Balduin Möllhausen
Der Piratenlieutenant – Teil 2
Balduin Möllhausen

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Einundvierzigstes Capitel. Im Comptoir des Millionärs.

Zur bestimmten Stunde, sogar zur bestimmten Minute hatte der muntere Pony den leichten und zierlichen Wagen vor Brauns Geschäftshaus hingerollt und zur bestimmten Minute stieg Braun selbst aus, um sich nach seinem Privatcomptoir zu begeben, wohin ein seiner bereits harrender Diener die bekannte Mappe vorausgetragen hatte.

Leicht grüßend schritt er an den verschiedenen Pulten vorüber, hinter welchen die Buchhalter höflich, jedoch ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, dankten, bis er endlich den Tisch erreichte, an welchem sein Neffe Eberhard zu arbeiten pflegte.

»Ist Herr Braun noch nicht eingetroffen?« fragte er, sobald er bemerkte, daß dessen Sitz leer war.

Im Ton seiner Stimme, wie im Ausdruck seines Gesichtes zeigte sich dabei nicht die leiseste Spur von Mißfallen oder Ueberraschung; seine Züge trugen, wie immer in seinem Comptoir, einen ruhigen, undurchdringlichen Ernst, als seien in seiner Brust alle andern Gefühle, als die für das Blühen seiner Firma und die Vermehrung seiner Reichthümer erstorben gewesen.

»Herr Braun hat sich entschuldigen lassen, unabweisliche Geschäfte hätten ihn auf einige Tage von der Stadt entfernt,« lautete die Antwort des ersten Buchhalters.

Um die schmalen Lippen des Millionärs zuckte es schmerzlich.

»Sorgen Sie dafür, daß die ihm übertragenen nothwendigsten Arbeiten erledigt werden,« sagte er im Davonschreiten.

»Es ist Alles geordnet,« entgegnete der Buchhalter, und es herrschte in den umfangreichen, aneinanderstoßenden Räumen wieder die gewöhnliche feierliche Stille.

Braun hatte in seinem Arbeitszimmer, welches von dem nächsten Gemach durch eine Glaswand geschieden war, vor seinem Schreibtisch Platz genommen. Einige Minuten stützte er das Haupt schwer auf die Hand, dann die seitwärts von ihm liegenden eingelaufenen Briefe heranziehend, begann er mit einer gewissen kaufmännischen Entschiedenheit in seinen Bewegungen dieselben zu öffnen, durchzulesen, mit einzelnen auf die Beantwortung bezüglichen Notizen zu versehen und in verschiedene Schichten vor sich zu ordnen. Nur gelegentlich wurde er in dieser Arbeit unterbrochen, wenn von der Kasse her ein junger Mann bei ihm eintrat, schweigend Quittungen und Wechsel zur Unterschrift vor ihn hinlegte und nach Ausfüllung derselben ebenso stumm wieder verschwand.

Eine Stunde war in dieser Weise verstrichen, als Arthur angemeldet wurde, der ihn dringend zu sprechen wünschte.

Gleich darauf erschien der Angemeldete. Braun erhob sich und ihm einen Schritt entgegengehend, reichte er ihm mit gemessenem Wesen die Hand, wobei er ebenso gemessen fragte, womit er ihm dienen könne.

Arthur, der mit Braun bis jetzt nur in dessen Villa zusammengetroffen war, fühlte sich durch den kalten Empfang wie feindselig angehaucht. Er hatte keine Ahnung von der Doppelnatur, welche in dem alten Kaufherrn wohnte, und dessen Entgegenkommen mißverstehend, wurde er plötzlich schwankend in den Vorsätzen, welche ihn dorthin geführt hatten.

Eine gewisse Verwirrung prägte sich in Folge dessen in seinen Zügen aus, die wieder von Braun mißverstanden wurde und ihn veranlaßte, bevor Arthur antwortete, weiter zu fragen, wie hoch die Summe sich belaufe, deren er bedürfe, und daß er die Güte haben möge, sich nach der Kasse zu bemühen und daselbst jeden beliebigen Betrag zu entnehmen.

Arthur stieg das Blut in die Schläfen hinauf; er war entrüstet, und dennoch vermochte er nicht, beim Hinblick auf die würdige Gestalt Brauns, so zu antworten, wie es auf jeder andern Stelle von ihm zu erwarten gewesen wäre.

»Sie irren sich, ich gebrauche kein Geld,« versetzte er endlich mit einer fast übermäßig höflichen Verbeugung, und zerstoben waren die Vorsätze, welche er in der verflossenen Nacht in Sans-Bois' Gesellschaft und auf dessen wohlmeinenden Rath gefaßt hatte; »meine Mittel sind noch nicht erschöpft, sie werden ausreichen, bis ich Gelegenheit finde, mir neue zu erwerben.«

»Kann ich Ihnen behülflich sein, diese Gelegenheit schneller herbeizuführen?« fragte Braun im Comptoirtone ruhig weiter.

»Für das großmüthige Anerbieten danke ich Ihnen aufrichtig,« erwiderte Arthur bitter, »ich komme überhaupt nicht in Geschäften, am allerwenigsten aber, um nach irgend einer Richtung hin Ihre Hülfe in Anspruch zu nehmen. Der Grund meiner Störung war nur, in – nun, in Privatangelegenheiten eine Unterredung mit Ihnen nachzusuchen; allein ich begreife, Sie sind beschäftigt, ich bitte daher um Verzeihung, hier eingedrungen zu sein.«

»Meine Zeit ist allerdings sehr beschränkt,« versetzte Braun sinnend, »allein – bitte, sagen Sie mir, sind die bezeichneten Angelegenheiten dringender Natur?«

»O nein, ganz und gar nicht,« antwortete Arthur mit einem hochmüthigen, fast spöttischen Lächeln, »sie könnten im Falle der Noth sogar bis an's Ende der Welt hinausgeschoben werden.«

»Nun nun, das wollen wir eben nicht thun, mein lieber Freund,« suchte Braun ihn zu beruhigen, obwohl keine Muskel seines Comptoirgesichtes sich veränderte, »und wenn Sie nur die Freundlichkeit haben wollten, mich in meiner Wohnung zu besuchen – vielleicht heute Nachmittag um sechs Uhr oder morgen Vormittag vor elf – so würde ich Ihnen gern zu Diensten stehen.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden,« entgegnete Arthur kaum noch fähig, seinen Unmuth zu verbergen, »ich werde mir also erlauben, Ihnen zu gelegenerer Zeit meine Aufwartung zu machen.«

Braun verneigte sich höflich, und Arthur war im Begriff, sich zu entfernen, als er sich plötzlich noch einmal umwendete.

»Vielleicht gestatten Sie mir, Ihren Herrn Neffen auf einige Minuten zu sprechen?« fragte er mit erzwungener Gleichgültigkeit, »ich suchte ihn in seiner Wohnung, hatte aber nicht die Freude, ihn zu Hause zu treffen.«

»Ich bedauere sehr, einräumen zu müssen, daß mein Neffe abwesend ist,« antwortete Braun ebenso kalt und theilnahmlos.

»Wo würde ich ihn am ehesten finden?«

»Auch darüber kann ich keinen Aufschluß ertheilen; er ist auf einige Tage verreist; nach seiner Heimkehr verschaffe ich Ihnen aber gern die Gelegenheit, ihn ebenfalls draußen in meiner Wohnung zu sehen.«

Bei der Nachricht, daß Eberhard verreist sei, erschrak Arthur. Eine Frage, die jedenfalls weitere Erörterungen nach sich gezogen hätte, schwebte auf seinen Lippen; sein verletzter Stolz gewann indessen schnell wieder die Oberhand, und noch einmal sein Bedauern aussprechend, überhaupt gestört zu haben, empfahl er sich.

Mit aufrechter Haltung und die Comptoirarbeiter kaum eines Blickes würdigend, schritt er durch die angrenzenden Räumlichkeiten. Erst als die letzte Thüre sich hinter ihm geschlossen hatte und die nach den unteren Räumen und zur Straße hinabführende Treppe vor ihm lag, gelangten die Gefühle bitterer Enttäuschung und verhaltenen Zornes auf seinem Antlitz zum Durchbruch.

»Ha, auch er hält mich für einen Bettler,« murmelte er, während Thränen in seine Augen zu dringen drohten, »wohlan denn, ich kann ohne ihn leben, er aber soll erfahren, wenn es zu spät ist, wer das Unglück von seinem Hause abwenden wollte und daran gehindert wurde. Wie ganz anders würde er mich empfangen haben, wäre ich als reicher Mann vor ihn hingetreten!«

Er war unten angekommen, und in demselben Augenblick, in welchem er auf die Straße trat, rollte der von dem munteren Pony gezogene Wagen vor das Haus.

Ohne das Gefährte zu beachten, wollte er vorüberschreiten, als eine Stimme, welche ihm das Blut wärmer und schneller zum Herzen trieb, zu ihm herüberdrang und er, aufschauend, Anna's, von der Kälte lieblich geröthetes Antlitz gewahrte, wie ihm dasselbe zwischen kostbaren Pelzen und Decken hervor holdselig entgegenlächelte.

»Herr Arthur!« rief sie, und der Ausdruck innerer Besorgniß, der auf ihren offenen Zügen ruhte, wurde verdrängt durch den einer emporflammenden Freude, »wie lange haben wir nicht den Vorzug gehabt, Sie bei uns zu sehen? Und nun muß ich Sie gerade hier bei meinem theuren Wohlthäter treffen! Sie haben ihn doch gesehen und gesprochen?«

»Ich habe ihn gesehen und gesprochen,« antwortete Arthur, indem er Anna aus dem Wagen half und sie bis an die Treppe führte, »allein er war so dringend beschäftigt, daß unsere Unterredung einen nur sehr kurzen Verlauf nahm – er bat mich, ihn zu einer gelegeneren Zeit auf der Villa zu besuchen.«

Obgleich Arthur sich die größte Mühe gab, sorglos zu erscheinen, mußte im Tone seiner Stimme doch etwas gelegen haben, was Anna befremdete, denn mit einer kurzen Bewegung zu ihm aufblickend, fragte sie besorgnißvoll:

»Haben Sie Herrn Braun auch nicht mißverstanden? Er meint es sonst doch immer so gut mit Ihnen, und nie hört man ihn anders, als mit wahrhaft freundschaftlichen Gesinnungen von Ihnen sprechen.«

»Nein nein, mißverstanden habe ich ihn nicht,« entgegnete Arthur, und er kehrte das Haupt lächelnd ab.

»Aber ich errathe, Sie fühlen sich verletzt,« fuhr Anna dringender fort, »und es liegt in Ihrem Plane, die Villa fortan zu meiden, habe ich Recht, Herr Arthur?« und indem sie fragte, leuchtete ein so inniges Bedauern, eine so aufrichtige Zuneigung aus ihren Augen, daß Arthur sich völlig außer Stande fühlte, das Gegentheil von der Wahrheit zu behaupten.

»Ich räume ein, daß ich wirklich Bedenken hege, mich wenigstens in nächster Zeit da einzudrängen, wo meine Gegenwart vielleicht unerwünscht ist,« antwortete er endlich mit freundlichem Ernste, »um so mehr, als das, was ich Herrn Braun mitzutheilen habe, füglich auf brieflichem Wege erledigt werden kann.«

»Nein, nein, Herr Arthur, so dürfen Sie nicht von uns scheiden,« nahm Anna mit wachsendem Eifer das Wort, und zutraulich ergriff sie des jungen Mannes Hand; »erst wenn Sie fern sind, wollen sie an meinen gütigen Wohlthäter schreiben; o, Herr Arthur, thun Sie das nicht; bedenken Sie, wir Alle wünschen sehnlichst die Gelegenheit herbei, unsern eigenen Gefühlen dadurch zu genügen, daß wir Ihnen unsere herzliche, aufrichtige Anhänglichkeit beweisen. Reisen sie daher nicht, ohne uns vorher gesehen zu haben, ferner bin ich Ihnen ja noch die Erzählung schuldig – Sie wissen – von so vielen Dingen, durch welche Sie möglichen Falls an Ihre Heimath und an Ihre glückliche Kindheit erinnert werden.«

Anna bat so süß, so innig und mit einer so lieblichen Offenherzigkeit, aus ihren redlichen Augen strahlte so viel Unschuld und Liebe, daß Arthur, indem er die holde Stimme vernahm und in die tiefen blauen Augen schaute, eine milde, ihn gleichsam beseligende Rührung in seine Brust einziehen fühlte.

»Sie sind eine Zauberin,« sprach er träumerisch, »ein freundlicher Hausgeist, der es versteht, alle Menschen nach seinem Willen zu lenken.«

»Gerade so sagte auch Frau Kathrin, die prächtige Frau, von der ich Ihnen bereits erzählte,« fiel Anna treuherzig ein, »und da darf ich schon solche Vergleiche auch von anderen Leuten dulden, zugleich aber versuchen, meinen Zauberkünsten Geltung zu verschaffen. Sie werden also kommen, Herr Arthur, Sie lassen mich nicht vergeblich bitten, und meinem armen Johannes ersparen Sie die herbe Kränkung, daß Sie von dannen ziehen, ohne ihm Lebewohl gesagt zu haben.«

»Ich komme, ich werde kommen,« versprach Arthur jetzt, und Anna's Hand noch einmal innig drückend, eilte er, ohne ein anderes Wort des Abschieds, auf die Straße hinaus.

Wie ein Berauschter verfolgte er anfangs seinen Weg; noch immer glaubte er den Ton der süßen Stimme zu vernehmen, der ihm so warm zum Herzen gedrungen war, noch immer in die lieben blauen Augen zu schauen, die so vertrauensvoll auf die seinigen gerichtet gewesen.

»Welche Thorheit,« sprach es nach einiger Zeit in seinem Herzen, »würde sie so frei, so ohne alle Scheu gesprochen haben, überschritte ihr Wohlwollen auch nur um die Breite eines Haars die Grenze einer herzlichen Freundschaft?«

»O, dieser Johannes, er muß sehr, sehr glücklich sein,« hallte es nach einer längeren Pause in seinem Innern, und er schritt wieder so fest und selbstbewußt einher, als ob er nunmehr ganz bestimmt mit sich und der Welt abgeschlossen habe. – Anna war längst bei dem alten Braun eingetreten, der sie mit kaum geringerer Förmlichkeit willkommen hieß, als er kurz zuvor Arthur begegnete. Sie kannte indessen seine Weise, und anstatt zurückzuschrecken, legte sie Hut und Mantel ab, dadurch ihre Absicht bekundend, vorläufig nicht wieder aufzubrechen. Leise bewegte sie sich einher, leise und mit unnachahmlicher, natürlicher Anmuth. Gänzlich fremd jeder Berechnung und nicht ahnend den Einfluß, welchen sie, ohne es zu wollen, auf den alten Herrn allmälig gewonnen hatte, entwickelte sie doch so viel sittige Entschiedenheit und Sicherheit, als sei sie nur in treuer Pflichterfüllung erschienen, wie etwa die Kassenführer, die von Zeit zu Zeit eintraten, um sich die entsprechenden Unterschriften einzuholen.

Eine Viertelstunde hatte sie wohl in dem Comptoir zugebracht, zwischen den auf einem großen runden Tische liegenden Zeitungen und Journalen blätternd, als Braun sich plötzlich nach ihr umwendete und sie abermals, jetzt aber mit mehr Herzlichkeit begrüßte.«

»Zum Abholen ist's eigentlich noch zu früh,« bemerkte er darauf, indem er nach der Uhr sah, »kaum halb eins, und vor drei Uhr breche ich nicht gern auf.«

Anna küßte mit kindlich bescheidenem Wesen des alten Herrn Hand, und ihn mit einer leichten Verwirrung anschauend, antwortete sie:

»Sie jetzt schon abzuholen, lag nicht in meiner Absicht; ich habe daher auch den Wagen zurückgeschickt und zur bestimmten Stunde wieder hierherbestellt. Wenn es mir aber gestattet wäre, so lange hier zu verweilen – ich beschäftige mich unterdessen mit den Büchern dort – vielleicht findet sich später ein halbes Stündchen, in welchem Sie weniger durch Ihre Arbeit in Anspruch genommen werden –«

»Du hegst wohl den heimlichen Wunsch, Dich mit mir zu unterhalten?« fragte Braun gütig lächelnd, »hast Du irgend ein Anliegen, so offenbare es ohne Scheu; ich verspreche Dir dagegen im Voraus, daß Alles pünktlich gewährt werden soll.«

Anna zögerte einige Sekunden; ihre großen blauen Augen schimmerten feuchter; die liebevollen Worte ihres Wohlthäters wirkten ähnlich, wie einst das trauliche »Schätzchen« des biedern Kärrners, wenn er mit seinem bezeichnenden Blinzeln und tief gesenkten Mundwinkel ihr die Hand aufs Haupt legte. Sie vermochte daher nur so zu antworten, wie es in ihrem Herzen geschrieben stand: treu und nicht um einen Gedanken durch Scham oder Höflichkeit aus ihrer natürlichen Bahn gedrängt.

»Als ich mich zu dem frühen Besuch entschloß,« sagte sie schüchtern, »hegte ich wirklich den Plan, eine Unterredung mit Ihnen herbeizuführen – die Vorfälle von gestern Abend – ich fühlte mich so bedrückt –«

»Und da möchtest Du wohl Dein Herz bei mir erleichtern?« fiel Braun wohlwollend ein.

»Ja, das möchte ich,« bekräftigte Anna mit rührender Offenheit, »Ich bin zwar darauf vorbereitet zu warten, namentlich seit Herr Arthur mir mittheilte, daß Sie –«

»Du bist ihm wohl begegnet? Ja, er war hier; ein prächtiger junger Mann, welchen ich wohl für mein Geschäft gewinnen möchte. Es ist indessen schwieriges Verkehren mit ihm, er fürchtet sonderbarer Weise, daß hinter meiner Vorliebe für ihn eine Art Belohnung für seine Dir geleisteten Dienste verborgen sein könnte. Es scheint überhaupt ein Stolz in die jungen Leute gefahren zu sein, gegen welchen Sterbliche, und beseelt sie der heiligste Wille, vergeblich ankämpfen. Er wird uns übrigens heute oder morgen draußen besuchen; ich habe ihn sehr dringend eingeladen.«

Anna erröthete, indem sie erwog, daß ohne ihr herzliches Zureden Arthur wohl schwerlich der Einladung Folge geben würde, und ihre Augen flehentlich zu Braun erhebend, sprach sie holdselig lächelnd:

»Aber wie, wenn auch auf mich etwas von diesem Stolze übergegangen wäre! Wenn nach Beiwohnung der gestrigen ergreifenden Scene auch in mir die Frage erwacht wäre, mit welchem Rechte ich mich in Ihrem Hause befinde und mich Ihres gütigen Schutzes erfreue?«

Indem Anna noch sprach, erhielt Brauns Antlitz einen Ausdruck von Schwermuth, und als sie geendigt, legte er, wie der Kärrner so gern zu thun pflegte, seine Hand auf Ihr Haupt. »Ich tadle Dich nicht wegen dieser Frage, mein Kind,« hob er bewegt an, »ich finde sie unter den obwaltenden Verhältnissen sogar natürlich und gerechtfertigt. Schon lange beabsichtigte ich, Dir eine darauf bezügliche Erklärung zu geben, und zögerte nur noch, bis ich einige wichtige, meine Privatangelegenheiten betreffende Anordnungen getroffen haben würde –«

»Und können wir nicht dennoch so lange warten?« fiel Anna schnell ein, und auf ihrem Antlitz spiegelte sich die Besorgniß, mit ihrer Bitte einen trüben Nachhall in ihres Wohlthäters Brust erweckt zu haben.

»Nein, nein,« entschied Braun sanft, »nachdem die erste Einleitung getroffen ist, wüßte ich keinen günstigeren Zeitpunkt, als gerade jetzt. Aber nicht hier, mein Kind, nein, nicht hier; ich liebe es nicht, bei derartigen Gesprächen von meinen Leuten beobachtet zu werden«; und sich erhebend und Anna die Hand reichend, führte er sie nach einer kaum bemerkbaren Tapetenthüre, die in ein kleineres, vornehm und behaglich ausgestattetes Seitengemach öffnete.

»So, mein Kind, hier sind wir ungestört,« fuhr er fort, nachdem sie eingetreten waren, und er schob zwei Polsterstühle für sich und Anna neben einander, »man weiß jetzt, daß ich für Niemand zu sprechen, oder vielmehr, daß ich nicht anwesend bin. Ich bitte Dich daher, mir Deine volle Aufmerksamkeit zu schenken und frei zu fragen, wenn Dir Dieses oder Jenes nicht ganz verständlich sein sollte.

»Ahnst Du etwa, welches Verhältniß zwischen uns Beiden besteht?«

Anna zitterte; sie fürchtete sich fast vor den Enthüllungen, welche ihr mit so viel Feierlichkeit angekündigt wurden.

Braun, der ihre Hand hielt, mochte ihre Empfindungen errathen, denn bevor sie antwortete, hob er wieder an:

»Aengstige Dich nicht, mein liebes, liebes Kind, Du sollst nur Gutes erfahren, wenn auch recht viel Wehmüthiges sich mit einschleichen mag. Denke indessen an Deine edle Mutter, vergegenwärtige sie Dir im Geiste und Du wirst fühlen, wie deren Bild Dir Muth und Stärke verleiht. Einen näheren Zusammenhang ahnst Du also nicht?«

»Ich habe nie ernstlich darüber nachgedacht,« versetzte Anna leise, »die mir gewordenen Beweise von Wohlwollen und Liebe nahm ich gedankenlos hin; dieselben beglückten mich, weil sie von Menschen ausgingen, welche ich von ganzem Herzen liebte; mir war, als ob es so hätte sein müssen. Und so nahte ich mich auch Ihnen vertrauensvoll, weil Sie der Bruder meines theuren Freundes in der Heimath waren; als Sie mich aber wie eine Tochter begrüßten, – ja – da war die letzte Furcht verschwunden, welche ich heimlich nährte, und ich fühlte mich glücklich und zufrieden.«

»Du liebst also meinen ehrenwerthen Bruder?«

»Ueber alle Beschreibung, ihn und die theure Frau Kathrin,« bestätigte Anna, und Braun brauchte nur in die klaren blauen Augen zu schauen, um von der Wahrheit ihres Ausspruchs durchdrungen zu werden.

»Mein liebes Kind,« fuhr er darauf sinnend fort, »ein guter Stern hat über uns Allen gewaltet, indem er Dich zu meinem Bruder führte und so gewissermaßen Deinen Uebertritt in die jetzigen Verhältnisse erleichterte. Er hat über uns gewaltet, indem er Dich gleichsam zur Vermittlerin wählte, welche den Schatten verscheuchen sollte, der, unser beiderseitiges Verhältniß trübend, zwischen mir und meinem Bruder hing. Die Widerwärtigkeiten, welchen Du drüben begegnetest, erwähne ich nicht; ich scheue mich, tiefer in dieselben einzudringen, um nicht von Argwohn gegen manche Persönlichkeiten erfüllt zu werden, denen ich bisher mein unbegrenztes Vertrauen schenkte. Doch ich wiederhole, überall läßt sich die lenkende Hand einer weisen Vorsehung erkennen, die liebreich über uns wachte und in ihrer unbegreiflichen Weisheit die wunderbarsten Mittel wählte, uns zusammenzuführen. Denn ein Zufall war es nicht, was den alten Kärrner einst Dich auf der Landstraße finden ließ, eben so wenig, wie das oft beklagte Verhängniß, welches meine arme Magnolia nach dem Süden verschlug, wo sie mit Eberhard, dem Todtgeglaubten, zusammentraf. O, hätte der arme junge Mann nur mehr Vertrauen zu mir, und besäße er einen weniger unbeugsamen Charakter! Er befände sich vielleicht heute schon auf dem Wege nach der Heimath, um in der lieblichen und edelgesinnten Magnolia seinen hochbeglückten Eltern eine Tochter zuzuführen. Doch es ist ja noch nichts verloren, und in Magnolia besitzen wir das beste Mittel, sein im fortgesetzten Kampfe mit einem wenig freundlichen Geschick mißtrauisch gewordenes Herz auch wieder für Andere zu erwärmen.

»Ja, mein liebes Kind, trotz der Schwierigkeiten, welche sich leider in diesem Lande noch immer der Vereinigung Eberhards und Magnolia's entgegenstellen würden, gereicht mir das zwischen den beiden jungen Leuten getroffene Uebereinkommen zur wahren Herzensfreude. Ich leugne nicht, daß namentlich in letzter Zeit andere Pläne mich hin und wieder beschäftigten, doch hatte ich zu denselben ebenso wenig äußere Veranlassung, wie ein Recht, und dann – liebe Anna – nachdem ich Dich kaum erst gefunden habe, wäre es mir auch recht, recht schwer geworden, mich wieder von Dir zu trennen.«

Hier schwieg Braun, als wären die Pläne, deren er erwähnte, noch einmal vor seinem Geiste vorübergezogen. Anna aber sah ängstlich und befremdet zu ihm auf; sie hatte die in seinen Worten enthaltene Andeutung nicht verstanden.

Nach einer längeren Pause und gewissermaßen gemahnt durch Anna's Blicke, nahm Braun seine Mittheilungen wieder auf.

»Eberhard liebt Magnolia aufrichtig und wahr, es unterliegt keinem Zweifel; sie aber verdient eine solche Liebe nicht nur, sondern – wir haben uns Beide ja gestern davon überzeugt – sie liebt ihn auch wieder mit der ganzen Kraft eines reinen, frommen Herzens.

»Eine zärtliche Neigung nun, wie sie zwischen diesen Beiden besteht, empfand auch ich einst – o – ich empfinde sie ja noch heute, obwohl mein Haar unter der Last einer langen Reihe von Jahren gebleicht ist – und zwar galt sie einem jungen Wesen, welches sich ebenso sehr durch äußere Anmuth, wie durch die edlen Eigenschaften der Seele vor allen Andern auszeichnete. Du, meine liebe Anna, erinnerst mich lebhaft an diejenige, die meinem Geiste, gleichviel ob wachend oder träumend, beständig vorschwebte; denn es war Deine eigene Mutter, deren Herz nun schon seit Jahren im Tode erkaltete.

»O, wie lange ist es her, als ich sie zum ersten Male sah, und dennoch, indem ich Dich betrachte, ist mir, als sei es erst gestern gewesen. Deine Augen sind das schönste Erbtheil Deiner unvergeßlichen Mutter, und wie jetzt Thränen der Wehmuth Deine Blicke trüben, so weinte damals Deine Mutter, als sie mir, überwältigt von freundlicher Theilnahme, antwortete: »»Ich kann Ihre Gattin nicht werden, so hoch ich Sie auch achte, denn mein Herz gehört bereits einem Andern.««

Längere Zeit schwieg Braun nach diesem Geständniß. Zwei Thränen rollten langsam über seine farblosen Wangen. Anna sah auf ihn hin, als habe sie nunmehr schon vollkommen begriffen, daß es die unvergängliche Liebe zu ihrer Mutter sei, welche ihr Wohlthäter theilweise auf sie übertragen hatte, und erschüttert zog sie seine Hand an ihre Lippen.

Braun lächelte mit väterlicher Zärtlichkeit und fuhr erregter fort:

»Mein Vater war ein schlichter Kärrner; er hatte das Geschäft von seinem Vater übernommen und wünschte, daß dasselbe nach seinem Tode von einem seiner beiden Söhne in derselben Weise fortgeführt werden möge. Da mein Bruder größere Neigung dafür hegte, als ich, ich selbst aber, als Erstgeborener etwas verzogen, eine ganz andere Schulbildung genossen hatte, so entsagte ich freiwillig und mit Freuden allen Ansprüchen an das heimathliche Gehöft, um mich dafür mit erhöhtem Eifer dem Kaufmannsstande zuzuwenden.

»Bei meiner glücklichen geistigen Begabung wurde es mir nicht schwer, mich von Stufe zu Stufe emporzuarbeiten, und bevor viele Jahre verrannen, nahm ich in einem größeren Geschäfte eine Stellung ein, in welcher ich eine Familie hätte sorgenfrei ernähren können.

»Damals nun war es, als ich Deine Mutter, die Tochter eines unbemittelten, aber hochgeachteten Beamten, kennen lernte. Ihre äußere Anmuth, und ihre mit seltener Begabung gepaarte sorgfältige Erziehung übten alsbald einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck auf mich aus, so daß ihr Bild endlich meine ganze Seele erfüllte und ich an nichts Geringeres dachte, als durch meine Vereinigung mit ihr ein stilles häusliches Glück zu begründen.

»Liebreich, wie Deine Mutter allen Menschen begegnete, begegnete sie auch mir, und darauf hin – einen andern Grund hatte sie mir nie gegeben – wagte ich es, in offener, ehrlicher Weise um ihre Hand anzuhalten.

»Ihre Antwort habe ich Dir bereits mitgetheilt. Dir die Art und Weise zu schildern, wie mir dieselbe wurde, liegt dagegen außer dem Bereich meiner Kräfte. Als ich mit zerrissenem Herzen von ihr schied, da fühlte ich erst recht, was sie mir war; nach der abschlägigen Antwort liebte ich sie sogar noch heißer, denn zuvor, und ohne Haß gegen denjenigen, der durch ihren Besitz beglückt werden sollte, gelobte ich mir heilig, wenigstens ihr treuer Freund zu bleiben, bis der Tod sich zwischen uns drängen würde.

»Trotz meiner unergründlichen Liebe zu Deiner Mutter, trotz meiner freundschaftlichen Gesinnung für ihn, mit dem sie fortan des Lebens Freud und Leid getreulich theilen sollte, fühlte ich mich zu schwach, beständig Zeuge ihres ehelichen Glückes zu sein. Es duldete mich nicht in ihrer Nähe; meine Beschäftigung, der ich sonst mit so viel Eifer ergeben war, widerte mich an; es trieb mich von dannen mit unwiderstehlicher Gewalt, und an demselben Tage, an welchem Deine unvergeßliche Mutter vor dem Traualtar ihre Hand in die Deines Vaters legte, schiffte ich mich zur Reise nach Amerika ein, wo ich seither ununterbrochen gelebt habe.

»Die ersten Jahre meines Hierseins verrannen in unermüdlichem Ringen nach einer sicheren, unabhängigen Existenz, so daß ich keinen Grund zu haben glaubte, derjenigen, in deren Gedächtniß ich vielleicht noch fortlebte, die Ueberzeugung zu rauben, daß ich längst zu den Verschollenen gezählt werden müsse. Erst später, als meine ersten Ersparnisse, begünstigt durch die wunderbarsten Verhältnisse, sich von Monat zu Monat verdoppelten und bald zu einem beträchtlichen Vermögen anwuchsen, erwachte wieder die Sehnsucht nach der Heimath, von der ich, seit meinem Abschied von Europa, keine Kunde erhalten hatte.

»Ich schrieb; doch von einer seltsamen Scheu beseelt, daß man mir um meines Reichthums willen vielleicht freundlicher begegne, wählte ich eine dritte Person zu meinem Vertrauten. Diesen nun beauftragte ich, mir regelmäßig über Alle zu berichten, an denen mein Herz noch mit wärmster Liebe hing, und, wo es Noth that, heimlich und die Gefühle vorsichtig schonend, Beistand zu leisten. Hat derjenige, dem ich so viel anvertraute, meinen Erwartungen nicht entsprochen, so trifft mich keine Schuld; aber ich verzeihe ihm um der Erfolge willen, welche dennoch aus seinen ungerechtfertigten Maßnahmen hervorgegangen sind.

»Ueber Deine Eltern erfuhr ich auf diesem Wege, daß sie vom Unglück schwer heimgesucht worden waren. Dein Vater erkrankte gefährlich, daß er den Musikunterricht einstellen mußte, und als er endlich starb, da hinterließ er eine Wittwe, der keine anderen Hülfsmittel zu Gebote standen, als solche, welche sie ebenfalls durch Unterrichtertheilen herbeischaffte. Von Dir hörte ich niemals; ich wußte nur, daß Deine unglücklichen Eltern alle ihre Kinder, bald nachdem sie geboren waren, wieder in's Grab senkten, sie also fast ununterbrochen nicht nur von Sorgen, sondern auch von Gram verzehrt wurden. Aber weine nicht, mein liebes theures Kind; es ist nothwendig, daß ich Dich an jene Zeiten erinnere, um Dich vollständig in alle Verhältnisse einzuweihen, in Deinen Augen zu heiligen das treue Andenken, welches ich den Dahingeschiedenen unveränderlich bewahre.

»Als ich die erste Kunde von den traurigen Verhältnissen Deiner armen Mutter erhielt, lebte Dein Vater noch. Meine erste Regung war, Deinen Eltern sogleich mit allen Kräften beizuspringen und ihnen im weitesten Umfange zu helfen.

»Abgeneigt, eine dritte Person als Vermittler zwischen Deiner Mutter und mir zu wählen, schrieb ich selbst an sie. Ja, ich schrieb und bat, ich beschwor sie, mir zu gestatten, ihr und ihrem Gatten das Leben zu erleichtern und ihre Zukunft sicher zu stellen.

»Bangen Herzens erwartete ich ihre Antwort. Ich erhielt dieselbe umgehend – sie soll nach meinem Tode in Deinen Besitz übergehen – und freundlich und milde, wie sie stets in ihrem persönlichen Verkehr mit mir gewesen war, lauteten auch ihre geschriebenen Worte.

»In dem Briefe theilte sie mir mit, daß sie zwar schwer heimgesucht worden sei, dagegen nie die leiseste Ursache gabt habe, zu bereuen, Deines Vaters Gattin geworden zu sein. »»Selbst das gemeinschaftliche Tragen harter Schicksalsschläge hat seine traurigen Reize,«« schrieb sie, »»und nichts in der Welt könnte mich dazu bewegen, Ihre so edel und uneigennützig angebotene Hülfe anzunehmen, so lange wir uns durch eigene Kraft redlich zu ernähren vermögen.«« Innig dankte sie für das treue Andenken, welches ich ihr bewahrte und für mein Anerbieten, woran sie die Bitte schloß, ihre und ihres Mannes Gefühl zu schonen, und dergleichen Vorschläge nie wieder an sie zu richten.

»Traurig las ich den Brief zu Ende. Eine hohe, eine reine Freude hätte es mir gewährt, Deiner Eltern bedrängte Lage zu verbessern, allein ich begriff die Gemüthsregungen, welche die Ablehnung bedingten. Ganz gab ich meinen Vorsatz indessen nicht auf, ich enthüllte einem kundigen Geschäftsmanne, der sich später leider in einem sehr zweideutigen Lichte zeigte, die ganzen Verhältnisse, und beauftragte ihn, zu versuchen, ob nicht auf Umwegen und ohne daß man den Urheber erriethe, Deinen Eltern wenigstens eine Unterstützung zugewendet werden könne. Aber auch seine Bemühungen scheiterten; sie mußten scheitern, indem Deine arme Mutter jedenfalls ahnte, von wem die freundliche Theilnahme an ihren äußeren Verhältnissen ausging.

»Da erhielt ich die Trauerbotschaft, daß Dein Vater nicht mehr unter den Lebenden weile, zugleich aber auch die Gewißheit, daß jetzt vielleicht noch mehr als früher, jede Hülfeleistung von meiner Seite abgelehnt werden würde.

»Trauernden Herzens fügte ich mich in die Nothwendigkeit, derjenigen, die mir in meinem Leben gleichsam ein Leitstern gewesen, nur noch als eines in weite, fast unabsehbare Ferne gerückten Traumbildes zu gedenken.

»Obwohl Alvens Deine Mutter bald ganz aus den Augen verlor, bevollmächtigte ich ihn dennoch, wo nur immer die Gelegenheit sich dazu bieten sollte, über die reichsten Mittel zu ihren Gunsten zu verfügen.

»Da traf mich, wie ein entsetzlicher Schlag, die Nachricht, daß die edle, schwer geprüfte Frau ihrem Gram erlegen sei, und zwar ohne Angehörige hinterlassen zu haben. Lange und aufrichtig beweinte ich sie, und noch immer fühle ich eine Leere in meinem Herzen, welche selbst Du, mein liebes Kind, nicht ganz auszufüllen vermagst. Nur langsam gewöhnte ich mich an den Gedanken, sie in diesem Leben nicht wiederzusehen. In demselben Maße aber, in welchem ich mich mit erneuerter Kraft und verdoppeltem Glück der Vermehrung meines Reichthums zuwendete, wuchs auch das vielleicht von fremder Seite her mit Ueberlegung genährte Mißtrauen gegen meines Bruders Ansichten über mich und die Art, wie er seinen einzigen, zu einer maßlosen Ueberhebung hinneigenden Sohn erzog.

»Die Flucht Eberhards erweiterte die Kluft, die allmälig zwischen meinen nächsten Verwandten und mir entstanden war. Mein Bruder und seine Frau maßen nämlich die Schuld an dem Unglück bis zu einem gewissen Grade mir bei, der ich durch mein Beispiel des jungen Mannes Sucht nach einer freien, unabhängigen Lebensstellung wach gerufen habe. Ich dagegen mußte mich wieder durch die Art verletzt fühlen, auf welche sie denjenigen zurückstießen, der von mir dazu ermächtigt war, sie zu beobachten. Ich durfte ja nicht dulden, daß sie, meine einzigen natürlichen Erben, ohne Rath und ernste Anleitung aus ihrer Sphäre heraustraten, wenn sie nicht nur das Opfer übelgesinnter Menschen und feilen Betruges werden, sondern auch ihre häusliche Zufriedenheit einbüßen sollten. Vielleicht ging ich mit meiner Bevormundung zu weit; mögen sie indessen noch so zornig und argwöhnisch gegen mich gewesen sein, das Wiederauffinden ihres Sohnes muß Alles wieder in's Gleichgewicht bringen.

»Jahre gingen dahin; trotz des furchtbaren Bürgerkrieges, welchem ich empfindliche Verluste verdanke, wuchs mein Vermögen bis zu einer früher nie geahnten Höhe an, so daß ich unter verhältnißmäßig geringen Opfern Hunderten flüchtiger Sklaven die Mittel zur Uebersiedelung nach der schwarzen Republik Liberia gewähren konnte.

»Die Befreiung immer neuer Sklaven, das Hinlenken derselben auf die Pfade höherer Gesittung wurde allmälig die Hauptaufgabe, der ich noch lebte und welcher zu Liebe ich mit immer größerem Eifer und mit immer größerem Glück mich dem Gange meines weit ausgebreiteten Geschäftes widmete.

»Da erhielt ich plötzlich und unerwartet, wie wenn ein einsamer Stern freundlich zwischen nächtlich eintönigen Wolken hervorschimmert, die verbürgte Kunde von dem Dasein einer Tochter derjenigen die ich nun schon so lange beweine. Es geschah dies vor einigen Monaten, also bald nachdem Du den Brief Deiner mir unvergeßlichen Mutter an seine Adresse getragen hattest.

»O, meine liebe Anna, wie muß die Mutterliebe unendlich, unerschöpflich sein!

»Ein edler Stolz, ein dem entschlafenen Gatten mit treuer Pietät nachgetragenes Zartgefühl hinderte Deine Mutter, meinen Beistand selbst anzunehmen. Dir dagegen, ihrem einzigen, geliebten Kinde, wollte sie diese Hülfe wenigstens zugänglich machen, aber auch nur dann, wenn die Noth an Dich herantreten würde.

»Und die Noth trat an Dich heran, armes Kind.

»Der Brief, welchen Du einst von dem heimathlichen Städtchen nach der Dir unbekannten Residenz trugst, er enthielt das Testament Deiner Mutter, zu dessen Vollstrecker sie mich mit ihrem letzten Athemzuge ernannte. Gewiß mit schwerem Herzen entschloß sie sich zu diesem Schritt, doch das Bewußtsein, auf alle Fälle für ihr Kind gesorgt zu haben, trug dazu bei, sie beruhigter von Dir scheiden zu lassen. Gottes Segen ihrem Andenken; möge sie einen reichen Lohn drüben finden für das, was sie in diesem Leben erduldete. Ueber Dir hingegen, mein theueres Kind, hat sichtbar ein heiliger Wille gewaltet; er hat Dich geführt und geleitet sicher und treu zwischen all' den verborgenen Klippen hindurch, bis Du endlich in dem Hafen eintrafst, wo keine Gefahr Dir mehr droht, nur Liebe, reine Liebe Deiner harrt. Der letzte Wille Deiner geliebten Mutter aber wird nur dann erst in meinen Augen gänzlich erfüllt sein, wenn Du aus vollem Herzen Rechnung trägst der unergründlichen Liebe, durch welche ich mit Dir nahe verwandt bin, wenn Du in mir Deinen treuen Vater erblickst, wie ich Dich schon lange meine einzige, meine innig geliebte Tochter nenne und Dich als solche binnen kurzer Frist auch vor der Welt anerkennen werde.«

Während Braun mit wehmüthigem Ernste sprach und nur hin und wieder inne hielt, um Herr seiner ihn fast übermannenden Empfindungen zu werden, hatte Anna fast regungslos dagesessen, die Blicke fest auf die Lippen ihres Wohlthäters gerichtet, von welchen jedes einzelne Wort tief in ihre Seele eindrang. Nur die Thränen, die schwer und langsam über ihre Wangen rollten, legten Zeugniß ab von der schmerzlichen Bewegung, welche sich ihrer bemächtigt hatte. Als Braun aber, seine Mittheilungen abschließend, ihre Hand zärtlich drückte, ihr mit väterlichem Wohlwollen in die Augen schaute, da sprang sie, ihrer Gefühle nicht mehr Herr, empor.

»Vater, Vater!« rief sie unter hervorbrechenden heißen Thränen aus, und ihre Arme weit ausbreitend und um ihres Wohlthäters Hals schlingend, schmiegte sie sich innig und krampfhaft an seine Brust.

Eine heilige Stille war eingetreten. Braun hatte unbewußt die Hand segnend auf das theure Haupt gelegt; seine Augen schimmerten feucht, über das sonst stets farblose Gesicht hatte sich ein warmes Roth ergossen, sein Herz aber klopfte zufrieden und beseligt, als ob aus lichten Höhen eine liebe Gestalt zu ihm herniedergestiegen wäre, um den gebleichten Traum seiner Jugend noch einmal mit den schönsten Farben der Wirklichkeit zu schmücken.

Einen wunderbaren Gegensatz bildete das würdige, weißgelockte Haupt zu Anna's in üppigster Jugendfrische prangendem lieblichen Antlitz, und dennoch, wie paßten sie so schön zu einander, wie boten sie in ihrer Vereinigung ein so ergreifendes Bild!

Ist es aber den Verstorbenen vergönnt, mit denjenigen, an welchen sie auf Erden mit unsäglicher Liebe gehangen haben, in geistigen Verkehr zu treten, dann schaute hier gewiß eine verklärte Mutter segnend auf ihr Kind, mit dankbarer Rührung dagegen auf denjenigen, der eine Sorge von ihr genommen hatte, welche vielleicht sogar ihren ewigen Schlummer durchdrang.

Minuten verrannen. Anna richtete sich wieder empor; eine leichte Verwirrung spielte auf ihrem Antlitz, und dennoch fühlte sie sich so beruhigt, so unendlich heimisch und sicher an der Seite des gütigen alten Herrn, als ob sie unter seinen wohlwollenden, sie ängstlich behütenden, treuen Augen aufgewachsen wäre.

»Wie glücklich werden Frau Kathrin und der gute Braun sein,« sagte sie innig; »Alles dies zu hören, übersteigt ja weit ihre kühnsten Erwartungen.«

Braun strich ihr zärtlich das braune Haar von der klaren Stirn.

Wie liebliche Musik drang es ihm zum Herzen, daß Anna, deren Augen und Stimme ihn so lebhaft an seine theuersten Jugendträume erinnerten, unter keinerlei Verhältnissen ihrer ersten Freunde vergaß. –

Eine halbe Stunde später verließen sie Arm in Arm die Geschäftsräume; der Wagen war noch nicht eingetroffen, die bestimmte Stunde hatte noch nicht geschlagen. Es war ihnen aber noch so viel zu fragen und zu erzählen geblieben, daß sie es vorzogen, den Weg nach der Villa zu Fuß zurückzulegen.

Als ihr Chef sich zu einer so ungewöhnlichen Zeit entfernte, blickten die Buchhalter und Schreiber ihm erstaunt nach. Es war das erste Mal, daß sie eine derartige Unregelmäßigkeit erlebten; kaum daß er scheidend ihnen noch einige Anweisungen ertheilte. Sie schüttelten befremdet die Köpfe. Wie konnten die Buchhalter und Schreiber aber auch wissen, daß in der Brust des Millionärs, des streng gewissenhaften Geschäftsmannes ein Herz wohnte, welches so glücklich und heiter schlug, als wäre es plötzlich mit dem seiner holdseligen und doch so tief ernsten Begleiterin vertauscht worden!


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