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Worpswede

1900

Tagebuchblätter

Worpswede, den 2. Juli 1900.

Ein Abendspaziergang durch Schlußdorf. Die Ottelsdorfer Mühle auf düsterem, flimmerndem Himmel, davor Moor, wogendes Kornfeld. Don Quichotte auf einem Schimmel, rotbärtig.

 

Leute beim Torfmachen. Abendstimmung. Alles tief. Braun und blau mit dunkel eingesetztem Weiß und Rot. Das Mädchen beim Schneiden mit eingebogenem Rücken und sehr sichtbaren Beckenknochen.

 

Liebesgarten. Abendstimmung. Rotleuchtende Kaiserkronen. Junges Paar. Er schwarz, sie weiß.

 

Ich wohne jetzt bei Brünjes in Ostendorf, schön in der Stille. Da versuche ich alles Eitle, was die Großstadt mit sich brachte, abzustreifen und einen wahren Menschen und eine feinfühlige Seele und eine Frau aus mir zu machen.

Worpswede, den 3. Juli 1900.

Ich war den ganzen Morgen in den Bäumen um Boltes Fabrik.

Blauer Himmel und große Wolkenballen. Ich fühlte jeden Strauch. Vielleicht male ich auch einmal eine verlassene Fabrik.

 

Heute hat mir mein Vater geschrieben, mich nach einer Gouvernantenstelle umzusehen. Ich hatte den ganzen Nachmittag an der trockenen Sandkuhle in der Haide gelegen und Knut Hamsun »Pan« gelesen.

Worpswede, den 26. Juli 1900.

Mir kamen heute beim Malen die Gedanken her und hin und ich will sie aufschreiben für meine Lieben. Ich weiß, ich werde nicht sehr lange leben. Aber ist das denn traurig? Ist ein Fest schöner, weil es länger ist? Und mein Leben ist ein Fest, ein kurzes intensives Fest. Meine Sinneswahrnehmungen werden feiner, als ob ich in den wenigen Jahren, die mir geboten sein werden, alles, alles noch aufnehmen sollte. Mein Geruchsinn ist augenblicklich erstaunlich fein. Fast jeder Atemzug bringt mir eine neue Wahrnehmung von Linden, von reifem Korn, von Heu und Reseden. Und ich sauge alles in mich ein und auf. Und wenn nun die Liebe mir noch blüht, vordem ich scheide, und wenn ich drei gute Bilder gemalt habe, dann will ich gern scheiden mit Blumen in den Händen und im Haar. Ich habe jetzt wie in meiner ersten Kinderzeit große Freude am Kränzebinden. Ist es warm und bin ich matt, dann sitze ich nieder und winde mir einen gelben Kranz, einen blauen und einen von Thymian.

Ich dachte heute an ein Bild von musizierenden Mädchen bei bedecktem Himmel in grauen und grünen Tönen, die Mädchen weiß, grau und bedeckt rot.

 

Ein Schnitter in blauem Blusenhemd. Der mäht all die Blümlein ab vor meiner Türe. Mit mir wird es auch wohl nicht mehr lange dauern. Ich weiß jetzt zwei andere Bilder mit dem Tod darauf, ob ich die wohl noch male?

Worpswede, den 3. September 1900.

Dr. Carl Hauptmann ist auf eine Woche hier. Er ist eine große, starke, ringende Seele, einer, der schwer wiegt. Ein großer Ernst und ein großes Streben nach Wahrheit ist in ihm. Er gibt mir viel zu denken. Er las aus seinem Tagebuche: »Gedankliches und Lyrisches«. Deutsch, hart, im Wortlaut schwer und unbeweglich, doch groß und tief. Lege die Eitelkeit ab und sei Mensch. Die Eitelkeit setzt Mauern auf zwischen dir und der Natur. Du kommst nicht zu ihr hindurch. Die Kunst leidet dadurch. Vertiefen, von innen nach außen leben, nicht von außen nach innen. Deshalb gegen Paris für mich.

Daneben Rainer Maria Rilke, ein feines lyrisches Talent, zart und sensitiv, mit kleinen rührenden Händen. Er las uns seine Gedichte, zart und voller Ahnen. Süß und bleich. Die beiden Männer konnten sich im letzten Grunde nicht verstehen. Kampf des Realismus mit dem Idealismus.

*

Im Spätherbst 1900 verlobte Paula sich mit Otto Modersohn. Nichts wurde dadurch an ihrem streng konzentrierten Arbeitsleben verändert. Der Gedanke, was die Welt zu einer Verlobung, die vier Monate nach dem Tode von Modersohns Frau geschah, sagen würde, hat die beiden wenig gekümmert: sie standen vor sich selbst gerechtfertigt da in ihrem Tun und konnten der Zustimmung der »Welt« entraten. Immerhin verlangte die Welt ein Maß von äußerlicher Rücksichtnahme und der Briefwechsel der Verlobten mußte heimlich hin- und hergehen. Solange Paula noch in Worpswede weilte, legten sie die Briefe unter einen bestimmten Stein in der Heide, von wo sie dann jeder sich abholte. Später, bei den Aufenthalten Paulas in Bremen und Berlin wurden die Adressierungen von Freunden und Verwandten gemacht.

*

Briefe an die Familie

Worpswede, den 28. Oktober 1900.

Mein lieber Vater,

... mit dem Feiern mache Dir nur keine Sorge. Otto und ich sind ja beide ganz vernünftige Leute. Heinrich Vogeler hatte noch eine Flasche Rotwein zu mir gebracht, um mit uns unsere Verlobung zu feiern, die ihm erst neuerdings aufgegangen ist, und zu der er sich reizend verhält. Otto hatte es ihm schon einmal in kurzen Worten erzählt, aber da hatte er vor lauter Verlegenheit, daß es sich um etwas Zartes handele, gar nicht zugehört.

Wir sind jetzt beide tüchtig an der Arbeit. Otto hat kurz hintereinander drei neue Bilder angefangen. Dann komme ich abends zu ihm ins Atelier und wir beschauen sie zusammen. Ich arbeite viel in Holzschuhen draußen und lasse mich tüchtig durchwehen. Man muß die paar goldenen Tage noch wahrnehmen.

Worpswede, Oktober 1900.

Meine liebe Tante Marie,

ja, ich sitze im Glück, tief und sanft und das Leben umweht mich süß. Es ist mir alles wie ein Traum. Eigentlich war mir mein ganzes Leben wie ein Traum, doch jetzt ist es eben noch mehr. Solche Abende, wie ich sie verbringe, blühen, glaube ich, den wenigsten in der Welt. Wie heute, als wir uns gegen Dunkelwerden an unserem Lieblingsplatz trafen. Da standen wir zusammen zwischen zitternden Föhren, in denen der Wind knackte; – – – er ist wie ein Mann und wie ein Kind, hat einen roten Spitzbart und zarte liebe Hände und ist siebzehn Zentimeter größer als ich. Er hat eine große tiefe Intensivität des Gefühls. Daraus besteht eigentlich der ganze Mensch. Kunst und Liebe, das sind seine beiden Stücklein, die er geigt. Er hat eine ernste, fast schwermütige Natur bei einer großen Freude an Sonnenschein und Frohsinn. Ich kann ihm viel sein. Das ist ein wundervolles Glück. In der Kunst verstehen wir uns sehr gut, der eine sagt meist, was der andere empfindet. Ich will auch meine Kunst nicht an den Nagel hängen. Wir wollen nun vereint weiterstreben. Bei seiner großen Einfachheit und Tiefe wird mir fromm zumut. Ich bin ein solch komplizierter Mensch, so ewig zitternd, da tut solch eine ruhige Hand so viel Gutes.

Ich trage das Glück in meinem Herzen.

Deine Paula Becker.

*

Briefe an Otto Modersohn

Worpswede, Herbst 1900.

An den Allerbesten.

Ich habe über uns beide nachgedacht und habe es beschlafen und nun kommt mir Klarheit. Wir sind nicht auf dem rechten Wege, Lieber. Sieh, wir müssen erst ganz tief in uns gegenseitig hineinschauen, ehe wir uns die letzten Dinge geben sollen oder das Verlangen nach ihnen erwecken. Es ist nicht gut, Lieber. Wir müssen uns erst die tausend anderen Blumen unseres Lebensgartens pflücken, ehe wir uns in einer schönen Stunde die wunderbare tiefrote Rose pflücken. Um das zu tun, müssen wir beide uns noch tiefer ineinander versenken. Laß das Bilderstürmerblut der Ahnfrau ein wenig noch schweigen und laß mich eine kurze Zeit noch Dein Madönnlein sein. Ich meine es gut mit Dir, glaubst Du es? Denke an die holde Dame Kunst, Lieber. Wir wollen diese Woche beide malen. Dann komme ich am Sonnabend früh zu Dir. Und dann sind wir gut und mild. »Das sanfte Säuseln«, wie Du sagtest. Gute, artige Kinder, »denn die muß es auch geben,« um Dich ein wenig verändert zu zitieren. Leb wohl, Lieber. Denke, was schön ist und fühle, was schön ist. Wir haben uns ja die Hände gereicht, um mit vereinten Kräften feiner zu werden, denn wir sind ja noch lange nicht auf unserem Höhepunkt, ich noch l – a – n – g – e nicht und Du auch nicht, Lieber, Gott sei Dank. Denn Wachsen ist ja das Allerschönste auf dieser Erde. Nicht? Wir beide haben es noch gut vor ... Sei still geküßt und laß Dir den geliebten Kopf leise streicheln. Ich bin Dein, Du bist mein, des sollst Du gewiß sein.

Auf Wiedersehn.

Dein Ich.

Lieber? schlaf auch immer recht schön und viel und iß kräftig. Nicht? Du!!

Mittwoch abend.

Ich habe heute fein gearbeitet, das heißt für meine Verhältnisse, und bin riesig froh. Ich habe gedacht, wenn ich schön durchhalte und nicht auf einmal plötzlich vor dem Berge stehen bleibe, dann bekommst Du einmal eine Frau, die sich schon sehen läßt. Ich wollte es so von ganzer Seele für uns beide Vor der Hand bin ich es, glaube ich, nur, die daran glaubt. Na, wenn Du auch daran glaubtest, so wäre es vielleicht zuviel des Glückes und ich schösse zu sehr in den Himmel. Das ist nämlich auch menschlich mein schwacher Punkt, daß ich leicht übermütig werde. Heute morgen war es grade auf der Kippe. Künstlerisch übermütig aber darf ich nicht werden, denn dann hat es nämlich ein Ende mit der Kunst. Darum ernst. Mache mich nicht immer gleich zum Lachen, wenn ich es einen Augenblick nicht tue. Denke, diese wenigen ernsten Augenblicke gereichen meiner Seele zum Heil. Vertiefung nach allen Seiten hin. Nur die Lachseite ist bei mir tief genug.

Ich habe dazwischen arg philosophiert über den andern Punkt und so viel Lebensweisheit angesammelt, daß ich für uns beide wünsche, daß ich sie bis Sonnabend verschlafe. Sie wirkt sonst zu überwältigend. Laß Dir's gut gehn, mein Lieber. Denke gar nicht an die alte dumme Welt, viel an Kunst und ein weniges an mich.

*

Tagebuchblätter

Ich habe Fräulein R.'s Atelier gemietet bei Schneider Rauke. Das Mädchen interessiert mich aufs äußerste. Allen den kleinen Sachen, die ich mit ihrem Nachlaß übernommen habe, wohnt so viel Persönlichkeit inne. Ein grün gebeiztes Vogelbauer, durch eine Feder verschlossen, eine Unmenge bunter, zerbrochener, verträumter Pottchen, eine Mappe mit ihren Kinderzeichnungen: »Das Feld, auf dem die Bank stand« und unzählige Variationen ihrer Geschwister mit Häkelzeug, mit Buch, mit nichts. Dann auf dem Boden, über einen Nagel gesteckt, ein paar charakteristische Kohlezeichnungen vom vorigen Jahre.

Ich fühle mich wohl unter diesen Trümmern, spinne und fange an zu arbeiten. Morgens male ich Halbakt, nachmittags Herma. Und wir haben Mondenschein. Und als gestern Brünjes zu Balle waren, sprangen wir im Akt aus dem Fenster und hielten einen Ringelreihenflüsterkranz. Heute las ich in der »Versunkenen Glocke«. Der Gerhart ist doch ein Mensch, was sie auch sagen mögen. Der hat noch nicht ausgesungen. Ich glaube es nicht.

Herma ist süß um mich zu haben. Sie ist wie Pappelblätter auf der Luft. Es träumt und schläft so Süßes in ihr. Und eine Lieblichkeit ist schon wach. Wenn sie Goethe- und Heinegedichte sagt, dann strömt ihr ganzes Wesen eine Licht- und Wärme-Atmosphäre aus.

Ich lese Ibsens »Kaiser und Galiläer«. Ich bin doch wieder ganz unter dem Einfluß dieses Großen, ich hatte ihn vom vorigen Jahre her nicht so groß im Gedächtnis behalten. Und etwas Nobles hat er und eine Gedankentiefe. Mutter beurteilt ihn falsch, viel zu sehr nach seiner Frisur.

Und ein Brief vom König Roter. Mit allumfassender Liebe und Lebensglut. Er macht mich fromm.

*

Etwas vom Häuserbauen. Ich meine eigentlich, oder selbstverständlich etwas für Otto Modersohn und mich und unsere Kinder. Die Treppen sollen recht durcheinander gehen, auf und ab, möglichst auf verschiedenen Höhen die Zimmer liegend, dadurch entstehen auch Alkoven und komische Ecken. Die Fenster sollen teilweise bis auf den Boden gehen im oberen Stock. Im unteren ein Gartenzimmer mit Flügeltüren nach draußen. Einige Fenster mit niedrigen Fensterbrettern, breit, um darauf zu sitzen. Einige Fenster breit und schwer, ungefähr quadratisch, eine Neigung dazu die betreffenden Türen. Dach, Mansardendach, mit Fensterreihen unterbrochen. Wenn es geht, eine Turmstube mit flachem Dach. Laternen wie auf der Wilhelmstraße in Berlin schön, wenn sie irgendwo stehen könnten. Merkwürdige, kleinblumige, bräunliche oder graue Tapeten.

*

Ich kam in das Land der Sehnsucht. Es war süß und lieblich anzuschauen. Die Sonne blickte hernieder von ihrem güldenen Stuhle am Firmament und ihr seidiges Goldhaar umrankte alles, was sie schaute. Es schlang sich kosig um die großen, knorrigen Kiefern. Und die alten Gesellen ließen es sich gerne gefallen. Sie fühlten sich jung und freudig unter dieser lieblichen Umarmung. Sie rührten sich nicht und standen still, als fürchteten sie, durch eine Bewegung diesen holden Zauber zu verscheuchen. Das Haar der Sonne ließ ihre Zweige und Äste gülden scheinen. Und sie freuten sich ihrer Schönheit. Und es schlang sich hin an die Ufer des Sees und spielte mit dem trockenen Ried. Es warf güldene Fäden hinaus auf den See, weit hinaus, ich konnte das Ende nicht erblicken. Es legte sich warm und weich um meine Brust, daß mein Herz langsam schlug und heilig, sich freudig bewußt, daß es lebte.

Ich blickte hin auf das Wasser. Meine Augen folgten den goldenen Fäden der Sonne. Ganz in der Ferne verschwanden sie. Sie tauchten unter in ein graues Blau. Es war nicht Wasser. Es war nicht Himmel. Es war ein Gewirr von grauen Schleiern, was sie aufnahm. Das durchgoldeten sie nicht. Es machte mich traurig, hinzublicken. Ich schaute wieder auf das Schilf und hörte sein leises Gekose.

Doch es zwang mich, wieder hinauszublicken in die Ferne. Ich sah wieder die grauen Schleier, sich leise bewegend. Und dahinter war es wie ein paar große, tiefe Augen, die schauten auf den Grund meiner Seele und verließen mich nicht mit ihren Blicken. Da ward meine Seele traurig. Und sie fragte die alten Kiefern: »Wem gehören diese tiefen Augen?« Und sie regten sich nicht, aus Furcht, den goldenen Zauber der Sonne zu verscheuchen. Und ich fragte das Ried. Aber es hörte meiner nicht und koste weiter.

Und ich blickte wieder hinaus in die Ferne, hin in die tiefen Augen. Meine Seele schrie und rief: »Wer bist du?«

Da hob sich leise der erste Schleier und ließ herfür drei weiße Schwäne. Die schwammen langsam über die güldene Fläche, langsam und traurig. Und als sie nahe kamen, wo ich stand, warfen sie mir jeder eine weiße Feder zu. Und als ich die erste nahm, da erkannte ich die tiefen Augen in der Ferne. Es waren die Augen der Sehnsucht, die mich anblickten, als wollten sie mich nicht lassen. Meine Augen mußten an ihnen hangen. Und ich vergaß die Welt um mich her. Ich vergaß alles, was ich lieb hatte, und blickte hinein in die tiefen Augen.

Und ich nahm die zweite Feder. Da fiel es wie Schuppen von meinen Augen. Und ich sah neben mir stehen eine Menge Volkes jeglichen Alters. Sie hatten traurige Gebärden und blickten hinaus gleich mir in die Augen der Sehnsucht.

Und ich nahm die dritte Feder. Da ward mein Ohr aufgetan und ich hörte reden um mich her und trauern. Ein jeglicher sprach traurig einen Wunsch, den Wunsch seines Herzens. Und die tiefen Augen der Sehnsucht waren auf ihm, daß er nicht vergessen konnte.

Da war eine Frau, die schrie nach dem Herzen des geliebten Mannes. Und die Augen der Sehnsucht waren auf ihr. Sie hatte gleich mir die Welt vergessen und alles, was sie lieb hatte, und dachte nur an das Herz des geliebten Mannes. Da war ein Jüngling. Der rief kühn hinaus in die Feme: »Ruhm und Ehre!« Die Augen der Sehnsucht waren auf ihm. Und er vergaß alles andere, und alles, was er lieb hatte. Trug nur diesen einen Gedanken.

Ich blickte hinaus in die Ferne und mir schauderte. Mein Lieblingswunsch war in meinem Herzen und ich kosete mit ihm. Ich dachte an nichts anderes und schrie nach dem Wunsch meines Herzens.

Da hörte ich eine Stimme leise tönen, sie wurde lauter und immer lauter. Und das Goldhaar der Sonne umwehete mich. Und ich konnte hinwegsehen von den tiefen Augen der Sehnsucht und ich blickte hin zur Sonne.

Die aber rief: »Geh heim in dein Haus und schaffe. Denke der Menschen, die um dich wohnen und habe sie lieb. Und du wirst genesen.«

Das Haar der Sonne umwehete mich süß. Und mein Herz schlug langsam und heilig. Es kam über mich eine große Kraft. Ich ging hin und schaffte. Den Lieblingswunsch meines Herzens schleuderte ich hinaus in den See. Da leuchtete er auf dem Grunde.

Mich aber umweht das Goldhaar der Sonne. Und Friede wohnt in meiner Seele.

*

Brief an die Mutter

Worpswede, den 3. November 1900.

Meine Mutter,

ja, ich muß einmal schreiben, und öfter schreiben. Mir ist es selbst so. Es gärte schon in mir. Und auch ohne Deinen lieben »Grauen« schriebe ich jetzt an Dich. Doch vielleicht hat er es auch gemacht. Denn Initiative ist jetzt mein schwacher Punkt. Sie war eigentlich nie meine stärkste Seite. Nun muß ich das wenige, was ich besitze, noch in Otto Modersohn und mich teilen. Denn er hat noch vie-ie-iel weniger als ich.

Ich wundere mich oft, wie einsichtig und sanft ich zu ihm bin. Das kommt ja wohl von der Liebe. Ich werde, glaube ich, eine ganz gute Frau. Es ist mir sogar schon begegnet, daß ich mich ängstigte, daß mir mein Dickkopf mit der Zeit völlig abhanden ginge, und bei seinem Vierteljahrhundert hat er doch eigentlich antiken Wert. Da darf ich ihn mir doch nicht völlig aus den Händen rollen lassen, habe ich philosophiert. Der Mann ist aber auch so rührend kindergut, und wenn er einen einmal verletzt, so geschieht es in solch göttlicher Ahnungslosigkeit, daß man davor in Demut niederknien muß. Das ist eben jene Naivität, die ich schon im zarten Kindesalter an M. sehr bewunderte. Wir Bewußten, wir haben es eigentlich noch einmal so schwer. Wir dürfen niemandem wehe tun, weil wir wissen.

Ich bin sehr am Malen, nehme all das bißchen Zeit wahr, was man jetzt hat, und er, er schüttelt weiter schöne Bilder aus dem Ärmel. Ich will meine Junggesellenzeit noch recht zum Lernen wahrnehmen; denn daß ich mich verheirate, soll kein Grund sein, daß ich nichts werde.

Dr. Carl Hauptmann hat ein Tagebuch herausgegeben, das bekomme ich jetzt zum erstenmal in die Hände. Seine dramatischen Sachen können mich wenig erwärmen, aber in diesem Buch liegt der ganze feine Mensch wahr und klar vor Dir. Mit seinem glühenden Verlangen, das Unterste, Tiefste im Menschen klingen zu machen, auf daß die seichten Obertöne schweigen. Er hat einen jugendzarten Idealismus, einen göttlichen Glauben an die Welt. Jedes Wesen schaut er mit Liebe an. Die Zeit hat an ihm nicht den Verknöcherungsprozeß vollziehen können, wie bei so vielen. Eine Mauer tiefster reinster Ethik schirmt und schützt ihn. Ich will Dir das Buch schicken, wenn ich es ausgelesen habe, auf daß Du ihn auch kennen lernst.

Otto hat Klinger bei Pauli gesehen. Es ist doch etwas Wundervolles um das Allbesiegende einer Persönlichkeit. Der ist einer von diesen Souveränen, und dabei gütig. Wenn ich an jenen Blick denke, den er mir vor drei Jahren beim Abschied gab; ich war so sehr unreif, so sehr unfertig und sehr unergiebig. Und sein Blick war, als ob er mir leise das Haar streichelte.


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