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Worpswede

1901-02

Briefe an die Familie

Worpswede, den 23. März 1901.

Meine liebe Tante Marie,

was ich jetzt erlebe, kann ich gar nicht schreiben, vielleicht ist das einer von den anderen Gründen, warum ich nicht schrieb. Eigentlich müßte man sich sehen. Geht es nicht? Weißt Du, und dann ließe es sich auch nicht sagen, aber Du würdest vielleicht sehen und fühlen, wie das Glück hier in der Luft liegt. Ein wunderbares großes Glück. Geht es nicht?

Du Liebe, wie hast Du mich überrascht und reich beschenkt. Der Postbote dachte, ich hätte ein Bild verkauft. Aber das war es nicht. Es war mein erstes Hochzeitsgeschenk. Ist es nicht zuviel, Du? Mir scheint es ganz überwältigend. Was es geben wird, das muß ich mir mit meinem Lieben heute abend überlegen. Nein, weißt Du, nur Gitarren und anderlei Juxe machen wir nicht. Wir sind ganz vernünftige Leutchen, soviel es überhaupt in unserer Veranlagung liegt. Laß Dir innig danken, liebe Tante Marie.

O, war das Heimkommen schön. Und ist das Hiersein wundervoll! man vergißt hier die ganze Welt darüber. Mein liebes braunrotes Zimmer und mein kleines blaues Kämmerlein mit dem blütenweißen Gardinenbrett strotzt voll tausend Frühlingskätzchen. Die haben mir er und Clara Westhoff hingesteckt, auf daß ich stündlich fühle: der Frühling ist da. Und ich fühle es.

Ich gehe jetzt in seinem Hause aus und ein, und wir machen zusammen Pläne es umzugestalten, und dazwischen zwitschert unser kleines Mädchen und lacht und lacht. Und dann umschlingen wir uns alle drei und singen einen frohen Indianergesang.

Wunderbar hat unsere Liebe auf seine Kunst gewirkt. Da sind auf einmal viele Schleier gefallen, die über ihm lagen, und nun kommt alles hervor und ans Licht in mannigfacher Gestalt. In ihm arbeitet es von immer neuen Bildern. Ich wünsche, Du sähest einmal die Pracht und ihn dazwischen, einfach und kindlich, und jungenshaft in seinem Glück. Da stehe ich reflektierender Mensch ganz fromm und demutsvoll vor dieser Seeleneinfalt. Sein Leben ist die Natur. Er kennt jeden Vogel und seine Lebensgewohnheiten und erzählt mir in Sorgfalt und Liebe von ihnen, und den Schmetterlingen, und von jedem, was ein Leben in sich hat.

In unserer Nachbarschaft ist so viel Glück. Heinrich Vogeler kommt in diesen Tagen mit seinem blonden schlanken Mädel von der Hochzeitsreise heim, und Clara Westhoff heiratet in den nächsten Wochen den Dichter Rainer Maria Rilke, unser aller Freund.

Und zu alledem ist es Frühling.

Worpswede, den 22. April 1901.

Liebe Tante Marie.

Die Nachtigallen sind da. Es wird überhaupt immer, immer schöner, man glaubt kaum, daß es noch geht. Draußen die Kastanie vor meinem Fenster springt zusehends auf, und wir beiden roten Leutchen richten zur Hochzeit. Im Hause wird gestrichen und geklopft, und uns ist froh zumute. Pfingsten ist unser Hochzeitstag ...

 

Die Hochzeit Paulas mit Otto Modersohn fand in Bremen im Hause ihrer Eltern statt. Paulas Vater war damals bereits schwer leidend und er konnte der Trauung, die durch einen Bruder Modersohns geschah, nur von seinem Lager im Nebenzimmer aus beiwohnen.

 

Schreiberhau, Juni 1901.

Ihr Liebsten,

wir sind im Juni, doch in welchem? Wer weiß es? Über uns schlagen die Wogen einer anderen Welt zusammen, und ein großer Teil unseres Lebens besteht darin, daß man sich leise am Ärmel zieht, auf daß man nicht überfahren werde. Und dann kam die Sonne, und meinte es arg böse mit uns, und wir lechzten nach einem Gewitter. In Meißen suchte man nicht die poetischen Stellen auf, sondern den spärlichen Schatten.

Übrigens sind wir uns völlig klar geworden, daß unsere Hochzeitsreise noch zu den Proben der Zauberflöte gehört. Es ist eben doch so: alle Einrichtungen, die für alle Menschen gemacht sind, sind eben doch nicht für uns. So zum Beispiel dieses eiserne Halsband von einem Rundreisebillett, das uns noch in Prag und München die Kehlen enger schnüren will.

Doch wohnen wir jetzt in Einsamkeit und Frieden und erlösendem göttlichen Regen mit feinen guten Menschen. Und überall herrscht der Geist des großen Gert Gerhart Hauptmann. der alles hier durchdringt und überragt. Er war hier einige Tage vor unserer Ankunft mit seinen Söhnen. Hier fanden wir das ganze Haus leer, die Vögel waren ausgeflogen nach Dresden, und unsere Briefe und Telegramme brachten sie erst gestern zu uns. Wir waren aber im Kreise ihrer Freunde wohl aufgehoben.

In mir selber ist es noch nicht in Ordnung, und ich kann noch nicht alles bewerten. Dann gehe ich manchmal ein Viertelstündchen aus und pflücke weißen Schierling, und versuche in mir aufzuräumen und die Krausheiten zu glätten. Ganz wird uns das erst auf unserem Weyerberge gelingen. Er sei tausendmal gesegnet, und alles was auf ihm wohnt.

Schreiberhau, Juni 1901.

Ihr Lieben,

es ist Sonntag und alles ist ausgeflogen nach Warmbrunn zu der Mutter Dr. Hauptmanns, an der er sehr hängt und die er jeden Sonntag besucht. Und morgen geht es nach Agnetendorf zum großen Gert. Aber es ist schier alles unvollkommen auf der Welt. Das ist die Schattenseite unseres grundgütigen Dr. Hauptmann, daß er an der Größe seines Bruders krankt. Es ist eben alles so voll von Konflikten. Die verdunkeln oft dann die größten Menschen aus der Nähe. Man lernt viel hier in der großen Welt. Man lernt sehr duldsam sein. Wir beiden halten hier lange Lobreden auf die reine harmlose einfältige Lust unseres Weyerberges und all der Menschen darauf.

Dienstag oder Mittwoch reisen wir wahrscheinlich ab, bleiben einen Tag in Prag und drei in München, so daß wir wohl Sonntag oder Montag bei Euch sein werden. Dann setzen wir uns zu unserem lieben Vater ans Bett und dann erzählen wir Euch alles der Reihe nach. Und dann freuen wir uns beide inniglich auf unsere Arbeit, auf die wir mit offenen sehnsüchtigen Armen warten.

Die Menschen hier sind alle ganz besonders lieb und reizend. Und was mir so innige Freude macht: sie empfinden und verstehen einiges von Ottos Wesen. Da ist erst unser lieber Dr. Hauptmann, voller Wissen und Ernst und Streben nach den höchsten Dingen, und voller Liebe für sie. Er wäre fertig in sich, wäre er nicht der Bruder seines Bruders. Seine Frau ist ein warmblütiges kluges Geschöpf mit schnellem Blick für seine Werke und gutem Rat, und einer schnellen selbstverständlichen Tatkraft in allen Lagen. Sie ist mit ihren fünf Schwestern in einem Herrnhuterkloster erzogen; als sie dann nach Hause in ihr wundervolles mutterloses Herrenhaus nach Kötzschenbroda kamen, kamen die drei Hauptmänner und heirateten sie nacheinander weg. Aber die neue Welt, in die sie kam, erstaunte sie nicht und erschreckte sie nicht. Sie ging ruhig und sicher ihren Weg bis heute, der oft nicht leicht ist. Aber sie tut es, wie das selbstverständlichste Ding von der Welt.

Die Natur läßt uns im ganzen hier ziemlich kühl. Auch ist für unseren Geschmack Schreiberbau viel zu sehr Kurort. Aber oben bei den Schneegruben gab es große Eindrücke. Dieses Vagabondenleben ist nichts für uns beide.

Unser Menschlein braucht eine ruhige und sichere Unterlage und Stille und unsere Natur, um ganz zu sich zu kommen.

Otto liegt mit krauser Stirn über dem Kursbuch wegen der Prager Reise. Seid geküßt von Euren beiden Kindern.

Schreiberhau. Juni 1901.

Ihr Lieben,

es ist unser letzter Tag in Schreiberhau, und morgen geht es weiter. Unsere liebenswürdigen Wirte ließen uns eher nicht frei, und doch habe ich eine Unruhe weiter zu kommen, zu Euch. Ich möchte meinen lieben Vater gern Wiedersehen, und sehen, ob es ihm besser geht als zu der Zeit, da wir Euch verließen. Mir scheint, das sind Monate her. Auch habe ich genug von den Bergen, und seufze nach Ebene und einer, meiner stillen Klause.

Ich fühle still unter all diesen redenden Menschen, was für ein ruhiger klarer Talisman in Ottos Herzen ruht. Da ist nichts von Irrlichterieren, es ist Ruhe und Geschlossenheit, und Abgerundetheit, und die Erde ist so wohl bereitet, und man fühlt: hier ist gut sein. Ich glaube, er ist im Augenblick unter Dr. P.s schädelmessenden Händen, und es wird sich herausstellen, ob er zu der rühmlichen Kaste der Langschädel gehört oder ob er sein Leben hindurch verdammt sein wird, im traurigen Bewußtsein eines Rundschädels weiter zu leben und zu streben.

*

Tagebuchblatt

Worpswede, den 22. Oktober 1901.

Nun gibt es schon lange drei junge Frauen in Worpswede. Und gegen Weihnachten kommen die Kindlein. Ich bin noch nicht reif dazu, ich muß noch ein wenig warten, auf daß ich herrliche Frucht trage.

Clara Westhoff hat nun einen Mann. Ich scheine zu ihrem Leben nicht mehr zu gehören. Daran muß ich mich erst gewöhnen. Ich sehne mich eigentlich danach, daß sie noch zu meinem gehöre, denn es war schön mit ihr.

*

Brief an Clara Westhoff

Liebe Clara Westhoff, ... Sie haben seit dem Nachmittage, als ich Ihnen das Geld in Ihr kleines Zimmer hinterm Schlosse brachte, sehr gekargt. Und ich, die ich dem Leben anders gegenüberstehe, ich hatte Hunger. Ist Liebe denn nicht tausendfältig? Ist sie nicht wie die Sonne, die alles bescheint? Muß sie einem alles geben? Und andern nehmen?

Darf Liebe nehmen? Ist sie nicht viel zu hold, zu groß, zu allumfassend? Clara Westhoff, leben Sie doch, wie die Natur lebt. Die Rehe scharen sich in Rudeln und die kleinen Meisen vor unserem Fenster haben ihre Gemeinschaft und nicht nur die der Familie.

Ich folge Ihnen ein wenig in Wehmut. Aus Ihren Worten spricht Rilke zu stark und zu flammend. Fordert das denn die Liebe, daß man werde wie der andere? Nein und tausendfach nein. Ist nicht dadurch der Bund zweier starker Menschen so reich und so allbeglückend, daß beide herrschen und beide dienen in Schlichtheit und Friede und Freude und stiller Genügsamkeit?

Ich weiß wenig von Ihnen beiden, doch wie mir scheint, haben Sie viel von Ihrem alten Selbst abgelegt und als Mantel gebreitet, auf daß Ihr König darüberschreite. Ich möchte für Sie, für die Welt, für die Kunst und auch für mich, daß Sie den güldenen Mantel wieder trügen.

Lieber Rainer Maria Rilke, ich hetze gegen Sie. Und ich glaube, es ist nötig, daß ich gegen Sie hetze. Und ich möchte mit tausend Zungen der Liebe gegen Sie hetzen und Ihre schönen bunten Siegel, die Sie nicht nur auf Ihre feingeschriebenen Briefe drücken.

Clara Westhoff, in dem Zimmer vom vergangenen Jahre, wo mein Mann wohnte und Gerhart Hauptmann, da wohnten auch Sie. Ich glaube, ich habe ein treues Herz, ein deutsches schlichtes Herz. Und ich glaube auch, daß keine Macht der Welt Ihnen die Erlaubnis gibt, dies Herz zu treten. Und ich glaube, wenn Sie es tun, so wird der Fuß, der so tritt, nicht schöner.

Und das alles sollte die Liebe fordern? Denken Sie an die Neunte Symphonie, denken Sie an Böcklin. Sind das nicht Gefühle, die überquillen, spricht das denn nicht gegen Ihre neue Philosophie? Schlagen Sie Ihre Seele nicht in Ketten, und wären es güldene, die gar lieblich sängen und klängen.

Ich segne Euch beiden Menschen. Geht denn das Leben nicht, wie wir sechs es uns einst dachten? Wenn Ihr auch unter uns seid, sind Eure Seelen nicht auch in dieser größeren Gemeinschaft vereint? Können wir denn nicht zeigen, daß sechs Menschen sich liebhaben können? Das wäre doch eine erbärmliche Welt, auf der das nicht ginge. Und ist unsere denn nicht wunderschön und zukünftig? Ich bin Ihre alte Paula Becker, und bin stolz, daß meine Liebe so viel dulden kann und von gleicher Größe bleibt.

Ich danke Ihnen, lieber Freund, sehr für Ihr schönes Buch. Und bitte, bitte, bitte, geben Sie uns keine Rätsel auf. Mein Mann und ich, wir sind zwei einfache Menschen, wir können so schwer raten, und hinterher tut uns der Kopf weh und das Herz.

*

Briefe an die Familie

Worpswede, den 20. Dezember 1901.

Liebe Tante Marie,

ich danke Dir für Deinen Brief und alle Deine lieben Worte. Ja, nun wird es Weihnacht, und Weihnachten ohne ihn. Zu Hause will Mutter ganz still sein und an ihn denken, und an all die anderen Weihnachten, die vorher waren. Sie ist sehr ruhig. Vaters Tod hatte so etwas Verklärtes. Diese letzte Zeit seines Lebens, in der er sorgenlos lebte. Er hatte die Arbeit für uns vor einem halben Jahre niedergelegt. Dieses letzte halbe Jahr war uns ein Geschenk und wir nahmen jeden Tag mit Bewußtsein auf. Vater hatte in seiner letzten Zeit eine große innerliche Ruhe, wie lange nicht vorher. Er sorgte sich nicht, was nach seinem Tode geschehen sollte. In ihm war es still, und er bereitete sich auf die große Stille vor. In der Nacht, in der er uns eingeschlummert war, hatte er einen wunderbar friedlichen Ausdruck, der ins Erhabene wuchs. Im Ausdruck von Mund und Stirn lag ein Leben ohne Falsch vor uns. Ich glaube, wir müssen stille sein. Der Wille geschehe. – – – Wir alle sind durch dieses Scheiden noch enger aneinander gewachsen. Liebet Euch untereinander, das war sein Wille.

Worpswede, den 27. Februar 1902.

Liebe Tante Marie,

wenn ich Dir sehr selten schreibe, so mußt Du den Grund nicht in unserem Verhältnis, sondern in meiner Natur suchen, die, wie ich glaube, dürftig in ihren Äußerungen ist. Wenn ich verlobt wäre, würde ich, glaube ich, auch weniger schreiben als die meisten Bräute.

Ich sitze im Augenblick in meinem Kämmerlein von ehedem und ich kann wohl sagen, daß ich hier meine glücklichsten Stunden verlebe. Da tue ich etwas, oder ich denke daran, was ich tun werde, oder was in letzter Zeit geschah. Oder ich lese. Ich habe mich in letzter Zeit sehr in Gottfried Keller vertieft, der durch die zarteste duldsamste Freundschaft, die Böcklin in des Dichters letzten Jahren für ihn trug, mir noch verständlicher wurde. Ur-urdeutsch. Sein Ende ist durch Krankheit stark verdunkelt, aber immer wieder brechen aus dem Todeskampfe die leuchtend güldenen Gesichte des Dichters hervor, denn er hatte in seinen letzten Tagen wunderbare Gesichte und Halluzinationen, die bei seiner nicht im geringsten schwärmerischen Natur um so wahrer und lieblicher wirken. Mir war sehr ernst und feierlich und dankbar zumute, als ich von seinem Sterben las.

Daß Du bei Deinem malenden Fräulein an mich denkst, freut mich sehr. Ihren Lehrer Kalckreuth verehren wir, Otto und ich, als einen der sympathischsten Deutschen. So sahen wir ein Porträt seiner Frau letztes Jahr in Dresden, was für mich zu den innerlichsten zählt, die ich kenne. So recht wie ein deutscher Mann seine Frau malt. So einer wie der, gibt dem innersten Bewußtsein unserer Nation viel Wundervolles. Die meisten haben nur in dieser Reise-Zeitungszeit ihr bißchen Deutschtum verloren, und haben kein Ohr mehr für seinen Klang. So haben sich auch in unserem vielgeliebten Dresden die Ersten der Kunst geweigert, gerade dieses Porträt zu kaufen, welches zum Ankauf für die Galerie vorgeschlagen war. Sie verlangten nicht nach einer »so häßlichen Gouvernante«. Dann gibt es in München, ganz abseits gehängt, ein kleines Bildchen in der Neuen Pinakothek, ein kleiner erfrischter Garten nach dem Gewitter, in dem eine Mutter mit ihrem Kinde geht. Das Ganze bringt in wunderbarer Weise diese frische Kraßheit der Farbe und des Wesens zum Ausdruck, die die eben abgeregnete Natur hat. Grüße das Fräulein von mir, und ich wünsche ihr, daß sie etwas wird. Daß ich Euch etwas von mir schicke, hat keinen Sinn, da warten wir noch ein Weilchen. Mir ist immer noch sehr werdend zumute, was mich sehr froh, fast fromm macht.

Bei uns ist heute der Frühling angefangen, und es tropft und rieselt von schmelzendem Schnee. Und hoch in den Lüften sang die lieblichste Lerchengattung, das Himmelsglöckchen.

Im Dorf wohnt jetzt ein junger Dresdener Musiker Petri, der uns himmlisch Bach zuführt.

Worpswede, den 22. April 1902.

Liebe Tante Marie,

wir sind in der Zeit des Laubenbaums. Otto und Henry zusammen haben schon drei wunderhübsche zusammengeschlagen, die eine steht unter einem Hollunderbusch, die zweite unter Birken, die dritte wird eine Kürbislaube. Und nun haben wir noch zwei vor. Du kannst Dir denken, wie urgemütlich und komisch unser Puppengärtchen dadurch wirkt. In die Mitte kommt dann noch eine silberne Glaskugel als leuchtender Edelstein. Dabei sind wir alle sehr glücklich, Elsbeth nicht zum mindesten, über alle die schönen Plätze. Ich pflanze Rosen und Bauernblumen die Hülle und Fülle, wickele die Invaliden in Tücher und Lappen ein und begieße sie beim Trockenwerden, jäte Unkraut und habe schwarze Hände ...

Nun muß gleich die alte Urpost vorbeikommen, der ich dieses Epistelchen mitgeben will. Darum schnell einen Kuß zum Abschied.

*

Tagebuchblätter

24. Februar 1902.

Ich habe einen Kranz gelegt auf das Grab derer, welcher einst seine Liebe galt. Es war morgens. Der Schnee lag und doch versuchte ein Fink sein künftiges Lied der Liebe.

Ich ging lange wie im Traum mit einem Lächeln im Herzen. Der Schnee war eine Decke unter meinen Füßen, kroß und mürbe vom letzten Nachtfroste und mein Fuß sank leise knirschend ein wenig in ihn hinein. Daneben lag schon das Wintergrün des Roggens, dessen werdendes Leben den Schnee überwunden hatte. Mir war seltsam bei diesem Lächeln. Vielleicht gedachte ich, wohin dieser Fuß wanderte.

 

Ich habe manchmal an mein Grab gedacht und wie ich es mir anders denke als das andere. Es muß gar keinen Hügel haben. Es sei ein viereckig längliches Beet mit weißen Nelken umpflanzt. Darum läuft ein kleiner sanfter Kiesweg, der wieder mit Nelken eingefaßt ist und dann kommt ein Holzgestell, still und anspruchslos, und da, um die Wucht der Rosen zu tragen, die mein Grab umgeben. Und vorne im Gitter, da sei ein kleines Tor gelassen, durch das die Menschen zu mir kommen, und hinten sei eine kleine anspruchslose stille Bank, auf der sich die Menschen zu mir hinsetzen. Es liegt auf unserem Worpsweder Kirchhof, an der Hecke, die an die Felder stößt, im alten Stück, nicht im Zipfel. Auf dem Grab stehen vielleicht zu meinen Häupten zwei kleine Wacholder, in der Mitte eine kleine schwarze Holztafel mit meinem Namen ohne Datum und Worte.

So soll es sein ... Daß da eine Schale stünde, in die man mir frische Blumen setzte, das wollte ich auch wohl.

27. Februar 1902.

Es tropft und tropft und tropft vor meinem Fenster. Das ist die schmelzende Eiskruste, und gibt ein wäßriges schwimmendes Getön. Und draußen auf der Apfelwiese vor meinem Fenster ist der Schnee nur noch gebreitet wie weiße Laken und die Seele fühlt, er wird schwinden.

In der Osterwoche, März 1902.

In meinem ersten Jahre der Ehe habe ich viel geweint und es kommen mir die Tränen oft wie in der Kindheit jene großen Tropfen. Sie kommen mir in der Musik und bei vielem Schönem, was mich bewegt. Ich lebe im letzten Sinne wohl ebenso einsam als in meiner Kindheit. Diese Einsamkeit macht mich manchmal traurig und manchmal froh. Ich glaube, sie vertieft. Man lebt wenig dem äußeren Schein und der Anerkennung. Man lebt nach innen gewendet. Ich glaube, aus solchem Gefühle ging man früher ins Kloster. Da ist denn mein Erlebnis, daß mein Herz sich nach einer Seele sehnt, und die heißt Clara Westhoff. Ich glaube, wir werden uns ganz nicht mehr finden. Wir gehen einen anderen Weg. Und vielleicht ist diese Einsamkeit gut für meine Kunst, vielleicht wachsen ihr in dieser ernsten Stille die Flügel. Selig, selig, selig.

Ich empfange den Frühling draußen mit Inbrunst. Er soll mich und meine Kunst weihen. Er streut mir Blumen auf meine Stunden. Ich fand an der Ziegelei gelben Huflattich. Die habe ich viel mit mir herumgetragen und habe sie gegen den Himmel gehalten, wie ihr Gelb dort tief und leuchtend stand.

31. März 1902. Ostermontag.

Es ist meine Erfahrung, daß die Ehe nicht glücklicher macht. Sie nimmt die Illusion, die vorher das ganze Wesen trug, daß es eine Schwesterseele gäbe.

Man fühlt in der Ehe doppelt das Unverstandensein, weil das ganze frühere Leben darauf hinausging, ein Wesen zu finden, das versteht. Und ist es vielleicht nicht doch besser ohne diese Illusion, Aug' in Auge einer großen einsamen Wahrheit?

Dies schreibe ich in mein Küchenhaushaltebuch am Ostersonntag 1902, sitze in meiner Küche und koche Kalbsbraten.

Am selben Tage, abends.

Mir scheint, Böcklin hat viel gelernt von Tizian. Er erwähnt ihn nie oder selten. Steht er ihm geistig zu nahe? Die Hand voll Blumen in der Tizianschen Flora könnte Böcklin gemalt haben. Mit welcher Leichtigkeit brachten jene großen Renaissanceleute ihre großen Bilder auf die Leinewand. Ich besehe das Tizianheft. Mir ist, als ob solch große üppige Bilder, Figuren mit landschaftlichem Hintergrund, alles prachtvoll abgerundet, alles der großen Bildidee untergeordnet, gar nicht Realismus und doch voll von den schönsten koloristischen Reizen der modernen Anschauung, – als ob das die Kunst der Zukunft wäre. Ob es ein Stück von meiner Kunst ist? Tizian war ein Maler, ein reicher Geist voll Temperament und förmlicher Gestaltungskraft. Ich möchte ihm einmal wieder gegenübertreten. Ich spreche jetzt nur durch die Nachbildung angeregt. Vielleicht wirkt das Original ganz anders auf mich.

2. April 1902.

Ich glaube, mein Glück besteht in der Hoffnung auf das Erfülltwerden meiner Wünsche. Habe ich es dann erst in der Hand, so scheint es mir gar nicht so reizvoll. Es erscheint mir dann nur noch als natürliche Entwicklungsstufe, über die man sich nicht zu wundern braucht und nicht zu freuen.

Es ist wie bei einem Kinde, das sich wünscht, groß und erwachsen zu sein. Ist es dann erst erwachsen, so hat das Erwachsensein lange keinen Reiz mehr. Darum hatte die Pariser Zeit für mich etwas so sehr Glückliches: ich hatte so viele starke Hoffnung.

Und dann reizt mich auch dies Hoffen allem und allen zum Trotz. Das gibt dem ganzen Menschen solch eine stolze Stärke.

April 1902.

Was hat der Böcklin alles in die Welt gesetzt! Es ist schön, daß mein Leben noch seines zeitlich berührte. Man hat das Gefühl, daß man zu der Epoche gehört, die ihn hervorgebracht hat, und versteht ihn dadurch besser.

Heinrich Vogeler sagt oft, wie leid es ihm tut, seine Bilder aus dem Hause und aus den Händen zu geben. Es ist mir das ein Zeichen seiner im letzten Sinne spärlich fließenden Kunst. Eine üppige, neugebierende, die denkt nur an das Zukünftige. Das ist mir auch das Große, Hoffnungsvolle, was mich aus Ottos Schaffen anspricht.

Dieses Hoffen auf Zukünftiges hat wohl jeder junge Maler. Das gibt ihm die Kraft zum ersten großen Aufschwung. Und dann erstarren die meisten. Sie sind nicht zukünftig genug, leben künstlerisch zu sehr im Gewesenen.

Wenn ich ehrlich bin, habe ich mit der Overbeckschen Kunst gar keine Gemeinschaft. Ich fühle nicht ihre innere Notwendigkeit. Oder, besser gesagt, erscheint sie mir wie eine unfruchtbare Arbeitsbiene, deren Zahl Legion ist, die mit allen ihren Kräften arbeitet, auf daß es einmal wieder eine fruchtbare Königin gäbe.

2. Mai 1902.

Rilke schrieb einmal, die Gatten hätten die Pflicht, die gegenseitige Einsamkeit gegenseitig zu bewachen. Sind denn das nicht oberflächliche Einsamkeiten, die man bewachen muß? Liegen die wahren Einsamkeiten nicht völlig offen und unbewacht? Und doch dringt keiner zu ihnen, obgleich sie manchmal auf einen warten, um mit ihm durch die Tale und Wiesen Hand in Hand zu wandeln. Aber das Warten ist vielleicht nur Schwäche, und es dient ihr zur Stärke, daß keiner kommt. Denn dieses Alleinewandeln ist gut und zeigt uns manche Tiefen und Untiefen, deren man mit zweien nicht so gewahr würde.

Mir ist es, als ob es wohl schwer wäre, sein Leben gut und groß zu Ende zu führen. Bis jetzt, der Anfang, war leicht. Nun kommt es wohl schwerer und mit manchem inneren Ringen. Die Netze auswerfen, das tut mancher, aber dann auch einen Fischzug tun!

29. Mai 1902.

Ich stand im Grase mit bloßen Füßen und mein Mann malte mich. Ich hatte mein Brautkleid an und dann ein rosa und ein blaues und schließlich ein weißes Atlaskleid, mit Gold besetzt. Bei dem rosa war der Rücken weit frei und die Arme. Ich stand aber in der Sonne. Und wenn dann die Ahnung eines Windes mir über den bloßen Nacken strich, so lächelte ich ein wenig, und meine Augen, die sich vor der Sonnenhelligkeit ganz geschlossen hatten, lüfteten sich auf Augenblicke ... Um mich herum im Grase war es besäet mit weißen Sternmieren. Ich pflückte eine Handvoll und betrachtete sie auf der hellen Luft und das Spiel ihres Schattens auf meinem Arm. Ich träumte im Wachen und sah wie aus einem zweiten Leben meinem Leben zu.

3. Juni 1902.

Ich muß einmal ganz merkwürdige Farben malen. Ich hatte gestern ein breites, silbergraues Atlasband auf meinem Schoße liegen, das begrenzte ich mit zwei in sich gemusterten schwarzen Seidenbändern. Und darauf legte ich eine kleine, stumpfe, flaschenblaugrüne Sammetschleife. In den Farben, da möchte ich wohl etwas malen.

Wir lesen jetzt ein Buch von Franz Servaes über Segantini. Otto ist so riesig angeregt durch dessen Technik, die Farben rein mosaikartig nebeneinanderzusetzen und dadurch eine konkrete leuchtende Wirkung zu erzeugen. Er begeistert sich für die Bewegung in der Farbe. Auch ich träume von einer Bewegung in der Farbe, von einem gelinden Schummern, Vibrieren, ein Schummern des einen Gegenstandes durch den andern. Aber die Mittel, die ich anwenden möchte, sind ganz andere. Dieser dicke Farbenauftrag hat für mich etwas Materielles. Ich möchte es auf dem Wege der Lasur, vielleicht über einen dickgemalten Untergrund, erzeugen. Einer andern Lasur, als Otto sie vorhatte. Er kennt eigentlich nur die einmalige Lasur und malt beim zweiten Male gleich deckend. Ich glaube, man kann zehnmal übereinander lasieren, wenn man es bloß richtig macht. Auch ich glaube, daß, wenn ich weiter fortgeschritten sein werde, ich meinen Bildern eine größere Lebenskraft geben möchte. Das werde ich aber versuchen, durch die Unterlage zu tun. Später möchte ich auch einmal versuchen, auf Goldgrund zu malen.

7. August 1902.

Der Abend leget warme
Hernieder seine Arme
Und wo die Welt zu Ende
Da ruhen seine Hände ...
Die Mücklein stimmen leise
In ihrer hellen Weise
Und alle Wesen beben
Und singen leis vom Leben ...
Es ist nicht groß,
Es ist nicht breit,
's ist eine kleine Spanne Zeit
Und lange währt die Ewigkeit ...

*

Brief an die Mutter

Worpswede, den 10. Juni 1902.

Meine liebe Mutter,

ich denke an Euch Eltern morgen zu Eurem Hochzeitstage, denn er, unser Vater, er lebt ja in uns allen und tut uns allen mit dieser seiner Gegenwart so wohl. Nimm Du nun alle diese Liebe für euch beiden still entgegen als Euer beider Stellvertreter und laß Dir die Hand küssen von

Deinem Kinde.

Worpswede, den 27. Juni 1902.

Meine liebe Mutter,

... Daß Du bei Deinem letzten Besuche uns doch morgens um fünf Uhr durchgebrannt warst! Das war ganz gegen unsere Worpsweder Kur, deren Hauptfaktor Ausschlafen ist. Ich freue mich immer, daß Otto mit derselben tiefen Kindlichkeit schläft wie ich, hauptsächlich in dieser Sommerzeit, wo wir des Tags viel herummalern. Sogar nach dem Abendbrot stürzen wir uns noch selbander hinüber ins Armenhaus und malen Farbenstudien von der Kuh, der Ziege, der dreibeinigen Alten und all den Armenkindern, die für meine Gefühle die einzigen Individuen hier sind, die singen. Sonst hört man Singen nur von betrunkenen Leuten, so wenig liegt der Sang diesen schweren Schlagen.

Es ist hier heute sehr heiß, was Du wohl diesem Briefe anliest. Trotz alledem kommt mein Meister und holt mich zum Malen ab: Badende Jungens. Dafür ist es heute ein Wetter ...

6. Juli 1902.

Meine liebe Mutter,

es ist Sonntagmorgen und ich habe mich in mein liebes Atelier geflüchtet und sitze nun ganz allein in meinem lieben Brünjes-Häuselein, dessen ganze Einwohnerschaft zur Kirche gegangen scheint, so daß ich mir eins der klapprigen Fenster erbrechen mußte, um dadurch meinen Einzug zu halten.

Meine Mutter, daß dieser Brief kein pünktlicher Sonntagsbrief geworden ist, das hat seinen guten Grund, nämlich die Arbeit, in der ich jetzt von Herzen stecke mit meinem ganzen Menschen. Es gibt Zeiten, wo dieses Anhängig- und Abhängigkeitsgefühl in einem schlummert, Zeiten, in denen man viel liest, oder Witzchen macht oder lebt, und dann auf einmal wird es wieder wach und wogt und braust in einem, als sollte das Gefäß schier zerspringen, so daß nichts Platz hat daneben.

Meine Mutter. Es wird in mir Morgenröte und ich fühle den nahenden Tag. Ich werde etwas. Wenn ich das unserem Vater noch hätte zeigen können, daß mein Leben kein zweckloses Fischen im Trüben ist, wenn ich ihm noch hätte Rechenschaft ablegen können für das Stück seiner selbst, das er in mich gepflanzt hat! Ich fühle, daß nun bald die Zeit kommt, wo ich mich nicht zu schämen brauche und stille werden, sondern wo ich mit Stolz fühlen werde, daß ich Malerin bin.

Es ist eine Studie von Elsbeth, die ich gemacht habe. Sie steht in Brünjes Apfelgarten, irgendwo laufen ein paar Hühner und neben ihr steht die große blühende Staude eines Fingerhutes. Welterschütternd ist es natürlich nicht. Aber an dieser Arbeit ist meine Gestaltungskraft gewachsen, meine Ausbildungskraft. Ich fühle deutlich, wie nach dieser Arbeit noch manches andere Gute kommen wird, was ich im Winter noch nicht wußte. Und dies Fühlen und Wissen ist beseligend. Mein lieber Otto steht dabei, schüttelt den Kopf und sagt, ich wäre ein Teufelsmädel und dann haben wir beide uns von Herzen lieb und jeder spricht von der Kunst des anderen, dann aber wieder von der seinen. O, wenn ich erst etwas bin, dann fallen mir allerhand Steine vom Herzen. So mein Verhältnis Onkel A. gegenüber, daß ich ihm mutig in die Augen sehen kann und ihn nicht mit allerhand Verheißungen vertrösten muß, sondern daß er die Genugtuung hat, seine liebreiche Geldhilfe war eine gute Kapitalsanlage. Und allen anderen Menschen gegenüber, die meine Malerschaft mitleidig und zartfühlend behandelten wie einen kleinen, schnurrigen, verbissenen Spleen, den man eben bei meinem Menschen mit in Kauf nehmen muß. Du fühlst, der Kamm schwillt mir.

Und dann trage ich so oft die Worte in meinem Herzen, die Worte Salomons oder Davids: Schaffe in mir Gott ein reines Herz und gib mir einen neuen gewissen Geist, verwirf mich nicht von deinem Angesicht und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir ... Ich weiß gar nicht, ob dieser Spruch identisch ist mit dem Gefühl, aus dem heraus ich ihn sage. Aber es ist merkwürdig, von Kindheit an bei einer Gelegenheit, wo Gefahr war, daß ich zu stolz auf irgend etwas wurde, habe ich mir diese Worte gesagt.

Und du? Wir haben uns beide gefreut an Deinen Briefen. Aber Liebe, nicht so viel aufbleiben bis nachts um ein Uhr! Du mußt diese Reise hauptsächlich nur vom Gesundheitsstadium ansehen für Dich und das Küken. Küsse mir Herma. Ich wünsche, daß sie in ihrem Leben noch einmal ähnliche Gefühle haben wird, wie ich heute. Der Weg ist aber lang und man muß eine Hoffnung haben im Herzen, die einen nicht ermüden macht. Meine Herma, suche Dir eine Hoffnung! Du bist ja von selbst eine kleine Kluge. Achte von selbst darauf, daß Du Dich nicht zu früh entwickelst und frühreif wirst. Eine langsam ausgereifte Frucht in Winden und Sonnen, das muß das Leben sein. Halte Dich von den vielen Büchern fern und vom Theater, sondern suche Dir einen Deinem Alter angemessenen Wirkungskreis. Setze es durch, daß Du auf ein Gymnasium kommst. Versuche nicht Stufen zu überspringen. Dem ist Deine Gesundheit nicht gewachsen. Das ist überhaupt gar nicht nötig im Leben. Einer, der einen weiten Weg vor sich hat, läuft nicht. Schaffe Dir nur ein stilles, schlichtes Milieu und denke an Sachen, die für Deine Jahre passen.

Ich küsse Euch beiden.

Eure Paula

Tagebuchblätter

Herbst 1902.

Ich nahm heute ein warmes Bad. Da war mir so wohlig. Klein Elsbeth half mir. Sie tippte auf meine Brüste und fragte, was das sei. Ja Kind! Das sind Mysterien.

Dann lief ich draußen durch lauen Herbstwind mit halbem Mondscheinschimmer. Das Bad hatte mein Blut so schnell und tatendurstig gemacht und in meiner Kehle saß ein Ton, der gesungen sein wollte. Denn manchmal klingt meine Stimme. Das ist, wenn Seele und Sinne mir voll sind.

Heute las ich, daß in den ersten Stadien des Menschenembryo sein Herz im Kopf sitze und erst allmählich in die Brust rutsche. Mir ist es ein süßer Gedanke, daß sie so nebeneinander geboren sind, Herz und Verstand. Das bestätigt mein Gefühl. Ich kann sie bei mir meist nicht voneinander trennen.

1. Oktober 1902.

Ich glaube, man müßte beim Bildermalen gar nicht so an die Natur denken, wenigstens nicht bei der Konzeption des Bildes. Die Farbenskizze ganz so machen, wie man einst etwas in der Natur empfunden hat. Aber meine persönliche Empfindung ist die Hauptsache. Wenn ich die erst festgelegt habe, klar in Form und Farbe, dann muß ich von der Natur das hineinbringen, wodurch mein Bild natürlich wirkt, daß ein Laie gar nicht anders glaubt, als ich habe mein Bild vor der Natur gemalt.

Ich habe in diesen Tagen so recht gefühlt, was für mich Farbenstimmung ist: daß alles auf dem Bilde seine Lokalfarbe wechselt nach dem gleichen Prinzip, daß alle gebrochenen Töne dadurch eine einheitliche Verwandtschaft erhalten.

1. Dezember 1902.

Ich las und sah Mantegna (im Knackfußheft). Ich fühle, wie er mir gut tut. Diese ungeheure Plastik, die er besitzt, die gibt eine solche Stärke des Wesens. Das grade fehlt meinen Sachen. Wenn bei der Größe der Form, die ich anstrebe, noch dieses Wesenhafte dazukäme, so ließe sich etwas machen. Im Augenblick stehen mir einfache, wenig gegliederte Sachen vor Augen.

Meine zweite Hauptklippe ist mein Mangel an Intimität.

Die Art, wie Mackensen die Leute hier auffaßt, ist mir nicht groß genug, zu genrehaft. Wer es könnte, müßte sie mit Runenschrift schreiben.

Mir schwebt etwas vor wie im Louvre: das Grabmal mit den acht tragenden Figuren.

Kalckreuth hat in seinen alten Frauen manchmal dies merkwürdige Runenhafte. Die Frauen mit den Gänsen und die Alte mit dem Kinderwagen.

Merkwürdig, mir ist es, als ob meine Stimme ganz neue Töne hätte und als ob mein Wesen neue Register hätte. Ich fühle es größer werden in mir und weiter. Wolle Gott, es würde etwas mit mir.

*

Briefe an Otto Modersohn

Worpswede, den 4. November 1902.

Mein geliebter Mann,

dies ist nun der erste Abend der ersten größeren Trennung in unserer Ehe. Es gibt mir ein eigenes Gefühl. Du, in Gesellschaft Deiner Familie, kommst vielleicht gar nicht so zum Bewußtsein dessen. Ich schwelge darin. Schwelge in meiner Einsamkeit, Deiner in Liebe gedenkend.

Unserer Liebe gedenkend, wanderte ich heute abend durch die finsterfeuchte Luft nach Hause und hielt innerlich ein Zwiegespräch mit mir. Ich habe eine große Sicherheit in unserer Liebe und zu unserer Liebe, und als ich heute so ging, durchfuhr mich ein atemloses Glücksgefühl, denn ich gedachte, daß uns der Höhepunkt noch vorbehalten ist. Sieh, Lieber, Du brauchst nicht traurig zu sein oder eifersüchtig auf meine Gedanken, wenn ich meine Einsamkeit liebe. Ich tue es, um still und ungestört und fromm Deiner zu gedenken.

Die Heimkehr zu unseren Birken war lieblich, alles unter dem sanften Schleier Deines Fernseins gesehen. Man ist eben doch schon ein Stück von dem andern und der andere ein Stück von einem. Ich lebe in Dir sehr, das fühle ich. Aber die Trennung ist mir lieb, weil sie dieses Ineinanderleben zu einem seelischen macht. Ich liebe das zeitweilige Zurücktreten des Körpers ... Lieber, liebe mich, wenn ich auch ungereimt bin. Ich meine es doch so.

Worpswede, den 7. November 1902.

Mein geliebter Mann,

... ja, Lieber, wir wohnen in einem seligen Gefilde. So war mir es auch am Dienstag, als ich von Bremen wieder heimzog. Hier liegt noch viel Lieblichkeit gebannt, die noch nicht erlöst ist. Ob Du die Zauberformel sprechen wirst? Ob ich ein Wörtlein dazu sagen darf? O, wenn ich das alles bedenke, was ist da für uns für Glück und Wonne in der Zukunft. Ich war eben draußen in Brünjes Apfelgarten. Da hing hinter den großen Föhren die silberne Mondsichel. Wir haben schöne Tage jetzt, doch hat Luft und Erde ein winterliches Ansehen. Kalt. Hier in meinem kleinen Stübchen ist es gemütlich warm und ein paar Bratäpfel in der Röhre verbreiten Wohlgeruch. Und die Kuh brüllt und Berta wäscht Hochzeitsgardinen.

Heute morgen fing ich die kleine Frau Vogeler mit dem weißen Kinde an. Gestern abend war ich bei ihnen. Ich glaube, sie stehen jetzt beide in einer schweren Zeit. Mir ist, als ob sie darunter litten, daß er von seinen letzten Dingen nicht zu ihr sprechen kann.

Bei Christel Schröder habe ich für eine Mark äußerst anregende Knöpfe gekauft, die ich einen ganzen Tag mit mir herumtrug, so schön fand ich sie. Und mit Elsbeth bin ich fleißig im Garten tätig und habe auch schon Ihrer Hoheit Gefken einen reitenden Boten gesandt, daß er unser Gärtlein dünge. Elsbeth und ich sprechen viel von Dir. Sie mit ihrem mitleidigen Tonfall, ich in einer Art von bräutlichem Glücksgefühl. Vorgefallen ist sonst nichts, außer daß wir im Keller eine Maus gefangen haben. Aber zu sagen hätte ich Dir noch viel. Ich tue es Dir nach und packe es auch in einen Sack. O, wie wird das sein, wenn wir mit unseren Säcken uns begegnen.

*

Familienbrief

Worpswede, den 29. Januar 1902.

Meine liebe Tante Marie,

ein paar Tage vor Weihnachten erzählte mir Milly, daß es Dir gar nicht gut ginge, daß Dein Herz aufmuckte gegen diese schnelle Art zu leben, die Du ihm zumutest. Zu gleicher Zeit erzählte sie auch von Frau D.'s italienischem Plan und daß Du zaudertest, wegen einer neuen Pensionärin zu Ostern. Liebe, laß doch all die Pensionärinnen für eine Zeit ganz aus dem Sinn, schnallt Euer Bündel und wandert. Sieh es doch als eine Fügung an, daß Du auf diese Weise von Deiner Wohnung los bist. Wirf alles hinter Dich und lebe nur der Gesundheit.

Ich möchte, ich wäre nur eine halbe Stunde bei Dir, um von Angesicht zu Angesicht mit Dir über diesen Punkt zu reden. Ich fürchte so sehr, daß Du in ein so überschnelles Lebenstempo hineingekommen bist, daß Du Angst hast vor dem plötzlichen Aufhören und den Nicht-Pflichten. Wie unser Vater, der jeglichen Urlaub von sich wies in einer Zeit, da er ihn am nötigsten hatte. Das ist meine Tätigkeit allen Menschen gegenüber, daß ich ihnen Ruhe und ein Zusichkommen predige. Ich wünschte nur, sie hörten. Dann gäbe es sicherlich ein großes Stück Glück mehr auf der Welt. Ich wünschte auch, Du hörtest dies Wort ein wenig. Warum soll ich es Dir nicht sagen? Daß ich halb so alt bin als Du, das ist immer noch kein Zeichen, daß ich unrecht habe.

Früher als Kind dachte ich immer, daß man mit den Jahren immer besser würde und jetzt als Erwachsenes denke ich, daß man sich mit den Jahren Fehler angewöhnt. Ich glaube bei Dir: das Zuviel-Arbeiten. Und es ist meine feste und heilige Überzeugung und kein Scherz, wenn ich glaube, daß Du alle Deine Kräfte zusammennehmen mußt, um dagegen zu kämpfen. Durch das Zuviel-Arbeitern sündigt man am Leben und an der Arbeit selber. Man beraubt sie ihrer wundervollen großen beruhigenden Schönheit, die sie wie eine milde Sonne über unser Leben strahlt.

Wir leben still weiter unsern Gang und warten still weiter darauf, daß etwas aus uns wird. Otto in seiner Art gerade so wie ich, denn ihn verlangt auch nach etwas Höherem. Und dann erzählen wir uns gegenseitig von uns, was ein jeder machen will, und dann wartet der eine auf den andern.

Die Studien von Fräulein M. haben uns interessiert. Arbeitet sie denn gar nichts Größeres? Wenn man sich in so kleinem Format ausdrücken will, müssen die Mittel meinem Gefühl nach anders sein. In ihren Zeichnungen ist sie nicht immer derselbe Mensch. Erinnert mal hieran, mal daran. Im ganzen ist mir das, was ich anstrebe, noch lieber, was aber gar nicht jeder zu finden braucht. Ich meine nur, weil Du uns in gewisser Weise miteinander verglichest.

Wenn Du im Jahre wenig Briefe von mir erhältst, so führe es bitte auf eine gewisse Schweigsamkeit zurück, die ich meines Wissens von jeher auch im mündlichen Verkehr gehabt habe. Ich spreche manchmal sehr wenig und Elsbeth muß dann sehr unermüdlich und sehr spitzfindig fragen, damit sie mehr als ein Ja oder Nein erhält Vielleicht kommt es davon, daß die Gedanken wissentlich oder auch unwissentlich immer auf das eine Ziel gerichtet sind, ich weiß selbst keinen anderen Grund.


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