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Selbstbildnis vor grünem Hintergrund mit blauer Iris, um 1905
Öl auf Leinwand

Einführung

Als Paula Modersohn-Becker am 10. November des Jahres 1927 die Augen schloß, gab es nur zwei Menschen, welche wußten, daß in diesem Tode eine große Künstlerin hinweggenommen wurde. Die beiden waren ihr Gatte, der Maler Otto Modersohn, und der Bildhauer Bernhard Hoetger. Für alle andern Personen und Kreise, eingeschlossen der Worpsweder Künstlerkreis, zu dem die Verstorbene äußerliche Dazugehörigkeit gehabt hatte, war sie eine begabte Malerin neben anderen gewesen; für manche ein irregeleitetes Talent. Das bedeutende malerische Werk, das die Verstorbene hinterließ, setzte sich in den zwölf Jahren, die seither vergangen sind, in Bewußtsein und Urteil der künstlerisch maßgebenden Öffentlichkeit immer voller und umfassender durch. Es war Zukünftigkeit in ihm gewesen; es scheint auf das Heute gewartet zu haben; der lebendige Nerv, der dieses Heute mit dem Morgen und Übermorgen verbindet, wirkt in ihm. Eine ungeheure Arbeitsenergie hat sich in dieser Künstlerin ausgelebt, ein Lebenswerk, das nach Umfang und Entwicklungszeitmaß auf der Basis eines Menschenalters zu stehen scheint, wurde von ihr in den kleinen Zeitraum von ungefähr acht schöpferischen Jahren zusammengedrängt.

Die Entdeckung der Kunst Paula Modersohn-Beckers zog die Teilnahme an ihrer Persönlichkeit nach sich. Wer war diese Frau, die, einunddreißigjährig aus der Welt gehend, ein derartig starkes geschlossenes Werk hinterließ, ein Werk, das nach Jahren plötzlich aus der Einsamkeit eines abgelegenen Heidedorfes heraus und ohne daß ein Kreis oder eine Schule, es in sich einbeziehend, ihm Verstärkung gegeben hätten, in das aktive laute Kunstleben der Gegenwart eingreifen konnte?

Der Biograph hat hier nicht nötig, von vielerlei Seiten ein Material zum Zweck der Beantwortung dieser Frage zusammen zu tragen. Deren Gedächtnis er dienen will, die Künstlerin selbst, hat in Briefen und Tagebuchaufzeichnungen ihr Lebensbild gegeben. Es liegt nicht ein Stoff vor, aus dem nachträglich etwas zu machen, etwas Einheitliches zu konstruieren wäre, vielmehr ist es so, daß die äußerlich so unkomplizierten Tatsachen und Geschehnisse durch Art und Wesen der Schreiberin selbst zu ihrer eigensten tiefsten Musik befreit worden sind; wie in der Hand des Tondichters ein Motiv weniger Töne sich zu dem großen Reichtum und der Geschlossenheit der Symphonie entwickelt.

In der Natur ihrer selbst liegt es und in der der Familie, aus welcher die Künstlerin hervorging, daß die biographischen Punkte und Merkmale dieser einunddreißig Jahre Erdenleben als das Nebensächliche erscheinen: alles ist in der innerlichen dramatisch gesteigerten Entwicklung enthalten. Paula wurde in Dresden am 8. Februar 1876 ihren Eltern als das dritte von sieben Kindern geboren und kam mit zwölf Jahren durch die Übersiedlung der Familie nach Bremen. Sie blieb dort, bis ihre Studien sie nach Berlin, Worpswede, Paris führten und ihre Verheiratung mit Otto Modersohn ihr die neue Heimat in Worpswede gab. Weder von Vaters Seite her noch von Mutters Seite ist vor ihr ein Künstler oder eine Künstlerin in ihrem Stammbaum verzeichnet. Die in Dresden ansässige Familie des Vaters – er selbst war in der Eisenbahnverwaltung tätig – repräsentierte konservatives höheres Beamtentum. Sie entstammte den Ostseeprovinzen und drei Generationen hatten in Petersburg und Odessa gelebt. Unerbittlich scharf eingestellte Ansprüche an sich selbst und jede Art von Leistung haben von dieser Seite her als Tradition auf das Kind und das junge Mädchen erziehlich eingewirkt. Wie Paula in den Briefen mit ihrem Vater verkehrt und wie sie über ihn schreibt, ist es das Zeugnis eines tiefen innigen Gebundenseins gerade an diese rechtliche Strenge seines Wesens, in die seine warme sorgende Liebe zu den Seinigen sich manchmal einkleidete.

Die Familie von Bültzingslöwen, der Paula mütterlicherseits entstammt, stimmte zu diesen schweren gehaltenen Tönen die hellen lebenbejahenden. Die Angehörigen dieser Familie gehörten zu der Art von Herrenmenschen, die niemals dazu zu bringen sind, das Überkommene einfach auf Treu und Glauben hinzunehmen, sondern für die Leben Selbstaufbauen heißt. Menschen, die ihre Uhr nach der Sonne stellen und nicht nach der Uhr des jeweiligen Rathauses. Ein Stück Eroberertum wirkte in den Männern und so viel Kraft, daß sie zu Erfolg durchführten, was sie als Lebenswerk, und wäre es ein noch so fern abliegendes gewesen, ergriffen. Paulas Mutter, Frau Mathilde Becker lebt noch heute in Bremen. Ihr kleines altes Haus, ein Märchenhaus in einem rund um mächtige Eichen sich breitenden großen Garten an der Schwachhauser Heerstraße, sieht in jeder Jahreszeit festlich aus rankenden Gewinden hervor und wirkt auch auf den fremd Vorübergehenden wie ein Gruß aus einem sonnigen Abseits der platten Welt. Die nahen und die fernen Kinder der Familie, die dort aus- und eingehen, haben in aller Verschiedenheit denselben Wesenstypus: sie sind Menschen; niemals würde man bei ihnen darauf kommen, sie aus ihrem Stand oder Beruf heraus charakterisieren oder werten zu wollen, wie es gemeinhin Gepflogenheit unserer unglücklich verkünstelten Zeitanschauung geworden ist. Keines von ihnen ist ausübend in einer Kunst, aber ein starkes Stück Künstlertum, ein unmittelbares mütterliches Erbe, steckt in jedem; verstreute Einzelzüge aus Paulas großer schöpferischer Gesamtheit. Mehr als die allermeisten Künstlerpersönlichkeiten hat Paula von ihrer Familie empfangen und eindringlicher als es sonst der Fall zu sein pflegt, wirkten von diesem Kreise aus, in dem ihr Leben bis zu seinem Ende tief eingesenkt blieb, die fördernden und hemmenden Beeinflussungen.

Als Familienart lag ihr im Blut die große Anspruchslosigkeit dem Leben gegenüber, die nur scheinbar und im Grunde nichts anderes ist, als der echt gewachsene Ausdruck höchster Ansprüche: das Geringachten alles Äußerlichen, das aus dem unbewußten Empfinden eigener Fülle und eines geheimen, nicht voll deutbaren innerlichen Glückes erwächst. Immer wieder, in Ernst und in Jubel, bricht es aus Paula hervor: »Was ich habe, habt ihr alle nicht!« So geht sie im glänzenden Treiben der großen Weltstädte ihren Weg und fühlt sich wie eine »verschleierte Königin«; so tröstet sie in einem ihrer liebevoll töchterlichen Briefe den Vater, daß er sich keine Sorgen um ihr Fortkommen und ihre Zukunft machen solle, denn sie hat schon »so viel Glück mit auf die Welt bekommen, daß sie nicht auch noch Geld und Wohlergehen braucht«; und so empfiehlt sie in prachtvoller Unbekümmertheit das Reisen in der vierten Klasse, wenn es dadurch möglich wird, zu einem erwünschten Ziel zu kommen, denn »uns macht das ja nichts aus!« Das freie Stehen über den Dingen, war ihr nicht ein wohl oder übel sich in die Verhältnisse schicken und nicht eine errungene Eigenschaft, es war ein im Blut sitzendes Unabhängigsein von allem Kleinkram; der durfte nicht im Guten und nicht im Schlechten an ihr Innerstes rühren; »was mich nicht umschmeißt, ist mir gleichgültig« schreibt sie einmal.

Begnadet mit einer solchen Veranlagung darf man sein Stück Natur triumphierend durch das Leben tragen, wie sie es getan hat.

An Paulas Menschentum und Künstlertum haben äußerliche Geschehnisse nur geringen bildenden Einfluß im Sinn einer Veränderung gehabt. Mit weit aufgetanen Sinnen und mit einer für jede Art von Empfängnis reich zubereiteten Seele lief sie dem Leben entgegen, wie ein Kind jauchzend in den Frühlingsmorgen hineinläuft. Die Dinge ergriffen sie und sie gab sich ganz ihnen hin, aber sie verlor darüber keinen Augenblick ihr eigentliches Selbst; sie durften nur ihr dienen, nicht sie überwältigen und nicht den Wuchs ihres Wesens abbiegen. Rückhaltlos genießt sie die Zerstreuungen und Anregungen, die die Studienzeiten in Berlin und Paris mit sich brachten; wenn aber die Stunde des lauten Lebens vorüber ist, steigt sie aus ihnen wie aus einem Bade heraus und steht in schöner Ursprünglichkeit und Zielsicherheit da.

Paula waren ganz besonders glückliche Kinder- und Jugendjahre in der Atmosphäre eines Heimes und eines Familienlebens beschieden, in welchem es keinen leeren Alltag gab; das immer in irgendeiner Weise gefüllt und gesteigert war; ein Leben, sonderlich dazu geeignet, daß eine kindliche Phantasie sich in Romantik daran entzünden konnte. In ihren wenigen Briefen und Aufzeichnungen dieser ersten Jugendzeit tritt nur einiges Wesentliche hervor. Einmal wird ein Tagebuch eingerichtet und mit ein paar feierlichen Zeilen geweiht, jeder Gedanke, jede Empfindung der Vierzehnjährigen, so verkündigt sie, soll da mit rücksichtsloser Aufrichtigkeit gegen sich selbst eingetragen werden. Das Büchlein in kinderhaft buntem Umschlag kommt nicht über wenige Seiten Geschriebenes hinaus und besteht nur aus verschiedenen Anfängen. Der Briefe in dieser Zeit sind wenige; es lag für mehr keine Veranlassung vor, denn alles, was das Kind liebte, war in der Familie, im Verwandten- und Freundeskreise um sie her. Es sind typische Jungemädchenbriefe, hell und oft übermütig im Ton, rückhaltlos im Erfassen aller Eindrücke, sehr unmittelbar im Ausdruck; eine Hindeutung auf ihre Malernatur findet sich zunächst nicht. An einigen Stellen klingt Werdendes und Bleibendes an: ihre lebendig originelle Auffassung für das Intime der Dinge und für das jeweilige Milieu und seine Persönlichkeiten. Dann als erster tieferer Anklang die Lust am Alleinsein mit der Natur, die oftmals die kindlichnaive Freude am Zusammenleben und Zusammengenießen mit den ihr nahestehenden geliebten Menschen übertönt. Früh tritt ein Stück Grübelei in ihr hervor, der Trieb, sich über sich selbst klar zu werden und zugleich damit die für ihr Wesen besonders charakteristische Furcht, bei derartigen ernsten Dingen in Feierlichkeit oder Sentimentalität zu verfallen: dann folgt dem ersten Anfang eine spitzbübisch heitere Wendung und eine Art von Selbstironisierung auf dem Fuße nach. So, wenn sie von ihrer backfischigen Gepflogenheit, sich in irgendeiner oberflächlich aufregenden Lektüre zu verlieren, schreibt: »Ich bin dann innerlich so zitternd aufgeregt, was doch eigentlich gar nicht zu mir paßt, ich weiß selbst nicht, ob das gut oder schlecht für mich ist. Ich glaube eigentlich doch schlecht, denn so einer aufgeregten Stimmung folgt dann die Reaktion. Sich selbst gegenüber nennt man es mitleidig: melancholisch, die andern aber sagen und nicht mit Unrecht: brummig.«

Wie ihre Kunst, so hatte Paulas Menschlichkeit nichts von Oberfläche: was in Erscheinung trat, war immer Inhalt, der Form geworden war, oder etwas, das nach Form und Gestalt drängte, ohne daß sie sie noch zu geben vermochte. Als junges Mädchen litt sie darunter, – die reifgewordene Frau nahm auch diese Veranlagung als etwas bedingungslos Zusichgehörendes und als Kraft – daß die Fülle ihrer Empfindung, nur einem lebendigsten Trieb gehorchend, auch ihren liebsten und nächsten Menschen gegenüber nicht in der unmittelbaren Wärme, die sie fühlt, zum Ausdruck kommen konnte. Ihre Sprödigkeit machte ihr Kummer. Sie schreibt, sechzehnjährig, an die Mutter in einem Geburtstagsbrief: »Daß Du an all Deinen Kindern Freude erlebst, das wünsche ich Dir. Ich schäme mich fast, das zu sagen, denn das einzige, womit ich Dir Freude machen kann, sind meine Briefe, und ich weiß, daß Du an denen keine Freude haben kannst. Meine Briefe müssen aus dem Herzen kommen. Aber oft an meinen Schreibfreitagen ist mein Herz ganz zu. Ich ärgere mich, ich schelte mich, aber das schließt es nicht auf und macht es nicht besser. Ja, einen Brief muß ich schreiben. Ihr habt dann immer noch Euren Verstand und der kann die Sache schnell abmachen. Ich denke mir, mein Verstand ist zu klein dafür und dafür kann ich doch wirklich nichts. Darum, wenn ich Euch keine guten Briefe schreibe, habt eher Mitleid mit mir, als daß Ihr auf mich scheltet und denke, daß ich Dich trotz alledem liebe.«

Später klagt sie einmal gegen eine Verwandte: »Ich habe ein Gefühl, als müßte ich Dich jetzt bei mir haben und Dich recht recht fest an mich drücken. Und dann, hätte ich Dich bei mir, würde ich es doch wahrscheinlich nicht tun, denn in mir sitzt solch ein knauseriges Etwas, das mir derartigen Luxus nicht erlaubt. Ich weiß nicht, warum es da sitzt und woher es kommt. Aber es sitzt nun einmal da und läßt sich nicht abschütteln. Bei jedem Versuch dazu klammert es sich nur um so fester an meine Seele. Im langen Lauf meiner zwanzig Jahre habe ich auch allmählich diese große Macht, dieses verborgene Etwas ganz stillschweigend anerkannt. Es ist nur selten, daß ich mich gegen diesen strengen Herrscher aufbäume und dann tut es doch recht weh. So sehe ich, wie M. aus ihrem Reichtum von Liebe mit vollen Händen ausstreut. Ich fühle ihr Streicheln; auch mein Inneres streichelt, ich kann es aber in der Tat nicht, und tue ich es doch, zwinge ich mich dazu, so fehlt der Liebkosung die Ursprünglichkeit, ich fühle sie als steif und der andere wahrscheinlich auch.«

In Paulas Art hatte die Natur Bedingungslosigkeit gelegt, ein Alles oder Nichts. Leben, Empfinden, Geben war für sie ein Ausströmen ihres ganzen Wesens, von dem sie weder etwas ab- noch etwas dazu zu tun vermochte. Sie kannte nicht den Gegensatz von Unmittelbarkeit und Gedanklichkeit, was sie nicht geben konnte, wie der Baum seine Blüten und Früchte gibt, aus geheimnisvoll flutendem Trieb heraus, das gab sie nicht. Sie kannte aus diesem ihrem Wesen heraus auch nicht den Begriff der Pflicht im Sinn eines Opfers, eines Tötens der Natur, wie er in der sittlichen Überzeugung an erster Stelle gesetzt zu werden pflegt. Wenn die Forderung des Entsagenmüssens an sie herantrat, war auch das für sie ein Stück des großen herrlichen Lebens, dem sie folgt und das sie heilig hält.

Ein solches Entsagenmüssen war das Lehrerinnenexamen, welches sie nach absolvierter Schulzeit an Stelle der heiß ersehnten künstlerischen Ausbildung zunächst zwei Jahre mit Beschlag belegte. Schwere Jahre; sie tat in ihnen ihre Pflicht bis zum letzten, aber die Dinge gingen ihr nicht unter die Oberfläche; nur die Geschichtsstunden geben ihr etwas, weil man sich da »so gut in die einzelnen Charaktere vertiefen kann«. In diesen Jahren klagt sie: »Zum Zeichnen komme ich gar nicht mehr«. Die Zeit nach dem Examen ist dann ein »goldenes Paradies«. Sie schreibt davon: »Es ist ein so himmlischer Gedanke, daß der arme Kopf verdauen kann, was so hastig in ihn hineingepfropft ist, und daß er alles, was ihn nicht interessiert, in Ruhe vergessen darf«. Ihr Herz war nicht bei dieser Sache gewesen und was den Verstand allein anging, so war er nicht das Organ, durch welches allein sie leben, empfangen und geben konnte; obschon sie ein ungewöhnliches Maß davon und eine feine anmutige Geistigkeit ihr eigen nannte.

In ihren späteren Aufzeichnungen hat sie diese ihre Eigenart einmal sehr lieblich charakterisiert. Sie schreibt im Jahre 1902: »Heute las ich, daß in den ersten Stadien des Menschenembryo sein Herz im Kopf sitze und erst allmählich in die Brust rutsche. Mir ist es ein süßer Gedanke, daß sie so nebeneinander geboren sind, Herz und Verstand. Das bestätigt mein Gefühl. Ich kann sie bei mir meist nicht voneinander trennen.«

Es kam nicht dazu, daß sie den Beruf der Lehrerin ausübte, die Eltern ermöglichten ihr zunächst ein Studienjahr in Berlin. So und so viele Monate, rechnet Paula jubelnd aus. Was dann weiter werden sollte, kümmerte sie nicht, sie hielt den Augenblick in der Hand, das genügte ihr. Ihr blindes Vertrauen in die Zukunft wurde nicht getäuscht; es fanden sich in der Folgezeit immer, wenn es notwendig wurde, die Mittel und Wege, daß sie bis zur erreichten Selbständigkeit weiter lernen konnte.

Sie kam nach Berlin. Die Verwandten in Schlachtensee, in deren Hause sie für den größten Teil ihrer Studienjahre eine zweite Heimat fand, hatten damit gerechnet, durch Paulas Anwesenheit ihr Stilleben von den Ausstrahlungen eines heiteren jungen Mädchens, das mit Malerei sich beschäftigt, durchleuchtet zu sehen. Aber Paulas Frische hatte damals schon nicht diese Leichtbeweglichkeit einer bestimmten Jugend, die wie die Oberfläche eines freundlichen kleinen Sees jedem Windanhauch mit lustigem Wellengekräusel begegnet. Ihre Lebendigkeit und Heiterkeit entspannte sich über einer Stille und einer Tiefe. In Berlin ergreift sie mit Leidenschaft vom ersten Tage an die Kunst, und den vielen Stunden, die die Studien fortnehmen, folgen andere Stunden, die dem Alleinsein gehören mußten, dem Ausschwingen im innerlichen Verarbeiten des Gelernten und Geschauten. Auch unter diesen veränderten Voraussetzungen und Ergebnissen wurde das Verhältnis mit ihren Verwandten, von der einen Seite in elternhafter Güte, von der anderen in liebevoller Dankbarkeit, zu einer dauernden Bereicherung für beide Teile.

Paulas Briefe dieser ersten Studienjahre sind Familienbriefe, Erzählbriefe, geschrieben, um in dem hellen, warmen Kreise des Elternhauses am sonntäglichen Frühstückstisch vorgelesen zu werden und Freude zu machen. Sie sind durch und durch wesensecht, aber es wirkt in ihnen stark der innerliche Einfluß der Briefempfänger, an die sie sich wandte. Briefe sind um dieses Umstandes willen, daß man sich, je nach Veranlagung, mehr oder weniger und fast immer ganz unbewußt, auf die Persönlichkeiten, an die man schreibt, einstellt, trotz ihrer Unmittelbarkeit nicht die wahrsten Wesensäußerungen. Paulas Briefe an die Familie, wofern sie nicht über ganz bestimmte Dinge an den Vater, die Mutter oder eines der Geschwister sich wendet, kommen aus dem Teil ihres Wesens, den sie einmal als Braut gegen Otto Modersohn ihre Lachseite nennt. In der Berliner Zeit gilt von ihnen: »Das Schönste meines Lebens ist viel zu fein und zu sensibel, als daß es sich aufschreiben ließe. Das, was ich Euch schreibe, ist nur das Drum und Dran. Es ist das Gefäß, darin der Duft vieler köstlicher Augenblicke ruht.« Manchmal zerreißt der Vorhang, dann sieht man tiefer in sie hinein: »Meine ganze Woche besteht eigentlich nur aus Arbeit und Gefühl« oder: »ich komme mir oft vor wie ein Hohlzylinder, in welchem der Dampfkolben mit rasender Schnelligkeit auf- und abgeht.« Und einmal: »Hier in Berlin spiele ich mehr denn je Vogel Strauß. Ich kann es sonst nicht ertragen.«

Auf Berlin folgt Worpswede. Das Arbeitsleben, das sie dort führt, ist für Paula ein reicher Sommertag. In ihren Tagebuchblättern, in den wenigen Gedichten, die sich anspruchslos dazwischen finden, ringt ihre Seele manchmal förmlich darum, den rechten Ton zu treffen für die berauschende Musik, die in ihr strömt und braust. Was sie niederschreibt, wird zu einem Lobgesang, wie ein Hallelujah kehrt in ihm immer das eine Wort: ich lebe! wieder.

Die spröde Art der Moorbauern schlägt tiefe und helle Seiten in ihr an. Ehrfürchtig steht sie vor diesem Stück Menschentum und dem Gebot ihres Innern, es nachschaffend zu gestalten; und dann wieder erfaßt und genießt sie mit ursprünglichem Humor die Wunderlichkeiten der Art, die sich in ihm mit naiver Selbstverständlichkeit auswirkten. Wie blaß und konstruiert stehen die allermeisten Menschen unserer niedersächsischen Heimatbücher neben den mit ein paar charakteristischen Strichen skizzierten Gestalten in Paulas Briefen und Aufzeichnungen: Die Leute der Bauernhochzeit, die junge Mutter aus dem Rusch, die alte Olheit, und die Armenhausmenschen. Das Intime, Genrehafte, Anekdotische, das in ihrer Kunstauffassung durchaus beiseite trat, wohl aber ein Einschlag ihrer Natur war, kommt in reizender Frische in ihren schriftlichen Aufzeichnungen über ihre Modelle zum Ausdruck. Von Paris zurückkehrend, kritisiert sie jene Auffassung an ihrem sehr hochgeschätzten Lehrer Mackensen. »Die Art, wie Mackensen die Leute hier auffaßt, ist mir nicht groß genug, zu genrehaft. Wer es könnte, müßte sie mit Runenschrift schreiben.«

Der besondere Reichtum dieser Jahre war für Paula die Fülle der Einsamkeit, welche ihr das Worpsweder Leben gewährte; sie war das Element, in dem ihre lebhaft aufnehmende Seele sich immer wieder ruhig, frisch und klar badete. Noch in einem andern, einem leise schmerzenden Sinn, nahte sich ihr von dieser Zeit an die Einsamkeit: sie mußte lernen, in dem Wollen und auf den Wegen ihrer Kunst allein zu gehen, ohne das innerliche volle Verstehen der ihr nächsten liebsten Menschen; das typische Erlebnis jedes großen in die Zukunft weisenden Künstlers. Im Jahre 1899 berührt Paula zum erstenmal diesen Punkt; da schreibt sie an die Schwester, daß sie fühle, wie sie alle sich an ihrer künstlerischen Art erschreckten, und daß, bei der Entwicklung, die vor ihr liege, es noch mehr kommen werde und kommen müsse. Keine Klage und kein Vorwurf darüber kommt jemals bei ihr zum Ausdruck, sie wußte, es konnte wohl nicht anders sein, aber eine Wehmut durchklingt jetzt manchmal die Briefe an die Familie. Die beiden Saiten ihrer reichen Frauennatur wirken sich von diesem Zeitpunkt an in den Briefen an sie wechselseitig aus: sie ist unbeugsam überall da, wo es die inneren Lebensnotwendigkeiten ihres Künstlertums, das für sie unlöslich von ihrem Menschentum war, angeht, und sie ist weich, hingebend-zärtlich, wenn sie nur Tochter oder nur Schwester sein kann. Hier war die Reibung, die aus Paulas Natur den Charakter sich kristallisieren ließ; sie hatte zu kämpfen, um sie selbst bleiben zu können; es ging dabei nicht um greifbare Widerstände von außen, sie kämpfte gegen die schöne Empfindsamkeit ihres Gemütes, dessen Glücksverlangen eine enge Nähe und Wärme der Beziehungen zu den Ihrigen war und das auch das kleinste Nichtverstehen als Schmerz empfand. Sie hätte Lebenskeime in sich töten müssen, wenn sie sich aus ihrer fest miteinander verwurzelten Familie innerlich hätte lösen wollen. Kurz vor ihrem Tode schreibt sie an die Mutter: »Das Blut ist wohl das stärkste Band. Es schlägt Brücken über die weitesten Abgründe, man muß den Schöpfer preisen, der diese gleichen Säfte geschaffen hat«.

Es ist bezeichnend für Paula, daß in nur sehr beschränktem Maße die Freundschaft, auch in dem Lebensalter, wo jene gern mit Forderungen an erste Stelle tritt, in ihr Leben eingegriffen hat. Nur eine Freundin hat sie gehabt, die Bildhauerin Clara Westhoff, alle anderen freundschaftlichen Beziehungen blieben lose geknüpft und bedeutungslos.

Im Jahre 1900 reichte das Leben ihr seinen vollsten duftenden Kranz: Paula verlobte sich mit Otto Modersohn. Sie hatte bereits längere Zeit in regem künstlerischen Austausch mit ihm gestanden und war bei Lebzeiten der ersten Frau in seinem Hause ein viel und gern gesehener Gast gewesen. Eine besondere Art des Verkehrens zwischen den Verlobten, eine durch die engen Verhältnisse Worpswedes bedingte Heimlichkeit des schriftlichen und persönlichen Austausches gibt den ersten Monaten der Brautzeit das Gepräge. Paulas Glück ist jubelnd; alles, was ihr Wesen an Romantik umschließt, scheint in den Briefen an den Verlobten und den späteren Gatten aufzublühen.

Die ersten Jahre der Ehe sind sehr hell; die Sehnsucht nach dem Kinde ist nicht Schatten, sondern Hoffnung, die die Zukunft sanft bestrahlt. Die verschiedenen Aufenthalte in Paris gleichen einem Hinauslaufen in eine leuchtende Fremde, aus der sie immer wieder neu beglückt in die Heimat zurückkehrt. Und doch war es die Ehe und das Glück dieser Ehe, die Paula in den tiefsten Lebensernst hineinführten. Sie hatte in Otto Modersohn ihr Du gefunden, sie war beseligt in der Verschmelzung ihres Lebens mit dem seinigen gewesen, die in den ersten Jahren auch eine Verschmelzung in der Arbeit war. Aber ihr Künstlermensch konnte diese Art von Zweiheit auf die Dauer nicht ertragen; er floh zurück in seine Einsamkeit. Es kam die Zeit, in welcher Paula das tiefe problematische Künstlerschicksal durchlebte, dem Hölderlin die Worte gab: »Uns ist gegeben an keiner Stelle zu ruhen«. Schon in dem vollen Glück der ersten Zeit nach ihrer Verheiratung klingt etwas davon in ihr an. Sie schreibt von Tränen, die sie viel geweint hat und daß die Ehe ihrer Erfahrung nach nicht glücklicher mache, denn: »sie nimmt die Illusion, die vorher das ganze Wesen trug, daß es eine Schwesternseele gäbe«. Aber diese Worte wirken an den Stellen, wo sie stehen, nur erst wie das natürliche Verebben der Empfindungsflut eines überschwenglich jungen, vollen Herzens und nicht als kaltes Enttäuschtsein. Die innerlichen Kämpfe setzten später ein.

Im Jahre 1906 glaubte Paula ihr Bestes in sich retten zu sollen, indem sie Otto Modersohn verließ, um fern von ihm, in Paris, ihr Leben neu aufzubauen. Das war für sie die Tat eines tiefen ernsten Mutes, das härteste Opfer, das ihr Menschentum ihrem Künstlertum brachte; denn ihr Mensch – ihr Menschlein, wie sie früher in einem Empfinden seiner Zartheit und Leichtverletzlichkeit gern gesagt hatte – litt sehr unter dem Schweren, was sie damit über ihren Gatten und ihre nächsten Angehörigen brachte.

Künstlerisch war diese Pariser Zeit ein letztes volles Reifen. Ihr Bekanntwerden mit Bernhard Hoetger, die Beeindruckung durch seine Kunst, in der sie damals Verwandtes fühlte, Hoetgers bedingungslose Anerkennung ihrer eigenen künstlerischen Art und die Aktivität seines Wesens schnellten sie auf den Gipfel ihrer Möglichkeiten empor. Anfang Mai schreibt sie an Hoetger: »Daß Sie an mich glauben, das ist mir der schönste Glaube von der ganzen Welt, weil ich an Sie glaube. Was nützt mir der Glaube der andern, wenn ich doch nicht an sie glaube. Sie haben mir Wunderbarstes gegeben. Sie haben mich selber mir gegeben. Ich habe Mut bekommen. Mein Mut stand immer hinter verrammelten Toren und wußte nicht aus noch ein, Sie haben die Tore geöffnet. Sie sind mir ein großer Geber. Ich fange jetzt auch an zu glauben, daß etwas aus mir wird. Und wenn ich das bedenke, dann kommen mir die Tränen der Seligkeit. Ich danke Ihnen für Ihre gute Existenz. Sie haben mir so wohl getan. Ich war ein bißchen einsam.« – Und um dieselbe Zeit an die Schwester Milly: »Ich werde etwas – ich verlebe die intensiv glücklichste Zeit meines Lebens. Bete für mich.«

Hier ist der Punkt, wo die schöne Linie von Paulas innerer Entwicklung zum Ring zu schließen sich anschickt. Sie hatte die große Sicherheit im Bewußten gewonnen; niemals hätte äußerliche Anerkennung oder Erfolg sie ihr zu geben vermocht. Sie fühlt ihr Künstlertum erfüllt, sie steht da, wohin ihr unentwegtes Brausen dem einen Ziel entgegen ging. Sie geht im Licht. Auch jetzt noch bleibt dieses Eine für sie, ihre Kunst, allem anderen übergeordnet, aber mit dem tiefen Aufatmen der Ruhe über sich selbst erkennt sie die Bedingtheit als Gesetz des Lebens, und sie vermag aus dieser neuen Reife heraus der Kunst zu geben, was der Kunst gehört und den Menschen zu geben, was den Menschen. Sie vereinigt sich wieder mit dem Gatten und das Leben segnet sie mit dem höchsten ersehnten Gut, das es ihr bis dahin vorenthalten hatte, mit der Mutterschaft. Dann, wenige Tage nach des Kindes Geburt, spricht es ihr sein letztes, stärkstes Wort und ruft sie in den Tod.

Mutterschaft und Tod standen als die beiden großen Eckpfeiler, zwischen denen Paulas seelische Spannungen hin und wider gingen; es war ihr bestimmt, daß ihr Ende als ein Verschmelzen beider kam. Eine letzte photographische Aufnahme, die sie mit dem Kindchen im Bett neben sich wiedergibt, zeigt in den schönen Zügen einen wahrhaft verklärten Ausdruck von Glück und Genüge; die Schatten der letzten Jahre waren verweht, sie hatte wieder die Einheit und Klarheit in sich gefunden. Und so schied sie.

Erdenseligkeit war ihr Leben gewesen; aber nicht so, daß die Erde dieser Seligkeit letzten Sinn gab. Was Paulas Kunst groß macht, ist dasselbe, was auch ihrem Menschentum die weiten Maße verleiht. Ihr Verhältnis zur Natur, die ihr Modell wurde, war eine Liebe und Hingegebenheit an die Dinge, die voll tiefer Ehrfurcht vor dem Geschaffenen als dem Ausdruck der ewigen Schöpferkraft war. Niemals wollte sie eine Stimmung von außen her in sie hineintragen, nur das Tiefste und Feinste des Natürlichen in ihnen in Farbe und Form lebendig werden und zur Stimmung reifen lassen. Ihr Arbeiten war ihr etwas Heiliges, sie ging wie an einen Gottesdienst daran. Sehr jung noch, in den ersten Berliner Studienjahren, schreibt sie einmal von einer halb kindischen Eitelkeit infolge einer besonderen Anerkennung, die sie erfaßt hat, und die ihr die echte rechte Malstimmung vorenthalten habe; und immer wieder, wenn sie von dem Kampf und dem Glück ihres Strebens redet, geschieht es ihr, daß das Gefühl dabei zu religiösem Ausdruck, zu Worten der Frommheit sich steigert.

War Paula fromm? ... Sie litt in Berlin unter den Eindrücken von Unfrommheit. »Du weißt, daß ich damit nicht Kirche meine«, schreibt sie, »aber fromme Augen sehe ich so wenig«. Ihr eigenes Frommsein war ein Erfülltsein vom Ewigen, eine Hingabe, ein Anbeten. In ihren stärksten Empfindungsaugenblicken nennt sie es Gott. »Wollte Gott, es würde etwas aus mir«, sagt sie inbrünstig. Wenn ihr ein Augenblick des Zweifels an der ernsten Reinheit ihres künstlerischen Willens aufsteigt, kommt es ihr: »Schaffe in mir Gott ein reines Herz und gib mir einen neuen gewissen Geist«. Und wenn der Sturm ihres schaffenden Lebens übermächtig sie erfaßt, fließen die Lippen über: »Oh heiliger Geist zeuch bei mir ein – und laß mich deine Wohnung sein – zu steter Freud und Wonne. –« Das sind Momente, in denen nicht eigene Worte sich ihr entringen, sie kann sich da nur geben in den Worten einer feierlichsten Tradition, die schwer und voll von Jahrtausende altem Sinn geworden sind. Sie kommen ihr nicht, weil sie der vernunftgemäß richtigste Ausdruck ihres Empfindens sind, sondern weil sie, über Zeit und Raum hingehend, der Spannweite ihrer Seele entsprechen. Dieses weite Maß ihres Wesens, das volles Genügen nur fand, wenn es das Sinnliche unmittelbar an das Übersinnliche, das Zeitliche an das Ewige anknüpfen konnte, gab ihrem Künstlertum die einzigartige Größe. Die tiefste Wirkung ihrer Bilder wird niemals im rein Malerischen zu deuten sein, sie ist die Form gewordene Schöpferkraft einer Auffassung von Natur und Leben, für die alles Vergängliche zum Gleichnis wurde.

Von der äußerlichen Persönlichkeit Paula Modersohn-Beckers hat mir das Leben nur einen flüchtigen Eindruck gegönnt. Es war im Sommer 1907 in Worpswede in einer heiteren Geselligkeit. Sie weilte da für eine kurze Zeit und mir blieb von ihr das Bild einer feinen, jugendlich fraulichen Anmut. Ein stilles Glücklichsein umwehte ihre Erscheinung, sie sprach wenig und auch noch in der lebhaften Rede behielt ihr Auge immer eine nach innen gerichtete Sammlung. Einmal stand sie auf und verließ mit leichtem Grüßen den Kreis; ihr Zustand einer nahenden Mutterschaft gab ihrer Haltung und ihren Bewegungen eine schöne Würde. Es war in dem Augenblick, als gehörte sie zu jenen Frauen, die unsere alten Meister als Gottesmutter gemalt haben.

S. D. Gallwitz


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