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Berlin

1897

Berlin, den 28. Oktober 1897.

Das Neueste vom Neuen ist die heutige Eröffnung unserer Schulausstellung. Jeanne Bauck hatte mir ihre Gefühle beschrieben, die in ihr beim Betreten einer Ausstellung aufsteigen, wenn etwas von ihren eigenen Werken die Wände schmückt.

Man schleicht unruhig durch die Säle, verstohlen rechts und links blickend mit dem schlechten Gewissen eines Verbrechers.

Endlich, der Schreck! Man hat seine Schmerzenskinder entdeckt und eilt schleunigst davon, um Nachstellungen zu entgehen.

Gerade so ging es mir. Die eine Wand konnte ich mit Ruhe besehen, dann fiel mein Blick auf Rieke Gefken und die roten Lilien und ich eilte davon ... In der Pause ging unsere ganze Klasse in den Ausstellungssaal. Jeder war freundlich und milde gegen den anderen gestimmt aus Furcht, selbst angegriffen zu werden. Ich feierte Wiedersehen mit meinem alten Freund Körte vom vorigen Jahr. Der sagte mir allerlei Angenehmes, machte mir überhaupt etwas den Hof, was mir angesichts mancher Neider sehr gut schmeckte. Er schalt aber über die Zeichnung in den Köpfen. Kaum war ich ihm entwichen, so packte mich Fräulein L. Die junge Malerin, in deren Atelier ich voriges Jahr arbeitete. Sie will mich malen. Ich hätte sie voriges Jahr zu einer Farbenstudie begeistert, Lila, ins Braune übergehend, (meine gute alte Sammetbluse) der Gipfelpunkt ins Haar. Ich lächelte geschmeichelt, fühlte mich in der Tat innerlich erhoben, nahm mir aber vor, nicht zu sitzen. Ich habe keine Zeit, und wenn ich sie hätte, würde ich sie anders anwenden.

Ganz aufgeblasen kam ich in unsere stille Malklasse zurück, trug aber leider soviel von der Eitelkeit der Welt in mir, daß ich in die rechte, echte Malstimmung nicht kam. Und wir hatten solch himmlisches Modell! Eine alte Frau mit gelbem Gesicht, mit weißem leinenen Kopftuch auf goldenem Grunde. Das Ganze wirkt so großartig schön, daß ich vor Herzklopfen am ersten Tag kaum arbeiten konnte.

Die Klassen Hausmann und Bauck bilden sich immer mehr zu Extremen aus. Ich bin sehr glücklich bei beiden zu arbeiten.

Er hat ein echtes Künstlergefühl, ganz feine Anschauung, man merkt das, wenn er spricht, bis in die Fingerspitzen. Er ist aber unpraktisch. Er kann seine Gefühle nicht in was Richtiges, Greifbares umsetzen. Er kann sich selbst nicht fassen, nicht sammeln.

So geht es vielen, die alles haben, bis auf – ein bißchen Energie.

Jeanne Bauck hingegen ist äußerst praktisch. Jedes ihrer Worte ist eigentlich praktisch und doch reizend fein. Sie ist ganz modern, was ja in gutem Sinne nur übersprudelnde Jugend bedeuten soll. Die hat sie sich bewahrt trotz ihrer fünfzig Jahr. Ich liebe sie sehr. Mit ihr zu sprechen ruft ein Gefühl des Wohlbehagens in mir hervor. Sie ist so reizend arglos, von jener Arglosigkeit, die einfach entwaffnend wirkt.

Mit jener Arglosigkeit erzählte sie uns, wie Dr. Lahmann ihr verschrieben habe, ohne irgendein Kleidungsstück zu malen, damit die Haut atmen könne. Sie bedauerte, es nicht in der Klasse einführen zu können. Alles in vollem Ernst. Mir war dies rührend. Ich freute mich an dieser Größe, die nicht überall Verrat wittert und fühlte mich selbst sehr schwarz.

Meine ganze Woche besteht eigentlich nur aus Arbeit und Gefühl. Ich arbeite mit einer Leidenschaft, die alles andere ausschließt. Ich komme mir oft vor wie ein Hohlzylinder, in welchem der Dampfkolben mit rasender Schnelligkeit auf und ab geht.

Zweimal waren wir im Theater, Lustspiele beide Male. Das Haus brüllte. Ich knöpfte mich innerlich einen Knopf höher zu und fühlte mich im Augenblick der Menschheit sehr fremd. Ich fand sie alle so scheußlich um mich herum, daß ich gar nicht nachdenken mochte.

Das sind die Stimmungen, bei denen C. nachdenkt. Das muß ja dann grundelend machen. Hier in Berlin spiele ich mehr denn je Vogel Strauß. Ich kann es sonst nicht ertragen.

Berlin, den 1. November 1897.

Meine Mutter!

Da bin ich bei Dir, selig, sehr selig, denn es war ein zu schöner Maltag. Nicht gerade, daß ich etwas Besonderes geleistet hätte, aber alles das, was ich vielleicht leisten könnte, das machte mich innerlich ganz verrückt. Der »Kolben« geht mit rasender Geschwindigkeit im »Zylinder« auf und ab. Wir hatten ein prachtvolles Modell: ein blondes fahles Mädchen mit wundervoll geformten eleganten Händen, auf hellgrauen Hintergrund, in grün-lichtblauem Kleide, sich auf sehr grünblauem Tisch stützend. Fein! Mir zittert es noch ganz in den Fingerspitzen, wenn ich daran denke. Zu fein!

Doch nun zu Dir, einzige Mutter. Ich bin mit meinen Gedanken so oft bei Dir. Ich lerne Dich mehr und mehr verstehen. Ich ahne Dich. Wenn meine Gedanken bei Dir sind, dann ist es, als ob mein kleiner unruhiger Mensch sich an etwas Festem, Unerschütterlichem festhält. Das Schönste aber ist, daß dieses Feste, Unerschütterliche so ein großes Herz hat. Laß Dir danken, liebe Mutter, daß Du Dich so uns erhalten hast. Laß Dich ganz ruhig und lange umarmen ...

Berlin, den 7. November 1897.

... Also Ihr seid unzufrieden mit mir? Ich bin mir aber keiner Schuld bewußt. Daß ich auch dröge Zeit durchleben muß, und Ihr dröge Briefe bekommen müßt, das liegt doch auf der Hand.

Muß ich doch auch in manchem lieben Vaterbrief vier Seiten Schelte über mich ergehen lassen, daß ich im Taumel dieser Welt lebe, der eigentlich nur darin besteht, daß ich zu und aus meinen Stunden taumele.

Na, wir wollen uns gegenseitig großmütig verzeihen.

Heute, am Buß- und Bettag war unser Trio einmal wieder beim jungen Bildhauer Wenck im Atelier. Er hat ein Körner-Denkmal vollendet und arbeitete an einer Sockelgruppe für ein Kaiserdenkmal. Ein wunderhübsches Modell für einen Brunnen machte mir viel Freude. Wenck war sehr lustig. Wir mußten alle Drei unsere Hüte abnehmen, ob unser Haar zum Modellieren passe. Für den Kopf einer deutschen Mutter waren wir ihm alle nicht einfach genug.

Und nun kommt mein Kummer: Es gibt wieder Streit in der Schule. Weiber! Weiber! Weiber!

Teils sind sie fein und groß. Und dann wieder solch kleines Pack.

Die Direktorin, Fräulein H., ist ja ein famoser Mensch. Sie gibt sich völlig ihrer Sache hin. Aber sie will unumschränkte Herrscherin sein. Jetzt muß es einen Krach mit meiner Lehrerin Jeanne Bauck gegeben haben. Diese bleibt nur noch bis Ende des Jahres an der Schule, dann errichtet sie ein Privatatelier. Gestern wurde es uns eröffnet. Ich habe mich in die Ecke hinter die Malschürzen gesteckt und geweint. Die Direktorin Fräulein H. ist sicher eine bedeutende Persönlichkeit, ein Mensch mit großen Tugenden. Aber Jeanne Bauck gegenüber hat sie großes Unrecht begangen. Mir kommt vor, als ob ich wie bei Wallenstein das Moment unbezwinglicher Herrschsucht sehe. Jeanne bekam einen zu großen Halt über ihre Klasse, auch über Fräulein H.s Kreaturen. Da errichtete die Direktorin eine Parallelklasse, in der sie selbst unterrichtet. Schon aus Politik gingen die meisten Schülerinnen zu ihr über. Für mich ist es nun kein Zweifel, daß Jeanne als Künstlerin unvergleichlich höher steht als jene. Sie sind nicht in einem Atemzug zu nennen. Die künstlerische Anschauung, die Jeanne in uns wecken will, steht höher und ist ungleich schwieriger. Hier liegt das Unrecht. Die Direktorin muß wissen, daß Jeannes Unterricht besser ist als der ihre. Sie konnte es nur nicht mit ansehen, daß jene solche Macht über ihre Schülerinnen bekam.

Dies spreche ich alles nicht in der Schule aus. Da ist man augenblicklich von Häschern und Lauschern umstellt. Niemand sagt etwas und jeder weiß, daß der andere ganz entschieden ein Für oder Wider fühlt. Es ist ein trauriges Kennenlernen der Welt. So geht es in diesem kleinen Gemeinwesen. Wie geht es aber in einem großen? Wie geht es im Staate? Schmählich, schmählich!

Jeanne Bauck hat sich fein benommen. Da alles von ihr abfiel, hatte ich das bestimmte Gefühl, ich müßte ihr die Hand drücken. Da war sie sehr lieb. Gar nicht weich, sie blieb ganz sachlich. Sprach, als ob ihr kein Haar gekrümmt wäre. Halb aus Stolz, halb, weil sie nicht klein sein konnte. Wir verstanden uns aber.

Auf der Post noch schnell einen Stehgruß. Zwischen dem Anfange dieses Briefes und heute liegen noch drei gemütliche Hausmann-Stunden und ein feiner Akt.

Euer Kind.

Berlin, den 4. Dezember 1897.

(Geschrieben in der Bahn.)

Da kehrt Euer Reisekind von seinem Freudenabstecher heim. Mir geht's wirklich zu gut. Kaum ist das schöne Heute vorbei, freue ich mich schon wieder auf das schöne Morgen. In diesem Falle Wien und Jeanne Bauck. Ich habe vor der Abreise meine Geschäfte geordnet, nun wandere ich morgen wieder seligen Mutes zur Schule.

Aber Wien, Wien! Das hat mich ganz gefangen mit seinen schönen Bauten und seinem historischen Gesicht. Jedes dieser Barock-Häuser hat etwas zu erzählen. Ich lebte zur Zeit des Wiener Kongresses, wo auf diesem Stückchen Erde viel geistig Schaffen vor sich ging. Ich fühle mich immer wunderbar ergriffen an solchen Plätzen, wie überhaupt die Geschichte, das Verkehren mit vergangenen großen Seelen, für mich etwas Magisches, Faszinierendes hat.

Das unbewußte Ergreifen einer Persönlichkeit, das mich beim Malen in schnellen zarten Gefühlsschwingungen vibrieren läßt, was mich beim Beschauen eines großen Bildwerkes mächtig hinreißt, das ist es, was mich stark zur Geschichte zieht.

Ich wünschte, es gäbe eine Weltgeschichte von Hermann Grimm geschrieben. Er würde immer die große Persönlichkeit, welche die Ereignisse gestaltet, und ihnen den eigentlichen Wert verleiht, in den Mittelpunkt stellen. Diese Auffassung entspricht meinem Ideal weit mehr als die Annahme, daß die Verhältnisse den Menschen bilden. Für den Durchschnittsmenschen mag das der Fall sein, für den Riesen nicht.

Aber ich komme ins Phantasieren und verbrauche das Tröpflein Tinte, das ich noch besitze, zu unnützen großen Gedanken. Also lieber mit Bleistift weiter im Text.

Ich habe in Wien herrliche Bilder gesehen. Unvergeßlich bleibt mir Morettos »Divina Justina« und die wundervollen Farben der noblen Tizian-Porträts und Rubens mit all seiner Pracht.

Die alten Deutschen nahmen mich ganz gefangen. Der Dürer hat bei aller Kraft und Männlichkeit so viel Rührendes, Zartes. Dann der Lukas Cranach mit seinen kleinen, halb kindlichen, halb koketten Evas und dem lieben Herrgott, der den Paradieseskindern ernst mit den Fingern droht. Ein ganz besonderes Lichtlein steckte der Holbein mir an. Es war eine lehrreiche Illustration zum Texte Bauck: die große Wirkung nobler Einfachheit.

In der Galerie Liechtenstein hat es mir ein Köpfchen Lionardos angetan und die glänzenden van Dycks. Ich habe geschwelgt. Da kriegt man eine gewaltige Ehrfurcht vor dem Menschen. Und das tut gut, denn die sinkt im Leben der Großstadt oft leider zu einem Minimum herab. Aber ich sträube mich dagegen, denn das macht andere nicht glücklich und mich unglücklich.

Nun zur Hauptsache, zu unserer Hochzeit. Es war eine Freude, L. anzusehen in ihrem weißen Feierkleide. Ihre braunen ruhigen Augen hatten einen sanften fraulichen Ausdruck und weicher Friede lag um ihren Mund. Sie ist ein sonderbar ruhiger Charakter. Ohne irgendwelche Erregung trat sie ihm im bräutlichen Schmuck entgegen. In der Kirche behielt sie das gleiche ruhig-freundliche Gesicht, dem man den Seelenfrieden ansah.

Auf den unruhigen Mann muß diese Ruhe wie himmlischer Balsam wirken.

Da ist Berlin!

Berlin, den 17. Dezember 1897.

Mein lieber Vater!

So bekommst Du erst spät die Antwort auf Deinen Brief. Ich hatte mich gleich nach dem Lesen desselben hingesetzt und Dir acht Seiten geschrieben. Tante P. wollte ihn einstecken, hat ihn aber leider verloren.

Nun lasse Dich erst mal in meine Arme schließen und Dir einen Kuß geben. Mir ist der Gedanke so namenlos traurig, daß Du Deine Sorgen schon so lange mit Dir herumgetragen hast, während ich in Wien war und nach allen Seiten hin genoß. Ich fühle wohl eine gedrückte Stimmung in Deinen Briefen, die ich aber auf den alten Rheumatismus schob. Weißt Du, mein Vater, für mich sorge Dich nicht. Ich will mich schon durch das Leben schlagen, mir ist auch nicht bange davor. Wozu ist man jung, wozu hat man all die vielen Kräfte? Ihr habt mir bis jetzt diese wundervolle Ausbildung gewährt, die mich zu einem ganz andern Menschen gemacht hat. Ich sehe jetzt, mit welchen Opfern, und das macht mich sehr traurig. Von diesem einen Jahre, da kann ich lange zehren. Das hat soviel Samen in Herz und Geist mir gestreut, der jetzt allmählich aufgeht. Darum wird es mir nicht so schwer sein, ein Jahr auszusetzen und Gouvernante zu sein. Währen dessen wird mir noch manches klar, ich lege mir ein Weniges beiseite, für das ich dann weiter studieren kann. Bitte, hört Euch recht um, ob Ihr irgendwo von einer einträglichen Stelle hört. Tausend Mark muß sie mir bringen, sonst tut mir meine schöne Zeit zu leid. In Deutschland werde ich wohl schwerlich etwas Derartiges bekommen, aber England, Österreich, Rußland, mir ist alles eins. Wenn es nur Geld in den Beutel bringt. Etwas Überseeisches ist ausgeschlossen, da ich mich für länger als ein Jahr nicht binden will.

Mein Vater, sei in Gedanken an mich auch kein wenig traurig. Vom Malen bringe ich manchmal in mein anderes Leben so ein halbes Träumen mir; solch ein beharrender seliger Zustand. Der soll mir durch dieses Dienstjahr helfen. Da werde ich gut hindurchkommen. In meiner freien Zeit werde ich zeichnen, daß meine Hände nicht steif werden und werde meinen Geist etwas mehr ausbilden. Wenn ich nur von Deinen Schultern die drückende Last nehmen könnte! Wir Jugend, wir haben ja immer den Kopf voller Pläne und Hoffnungen. Uns kann das Leben bis jetzt noch nicht viel antun. In dieser Hinsicht wenigstens nicht. Laßt uns nur Schulter an Schulter nebeneinander stehen und uns in Liebe die Hände reichen und festhalten. Wenn wir auch kein Geld haben, so haben wir doch manches andere, was sich einfach gar nicht bezahlen läßt. Wir Kinder haben zwei feine liebe Elternherzen, die uns ganz zu eigen sind. Das ist unser schönstes Vermögen. Für meine Person wünsche ich mir ganz und gar keinen Mammon. Ich würde nur oberflächlich werden. Nur, wenn Du ein wenig Erleichterung hättest.

Vater, eins versprich mir. Sitz' nicht an Deinem Schreibtisch und schaue vor Dich ins Graue oder auf das Bild Deines Vaters. Dann kommen die schwarzen Sorgen geflogen und decken mit ihren dunklen Flügeln die Lichtlöcher deiner Seele zu. Erlaube es ihnen nicht. Laß der armen Seele die paar Herbstsonnenstrahlen, sie braucht sie. Hole Dir in solchen trüben Augenblicken Mama oder Milly und freue Dich an ihrer Liebe. Für jeden von Euch einen liebevollen ernsten Kuß.

*

Tagebuchblatt

Wie mich dies Mädchen fesselt!

Sie schafft sich von innen heraus eine kräftige schöne Welt. Eine Welt wie die eines Jünglings, der in das Leben hineingeht mit großen Plänen. Und doch ist, bleibt sie Jungfrau.

Sie haßt das Kleine am Weibe. Sie liebt den Mann in seiner Größe. Sie liebt ihn mit stiller Großmut und demütigen Herzens.

Sie sieht sich klein und die anderen groß. Und doch ist sie größer als wir alle.

Sie ist noch Knospe. Sie harrt noch der Entwicklung. Sie ahnt es nicht, doch harrt sie mit klopfendem Herzen.

Sie spricht wie der gute Mann, ohne Falsch, ohne Hintergedanken. Ich liebe diese einfache Größe. Sie wirkt erfrischend, beruhigend wie das klassische Altertum. Und doch viel natürlicher, pulsierender. Denn es ist Wirklichkeit. Es ist Leben, modernes Leben.

Gibt es Schöneres als einen edlen Menschen?

*

Briefe an die Familie

Berlin, den 30. Januar 1898.

Mein lieber Vater!

Ich küsse Dir die Stirn und drücke Dir die Hand und blicke Dir in Deine lieben Augen. Fühlst du nicht, mit welcher Riesenliebe wir Kinder alle an Dir hängen? Weiter tun wir fürs erste zwar noch nichts. Aber ist das nicht ein ganz kleiner Entschäd für all die Sorge, die wir Dir machen?

Wenn wir nur erst alle über den Berg sind, mein Väterchen, wenn unsere Schiffchen erst ordentlich im Schwimmen sind, dann sollt Ihr es gut haben. Ein bißchen Erleichterung hat Dir ja die Erbschaft gebracht. Ich kann Dir nicht sagen, wie drollig ich mir als Erbin vorkomme. Aber man hat doch gleich mehr Anfechtungen zu bestehen. So ging ich gestern bei einem Trödler vorbei, der allerhand schöne alte Sachen zum Verkauf hatte. Sogleich stiegen unnütze Gelüste in mir auf, die mir in der Zeit, da ich noch arm war, nie gekommen wären. Ja, so geht's, Reichtum bringt Sorgen.

Als Geburtstagsüberraschung schicke ich Dir die Arbeiten, die ich in diesem Monat verbrochen habe. Du wirst sehen, wie ich mich bemühe, gewissenhaft und brav zu zeichnen.

Diesen Arbeiten liegt ein anderes Prinzip zugrunde, als den in der Schule bei Herrn A. entstandenen Zeichnungen. Jene sollten wirken. Diese machen auf gar nichts Anspruch. Ich soll nur an ihnen lernen und ich hoffe, ich werde es. Ich bemühe mich, mit Genauigkeit die Konturen zu verfolgen und gebe sie durch Linien an. Die Linien widerstreben eigentlich meiner Natur, da sie in Wirklichkeit nicht vorhanden sind. Wenn Du Deine Hand betrachtest, so wirst Du auch finden, daß sie nicht mit einer Linie begrenzt wird.

Aber ich sehe wohl ein, daß für mich zum Lernen die Linie notwendig ist, weil sie zu ganz genauer Beobachtung zwingt.

Lebe wohl, mein Vater! Sei innig, innig geküßt von

Deinem Kind.

Berlin, den 8. Februar 1898.

Liebsten, lieben Menschen,

ich habe schon manchen Freudenlaut hier oben in meinem Kämmerchen ausgestoßen, denn das Leben ist zu schön, um es still zu ertragen.

Also so fühlt man sich, wenn man zweiundzwanzig Jahre alt ist. Mir behagt es himmlisch, himmlisch.

Laßt Euch umarmen für alle Liebe, die Ihr über mich geschüttet habt, für all die schönen lieben Briefe, die ich eben nacheinander durchstudiert habe. Ihr müßt bedenken, ich habe bis heute Nachmittag um fünf danach gedarbt. Denn da ich mich morgens bei Nacht und Nebel davonstehle, bekomme ich nichts vom Postboten zu sehen.

Heute Morgen beim Aktzeichen ging alles seinen Gang wie an gewöhnlichen Tagen.

Aber in der Frühstückspause öffnet sich mit Gerassel die große Wellblechtür und herein treten im Gänsemarsch mit strahlenden Gesichtern Paula Ritter, Fröhlich und Meyerlein.

Die eine trägt einen Geburtstagskuchen mit zweiundzwanzig brennenden Lichtern, die zweite einen Blumenstrauß aus Kätzchen und Anemonen, die dritte das liebreizende Bild der Mona Lisa.

Schnell wurden die Staffeleien zusammengerückt und ein Festtisch hergerichtet. Mein großer Veilchenstrauß wurde gevierteilt und in die verschiedenen Gelocke gesteckt und in dieser Stimmung wurde die Geburtstagsschokolade genossen.

Nachher ging es mit doppelter Lust ans Pinseln. Das ist nach dem langen Zeichnen immer eine Himmelsfreude.

Mich umgibt hier viel Liebe. Hoffentlich schadet es mir nichts, denn das muß ich sagen, die Herzen dieser famosen Mädel habe ich ganz ohne mein Zutun gewonnen.

Und ich darf weiter arbeiten, weiter lernen. Wenn man nur nicht übermütig wird vor Glück. Ich versuche es in Demut zu tragen. Ich lese jetzt Briefe und Leben von Stauffer-Bern. Der hatte ein heiliges Streben in seiner Kunst ohne irgendwelche Flausen und Mätzchen. Er gab Stunden an unserer Schule. Welch' eine ungeheure Tragik und Verwicklung der Verhältnisse knickt' ihn in der besten Manneskraft!

Vielen Dank noch für dieses greifbare Liebesbündel von zu Hause. Ihr begrabt mich fast in Liebe. Es ist zuviel. Meine kleine Person und mein kleines Herz kann all das Glück nicht tragen.

Ich möchte jetzt oft mit Stauffer-Bern rufen: »Herr, was ist der Mensch, daß Du seiner gedenkest.«

Eure Paula sagt Euch »Gute Nacht«.

Berlin, den 19. Februar 1898.

Ihr Lieben!

Also der große Tag ist vorbei. Das Kostümfest der Künstlerinnen zählt zu meinen schönsten Erinnerungen. Es steckt mir noch in allen Gliedern und mein Herz hüpft, wenn ich an die verschiedenen netten Kurmacher denke.

Zweitausendachthundert Billetts waren verkauft. Von den geistreichen Aufführungen konnte bei solcher Menge leider nur ein kleiner Teil profitieren.

Ich selber kam als Rautendelein und trug im Haar Mutters Rosenkranz.

Karla A., die in ihrem grauen Spielmannskleid zum Verlieben hübsch war, machte meinen Kurmacher am ersten Teil des Abends. Sie spielte ihre Rolle reizend und schlug einen lieblichen mittelalterlichen Minnesängerton an.

Arm in Arm ging es durch die Menge, dann tanzten wir wieder in allerhand selbsterfundenen Figuren.

Traf mich aber ein allzu verliebter Blick von einem Teufel, Faun oder Gigerl, so bekam es der Freche mit meinem Ritter zu schaffen, der, sobald der Feind beseitigt war, mir etwas von Lenz und Liebe zur Mandoline sang.

Ein lustiger Pierrot, auf dem Kopf einer Sphinx sitzend, rief mich an: »Paula Becker aus Bremen!« Als ich ihn wieder einmal zu Gesicht bekam, mußte er mir Rede und Antwort stehen. Es war Anna St. aus Bremen, Gymnasiast bei Helene Lange, die übers Jahr ihr Abiturium machen wird, um dann Medizin zu studieren. Sie hat liebe lustige Augen und führte einen schönen Boston.

Mein Schwanz vergrößerte sich zusehends. Ein kleiner schwarzer Schornsteinfeger, die Seele von einem Menschen, half aus, wenn nichts Besseres da war. Ein fideler Jockey und Hans im Glück wechselten mit ihm.

Eine Ungarkapelle zog heran, an ihrer Spitze ein reizender Geiger mit temperamentvollen Mundwinkeln. Vier Paare tanzten nach ihrer Musik. Ein kleiner, brauner Ungar, der mir halb verzweifelt, halb verschämt berichtete, er sei aus Frankfurt an der Oder, zählte nun auch zu meinen Tänzern.

Dann kam ein tolles Schrätlein gesprungen und versuchte mich zu küssen, daß ich mich nur mit Mühe seinen Armen entwinden konnte.

Hermann, den Cherusker, liebte ich unglücklich. Es war ein feiner großer Gesell mit Riesenarmen und Riesenbeinen und einem Kopf voll roter Locken, die aus dem Helm mit den Adlerflügeln prachtvoll hervorquollen. Vom Knie abwärts steckten die Beine in Fellen.

Es war ein schöner Anblick.

Dieser Hermann hätte eigentlich Kentaur sein wollen, mit einem falschen Pferdeleib. Aber die Mutter hat's nicht gewollt. Sein Herz hatte also schon gewählt, und zwar ein feines, weißes Mägdlein, die zart zu seinem Übermaß von Kraft kontrastierte. Ich tröstete mich deshalb mit einem grünen Moosmännlein, das, auf dem Kopf den roten Fliegenpilz, gar lustig aussah. Es wurde mit Leidenschaft getanzt. Der Kehraus, den ich mit meinem kleinen Ungar tanzte, oder besser sauste, bildete einen würdigen Schluß. Als die Musik aufhörte, die keusch unter grüner Gaze versteckt saß, merkte man, gut berlinisch zu reden, seine Beinchen. Aber fein, fein wars!

Nun erkennt meine Treue an: diese ganze Epistel habe ich auf der Post am Stehpult geschrieben, nur damit Ihr rechtzeitig Euren Sonntagsgruß habt.

Eure Paula.

Berlin, März 1898.

Es ist Abend. Ich bin allein und habe mich einmal wieder gepinselt. Ich habe einen langen Tag hinter mir und erlaube mir, von Herzen müde zu sein. Darum verlangt nicht mehr zu viel von meiner Seele, die eigentlich noch ganz in Farben sitzt.

Auf heute hatte v. B. mich auf den Pepiniere-Ball eingeladen. Ich gehe aber nicht. Ich war diese Woche tief im Zeichnen und Malen, da ist man geizig mit seinen Kräften und gibt sie nicht gern für was anderes aus.

 

Mein Modell, ein hübsches schwarzlockiges Mädel, eine kleine Rabiata, kommt nicht, hat uns einfach sitzen lassen. Irgendein hübscher Maler hat sie uns gewiß abspenstig gemacht; – – die Welt!!

Habe ich Euch geschrieben, daß ich mich bei einer Konkurrenz beteiligt habe? Verlangt wurde eine Serie von sechs Karten in der Größe von 7 – 14 cm. Ich habe sechs Mädchenköpfe mit stilisiertem Blumenhintergrund geliefert. In der Zeitung las ich, daß siebenhundert Lieferungen eingelaufen sind. Sie werden alle im alten Reichstag ausgestellt. Der große Schritt in die Öffentlichkeit! Bei der Menge der Bewerber ist natürlich nicht auf einen Preis zu hoffen, aber man lernt bei der Ausstellung, wie man es hätte machen sollen.

 

Lieber Vater, was Du mir in betreff meines scharfen Urteils über die Menschen schreibst, las ich beiden Tanten vor. Ich freue mich, von ihnen zu hören, daß ich mich im letzten Jahre gebessert habe, ich selbst habe von der Besserung nicht viel gemerkt. Mir vergeht die Zeit wie im Traum. Ich zeichne tüchtig Kontur. Manchmal geht es mir dann durch die Seele, als ob ich die Form schon ein wenig fester packen könnte, das macht mich sehr froh.

Beim Zeichnen selbst überkommt mich solch ein friedliches Behagen. Ich versuche ganz still und beschaulich hinzuschreiben, was ich sehe. Heute hatten wir eine alte Frau mit feiner Schädel- und Halsform. Da war es mir ein stilles Vergnügen, den kaum merklichen Biegungen der Linie mit den Augen zu folgen. Das hätte ich früher noch nicht verstanden.

Ich soll Euch Sachen von mir schicken? Eigentlich möchte ich sie Euch lieber in den Ferien zeigen, es gibt so manches dabei zu erläutern. Und es sagt sich alles so viel besser als in Briefen. Es ist eigenartig: ich lebe so intensiv am Tage, daß ich abends, wenn ich schreibe, immer eine Reaktion verspüre, und eigentlich ist das Schönste meines Lebens viel zu fein und zu sensibel, als daß es sich aufschreiben ließe.

Das, was ich Euch schreibe, ist nur das Drum und Dran. Es ist das Gefäß, darinnen der Duft vieler köstlicher Augenblicke ruht.

Könnte ich von dem Frieden, der meine Seele erfüllt, ein wenig mitteilen! Mein Leben ist so schön! Das Schwerste daran ist, daß ich ohne Euch und unverdient genieße.

Im Gewerbemuseum ist jetzt eine höchst interessante lithographische Ausstellung mit prachtvollen Radierungen und Farbendrucken aller Länder.

Bei Gurlitt hat ein eigenartiger Franzose, Ripple Ronais, ein Jünger Botticellis, ausgestellt.

Bei Schulte hängen die »Elfer«; Leistikow mit schönen ernsten Stimmungen. Ich brauche nur zuzugreifen, so habe ich etwas Schönes. Draußen stürmt der Frühling. Gute Nacht, das ganze Haus ist schon schlafen gegangen.

 

Da ist's schon wieder Sonnabend und zwar in aller Frühe. Vor meinem Fenster höre ich die Vögel tirilieren. Aus jeder Ecke kommt solch ein entzückendes Getön. Wir haben mit Freuden schon zehn Vogelarten gezählt, die im Garten nisten. Ein sanfter Regen fällt hernieder und wäscht von dem jungen Grün den Staub der letzten Tage. Der erdige Geruch strömt in mein Fenster und macht mein Herz noch froher.

In den letzten Tagen habe ich Hände gezeichnet, ein paar elegante, knochige, nervöse Frauenhände mit schlankem Handgelenk.

Alles übrige begleitet nur wie ein kleines Nebengetön den Grundton meines Lebens. Doch hatten wir einen feinen musikalischen Abend bei Regierungsrat M. Es gab Lieder von Hans Hermann, die mir viel Freude machten.


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