Prosper Mérimée
Zwiefacher Irrtum
Prosper Mérimée

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XII.

Darcy hatte sich über die Natur seiner Wallung getäuscht: er mußte es sich wohl sagen, er war nicht verliebt. Er hatte eine Frauengunst hingenommen, die sich ihm an den Kopf zu werfen schien und es wohl wert war, daß man sie sich nicht entgehen ließ. Wie alle Männer übrigens war er viel beredsamer, um zu bitten, als um zu danken. Indessen war er höflich, und Höflichkeit ersetzt oft die achtungswertesten Gefühle. Als der erste Wonnerausch vergangen war, sagte er Julien also zärtliche Phrasen her, die er ohne allzugroße Mühe zusammensetzte und mit zahlreichen Handküssen begleitete, die ihm ebensoviele Worte ersparten. Ohne Bedauern sah er, daß der Wagen bereits an den Schranken war, und daß er sich in wenigen Minuten von seiner Eroberung trennen mußte. Frau von Chavernys Schweigen inmitten seiner Beteuerungen, die Niedergeschlagenheit, in der sie versunken schien, machten ihres neuen Liebhabers Lage schwierig, ja sogar, wenn ich es zu sagen wage, verdrießlich.

Unbeweglich saß sie in einer Wagenecke und preßte ihren Schal mechanisch gegen ihren Busen. Sie weinte nicht mehr; ihre Augen waren starr, und wenn Darcy ihre Hand nahm, um sie zu küssen, so fiel diese Hand, sobald sie freigegeben wurde, schier wie tot auf ihre Kniee zurück. Sie sprach nicht, hörte kaum zu; eine Menge zerfleischender Gedanken aber stellten sich auf einmal ihrem Geiste dar, und wenn sie einem davon Ausdruck geben wollte, kam ein anderer sofort, um ihr den Mund zu schließen. Wie soll man das Chaos dieser Gedanken oder vielmehr dieser Bilder wiedergeben, die einander mit ebensolcher Schnelligkeit wie die Schläge ihres gequälten Herzens folgten? Sie glaubte in ihren Ohren Worte ohne Zusammenhang und ohne Folge, die aber einen schrecklichen Sinn hatten, zu hören. Am Morgen hatte sie ihren Gatten angeklagt, er war gemein in ihren Augen; jetzt war sie hundertmal verächtlicher. Ihre Schande schien ihr bereits öffentlich zu sein... Des Herzogs von H... Geliebte würde sie nun ihrerseits zurückstoßen, ... Frau Lambert, alle ihre Freunde wollten sie nicht mehr sehen... Und Darcy? ... Liebte er sie? ...

Er kannte sie kaum... Er hatte sie vergessen. ... Hatte sie nicht sofort wiedererkannt... Vielleicht hatte er sie sehr verändert gefunden... Er war kalt gegen sie; dies hier war der Gnadenstoß. Ihre Begeisterung für einen Menschen, der sie kaum kannte, der ihr keine Liebe gezeigt hatte, ... sondern nur Höflichkeit... Unmöglich war's, daß er sie liebte... Sie selbst, liebte sie ihn? ... Nein, da sie sich verheiratet hatte, als er eben erst abgereist war.

Als der Wagen in Paris einfuhr, schlugen die Uhren eins. Um vier Uhr hatte sie Darcy zum ersten Male gesehen ... ja, gesehen ... sie konnte nicht sagen wiedergesehen... Sie hatte seine Gesichtszüge, seine Stimme vergessen; er war ein Fremder für sie... Neun Stunden nachher war sie seine Geliebte geworden! ... Neun Stunden hatten genügt für diese merkwürdige Verzauberung ... hatten genügt, damit sie in ihren eigenen Augen, in Darcys Augen selber entehrt wurde, denn was mußte er von einer so schwachen Frau denken? Mußte er sie nicht verachten?

Manchmal belebte sie wieder etwas Darcys süße Stimme und die zärtlichen Worte, die er an sie richtete. Dann bemühte sie sich zu glauben, daß er die Liebe, von der er sprach, wirklich fühle. Sie hatte sich nicht so leichtsinnig hingegeben... Ihre Liebe währte schon lange, ehe Darcy sie verlassen hatte... Darcy mußte wissen, daß sie sich nur des Unwillens wegen, den seine Abreise in ihr erregt, verheiratet hatte... Das Unrecht war auf Darcys Seite... Dennoch hatte er sie während seiner langen Abwesenheit stets geliebt... Und bei seiner Rückkehr war er glücklich gewesen, sie ebenso beständig wie sich wiederzusehn... Der Freimut ihres Geständnisses, selbst ihre Schwäche mußte Darcy gefallen, der Heuchelei verabscheute... Die Absurdität dieser Einreden wurde ihr bald klar... Die tröstenden Gedanken vergingen, und der Scham und der Verzweiflung blieb sie als Beute zurück.

Einen Augenblick wollte sie ausdrücken, was sie fühlte. Sie stellte sich vor, daß sie von der Gesellschaft geächtet, von ihrer Familie aufgegeben worden sei. Nachdem sie ihren Mann so schwer beleidigt, erlaubte ihr Stolz ihr nicht, ihn je wiederzusehen.... Ich bin von Darcy geliebt; ich kann nur ihn lieben... Ohne ihn kann ich nicht glücklich sein... ganz glücklich werde ich mit ihm. Gehen wir zusammen an einen Ort, wo ich niemals ein Gesicht sehen kann, das mich erröten macht. Er soll mich mit sich nach Konstantinopel nehmen!...

Darcy war himmelweit davon entfernt zu erraten, was in Julies Herzen vor sich ging. Eben hatte er bemerkt, daß sie in die von Frau von Chaverny bewohnte Straße einlenkten, und zog höchst kaltblütig seine Glacéhandschuhe wieder an.

»Uebrigens,« sagte er, »muß ich Herrn von Chaverny offiziell vorgestellt werden. Ich vermute, wir werden bald gute Freunde sein.... Von Frau Lambert eingeführt, werd' ich eine ehrenvolle Stellung in Ihrem Hause haben. Kann ich Sie, da Ihr Mann auf dem Lande ist, inzwischen sehn?« Das Wort erstarb auf Julies Lippen. Jedwede Äußerung Darcys war ein Dolchstoß. Wie von Flucht, von Entführung mit diesem so ruhigen, so kalten Manne reden, der nur daran dachte seine Liebschaft in der bequemsten Weise für den Sommer zu regeln? In Wut zerriß sie die Goldkette, die sie um ihren Hals trug, und drehte die Glieder zwischen ihren Fingern. Der Wagen hielt vor der Tür des Hauses, das sie bewohnte. Darcy war eifrig bestrebt, ihr den Schal über die Schultern zu legen, ihr den Hut schicklich aufzusetzen. Als der Schlag aufgemacht wurde, bot er ihr mit der ehrfurchtvollsten Miene die Hand, Julie aber sprang zu Boden, ohne sich auf ihn stützen zu wollen.

»Ich möchte Sie um die Erlaubnis bitten, gnädige Frau,« sagte er, sich tief verbeugend, »mich nach Ihrem Ergehen erkundigen zu dürfen!«

– »Leben Sie wohl!« sagte Julie mit erstickter Stimme. Darcy stieg wieder in sein Kupé und ließ sich nach Hause fahren, wobei er wie ein mit seinem Tagewerk sehr zufriedener Mensch vor sich hinpfiff.


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