich der Professor, als er sich mit Eberhard entfernte und Anna bat, ein Weilchen zurückzubleiben.

Leise traten sie bei ihrem jungen Freunde ein, der Professor voran, Eberhard ihm auf dem Fuße folgend.

Ihre Blicke fielen zugleich auf Johannes; er saß, wie gewöhnlich, auf seinem bequemen Stuhl, jedoch nicht rückwärts angelehnt, sondern über ein Manuscript geneigt und den Kopf schwer auf die linke Hand gestützt. Die rechte Hand hielt eine Feder; er schien eben geschrieben zu haben.

»Er schläft noch,« flüsterte der Professor, sobald er gewahrte, daß Johannes sich bei ihrem Eintritt nicht rührte, und er war im Begriff, Eberhard wieder hinauszudrängen, als er plötzlich mit einem Schreckensruf auf Johannes zueilte und dessen Hand ergriff.

»Er ist eingeschlafen,« wendete er sich gleich darauf mit bebender Stimme an Eberhard, der tief erschüttert auf Johannes' andere Seite getreten war, »vor wenigen Minuten erst; milde und schmerzlos, wie ein lieber Freund, hat der Tod ihn umfangen« – er konnte nicht fortfahren, der gute Professor, die schmerzliche Bewegung raubte ihm die Sprache. –

Sanft legten sie den dahingeschiedenen Freund auf seine Lagerstätte, sanft und vorsichtig, als hätten sie befürchtet, ihn in seinem Schlummer zu stören.

»Du treues, treues Herz,« flüsterte der Professor, indem er seine Hand auf die bleiche Stirne des verklärt lächelnden jungen Mannes legte, »Du hast gelitten und gerungen in diesem Leben, mögest Du drüben reichen Lohn finden für das, was Du hier erduldetest.«

Er wollte die noch leicht geöffneten Augen des Entschlafenen zudrücken, als Eberhard ihn daran hinderte.

»Nicht Sie, Herr Professor,« bat er, »ein Anderer soll es thun, ein Anderer, dem ein heiligeres Recht zusteht.«

Dann führte er den alten Herrn an den Tisch zurück, wo er seine Aufmerksamkeit auf einige von Johannes auf den weißen Rand des Manuscriptes geschriebene Worte hinlenkte.

»»Nur noch eine Stunde, und ich sehe Dich wieder – wie ruhig schlägt mein Herz – ich höre Deine Stimme – bist Du es Anna? O, welch ein Glück; daß Du mir einst die Augen zudrückst, ist ja Alles, was ich in diesem Leben noch wünsche und hoffe«« – las der Professor; es waren die letzten Gedanken, welche Johannes, wie träumend und ohne es selbst zu wissen, mit unsicherer Hand dem zum größten Theil schon beschriebenen Papier anvertraut hatte.

»Ich ahnte es längst,« sagte der Professor leise, indem er sich aufrichtete und Eberhard traurig ansah, »es giebt Menschen, die auf die Welt gestellt zu sein scheinen, nur um zu dulden und zu leiden. Und nun zu ihr,« fügte er sich ermannend hinzu, »es ist eine schwere Aufgabe, die noch vor uns liegt.«

Geräuschlos, als wären sie von einem heiligen Altar fortgetreten, entfernten sie sich.


Der arme und doch so glückliche Johannes! Umtändelt von süßen Träumen war er eingeschlafen. Ob sein Geist die irdische Hülle, welche er so lange bewohnte, wohl noch umschwebte, bevor er auf ewig in jene, dem gläubigen Gemüthe zulächelnden, lichten Höhen entfloh? Ob er sich vorher noch weidete an den aufrichtigen Schmerzensergüssen, welche so treu widerspiegelten die ihm gezollte unwandelbare innige Liebe? Und wäre ihm dies vergönnt gewesen, mit Thränen der Rührung in den verklärten Augen hätte er sich Demjenigen genaht, von dem allein er Ersatz für das erwarten durfte, was er in seinem irdischen Leben entbehrte, mit Thränen der Rührung und der Dankbarkeit, mit einem Segensspruch auf den Lippen für diejenigen, die weinend sein letztes stilles Lager umstanden.

Schwesterliche Liebe hatte ihm im letzten Kuß die gebrochenen Augen zugedrückt, während heiße Thränen seine bleichen Wangen benetzten; schwesterliche Liebe schmückte mit Herbstblumen und Myrthenzweigen den selbst im Tode noch wohlwollend lächelnden Freund, der so still, so friedlich zwischen den kalten Brettern und Brettchen ruhte. O, wenn er dieses Alles hätte beobachten können! Wenn er gehört hätte die feierlichen Klänge der Glocken, als man ihn im heimathlichen Städtchen neben seine ihm vorangegangene Mutter bettete. Wenn er gesehen hätte die Thränen und Blüthen, die zu ihm in die offene Gruft hinabrieselten, wenn er vernommen hätte und noch vernähme, wie man im trauten Kreise aller derjenigen, die er im Leben kannte und liebte, seiner in Worten treuer Anhänglichkeit täglich gedachte und noch gedenkt!

Blumen entsprießen seiner Decke, Blumen, gepflegt mit Liebe und Sorgfalt. Zu seinem Grabe wallfahrtet oft die geliebt Jugendgespielin in Begleitung ihres Gatten, der Frau Kathrin und zweier lieblicher Kinder, von welchen das eine den Namen Johannes trägt. Aber auch der Professor, vollständig ausgesöhnt mit der Welt, entschließt sich jetzt leichter zu kleinen Reisen, die ihn gewöhnlich über ein bestimmtes Landstädtchen und einen von mächtigen Eichen und Linden beschatteten Friedhof führen.

Der Kärrner Braun verfolgt nach wie vor sein altes Gewerbe. Den Heimathsort seines »Schätzchens«, wie er Anna noch immer am liebsten nennt, berührt er auf seinen Fahrten sehr häufig. Er rastet daselbst jedesmal einige Stunden, und nachdem er dem nunmehr schon alternden Hechsel die Oberaufsicht über den Elephantenwagen und die drei Holsteiner anvertraut hat, begiebt er sich regelmäßig nach einer freundlich von Eichen und Linden beschatteten Stätte, um daselbst einige Blumen oder ein immergrünes Zweiglein auf einem Grabe zu pflücken und als Andenken für gewisse Leute mit heimzunehmen. Bei solchen Gelegenheiten scheint es ihm recht schwer zu werden, sich von der Stelle zu rühren. Abwechselnd bohrt er gleichsam das linke und das rechte Auge in den kleinen Hügel ein, und an dem stattlichen rothen Borstenkragen reißt er mit einem Grimm und mit einer Heftigkeit, daß ihm zuweilen die hellen Thränen über die gebräunten Wangen rollen und er gezwungen ist, zu dem in dem glanzledernen Hute verborgenen geblümten Taschentuch seine Zuflucht zu nehmen. Er weiß selbst nicht, wie es zugeht, allein ihm ist, als stecke Frau Kathrins Wollknäuel wieder einmal in seinem Halse. Erst wenn er eine Stunde später neben seinem schwer befrachteten Fuhrwerk einherwiegt, die alten Holsteiner kraftvoll die weiße Chaussee stampfen und Hechsels gußeiserne Doppelnase pflichtmäßig an den blaugestreiften Magneten haftet, weicht das Knäuel weit genug zur Seite, um ein klares und gesundes: »immer successive!« vorbeizulassen.

Die Peitsche knackt und klappt und in immer dichteren Wolken fliegt der bläuliche Tabaksdampf um den vortrefflichen rothen Kärrnerschmuck. Von den Verblichenen wandern des biederen Brauns Gedanken zu den Lebenden, und stolzer und selbstbewußter wölbt sich die breite Hünenbrust, und weiter nach vorne schwingen abwechselnd die mächtigen Schultern.

»Mein Sohn ein hoch angesehener Kaufmann, meine Schwiegertochter das beste Schätzchen der Welt,« folgen seine Betrachtungen auf einander; »die Kathrin um zwanzig Jahre verjüngt, trotz ihrer Großmutterschaft, und der Amerikaner im Begriff, ganz zu uns überzusiedeln! Herrliche Zukunft! Kärrner und Kaufmann und dabei Brüder; und was für Brüder! Trotz seines schweren Geldes möchte ich aber nicht mit ihm tauschen!«

Die Peitsche knickt und knackt, das eine Auge schließt sich berechnend, der gegenüberliegende Mundwinkel sinkt tief herab, über die drei Holsteiner hin tönt es zwar heiser, aber doch wie heller Jubel:

»Immer successive!«


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