Balduin Möllhausen
Der Piratenlieutenant – Teil 2
Balduin Möllhausen

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Siebenunddreißigstes Capitel. Der Erbe des Millionärs.

Während unten die Leute und Passagiere zum Theil schliefen, zum Theil noch unter dem Eindruck der letzten Ereignisse vergeblich auf ihren Lagerstätten den Schlummer herbeisehnten, schritt Arthur rastlos über das oberste Deck, sein glühendes Antlitz und das entblößte Haupt, wie um sein aufgeregtes Blut zu beruhigen, der kalten Luftströmung frei darbietend. Wild schwirrten seine Gedanken durcheinander, als habe er einen wüsten Traum verscheuchen wollen, preßte er seine Hände auf die fieberheiße Stirne.

Da vernahm er Redsteels Stimme, die aus dem Innern des Schiffes deutlich zu ihm heraufschallte. Derselbe sprach zu Braun, welchen er ebenfalls an der Stimme erkannte.

Bestürzt blieb er stehen. Vor ihm erhob sich, ähnlich einem Glaskasten, die Bedachung des Rauchzimmers, in welchem noch Licht brannte. Die Fallfenster waren auf der dem Winde abgekehrten Seite aufgestützt worden, augenscheinlich, um durch einen beständigen leichten Luftzug die Atmosphäre in dem verhältnißmäßig engen Raum, in welchem ein mit Steinkohlen geheizter eiserner Ofen glühte, rein zu erhalten. Arthur brauchte daher nur näher heranzutreten, um nicht allein die unten gepflogene Unterhaltung zu verstehen, sondern auch das Gemach theilweise zu überblicken.

Mit schwankender Bewegung holte er einen der dort oben umherliegenden Feldstühle herbei; denselben aufschlagend, setzte er sich so nieder, daß das Rauchzimmer offen vor ihm dalag. Es kostete ihn große Ueberwindung, sich zum unberufenen Mitwisser fremder Geheimnisse zu machen, und dennoch spielte auf seinem von unten herauf spärlich beleuchteten Antlitz eine angstvolle Spannung, und immer weiter neigte er seinen Oberkörper nach vorne und immer entsetzter starrte er auf diejenigen nieder, die sich nur wenige Fuß unterhalb der geöffneten Fenster in ein ernstes Gespräch vertieften. –

Redsteel befand sich allein in dem Rauchzimmer, als Braun bei ihm eintrat und ihm sogleich fragend in die Augen schaute.

Redsteel wartete nicht, bis jener seinen Gedanken Worte verlieh, sondern dessen Hand stürmisch ergreifend, drückte er dieselbe mit Heftigkeit.

»Ich entsinne mich Ihrer letzten Bemerkung,« hob er an, »ich entsinne mich derselben genau, und dennoch wiederhole ich laut und aus heiliger Ueberzeugung: Es wäre nicht das erste Mal, daß todt Geglaubte aus ihren Gräbern erstiegen, Verschollene unter den Lebenden auftauchten.«

»Sie sprechen mit so viel Bestimmtheit,« entgegnet Braun ernst, und ein Zug der Wehmuth breitete sich über sein gutes Antlitz aus, »daß ein Zweifel über die Person, welche Sie meinen, kaum noch zulässig. Bevor Sie indessen fortfahren, bevor Sie Ihre Vermuthungen und Angaben mit Beweisen belegen, frage ich Sie noch einmal: Haben Sie erwogen, was es bedeutet, in mir altem Manne Hoffnungen zu erwecken, welche sich nicht verwirklichen? Sie wissen, die Hauptschuld, daß der unbesonnene Knabe, von Hochmuth getrieben, seine armen Eltern heimlich verließ, wird mir beigemessen, welche Gründe zu einem solchen Argwohn vorlagen, lasse ich dahingestellt sein; jedenfalls aber werden Sie begreifen, daß ohne den unglückseligen Eberhard eine Annäherung an meine braven Verwandten große Schwierigkeiten hat, vielleicht auf unübersteigliche Hindernisse stößt. Sie nun stehen im Begriff, eine doppelte Hoffnung in mir anzufachen, die Hoffnung, den jungen Eberhard wieder aufzufinden, und die Hoffnung, vor meinem Dahinscheiden noch einmal in das alte Verhältniß zu meinem Bruder und dessen Frau zu treten. Erwägen Sie dieses Alles wohl, lieber Redsteel; ich achte und ehre Ihren guten, freundlichen Willen, allein wenn Sie Ihrer Sache nicht ganz gewiß sind –«

»Ich bin meiner Sache gewiß!« fiel Redsteel dem alten Herrn triumphirend in die Rede, ich kann Ihnen sogar heilig betheuern, daß Sie Ihren Neffen, den Erben Ihres Namens und Ihrer Reichthümer in die Arme schließen werden, und wenn ich mit meiner Entdeckung nicht vor Sie hintrat, so geschah dies mit der wohlüberlegten Absicht, Sie auf seinen ersten Anblick vorzubereiten, denn nicht im Gewande des Reichthums, nicht einmal der Wohlhabenheit wird er vor sie hintreten. Eine alte abgetragene Uniform –«

»Befindet er sich an Bord?« rief Braun fast athemlos vor Spannung.

»Er befindet sich an Bord,« antwortete Redsteel mit einer Bewegung nach der Thüre hin, wie um Eberhard herbeizurufen.

»Arthur, ist es der junge Mann, der sich Arthur nannte?« fragte Braun, Redsteel zurückhaltend.

»Nein, nein,« erwiderte dieser vertraulich nickend, »Ihren Neffen, obwohl Soldat, durften wir nicht in den Reihen der Rebellen suchen. Er hat gekämpft und gelitten für die nördlichen Institutionen; der Gefangenschaft entronnen, tritt er vor Sie hin als ein Ehrenmann, welchen bis jetzt ein unbezähmbarer Stolz fern von seinen Verwandten hielt, und den hierher zu führen mir nur halb mit List, halb mit Gewalt gelang.«

»Eberhard Braun!« rief er sodann zur Thür hinaus, so laut, daß Eberhard, der sich, das Haupt auf die Hände gestützt, unten auf den letzten Stufen der Treppe niedergesetzt hatte, seinen Ruf vernahm.

»Ich komme,« hallte es alsbald gedämpft zurück, und langsam und zögernd, wie Braun es nach Redsteels Mittheilungen kaum anders erwartete, näherten sich die Schritte eines Mannes dem Rauchzimmer.

Arthur saß so, daß die Thüre des Zimmers gerade vor ihm lag, er also den Eintretenden ebenso schnell erblicken mußte, wie die in dem Zimmer Anwesenden. Und dennoch neigte er sich weiter nach vorne, als hätte er die Zeit nicht erwarten können, denjenigen bei voller Beleuchtung zu betrachten, dessen Gestalt er in der Dunkelheit nur flüchtig gesehen, dessen Name aber einen so seltsamen, beinah feindseligen Eindruck auf ihn ausgeübt hatte.

Braun war zurückgetreten, wie um einen vollen Anblick Eberhards zu erhalten, bevor er ihn als seinen Neffen begrüßte. Auch seine Augen hafteten starr auf der angelehnten Thür, während Redsteel seitwärts von ihm stand, von wo aus der Onkel und Neffen zugleich zu beobachten vermochte.

Endlich wurde die Thür zögernd aufgeschoben und in derselben erschien der Erwartete.

Als seine Blicke auf den ehrwürdigen, weiß gelockten alten Herrn fielen, entfärbte sich sein vor innerer Erregung geröthetes Gesicht. Er zauderte, wie um wieder zurückzutreten; da begegneten seine Augen denen Redsteels, und sich seines gegebenen Versprechens erinnernd, richtete er sich straffer empor.

Braun betrachtete ihn schweigend, und wie inniges Wohlgefallen glitt es über sein ernstes Antlitz, als er die schöne, kraftvolle Gestalt gewahrte und in den einnehmenden Zügen alle die Empfindungen zu lesen glaubte, welche durch die obwaltenden Umstände, durch die gewaltig andringende Erinnerung an seine Eltern, an das heimliche Entweichen von denselben und die darauf folgenden Jahre unsteten und erfolglosen Umherirrens in ihm wach gerufen werden mußten.

Wohlthuend schien es ihn sogar zu berühren, daß der Sohn seines Bruders nicht sogleich auf ihn zu eilte, ihn nicht gleich als Verwandten begrüßte; trotz der ärmlichen, äußeren Hülle mit unbeugsamem Stolze erwartete, zuerst angeredet zu werden. Aber einen Seufzer der Wehmuth vermochte er nicht zu unterdrücken, indem er erwog, daß es sein leiblicher Neffe sei, der, obwohl ihn kennend, dennoch zögerte, ihm vertrauensvoll zu nahen.

»Eberhard, Dein Vater ist mein Bruder,« redete er ihn endlich mit freundlichem Ernste an, »und ich blicke auf Dich, als die Mittelsperson, welche die Kälte beseitigen soll, die sich im Laufe der Jahre auf Grund von Mißverständnissen in unser brüderliches Verhältniß eingeschlichen hat. Sage mir daher, Eberhard, bist Du bereit, diese Aufgabe jetzt zu übernehmen und dadurch meinen Lebensabend und den Deiner braven Eltern freundlicher zu gestalten?«

»Ich werde mich bestreben, Ihr mir zugewendetes Wohlwollen zu verdienen,« antwortete Eberhard leise, jedoch mit ruhiger Entschiedenheit.

»Dann komm her, mein Sohn,« erwiderte Braun alsbald gütig, dem jungen Manne die Hand entgegenstreckend, »viel Kummer, unsäglichen Gram hast Du Deinen Eltern bereitet, sie werden ihn aber vergessen, von dem Augenblick an, in welchem sie die Kunde von Deinem Leben erhalten, wie ich ihn bereits vergessen habe.

»Du bist Soldat gewesen, das Mißgeschick hat Dich verfolgt,« fuhr der alte Her nach einer kurzen Pause fort, während welcher er einen ängstlich forschenden Blick auf den jungen Mann geworfen hatte, der sich ihm mit gesenkten Augen näherte und alle seine Bewegungen unsicher und schwankend, wie ein Träumender, ausführte; »dies Alles hat nun sein Ende; mißverstehe mich aber nicht, ich will damit nicht andeuten, daß Dein jetziger Stand in meinen Augen kein ehrenwerther wäre, im Gegentheil; allein Du brauchst nun nicht länger zu sorgen und Dich abzuhärmen, und wenn ich Dich in nächster Zeit mit den ausreichenden Mitteln versehe, vor allen Dingen in die Arme Deiner trauernden Eltern zu eilen, so darf Dein angeborener, vielleicht etwas zu scharf ausgeprägter Stolz nicht davor zurückschrecken, diese Mittel von mir anzunehmen –«

Bei diesen Worten richtete Eberhard sich hastig empor, eine flammende Röthe bedeckte sein Gesicht, seine Augen funkelten halb trotzig, halb verwirrt auf Braun, während seine Zähne sich flüchtig auf einander preßten.

»Verzeihen Sie, wenn ich Sie unterbreche,« hob er mit erzwungener Ruhe an, »allein ich möchte, bevor ich mich in ein Verhältniß der Abhängigkeit zu Ihnen stelle, als unumstößlich vereinbart wissen, daß Sie mir keine anderen Mittel anbieten, als solche, welche mir in Ihren Diensten zuerkannt werden. An eine Reise nach Europa wird daher vorläufig wohl noch nicht gedacht werden können.«

»Eberhard, Eberhard, hat die Schule des Unglücks Deinen Hochmuth immer noch nicht gebeugt?« rief Braun schmerzlich aus; »o, mein Kind, die erste Nachricht von Deinem Auftauchen unter den Lebenden machte mich selbst fast zum Kinde; wie ein mächtiges Gebirge stürzten die Empfindungen mit erdrückender Wucht auf mich ein, erzeugt durch den Gedanken an das große Glück, welches Dein Erscheinen in meinem wie in Deiner Eltern Hause mit sich führt; nun aber ist mein erstes Gespräch mit Dir, daß ich mit Dir richte über die Zulässigkeit Deines Stolzes Deinen nächsten Angehörigen gegenüber! Ich begreife wohl mein lieber Eberhard, daß bei Deinem unsteten Leben Du Dich unbewußt mehr und mehr den Deinigen entfremdetest; ich begreife sogar, daß, hätte ein wunderbarer Glücksfall nicht Deine Entdeckung herbeigeführt, Du lieber in der Verborgenheit untergegangen wärest, bevor Du gänzlich verarmt die Schwelle Deines elterlichen Hauses überschritten hättest; ich begreife, daß Du vorzogst, für todt zu gelten, anstatt einzugestehen, daß die überspannten Hoffnungen, welche Dich einst hinaustrieben, sich nicht verwirklichten; ich begreife Alles, indem ich mich in Deine Lage hineindenke – jetzt aber, nachdem der erste Schritt gethan ist, hast Du keine vernünftige Veranlassung mehr, Dich Deinen Eltern vorzuenthalten – oder solltest Du gar keine Sehnsucht mehr nach denjenigen haben, welchen Du Dein Leben verdankst? Sollte wirklich das edelste aller kindlichen Gefühle in Deiner Brust erstorben – ich meine in Scheintod versenkt sein?«

Eberhard war erbleicht; in seiner Brust wühlte ein wüthender Schmerz. Sogar seine stolze selbstbewußte Haltung schien er zu verlieren, als plötzlich bei seinem rathlosen Umherstarren seine Blicke wieder in die Redsteels trafen.

»Beglücken Sie die alten Leute, indem Sie ihnen mittheilen, man sei auf den Spuren ihres verlorenen Sohnes,« hob er mit seltsam gepreßter Stimme an, »allein verlangen Sie nichts von mir, was zu leisten ich mich zu schwach fühle.«

Wiederum ergriff Braun Eberhards Hände und lange und schmerzlich schaute er ihm in die Augen.

»Bedenke, Eberhard,« begann er mit schwermüthigem Ausdruck, »ich bin der Bruder Deines Vaters; betrachte mich zugleich als Deinen leiblichen Vater, der das heiligste Recht hat, das offenste rückhaltloseste Vertrauen von Dir zu fordern. In solcher Eigenschaft stehe ich also vor Dir und frage ich Dich: Was ist es, das Dich zurückhält, den Deinigen vertrauensvoll zu nahen? Fühlst Du Dein Gewissen beschwert? Hast Du eine Handlung begangen, deren Du Dich schämst? Und sollte selbst dies der Fall sein, sollte man Dir Thaten zur Last legen, welche zu bereuen Du die größte Ursache hättest, so vertraue es mir an, schütte Dein Herz vor mir aus und nimm dafür mein Versprechen, daß das Geschehene begraben sein, nicht mich hindern soll, Dir den Uebergang zu einem ruhigen, geachteten und geregelten Lebenswandel zu erleichtern.«

Trotz der innigen Wärme, mit welcher Braun sprach, erreichte er doch nur, daß Eberhard, eben noch das Bild tiefer, innerer Zerknirschung, sich plötzlich, wie bis in's Mark hinein verletzt, hoch aufrichtete und ihn herausfordernd ansah.

»Bis jetzt ist mein Name durch keine ehrlose Handlung befleckt worden!« rief er aus, indem er einen Schritt zurücktrat, »mag das Geschick mich in eine Lage gebracht haben, von der ich nicht weiß, ob ich ihm deshalb fluchen, oder es segnen soll, noch habe ich keinen Grund, zu bereuen und zu beklagen. Gewohnt, für mich selbst zu sorgen, muß ich jede Hülfe, welche auch nur im Entferntesten einer Wohlthat ähnlich, streng zurückweisen. Ich kann nicht anders, ich bin es meinem eigenen Seelenfrieden schuldig. Sind Sie dagegen geneigt, mir Gelegenheit zu bieten, mich emporzuarbeiten, – das heißt in einer Weise, als ob ich ein fremder, ein Ihnen fern Stehender sei, dessen Werth Sie nach seiner Treue und seinen Leistungen abschätzen, so will ich beruhigt die Schwelle Ihres Hauses überschreiten; ich will mit Eifer wirken und arbeiten, wie die übrigen Mitglieder Ihres Geschäftspersonals, nicht höher bezahlt, nicht besser gehalten werden, und gelingt es mir, nicht nur Ihre Zufriedenheit, sondern auch Ihre Achtung zu erwerben, dann erst werden Sie den höchsten Beweis meines Vertrauens empfangen, indem ich Sie bitte, mir bei der Begründung meines Glückes Ihren gütigen väterlichen Beistand zu leihen.«

»Anna,« flüstere Arthur mit namenloser Bitterkeit, die Blicke starr auf Eberhard gerichtet, »und dennoch, er hat dieselben Anrechte an sie, wie jeder Andere – ha, und er will sie ja verdienen, redlich verdienen, um nicht –«

Braun hatte das Wort ergriffen und Arthur lauschte wieder mit gespannter Aufmerksamkeit.

»Hätte ich auch gern etwas mehr Vertrauen gesehen, so tadle ich Dich doch nicht,« bemerkte der alte Herr so wohlwollend und doch so schwermüthig, daß Arthur sich dadurch bis in die Seele hinein schmerzlich berührt fühlte, »fahre daher fort, Dich fernerhin von dem Bewußtsein der Dir innewohnenden Kraft tragen zu lassen, und meine Achtung wird Dir nicht fehlen, wie Du meine aufrichtige Liebe bereits besitzest. Du wirst Dich indessen mit Jemand in die Liebe theilen müssen, denn der heutige Tag ist ein sehr, sehr glücklicher für mich, indem er mir zwei Theure brachte, für welche die väterliche Sorge zu übernehmen mein Wunsch gewesen, seit ich auf dieser Seite des Oceans dem Geschäftsleben angehöre.«

Eberhard war tief erschüttert, doch behauptete sein Stolz fortgesetzt die Oberherrschaft. Nicht wie von einem Verwandten schied er, als er sich auf Brauns freundlich dringenden Rath zur Ruhe begab, sondern wie von einem ihm fern stehenden Manne, welchem er in Achtung und Freundschaft ergeben.

Als seine Schritte in der großen Kajüte verhallten, athmete Redsteel tief auf; dann trat er zu Braun heran, dessen Augen noch immer schwermüthig sinnend auf der Thür hafteten, welche ihm den Anblick seines Neffen entzogen hatte.

»Ein ehrenwerther junger Mann,« bemerkte er mit dem Ausdruck unerschütterlicher Rechtschaffenheit und freundlicher Theilnahme, »und gewiß kann dies Niemand mit größerem Recht behaupten, als ich, da ich Gelegenheit hatte, ihn während meines Zusammenseins mit ihm in den schwierigsten Lebenslagen zu beobachten.«

»Und dennoch erscheint er mir, wie ein schwer zu lösendes Räthsel,« antwortete Braun träumerisch; »unendlich bittere Erfahrungen müssen über ihn hereingebrochen sein, es wäre sonst unerklärlich, daß derselbe Hochmuth, der ihn einst von seinen Eltern forttrieb, auch heute noch seine kindlichen Gefühle beherrscht. Ich tadle ihn zwar nicht, allein etwas anders hätte ich ihn mir gewünscht.«

»Sein Ernst und seine Abgeschlossenheit sind unstreitig vielfach die Ursache gewesen, daß er sich dem ihn verfolgenden Mißgeschick nicht zu entwinden vermochte,« bemerkte Redsteel, Braun bis an die Thüre begleitend, »aber die starre Rinde, welche sich im Laufe der Jahre um seine Brust legte, wird schmelzen in seinem Verkehr mit Ihnen und Ihren übrigen Haus- und Lebensgenossen. Bricht aber das schlummernde kindliche Gefühl sich erst wieder Bahn, dann geschieht es voraussichtlich mit unwiderstehlicher Gewalt, und er selbst wird darauf dringen, wenn auch nur besuchsweise, zu seinen Eltern zurückzukehren.«

»Das walte Gott,« versetzte Braun aus überströmendem Herzen. Er wollte hinaustreten, als Redsteel ihn abermals zurückhielt.

»Ich dächte, man dürfte ihn nicht drängen,« sagte er mit einer milden Anspruchslosigkeit in seinem Wesen, »denn wer weiß – wenn ich mir erlauben darf, meine Ansichten unumwunden zu äußern – seine Eltern, obgleich anerkannt bieder und rechtschaffen, haben doch nur einen geringen Grad von Bildung genossen, und unmöglich wäre es nicht, daß sie ihren Sohn, unabsichtlich und ohne es zu ahnen, in einer Weise kränkten und verletzten, die ihn jetzt noch mit Widerstreben daran denken läßt, ihnen unter die Augen zu treten?«

»Wählen Sie die Stufe der Bildung meiner Verwandten nicht zum Gegenstande von Erörterungen,« erwiderte Braun mit einiger Schärfe, »ihre Rechtschaffenheit ist eine höhere Bildungsstufe, als sie je auf den besten Lehranstalten und in den höchsten Kreisen hätten erlangen können. Sprechen Sie hingegen von Kränkungen, da kenne ich nur eine Antwort: Die Kränkungen, welche ein Kind von seinen Eltern erfährt, dürfen nicht mit solchen fremder Menschen verglichen werden und daher nie Grund zu einer ewigen Trennung sein.«

»Aber wie, mein verehrtester Gönner, wenn Eberhard – hochfahrende junge Leute haben zuweilen ihre überspannte Ideen – wenn also Ihr Herr Neffe, nachdem er eine gediegene Schulbildung genossen, sich seiner Eltern – nun, ich spreche ohne Rückhalt – schämte, dürfte man seine geheimnißvolle Weigerung, zu ihnen zurückzukehren, nicht solchen Beweggründen zuschreiben? Jedenfalls wäre diese Möglichkeit zu berücksichtigen, und es erscheint mir rathsam, anstatt den jungen Mann zu einem Entschluß zu drängen, es der Zeit zu überlassen, einen solchen zur Reife zu bringen.«

Oben auf dem Verdeck fiel ein schwerer Gegenstand nieder; es war der Stuhl, auf welchem Arthur so lange gesessen hatte, und der, indem er sich erhob, umschlug.

Weder Braun noch Redsteel achteten auf das Geräusch; Ersterer dagegen, im Begriff hinauszutreten, wendete sich noch einmal kurz nach Redsteel um.

»Meine Dankbarkeit dafür, daß es Ihnen glückte, den Sohn meines Bruders zu entdecken, und mehr noch, daß es Ihnen gelang, den starren Charakter zu einer Zusammenkunft mit mir zu bewegen, kennt keine Grenzen; weitere Rechte aber, mein lieber Freund, ungern, wie ich es ausspreche, räume ich Ihnen nicht ein. In meinen Familienangelegenheiten spreche ich allein das entscheidende Wort, bestimme und ermesse ich allein, wie nach dieser oder jener Richtung hin verfahren werden soll. Ihren guten Willen erkenne ich übrigens an, und von Herzen vergebe ich Ihnen die harten Worte, welche sie mit Rücksicht auf meinen armen Neffen, der mehr zu beklagen, als zu tadeln ist, ausgesprochen haben.«

Dann trat er hinaus, sichtbar nicht so glücklich gestimmt, wie Redsteel ihn, nach Zuführung seines todt geglaubten Neffen zu sehen erwartet hatte. Aber auch Redsteel war weit entfernt davon, zufrieden zu sein; denn das Schloß der Thüre war kaum klingend eingesprungen, als ein höhnisches Lächeln sich über sein Gesicht ausbreitete. Die bärtigen Lippen wichen grinsend von den fest zusammengebissenen Zähnen zurück, sie bewegten sich leise, als hätten seine Gedanken sich heimlich über sie hinausstehlen wollen und nur ein eiserner Wille sie mit Gewalt zurückgehalten. Etwas Drohendes, Teuflisches lag in seinem Mienenspiel, als er, bevor er ebenfalls das Rauchzimmer verließ, die Faust nach der Thür hin erhob, dann aber, als hätte er eine Unvorsichtigkeit begangen, wie fröstelnd, beide Hände in einander rieb.

Arthur sah diese Bewegung nur theilweise und legte derselben eine weit geringere Bedeutung bei, als den letzten Worten, die zu ihm heraufgedrungen waren. Diese nun wieder beschäftigten seinen Geist in so hohem Grade, daß er die mit dem Näherrücken des Morgens sich verschärfende Kälte nicht empfand, noch weniger auf den Dampfer achtete, der mit unverminderter Schnelligkeit seine gewundene Bahn gegen Nordwesten verfolgte. Was waren die Empfindungen, welche ihn beseelten, als er den Revenger zerschmettert versinken sah, gegen diejenigen, die seit den letzten Stunden in wirrer Folge auf ihn einstürmten und ihn fast betäubten? Er hörte nicht, er sah nicht; regungslos, die Blicke starr auf den Fußboden geheftet, die Arme über die Brust verschränkt – stand er da.

Da legte sich eine Hand mit festem Druck auf seine Schulter, und zugleich vernahm er das freundliche: »Calculir', Ihr fühlt Euch ziemlich vereinsamt hier oben« des Kapitän Iron, der in irgend einem Winkel ein Stündchen geschlafen hatte und nunmehr die Runde auf dem Dampfer machte.

Arthur erschrak. Er hatte den Kapitän nicht kommen hören, doch antwortete er schnell gefaßt:

»Ich fühle mich nicht einsamer, als ich zu sein wünsche, oder ich wäre nicht hierher gegangen.«

»Halloh! Mein theurer Piratenlieutenant!« rief der Kapitän scheinbar beleidigt aus, »calculir', 's soll heißen, Ihr möchtet fernerhin allein sein und wünscht mich daher zu allen Teufeln?«

»Nein, nein, Kapitän,« gab Arthur mit erzwungener Heiterkeit zurück, und er drückte des alten Seemannes Hand, »Ihr werdet mir mindestens zugeben, daß ich mich in keiner beneidenswerthen Lage befinde. In einer Umgebung, in welcher mich jeder mißtrauisch und als einen Feind des Landes betrachtet, ohne Mittel und ohne Gelegenheit, mir solche zu erwerben, kann es kaum befremden, wenn ich die Einsamkeit aufsuche, um meinen Betrachtungen über die Zukunft ungestört nachzuhängen.«

»Nach dem Untergange des Revenger verspürt Ihr keine Lust mehr, in dem Rebellenheere weiter zu dienen?«

»Wohin soll ich mich wenden? Ueberall liegt die Conföderation in den letzten Todeszuckungen – außerdem bin ich Gefangener, nachdem ich beinah vier Jahre hindurch –«

»Ja, mit Recht ein Gefangener,« warf Kapitän Iron ein, »bin zwar keine Militärperson, trotzdem aber seid Ihr mein Gefangener, welchen ich auf jeden Gefangendepot abliefern könnte, wenn ich wollte. Doch ich will nicht. Ihr habt mir Euer Ehrenwort verpfändet, nicht zu entfliehen und deshalb wurdet Ihr nicht bewacht. Ganz frei geben kann ich Euch indessen nicht; calculir', ich würde dadurch ein Unrecht gegen die richtigen Sterne und Streifen begehen; wenn Ihr indessen nichts dagegen habt, mir zu versprechen, binnen Jahresfrist nicht gegen den Norden zu fechten –«

»Nehmt die Hälfte dieser Zeit, Kapitän, und sie wird über den Tag hinausreichen, bis zu welchem es überhaupt noch eine Conföderation giebt.«

»Gut gesprochen, wie ein Mann; sagen wir also, ein halbes Jahr, und damit Euch nichts im Wege stehe, eine Euern Fähigkeiten und Neigungen entsprechende Beschäftigung zu suchen, so calculir' ich, werde ich Euch als guter Freund 'ne kleine Summe vorstrecken, welche Ihr mir, je nachdem 's Euch paßt, zurückerstattet.«

Arthur dankte gerührt für das großmüthige Anerbieten und erklärte sich bereit, von demselben Gebrauch zu machen; wies aber darauf hin, daß besondere Gründe ihn dazu bewegten, seinen Weg über St. Louis zu nehmen.

»Gut, gut, mein lieber Piratenlieutenant,« fuhr der Kapitän in seiner lebhaften, leichtfertigen Weise fort, »wohin Ihr geht, soll mich nicht kümmern, Ich gebe Euch meine Adresse, damit Ihr mich jederzeit aufzufinden vermögt, und solltet Ihr Lust verspüren, mich zu besuchen, so seid Ihr mir und meiner Familie herzlich willkommen.«

Arthur lächelte wehmüthig zu dem heiteren Wesen des alten Seemanns, der gewissermaßen zwei Naturen in sich vereinigte und mit demselben Eifer die Vernichtung eines feindlichen Schiffes sammt seiner vollzähligen Bemannung zu betreiben im Stande war, wie er jetzt für den früheren feindlichen Officier gleichsam in Wohlwollen zerfloß. Leicht ließ er sich dazu bewegen, den muntern Kapitän auf seinem Spaziergange zu begleiten, der sie ununterbrochen von dem einen Ende des Schiffes nach dem andern hinüberführte, bis endlich der Osten sich zu röthen begann und Beide das Bedürfniß nach Ruhe empfanden.

»'s war ein harter Tag, calculir' ich,« bemerkte der Kapitän, als er sich von Arthur trennte.

»Ein sehr harter Tag,« pflichtete dieser bedeutungsvoll bei.

»Viel Unglück, viel Glück, und Alles endigend in frohes Wiedersehen,« rief der Kapitän rückwärts, »aber 's ist dem alten Gentleman die Freude recht zu gönnen: 'ne Pflegetochter und 'nen Brudersohn! Bei Gott! 's ist viel auf ein Mal. Aber so geht's, Mr. Arthur, auf 'ne Squall folgt Sonnenschein, und auch auf Euern Weg wird die Sonne des Glücks wieder leuchten.«

»Alles endigend in frohes Wiedersehen,« sprach Arthur düster vor sich hin, indem er sich nach der Doppelreihe der leer stehenden Schlafkojen hinbegab. »Und Ich!« fragte er sich mit bitterm Hohne. Ein heiseres, halb ersticktes Lachen entwand sich seiner Brust.

Angekleidet warf er sich auf sein Lager.

Unablässig, einschläfernd polterten die Maschinen; einschläfernd zitterte das ganze Schiffsgebäude und brauste das von den Rädern zu Schaum gepeitschte Wasser an den glatten Planken dahin.

Als endlich nach langem Grübeln ein unruhiger Schlummer sich Arthurs bemächtigte, da verfolgte der Dampfer seinen Weg lustig in den hellen Morgensonnenschein hinein. –


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