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Zwei Tage waren verstrichen, für Hertha zwei Tage des bittersten Kummers und der Sorge. Ihr Onkel zeigte sich finsterer und verschlossener denn je, und vermied augenscheinlich, in seinen Gesprächen Weatherton's Lage zu berühren. Elliot, der sie nunmehr schon als seine Gattin betrachtete, hatte ganz oberflächlich erwähnt, daß er für das Leben der Gefangenen einige Befürchtungen hege, um sich demnächst mit einem Gefühl befriedigter Rache an ihrem Erbleichen zu weiden. Von Weatherton selbst hatte sie indessen nichts wieder gehört oder gesehen, woraus sie schloß, daß seit Elliot's Rückkehr die Haft wieder verschärft worden sei. Sogar die Französin schien sich ein anderes Benehmen gegen sie zum Gesetz gemacht zu haben, indem sie nicht mehr, wie sonst in ihren guten Stunden, die Rolle einer älteren Freundin spielte, sondern sie mehr wie ein kleines Kind behandelte, an welchem man in jeder Minute etwas anderes zu tadeln und auszusetzen findet.
Hertha fügte sich in alles dieses mit einer himmlischen Ergebung, denn zu dem Kummer und der Seelenangst, welche sie zu dulden bestimmt war, hätten dergleichen kleine Leiden doch nicht mehr beitragen können.
Sie beschäftigte sich mit den Kindern des Hauses, deren älteres kaum das vierte Jahr erreicht hatte, und welche zu ihrer Verwunderung sich vorzugsweise gegen den finstern Elliot zutraulich bewiesen; sie brachte den dankbaren und freundlichen Mehaves wie gewöhnlich Speisen, und lernte immer mehr, sich mit ihnen zu verständigen; aber vergeblich schaute sie nach dem geschlossenen Fenster des Gefängnisses hinüber, von Weatherton bemerkte sie nichts. Und so gern hätte sie ihn noch einmal wiedergesehen, so gern noch einmal zu ihm gesprochen und ihm die Versicherung gegeben, daß sie schließlich dennoch seine Befreiung erwirken würde.
Daß seine Befreiung dagegen ihr selbst die Freiheit kosten und sie um diesen Preis für's ganze Leben an einen Mann gefesselt werden solle, gegen den sie nicht nur eine unüberwindliche Abneigung hegte, sondern den sie auch fürchtete, das brauchte er nicht zu wissen. Wenn sie ihn nur wohlbehalten seine Reise antreten sah und womöglich noch die Versicherung mit auf den Weg gab, daß sie selbst vollkommen glücklich und zufrieden mit ihrer Lage sei, dann waren ja ihre hauptsächlichen Wünsche erfüllt.
Ihre trübe Gemütsstimmung erhielt eine wohltuende Unterbrechung, als in der Mitte des zweiten Tages Holmsten unvermutet eintraf und ihr einen lieblichen, blondgelockten zweijährigen Knaben als den Sohn ihrer verstorbenen Schwester vorstellte.
Sprachlos überwältigt von ihren Gefühlen schloß sie das erstaunte Kind in ihre Arme; mit heiligen Tränen wehmütiger Freude benetzte sie sein liebes, freundliches Gesicht, und lange dauerte es, bis sie sich so weit gefaßt hatte, um in demselben nach einer Ähnlichkeit, einer sprechenden Erinnerung an ihre verewigte Schwester zu forschen.
Da waren allerdings die lockigen blonden Haare, auch blaue Augen, so groß und so klar, doch kein Zug, keine Linie des kleinen runden Antlitzes trug die geringste Ähnlichkeit mit der Mutter oder mit Holmsten. Und der Gedanke, daß ihre verlorene Schwester ihr aus den Augen des Knaben entgegenlächeln würde, wie ihr ja so vielfach versichert worden war, hatte ihr doch, seit sie wußte, daß sie nunmehr vollständig verwaist sei, so sehr zum Trost gereicht.
»Aber was schadet's«, flüsterte sie leise, ihr in Tränen schwimmendes Antlitz in die dichten, blonden Locken des Knaben vergrabend, »Du bist ihr Kind, ihr lieber, süßer Sohn, der durch eine größere Ähnlichkeit mit der Mutter weder ihr noch mir hätte teurer werden können. O mein lieber, lieber Erich, wenn ich mich nie wieder von Dir zu trennen brauchte, ich wollte ja nur für Dich allein leben, wirken und schaffen«. –
Das Kind, welches sich anfänglich mit einer gewissen Befremdung in die Liebkosungen der schönen fremden Dame gefügt hatte, fühlte instinktartig die Aufrichtigkeit der ihm entgegengetragenen Zuneigung heraus; es wurde schnell zutraulich, bis es endlich seine Arme um Hertha's Nacken schlang und sich mit innigem Behagen an sie anschmiegte. Dieses Erwachen kindlicher Liebe und die Worte der Zärtlichkeit, mit welchen der kleine Knabe die Beweise seiner freundlichen Gesinnungen stammelnd begleitete, schienen Hertha wie neues Leben zu durchströmen, und so sehr vertiefte sie sich in das Anschauen des Kleinen, und so gespannt lauschte sie auf die noch schwer verständlichen Äußerungen, welche er nicht ohne Mühe hervorbrachte, daß sie nichts von dem gewahrte, was in ihrer Umgebung vorging.
Sie bemerkte nicht die junge Engländerin, welche durch die Spalte der angelehnten Tür sie mit schwer zu beschreibender Eifersucht beobachtete, und wie die hellen Freudentränen ihr über die zarten, eingefallenen Wangen rollten; sie sah nicht, daß Elliot, dessen düsteres Gesicht sich aufgeklärt hatte, mit einem Ausdruck der Zufriedenheit auf sie niederschaute; sie sah nicht, daß ihr Onkel sich abwendete, um eine gewaltige innere Bewegung niederzukämpfen; noch weniger aber entdeckte sie, daß in der äußeren Erscheinung Holmsten's, den sie zwar nur flüchtig aber herzlich begrüßt hatte, eine so auffallende Veränderung vor sich gegangen war.
Derselbe hatte in der Zeit, in welcher sie ihn nicht gesehen, trotzdem seine muskulöse Gestalt noch immer an die alten nordischen Helden erinnert, zum Erschrecken gealtert, und beugte sich förmlich unter der Last der Jahre. Der heitere, zuweilen schwärmerische Ausdruck, der einst seinem stattlichen Äußern so viel Reiz verlieh, war verschwunden. Dafür irrten aus seinen tief eingesunkenen Augen jene unheimliche, unsteten Blitze umher, vor welchen derjenige, den sie trafen, unwillkürlich eine nicht leicht zu besiegende Scheu empfand.
Auf Hertha, die in dem Kinde ihr ganzes Lebensglück und neue Jugendkraft gefunden zu haben schien, starrte er hin, als sei sie seine Richterin gewesen, die gekommen, um ihre Schwester von ihm zu fordern, und jedes Wort der Liebe, welches sie an den Knaben richtete, drang wie ein bitterer, mit Gift getränkter Stachel in seine Brust.
Endlich schlug sie ihre schönen blauen Augen mit wehmütigem Ernst zu ihm auf.
Holmsten erbleichte, es waren die Augen seiner bitter getäuschten Gattin, die in der Wüste ihren schrecklichen Untergang gefunden. Als sie dann aber ihre Lippen öffnete, da glaubte er, daß sich denselben nur eine schreckliche Anklage entwinden könne.
Doch kein Vorwurf, keine Klage traf ihn. Aber eine innige Teilnahme breitete sich über Hertha's Züge aus, als sie die große Veränderung an ihrem Schwager entdeckte.
»Armer Erich«, sagte sie traurig und mild, indem sie ihm die Hand über den auf ihrem Schoße sitzenden Knaben darreichte; »armer Erich, Du mußt viel, sehr viel gelitten haben; der Kummer hat Dich entstellt, und kaum wage ich Dich zu bitten, mir den Knaben einige Tage zu lassen«.
Auf so viel Milde und Güte war Holmsten nicht vorbereitet. Er hatte nur Fragen nach der Todesart und den letzten Stunden seiner Gattin erwartet, und ein Märchen ersonnen, um deren Flucht, die ja vor Hertha nicht geheim bleiben konnte, zu erklären. Der Ausdruck des aufrichtigen Mitgefühls wurde aber zuviel, selbst für sein verhärtetes Gemüt.
Eine Weile stand er sprachlos da, seine Lippen bebten, und Totenblässe bedeckte seine Züge, indem die Bilder seiner Gattin, seines Kindes und die drohende Gestalt des erschlagenen Rynolds vor seiner Seele vorüberzogen.
Auch Elliot ergriff ein jäher Schrecken, als er den Genossen so dastehen sah, bereit, wie es schien, unter dem Druck der auf ihn einstürmenden Gefühle, das ganze Gewebe von Falschheit vor Hertha aufzudecken, und nicht nur sich selbst der langersehnten Erbschaft zu berauben, sondern auch durch das offene Geständnis eine unübersteigliche Scheidewand zwischen ihn und Hertha zu ziehen.
Hertha dagegen nahm Homsten's Schweigen für ein Zeichen des neuerwachten Schmerzes, und mit edler, zarter Weiblichkeit suchte sie den Kummer zu mildern, der, wie sie nicht anders erwarten konnte, durch ihren Anblick mit doppelter Gewalt wachgerufen worden war.
»Tröste Dich«, sagte sie mit rührender Teilnahme, indem sie aufstand und Holmsten den Knaben in die Arme legte, »tröste Dich und blicke auf den Engel hier, den sie uns zurückgelassen hat. Ich nehme meine Bitte ja gern zurück und will es Deiner Freundlichkeit und Güte anheimstellen, mir ihn von Zeit zu Zeit zu bringen und aus seinem Anblick auch mich Trost für den unersetzlichen Verlust schöpfen zu lassen«.
Als sie Holmsten das Kind darreichte, wurde dieser so verwirrt, daß es seinem unsichern Griff beinahe entschlüpft wäre. Ein schwacher Aufschrei von der Tür her, welchen Elliot mit einem furchtbar drohenden Blick, Hertha dagegen der vermeintlichen Pflegemutter mit ihrem süßesten Lächeln lohnte, brachte ihn indessen wieder zur Besinnung. Seine Züge erhielten allmählich einen ruhigen, überlegenden Ausdruck, der ihn so selten verließ, und indem er den sich sträubenden Knaben dichter zu sich heranzog, drückte er einen Kuß auf seine roten Lippen.
»Was wir verloren haben, kann uns durch nichts ersetzt werden«, sagte er dann, seine Augen, um den unschuldsvollen Blicken Hertha's nicht zu begegnen, starr auf das Kind heftend; »der Knabe gereicht mir zum Trost, aber auch Du sollst dieses Trostes nicht entbehren. Hertha, ich trenne mich schwer von diesem Knaben«, fuhr er mit unsicherer Stimme fort, in welche etwas Herzlichkeit zu legen er sich vergeblich bemühte, »aber ich verspreche Dir, an dem Tage, an welchem Du meinem Freunde Elliot, dem einzigen Menschen auf dieser Welt, dessen väterlicher Fürsorge ich mein Kind anvertrauen möchte, Deine Hand vor dem Altar zum Bunde für's ganze Leben reichst, an demselben Tage lege ich dieses heilige Vermächtnis in Deine Arme und rufe Dir zu: Sei ihm Mutter«.
Bei diesen Worten hatte Jansen sich abgewendet, um gleich Elliot zu beobachten, welchen Eindruck das Versprechen auf Hertha ausüben würde. Ersterer war erfüllt von einer unbestimmten Besorgnis, während der Kommandant nur zu berechnen wünschte, wie nahe oder wie weit entfernt er noch von seinem Ziele sei.
Beide gewahrten, daß Hertha erbleichte, und beiden entging nicht, daß sie sich nur deshalb niedersetzte, weil ihre Füße ihr den Dienst zu versagen drohten.
»Schweigen wir davon, lieber Schwager«, sagte sie fast tonlos, ihre Blicke starr auf die Erde heftend; »die Lage, in welcher ich mich hier befinde, ist mir noch zu neu, zu ungewohnt und zu weit verschieden von der, in welche zu gelangen ich erwartete, als daß ich immerwährend daran erinnert werden möchte. Gönne mir Zeit – und dann – sind ja auch noch Bedingungen zu erfüllen, von welchen meine Entscheidung abhängt«.
Indem Hertha die letzten Worte mit erhobenerer und festerer Stimme sprach, suchte sie die Augen ihres Onkels, um aus denselben eine Bestätigung ihrer Wünsche herauszulesen; es gereichte ihr zur Beruhigung, daß derselbe, ihre Absicht verstehend, leise nickte. Elliot dagegen schoß unbemerkt einen Blick so grimmigen Zornes auf sie, daß, hätte sie denselben bemerkt, sie von einem jähen Schrecken befallen worden wäre, weniger ihrer selbst, als Weatherton's wegen, an welchen sie sowohl, wie Elliot in demselben Augenblick zugleich dachten.
Holmsten hatte unterdessen das Kind an Hertha zurückgegeben, und da diese sich sogleich wieder mit mütterlicher Sorgfalt mit demselben beschäftigte und in ihrer Zärtlichkeit alle anderen um sich her vergaß, so entfernten sich Holmsten und Elliot aus einer Lage, die ihnen drückend zu werden begann. – Nur Jansen, ergriffen von einem unbestimmten Argwohn und erfüllt von Besorgnis für seine Nichte, blieb zurück, um sie aufzurichten und ihr Hoffnung für die Zukunft zuzusprechen.
Nachdem er eine Weile stumm auf die Szene hingeschaut, welche sich nunmehr zwischen dem Kinde und dem jungen Mädchen entspann, und die ihn offenbar in jene Zeit zurückversetzte, in welcher er Hertha ganz in derselben Weise auf dem Schoße ihrer Mutter gesehen und mit dem innigsten Wohlgefallen beobachtet hatte, trat er endlich dicht an die liebliche Gruppe heran.
»Du siehst, mein Kind«, hob er wohlwollend an, indem er freundlich mit den Fingern durch des Knaben blonde Locken strich, »das Opfer, welches Du nach Deiner Ansicht durch Deine Verbindung mit Elliot zu bringen gezwungen bist, wird Dir von allen Seiten erleichtert. Es muß Dir zum Trost für den Verlust Deiner Schwester gereichen, den lieben Knaben dereinst bei Dir behalten zu dürfen, ohne daß Du zu befürchten brauchtest, jemals wieder von ihm getrennt zu werden. Holmsten's Anerbieten befriedigt mich doppelt, weil es für ihn kein leichtes Opfer sein kann, der Freude, seinen Sohn beständig in seiner Umgebung zu sehen, fortan zu entsagen. Welche Beweise verlangst Du noch für die Reinheit unserer Religion? Würde eine andere Dir die Gelegenheit geboten haben, durch einen einzigen Schritt, vor welchem Du in Deiner kindlichen Einfalt jetzt noch zurückbebst, zugleich einem Gefangenen, dessen Leben an einem schwachen Faden hängt, die Freiheit schenken, und einem verwaisten Kinde die Mutter ersetzen zu können?«
»O teuerster Onkel«, antwortete Hertha klagend, »ich bin bereit, die Aufgabe zu übernehmen, welche mir mit so unerbittlicher Strenge übertragen wird; wer aber steht mir dafür ein, daß die Zusagen, die mir betreffs Weatherton's gemacht sind, auch gehalten werden? Onkel, ich sage es Dir, in der Angst meines Herzens gestehe ich es Dir, ich fürchte Elliot und traue ihm nicht. Er hat Unheil mit den armen Gefangenen im Sinne; wozu hätte er Dir sonst das unterzeichnete Todesurteil wieder abverlangt, und Tag und Stunde hinzugefügt, wie Du mir ja selbst mitteiltest?«
»Um zu verhüten, daß Du Dich einer Täuschung hingibst, und um Dich zu überzeugen, daß Du wirklich sein Leben rettest«, antwortete Jansen, dem ebenfalls immer mehr Zweifel aufstiegen, ob Elliot auch wirklich keine falsche Rolle spielte. »Ferner will man Weatherton auch durch das Vorlegen des Urteils dazu bewegen, Aufschlüsse über seine verborgenen Freunde zu erteilen, welche nicht nur unser Tal unsicher machen, sondern auch, was nicht mehr in Frage gezogen oder abgeleugnet werden kann, Rynolds auch hinterlistige Weise um's Leben gebracht haben«.
»Ich kann es nicht glauben, ich glaube es nicht«, versetzte Hertha leise, den Knaben, wie um Trost bei ihm zu suchen, innig an sich drückend.
»Wenn ich bis jetzt noch Deinen Glauben in einigen Beziehungen teilte, so hat Holmsten mir durch seine flüchtigen Berichte denselben vollständig erschüttert und geraubt. Die Beweise liegen vor, und eine Abteilung von Utah-Indianern, geführt von den besten Mormonenjägern, durchforscht augenblicklich unser Gebiet und alle angrenzenden Gebirge nach den Mördern«.
»Mag es sein, lieber Onkel; aber als Elliot zu mir von Weatherton sprach, da klang seine Stimme so sarkastisch, so feindlich, daß ich darüber von einer unsagbaren Angst ergriffen wurde. Er hat mir zwar die Erfüllung meiner Bedingungen zugesagt und feierlich gelobt, aber glaube mir, er meint es nicht ehrlich, ich bin auf die eine oder die andere Art das Opfer einer Täuschung! Onkel? und solchem Manne, der sich nicht scheut, einen so unrechtlichen Druck auf meine Entschließungen auszuüben, soll ich meine Hand reichen, um hinterher dennoch betrogen zu werden? O mein Gott, wie vermag ich das zu ertragen!«
»Beruhige Dich, mein Kind«, sagte Jansen, nachdem er einige Male in dem Gemach auf und ab gegangen war; »Du sollst nicht betrogen werden, ich, Dein Onkel, Dein Beschützer, ich verspreche es Dir: Weatherton und sein Gefährte sollen befreit werden; mag Elliot auch das Gegenteil wünschen und der Prophet selber ihn darin bestärken, nicht eher wird die so allgemein gewünschte und in der Tat wünschenswerte Verbindung geschlossen, als bis Weatherton unbehelligt die Grenzen unseres Gebietes verlassen hat. Vertraue meinen Worten, geliebte Tochter, auch ich wünsche dem jungen unbesonnenen Manne alles Gute. Er besitzt einen braven, edlen Charakter, einen Charakter, wie ich ihn liebe, wie er aber nicht für unsere Gemeinde passen würde, und gerade derselbe Grund, welcher Elliot vielleicht veranlaßt, feindliche Gefühle gegen ihn zu hegen, hat ihn meinem Herzen näher gebracht und den Entschluß gefördert, sogar mein eigenes Leben für ihn einzusetzen«.
»Welcher Grund?« fragte Hertha hoch aufhorchend.
»Denselben kennen zu lernen, hat jetzt keinen Wert mehr für Dich«, antwortete Jansen äußerlich kalt, aber seine gedämpfte und etwas zitternde Stimme verriet, daß er seiner letzten Unterredung mit Weatherton gedachte. »Beruhige Dich indessen und lebe der Zuversicht, daß er unter allen Umständen gerettet werden wird. Um aber auch Deine letzten Zweifel zu vescheuchen, will ich Dir sogar den Plan mitteilen, nach welchem ich zu handeln gedenke«.
So sprechend, rückte er einen Stuhl an Hertha's Seite, und nachdem er einen flüchtigen Blick auf die verschlossene Tür und die Fenster geworfen, an welchen kurz vorher Demoiselle Corbillon vorübergeschritten war, begann er mit vorsichtig gedämpfter Stimme:
»Wie die Spione unserer Feinde sich in unser Tal geschlichen haben, um sich über unsere Absichten und Verteidigungsmaßregeln zu unterrichten, so sind auch von unserer Seite starke Abteilungen gegen Osten entsendet worden, um dort nach besten Kräften in unserem Interesse zu wirken. Letztere bestehen vorzugsweise aus Eingeborenen, welchen sich aber die Mutigsten unseres Volkes angeschlossen haben, um die Indianer, die leicht zu weit gehen, zu lenken und im Zaume zu halten. Der eigentliche Krieg ist noch nicht eröffnet worden, es müssen daher kleine Übervorteilungen, die uns später zugute kommen sollen, möglichst geheim gehalten werden. Namentlich dürfen sie unseren Feinden nicht als von den Mormonen ausgehend erscheinen, um nicht durch vorzeitiges Blutvergießen die letzte Hoffnung auf einen ehrenhaften Friedensschluß leichtsinnig zu zerstören. Zu solchen Zwecken haben sich die Glaubensgenossen, welche derartige Expeditionen führen, als Indianer verkleidet«.
»Eine dieser Expeditionen nun hat, wie ich aus der sichersten Quelle weiß, auf jener Seite des Wahsatchgebirges einen Train von siebzig Wagen zur Nachtzeit überfallen, die schwache Eskorte verjagt, die weidenden Zugtiere nach allen Himmelsgegenden zerstreut, danach die Wagen, bis auf den letzten, samt ihrem wertvollen Inhalte verbrannt, und dann die Flucht ergriffen«.
»Außer einigen leichten Verwundungen ist kein ernstes Blutvergießen zu beklagen gewesen; doch hatte er bedeutende und für die an unseren Grenzen lagernden Truppenmassen sehr empfindliche Verlust unsere Feinde aufs äußerste erbittert«.
»Sie schickten daher sogleich entsprechend starke Patrouillen zur Verfolgung der Unsrigen aus, und es gelang ihnen auch, die Flüchtlinge zu erreichen und zu zersprengen. Alle entkamen glücklich in die Schluchten der Gebirge, bis auf einige weiße Jäger, die, weniger vertraut mit den Gebirgspfaden, sich den Blicken ihrer Verfolger nicht schnell genug zu entziehen vermochten. Dieselben leisteten grundsätzlich keine Gegenwehr; sie wurden daher gefangengenommen, und da man Weiße in ihnen entdeckte, nicht sogleich erschossen, sondern vor den kommandierenden General der Vereinigte-Staaten-Armee gebracht«.
»Über ihr Herkommen befragt, bestritten sie, Mormonen zu sein. Sie wußten, was auf dem Spiele stand und gaben sich daher für Pelzjäger aus, die sich den Indianern angeschlossen, aber nicht Einfluß genug über dieselben besessen hätten, um sie von dem feindlichen Angriff zurückzuhalten«.
»Ein Parlamentär wurde sodann nach der Salzsee-Stadt entsendet; doch hütete man sich dort wohlweislich, die gefangenen Frevler als Mormonen anzuerkennen. Sie wurden verleugnet und der Parlamentär kehrte unverrichteter Sache nach seinem Lager zurück«.
»Meine Absicht ist nun folgende: Ich werde morgen, ohne jemanden weiter davon in Kenntnis zu setzen, nach der Salzsee-Stadt aufbrechen und mich von dort aus geraden Weges in das feindliche Lager begeben. Den Kommandeur der nächsten Truppenabteilung benachrichtige ich, daß ein Offizier, der im Verdacht steht, als Spion in unser Tal gedrungen zu sein, sich in unserer Gewalt befinde und Gefahr laufe, erschossen zu werden«.
»Fürchte nichts, mein Kind«, fuhr Jansen beruhigend fort, als er in den Zügen seiner Nichte einen Ausdruck der Verzweiflung gewahrte; »ich traue Weatherton nicht zu, daß er um den Mord wußte, obschon er Rynolds schon früher kannte und wenig Ursache hatte, freundschaftliche Gefühle gegen ihn zu hegen. Doch ich wiederhole, es ist natürlich, daß Weatherton für das zur Rechenschaft gezogen wird, was seine Freunde und Gefährten verbrochen haben, wenn es nicht gelingt, derselben bald habhaft zu werden«.
»Die Mormonen, die durch ihre eigene Schuld in die Hände unserer Feinde gelangten, können für diese nur sehr geringe Wichtigkeit haben, indem dieselben lieber einen zehnfachen Tod erlitten, als ihr wirkliches Herkommen verrieten. Überdies liegen nicht einmal Beweise vor, daß sie bei der Zerstörung des Wagentrains tätigen Beistand leisteten«.
»Aus allen diesen Gründen nun, vielleicht auch mit Rücksicht auf meinen dringend ausgesprochenen Wunsch, wird man dort drüben gern dazu bereit sein, die Gefangenen gegen Auslieferung Weatherton's und dessen Gefährten auf freien Fuß zu setzen«.
»Sollte mir die augenblickliche Befreiung Weatherton's wirklich nicht gelingen, so erreiche ich doch, daß man drüben um die Anwesenheit des Vereinigte-Staaten-Offiziers im Salzsee-Tal weiß. Man wird Nachforschungen nach ihm anstellen, sich von der Wahrheit meiner Angabe überzeugen und ohne Zweifel Gegenvorschläge zur Auswechselung machen, was dann zunächst zur Folge hätte, daß dem Gefangenen kein Haar mehr gekrümmt werden dürfte. Selbst Elliot, in dessen Händen sein Leben zur Zeit liegt, dürfte nicht mehr wagen, feindlieh gegen ihn aufzutreten, wollte er nicht das unauslösliche Rachegefühl der Gentiles heraufbeschwören, und sich durch leichtsinnig herbeigeführtes Unglück der Verachtung des eigenen Volkes preisgeben. Die Vorwürfe, welche mich vielleicht für meine Handlung treffen, will ich gern tragen, und gewiß wird man die Heimkehr unserer gefangenen Brüder höher anschlagen, als die Auslieferung Weatherton's und seines alten Gefährten«.
»Also in's feindliche Lager willst Du hinüber, um auf alle Fälle Weatherton's Leben sicherzustellen?« fragte Hertha, die den Erklärungen ihres Onkels mit der ungeteilten Aufmerksamkeit gefolgt war und nur mechanisch mit dem Kinde auf ihrem Schoße, um dasselbe ruhig zu halten, Liebkosungen ausgetauscht hatte. »Du willst Dich der Gefahr aussetzen, dort ebenfalls wider Deinen Willen zurückgehalten zu werden?« fragte sie weiter, und ihr Antlitz rötete sich plötzlich, als sei ein kühner Entschluß vor ihrer Seele aufgetaucht und ebenso schnell zur Reife gelangt.
»Hätte man bereits blutige Schlachten geschlagen, so wäre eine derartige Gefahr nicht zu befürchten, viel weniger noch jetzt«, antwortete Jansen, die Veränderung in Hertha's Zügen mit Befremdung gewahrend. »Parlamentäre stehen unter dem Schutze des Völkerrechts; frei gehen sie aus und ein, wenn auch die äußeren Vorsichtsmaßnahmen dabei nicht vernachlässigt werden«.
»Bist Du auch fest davon überzeugt, daß man auf Deine Vorschläge eingeht und Dir Deine Bitte gewährt?«
»Ich bin es, mein Kind«.
»Onkel, ich bin es nicht, wenigstens vermag ich eine unbestimmte Besorgnis nicht zu unterdrücken. Was man Dir, einem Mormonen, vielleicht versagt, wird man einem flehenden Mädchen gewähren. Darum, lieber Onkel, gestatte mir, Dich zu begleiten; ich will bleiben, wo Du bleibst, ich will wissen, daß Deine Reise keine vergebliche sei«.
»Liebes Kind, bedenke die beschwerliche Reise«, entgegnete Jansen, innerlich gerührt, »und übrigens muß dieselbe auch schnell zurückgelegt werden, wenn es nicht zu spät – ich meine, wenn Elliot seinerseits nicht Mißtrauen gegen Dich und Dein gegebenes Wort fassen soll«.
»Habe ich jemals geklagt auf unserer langwierigen Fahrt durch die Wüsten? Habe ich geklagt, wenn die Sonne auf unsern Scheitel brannte und nur lauwarmes, übelschmeckendes Wasser uns zu Gebote stand, um den trockenen Gaumen zu erfrischen?« fragte Hertha, indem sie sich mit dem Knaben auf dem Arme erhob und demselben gestattete, die starken blonden Flechten, welche ihr schönes Haupt umschlangen, mit kindlicher Zutraulichkeit unbarmherzig auseinander zu zerren. »Nein!« antwortete sie selbst, und ihre feuchten Augen strahlten wieder einmal in dem alten schwärmerischen Feuer, »keine Klage kam über meine Lippen; im Gegenteil, ich fühlte meine Kräfte erstarken, und ein Ritt von einigen Tagen kann jetzt nur noch eine Erholung für meinen Körper, eine Erfrischung meines Geistes nach so vielen und herben Schicksalsschlägen sein«.
»Aber das Kind?« fragte Jansen, auf den kleinen Knaben weisend, der seine verwunderten und neugierigen Blicke bald auf Hertha, bald auf deren Onkel richtete, »es sollte ja noch einige Tage Deiner alleinigen Fürsorge anvertraut bleiben«.
Hertha sann einen Augenblick nach; dann preßte sie den Knaben an sich, und indem sie ihn zärtlich küßte, wendete sie sich wieder ihrem Onkel zu. »Ich muß das Opfer bringen und mich noch einmal von diesem süßen Engel trennen«, begann sie, das Kind, welches ihr zu schwer wurde, vor sich auf die Erde stellend und ihre Hand schmeichelnd auf dessen Lockenkopf legend; »mit der Bewilligung seines Vaters bleibt es so lange unter der Obhut seiner früheren Pflegemutter. Dieselbe liebt es über alle Beschreibung und hat selbst eine Tochter, die mit unserem Knaben in demselben Alter stehen muß. Du siehst, lieber Onkel, ich kann hier sehr gut entbehrt werden, und außerdem ist es besser, wenn Du nicht so allein reisest. Denke nur die lange Ungewißheit, und dann ich hier unter den fremden Menschen«.
»Die lange Ungewißheit«, wiederholte Jansen leise, wie zu sich selbst sprechend, indem er Hertha mit trübem Sinnen in die großen leuchtenden Augen blickte; »aber mein gutes Kind«, fuhr er dann lauter fort, »wer soll während unserer Abwesenheit darüber wachen, daß unsere Gefangenen nicht einem tief gewurzelten Haß und einem allzu großen Diensteifer geopfert werden? Unsere Heimkehr könnte ja durch irgendeinen Zufall sich verzögern«.
Hertha erbleichte und legte die Hand aufs Herz, wie um einen heftigen Schmerz in demselben zu beschwichtigen.
»So gibst Du selbst die Möglichkeit von Elliot's Falschheit und Wortbrüchigkeit zu?« fragte sie mit bebenden Lippen, denn sie vergegenwärtigte sich in diesem Augenblick, daß sie ihr ganzes Leben an der Seite dieses gefürchteten Mannes zu vertrauern gezwungen sei.
»Das nicht«, antwortete Jansen nicht ohne sichtbare Verlegenheit, »ich wollte damit nur andeuten, daß es doch wohl auf alle Fälle geratener sein dürfte, wenn Du hierbliebest«.
»So befürchtest Du etwa, ich würde mich, im Fall Weatherton seine Befreiung meinen eigenen Bemühungen verdankte, meines Versprechens für entbunden halten?«
»Auch das nicht, mein gutes Kind, denn Elliot mag nun so gut und rechtlich sein, wie er will, seine Neigung zu Dir würde ihn veranlassen, noch heute von dem ihm zustehenden Recht als Kommandant von Fort Utah im strengsten Sinne des Wortes Gebrauch zu machen, erneuertest Du ihm vor Deiner Abreise nicht feierlich die Versicherung, Dich auch fernerhin als an ihn gebunden zu betrachten«.
»Fürchte nichts, Onkel«, entgegnete Hertha, und ihre Oberlippe kräuselte sich zu einem verachtenden Lächeln empor, »Elliot's treue Neigung zu mir und meinem Vermögen soll nicht unbelohnt bleiben, wenn auch nur um des holden Kindes willen«.
Hier schwieg sie, und halb versunken in Betrachtungen, halb beschäftigt mit dem Kinde, schaute sie fast regungslos auf dasselbe nieder.
Plötzlich schoß ihr das Blut wieder in die Wangen, und indem sie zu ihrem Onkel emporschaute, strahlte ihr liebliches Antlitz, als wären jetzt aller Kummer und alle Besorgnisse von ihr gewichen.
»Onkel!« rief sie aus, das Kind einen Augenblick sich selbst überlassend und ihre Arme mit einem bittenden Lächeln um seinen Hals schlingend, »ich ziehe mit Dir; es gibt nichts mehr, was mich hier zurückhielte. Ich kenne ein Mittel, durch welches die Gefahr von Weatherton auch während unserer Abwesenheit fern gehalten wird; frage nicht, was es sei, sondern vertraue mir, und weigere Dich nicht länger, mich mit Dir zu nehmen!«
»Wohl, meine geliebte Tochter«, antwortete Jansen, nachdem er seiner ersten Überraschung wieder Herr geworden war, »Du sollst mich begleiten; ich dränge nicht in Dich, mir mitzuteilen, was Dich so tief zu bewegen scheint, aber noch einmal wiederhole ich, daß wir die Reise nicht anders als zu Pferde zurücklegen können und wohl eines Zeitraums von sechs bis acht Tagen bedürfen, um unsere Aufgabe zu vollenden«.
»Und sollte ich zu Fuß wandern müssen, so würde ich nicht davor zurückschrecken«, erwiderte Hertha mit Enthusiasmus, »ich erfülle durch diese Reise eine heilige Pflicht, und schon jetzt empfinde ich eine innere Befriedigung bei dem Gedanken: manches wieder gut zu machen, was von meinen Glaubensgenossen in blindem Eifer gefehlt und übertrieben wurde«.
»Morgen in aller Frühe brechen wir auf«, versetzte Jansen, seine Nichte mit einem Gemisch von Wohlgefallen und Bedauern betrachtend.
»Sage heute Abend, Onkel, und ich bin bereit«.
»Nein, morgen in aller Frühe, und merke Dir wohl mein Kind, unsere Reise führt nach unserer heiligen Salzsee-Stadt, wenn jemand Dich fragen sollte«.
»Nach der Salzsee-Stadt«, wiederholte Hertha, ihm freundlich zunickend; dann aber nahm sie den Knaben auf den Arm, um sogleich mit ihm nach der ändern Seite des Hauses hinüberzugehen und ihn dort der Obhut der jungen Frau, die der Knabe ja schon gewohnt war, Mutter zu nennen, für die Dauer ihrer Abwesenheit auf das wärmste anzuempfehlen.
Jansen schaute ihr sinnend nach, als sie sich entfernte. Selbst als die Tür sich schon hinter ihr geschlossen hatte, hafteten seine Blicke noch längere Zeit mit einem ungewöhnlich milden, ja weichen Ausdruck auf der dünnen Scheidewand, hinter welcher sie verschwunden war.
»O Rynolds, Rynolds!« murmelte er vorwurfsvoll, »hast Du mir immer recht geraten, als Du mir die größte Strenge und einen unerschütterlichen Ernst diesem edelherzigen, lieben guten Kinde gegenüber anempfahlst? Hast Du mir recht geraten, als Du darauf bestandest, der Religion und deren Lehren jedes sanftere Gefühl zum Opfer zu bringen? Armes Wesen; ihre Frömmigkeit, ihre Ergebenheit machen sie mit jedem Tage meinem Herzen teurer; möge der Allmächtige den Kampf, den sie noch zu bestehen hat, um eine wahre Rechtgläubige zu werden, einen kurzen sein lassen. O, Weatherton, an Deinen strengen Begriffen von Ehre, an Deinem starren Festhalten des angestammten Glaubens ist das irdische Glück dieses Engels gescheitert«.
So sprach Jansen, indem er sich umwendete und der ändern, nach seiner eigenen Wohnung führenden Tür langsam zuschritt.
Hätte er sich etwas mehr beeilt, so würde er wahrscheinlich noch die Gouvernante entdeckt haben, die sich, kurz vor seinem Eintreten in den zwischen seinem und Hertha's Wohngemache liegenden Gang, durch die gegenüberliegende Tür nach seiner Wohnstube entfernte und alsbald aus dieser, mit der Gewandtheit einer Katze, in's Freie glitt.
Glühend vor triumphierender Aufregung eilte sie nach der Blockhütte hinüber, in welcher Holmsten eingekehrt war und wo sie diesen und Elliot gerade anwesend wußte.
Später als gewöhnlich begab sich Hertha an diesem Abend zu den Mohave-Indianern, um ihnen zum letzten Mal einige sorgfältiger zubereitete Speisen und mit diesen kleine Geschenke und Andenken zu überbringen. Sie selbst sollte ja am folgenden Morgen schon vor Tagesanbruch die beabsichtigte Reise gegen Norden antreten, und wenn sie von ihrem Ausfluge zurückkehrte, dann waren die Mohaves bereits getauft und befanden sich vielleicht schon auf dem Wege nach ihrer Heimat im Tale des Colorado, des großen Wüstenstromes.
Dieses den über ihre Güte entzückten Wilden zu erklären, und zugleich zu verstehen zu geben, daß sie gekommen sei, um Abschied von ihnen zu nehmen, war ihre erste Aufgabe.
Kairuk und Ireteba, die beiden scharfsinnigsten der Gesellschaft, die mehr als die übrigen Mohaves von der Sprache und Ausdrucksweise der Amerikaner gelernt hatten, begriffen leicht, was Hertha bezweckte, und eine tiefe Traurigkeit verbreitete sich über ihre braunen, zum Teil wild bemalten Gesichter, als sie ihren Gefährten Hertha's Mitteilungen verdolmetschten, und dann auch diese trübselig zu dem jungen Mädchen emporschauten.
Nachdem Hertha eine Weile bald die wilden Krieger mit eigentümlicher Teilnahme betrachtet, bald ihre Blicke besorgnisvoll über den dunklen Hof hatte hinschweifen lassen, als ob sie unschlüssig gewesen sei, welchen Weg sie nunmehr einzuschlagen habe, beugte sie sich plötzlich zu Kairuk nieder, und indem sie ihn leise an der Schulter berührte, wies sie mit der andern Hand nach dem spärlich erleuchteten Fenster des Gefängnisses hinüber.
»Ein guter Amerikaner«, flüsterte sie mit ängstlicher Spannung dem Häuptling zu, denn sie befürchtete, nicht verstanden zu werden.
Ein Blitz des Verständnisses zuckte über Kairuk's Gesicht, als er seine glänzend schwarzen Augen nach der angedeuteten Richtung hinwendete, und mit seiner tiefen, wohltönenden Stimme wiederholte er mehrere Male: »Guter Amerikaner, gefangen, nicht gut, Mormonentaube sagen: Amerikaner frei sein, wie Mohaves«.
»Ja, guter Kairuk, ich wünschte wohl, daß er frei wäre«, sagte sie, einen traurigen Blick nach dem Gefängnis hinübersendend, ohne zu bedenken, daß der Indianer wohl einzelne Worte, aber nicht ihre zusammenhängende Rede verstand.
»Amerikaner frei, sehr frei achotka«, versetzte Kairuk, Hertha freundlich zunickend.
»Er ist aber nicht frei, und wer weiß, wie lange er dort nach Freiheit wird schmachten müssen«, fuhr diese in derselben Weise fort, nun aber wieder ihre ganze Aufmerksamkeit dem Häuptling zuwendend. »Kairuk Freund von der Mormonentaube, Kairuk und Mohaves Freunde von dem Amerikaner«, sagte sie dann, mit Vorbedacht nur solche Worte wählend, von welchen sie wußte, daß die Mohaves dieselben schon teils früher, teils von ihr selbst gelernt hatten.
»Kairuk Freund von Amerikaner, Kairuk sehr Freund, Freund, Freund von Mormonentaube«, bekräftigte der Häuptling unter dem zustimmenden »Achotka« seiner Genossen.
»Gut denn, braver Kairuk«, versetzte Hertha, trübe lächelnd über die Art, in welcher der Indianer ihr begreiflich machte, daß er sie bevorzuge. Das Lächeln schwand indessen schnell wieder spurlos, als sie Miene machte, weiterzusprechen.
»Mormonen wollen töten Amerikaner«, sagte sie langsam und ausdrucksvoll, wobei sich ihr Gesicht bleich färbte.
Kairuk's Augen leuchteten bei dieser Nachricht in wildem, drohendem Feuer auf. »Amerikaner gut, Mormonen nicht töten Amerikaner«, versetzte er, wie um sich selbst zu beruhigen.
Hertha sank der Mut, sie bezweifelte, daß es ihr gelingen würde, dem Mohave ihre Absichten zu verdeutlichen.
»Aber sie werden ihn töten, wenn er nicht beschützt wird«, sagte sie so dringend und angstvoll, daß Kairuk emporschnellte und, wie um eine unbekannte Gefahr von ihr abzuhalten, an ihre Seite trat; »ja, guter Häuptling«, wiederholte sie, und die Besorgnis schien ihren eigenen Scharfsinn zu erhöhen; »Kairuk zwei Augen, Kairuk kann viel sehen!«
»Kairuk viel, viel sehen, sehen in Nacht«, bemerkte der Häuptling wohlgefällig.
»Kairuk sehen den Amerikaner, wenn sehen Mormonen ihn töten; Kairuk, sagen: nein, nicht töten Amerikaner«, fuhr Hertha fort.
»Achotka«, entgegnete der Mohave, zum Zeichen, daß er die beabsichtigte Mitteilung errate; zugleich wich aber auch jeder Zug von freundlicher Unbefangenheit und heiterer Sorglosigkeit aus seinem Antlitz, und dafür zeigte dasselbe einen so hohen Grad von ernster Überlegung, versteckter Wildheit und mutiger Entschlossenheit, daß Hertha sich kaum einer gewissen Scheu zu erwehren vermochte.
»Kairuk und alle Mohaves sind gut«, hob sie mit kindlich flehender Stimme an, ihre großen unschuldvollen Augen schüchtern zu dem riesenhaften Krieger emporschlagend, der mit seinen glühenden Blicken die von dem niederbrennenden Feuer schwach beleuchtete anmutige Gestalt gleichsam verschlang; »Kairuk und alle Mohaves lieben die Mormonentaube, lieben den Amerikaner dort drüben; Kairuk und Mohaves nicht sehen Amerikaner töten, wachen über den Amerikaner Tag und Nacht, bis die Mormonentaube zurückkehrt und ihnen wieder Speisen bringt«.
»Kairuk lieben Mormonentaube«, wiederholte der Häuptling, sich mit einer Würde emporrichtend, die eine Heldenrolle auf der Bühne geziert haben würde. »Mormonentaube schlafen in Fort Utah eine Nacht, Mohaves schlafen in Fort Utah eine, noch eine, noch eine Nacht, dann Mohaves gehen, gehen fort, weit fort, sehen nicht mehr gute Mormonentaube. Sagen aber guten Mormonentaube: Mormonen töten Amerikaner, töten auch Kairuk, Ireteba, Mohaves«, und indem er dies sagte, schlug er mit der Faust auf seine hohe Brust, daß es laut dröhnte.
»Guter Häuptling, wenn ich Dich recht verstehe, so willst Du des Amerikaners Leben mit dem Deinigen verteidigen«, versetzte Hertha sinnend.
»Achotka, achotka«, antwortete Kairuk, unter dem zustimmenden »Hagh« seiner Gefährten; obwohl keiner von ihnen den Sinn von Hertha's Rede so recht begriffen hatte; doch wie sie das junge freundliche Mädchen kannten, hielten sie es für selbstverständlich, daß auf jedes ihrer Äußerungen unbedingt das einzige Wort »Achotka« passe.
Kairuk's Versicherung, über Weatherton wachen zu wollen, wie Hertha seine Zeichen und Worte auslegte, trugen nicht wenig dazu bei, ihr von Besorgnis erfülltes Gemüt zu beruhigen, und leichteren Herzens, als sie gekommen war, reichte sie den auf der Erde kauernden Kriegern die Hand zum Abschied.
»Lebe wohl, Kairuk«, sagte sie zuletzt zu dem Häuptling, der wie eine Eiche, welche eben die Zeit ihrer üppigsten Kraft erreichte, vor ihr stand; »möge Gott Dich lohnen und segnen für die Anhänglichkeit, die Du mir jederzeit bewahrtest, und möge es Dir vergönnt sein, dereinst Licht und Wahrheit, wozu in Deiner Brust hier schon der Keim gepflanzt wird, unter Deinen armen Stammesgenossen zu verbreiten«.
Während Hertha noch sprach, legten des Indianers Finger sich immer fester um ihre zartgeformte Hand, während seine durch rohe Kunst entstellten Züge, als ob der Ton der herzlich und süß klingenden Stimme ihm den Inhalt der Rede verraten hätte, einen unbeschreiblich wehmütig lächelnden Ausdruck annahmen.
Er hätte gewiß gern zu ihr gesprochen, ihr gewiß so gern mitgeteilt, wie zugetan er ihr sei, allein er sah die Unmöglichkeit ein, sich verständlich zu machen, und sogar die wenigen Worte, die er im Laufe der Zeit erlernt hatte, schien er plötzlich vergessen zu haben.
»Achotka, Mormonentaube«, wiederholte er mehrere Male, indem er Hertha leise und schmeichelnd über den Arm, welchen er hielt, strich und ihr dabei so recht freundlich und harmlos in die großen Augen schaute; »Achotka, Mormonentaube, Kairuk schlechter, armer Indianer«. Dann eine Schnur kleiner weißer Muscheln von seinem Halse lösend, reichte er ihr dieselbe mit freundlichem, zutraulichem Nicken dar; »Mormonentaube Mohavehäuptling«, sagte er, als er bemerkte, daß Hertha das dargebotene Geschenk mit einer der Gabe entsprechenden Freude hinnahm, und nachdem er dann noch einmal schmeichelnd die Hand auf ihr Haupt gelegt, ließ er sich mit ernster Miene im Kreise seiner Krieger nieder. –
Unbeachtet gelangte Hertha wieder in ihr Gemach zurück. Demoiselle Corbillon hatte ihr wohl nachgespäht und sie im Gespräch mit den Indianern bemerkt; ihre Scheu vor den wilden Kriegern hielt sie indessen ab, sich nahe genug heranzuwagen, um die gewechselten Worte zu vernehmen. Was hätte auch nach ihrer Ansicht ein solches Kind mit dergleichen schrecklichen Geschöpfen Wichtiges zu verhandeln vermocht? –
Die Bewohner von Fort Utah schliefen schon längst, da drang von der Plattform her noch immer das Murmeln von Stimmen durch die nächtliche Stille. Es rührte von den Mohaves her. Dieselben hatten sich nicht, wie gewöhnlich, mit den Füßen, sondern mit dem Kopf dem kleinen Feuer zugekehrt, und über dasselbe hinweg beratschlagten sie in ihrer wenig auffallenden Weise.
Was ihre Unterhaltung betraf, hätte nur Hertha Jansen, der freundliche Schutzengel, ahnen können; aber auch sie war einem wohltätigen Schlummer in die Arme gesunken. Sie träumte vielleicht einzig und allein von dem schönen blondlockigen Knaben, von welchem sie sich, nachdem sie ihn kaum kennengelernt, nun wieder auf unbestimmte Zeit trennen sollte. –
Am folgenden Morgen traten Jansen und seine Nichte zu Pferde und ohne alle Begleitung die Reise nach dem Norden an. Sie durften wagen, allein zu reisen, weil sie in dem verhältnismäßig schon dicht bevölkerten Mormonengebiet darauf rechnen konnten, allabendlich auf eine Farm oder eine kleine Niederlassung zu stoßen, wo sie auf alle Fälle eine gastliche Aufnahme fanden. Selbst in den wilden Gebirgspässen brauchte Jansen nicht wegen mancher Bequemlichkeiten für die mutige Hertha zu fürchten, weil sie voraussichtlich einge ganze Reihe von kleinen stehenden Lagern und Verteidigungsposten berühren mußten. Daß man ihnen unterwegs keine Hindernisse in den Weg legen oder sie mit Fragen belästigen würde, dafür bürgte Jansen's Ansehen: denn wenn auch erst wenige Bewohner des Salzsee-Tales ihn persönlich kannten, so waren doch sein Ruf und der Ruf seiner Nichte ihm schon längst vorausgeeilt, und es bedurfte von seiner Seite nur der Mühe, sich über seine Person auszuweisen, um von allen Seiten der zuvorkommendsten Begegnung gewärtig zu sein.
Der einzige, der ihnen Schwierigkeiten hätte bereiten können, war Elliot, welcher durch die treulose Gouvernante von ihren Plänen auf's genaueste unterrichtet worden war. Derselbe hatte indessen nicht nur keine Einwendungen erhoben, als Jansen ihn von dem beabsichtigten Ausfluge nach dem Norden in Kenntnis setzte, sondern sich sogar vollkommen einverstanden damit erklärt und nur bedauert, daß Hertha bei der Taufe der Mohave-Indianer nicht zugegen sein würde.
Obwohl die beiden Reisenden sehr früh aufbrachen, hatte er sich doch nicht nehmen lassen, sie noch eine Strecke zu begleiten, und als sie sich dann voneinander trennten, erwähnte er als einer abgemachten und feststehenden Sache, daß Weatherton innerhalb kurzer Zeit aus seiner traurigen Lage entlassen werden würde.
Auf sein dringendes Verlangen erhielt er denn auch das Gegenversprechen von Hertha, sich in das Unabänderliche fügen und, gehorsam den Wünschen ihres Onkels und des kirchlichen Oberhauptes, den an sie gestellten Forderungen keinen Widerstand entgegensetzen zu wollen.
Sie sagte dies mit ruhiger Kälte, obgleich ihr das Herz dabei zu brechen drohte, und nur der Gedanke an Weatherton und das Kind gab ihr die Kraft, einen neuen Ausbruch der grenzenlosesten Verzweiflung niederzukämpfen.