Prosper Mérimée
Zwiefacher Irrtum
Prosper Mérimée

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII.

Julie ärgerte sich nicht wenig, als sie bei der Einfahrt in P... in Frau Lamberts Hofe einen Wagen sah, dessen Pferde ausgespannt wurden, was einen Besuch ankündigte, der sich hinziehen durfte. Unmöglich war es infolgedessen eine Diskussion über Beschwerden gegen Herrn von Chaverny zu eröffnen.

Als Julie den Salon betrat, war Frau Lambert mit einer Frau zusammen, der Julie in der Gesellschaft begegnet war, deren Namen sie aber kaum kannte. Sie mußte gegen sich selbst angehen, um den Ausdruck des Mißvergnügens zu verbergen, das sie der nutzlos unternommenen Fahrt nach P... wegen empfand.

»Ah, guten Tag, meine Liebste!« rief Frau Lambert, sie umarmend, »wie freut es mich zu sehen, daß Sie mich nicht vergessen haben! Nicht gelegener könnten Sie kommen, denn ich erwarte heute wer weiß wie viele Leute, die alle Sie rasend lieben!«

Mit etwas gezwungener Miene antwortete Julie, daß sie Frau Lambert allein zu finden geglaubt habe.

»Entzückt werden sie sein, Sie zu sehn,« fuhr Frau Lambert fort. »Mein Haus ist so trist seit meiner Tochter Heirat, daß ich zu glücklich bin, wenn meine Freunde sich hier gern ein Stelldichein geben wollen. Aber, liebes Kind, was haben Sie mit Ihren schönen Farben angefangen? Ganz blaß find' ich Sie heute!«

Julie erfand eine kleine Lüge: die Länge der Fahrt ... der Staub ... die Sonne ... »Gerade heute hab' ich einen Ihrer Anbeter zum Essen da, dem ich eine angenehme Überraschung bereiten werde, Herrn von Châteaufort und wahrscheinlich auch seinen treuen Achates, den Major Perrin.«

»Ich habe das Vergnügen gehabt, Major Perrin neulich bei mir zu sehn,« sagte Julie, etwas errötend, denn sie dachte an Châteaufort.

»Auch Herrn von Saint-Léger. Man muß durchaus einen Abend mit Sprichwortkomödien für nächsten Monat verabreden; und Sie sollen eine Rolle darin spielen, mein Engel: vor zwei Jahren waren Sie unsere Hauptspielerin in Sprichwortstücken.«

»Mein Gott, gnädige Frau, solange hab ich keine Sprichwortstücke gespielt, daß ich meine frühere Sicherheit nicht wieder finden werde.«

»Ach! Julie, raten Sie, wen wir noch erwarten! Doch, um sich seines Namens zu erinnern, dazu, meine Liebe, muß man Gedächtnis haben!« ...

Darcys Name fiel Julien sofort ein.

»Er plagt mich wahrlich,« dachte sie ... »Gedächtnis, gnädige Frau? ... Ich hab' ein sehr gutes.«

»Aber ich sage, ein Gedächtnis von sechs oder sieben Jahren ... Erinnern Sie sich eines Ihrer Anbeter, als Sie noch ein kleines Mädchen waren und herabfallende Haare trugen?«

»Wahrlich, ich errate nicht.«

»Wie schrecklich, meine Liebe ... Einen reizenden Menschen so zu vergessen, der, wenn ich mich nicht sehr irre, Ihnen damals dermaßen gefiel, daß Ihre Mutter sich beinahe darüber beunruhigte. Nun, meine Schöne, da Sie ihre Anbeter also vergessen, muß man Ihnen ihre Namen schon ins Gedächtnis zurückrufen: Herrn Darcy sollen Sie sehen.«

»Herrn Darcy?«

»Ja; erst vor einigen Tagen ist er aus Konstantinopel zurückgekommen. Er besuchte mich vorgestern, und ich hab' ihn eingeladen. Wissen Sie, Sie Undankbare, daß er mich mit einem recht bezeichnenden Eifer nach Neuigkeiten von Ihnen gefragt hat?«

»Herr Darcy?« ... sagte Julie zaudernd und mit geheuchelter Zerstreutheit, »Herr Darcy? ... Nicht wahr, ein großer, blonder, junger Mann ... der Gesandtschaftssekretär ist.«

»O, meine Liebe, Sie werden ihn nicht wiedererkennen: er hat sich sehr verändert, er ist bleich oder vielmehr olivenfarbig geworden mit tiefliegenden Augen. Durch die Hitze, wie er sagt, hat er viele Haare verloren. Wenn das so weiter geht, wird er in drei oder vier Jahren vorn kahl sein. Und doch ist er noch keine dreißig Jahre alt.«

Hier riet die Dame, welche diese Erzählung von Darcys Mißgeschick hörte, eifrig den Gebrauch von Kalydor, mit dem sie nach einer Krankheit, die sie fast alle Haare hatte verlieren lassen, sehr gute Erfolge erzielte. Beim Reden fuhr sie mit ihren Fingern durch zahlreiche Locken von einem schönen Kastanienbraun.

»Ist Herr Darcy die ganze Zeit in Konstantinopel geblieben?« fragte Frau von Chaverny.

»Nein, ganz und garnicht; denn er ist viel gereist. Ist in Rußland gewesen, dann ist er durch ganz Griechenland gekommen. Sie haben nichts von seinem Glück gehört? Sein Onkel ist gestorben und hat ihm ein hübsches Vermögen hinterlassen. Auch in Kleinasien ist er gewesen, in ... Wie sagte er? in Caramanien. Er ist entzückend, meine Liebe; er hat reizende Geschichten, die Sie begeistern werden. Gestern hat er mir so hübsche erzählt, daß ich immer zu ihm sagte: Aber heben Sie sie doch für morgen auf, Sie sollen sie den jungen Damen erzählen, statt sie an eine alte Mama wie mich zu verschwenden!«

»Hat er Ihnen seine Geschichte von der Türkenfrau erzählt, die er rettete?« fragte Frau Dumanoir, die Patronin des Kalydor.

»Das Türkenweib, das er gerettet? Er hat ein Türkenweib gerettet? Davon hat er mir kein Wort erzählt.«

»Wie! Aber das ist eine wunderbare Handlung, ein wirklicher Roman.«

»O! Erzählen Sie das, ich bitte Sie darum.«

»Nein, nein; fordern Sie's von ihm selber. Ich weiß die Geschichte nur von meiner Schwester, deren Mann, wie Sie wissen, Konsul in Smyrna war. Sie aber hatte sie von einem Engländer, der Zeuge des ganzen Abenteuers gewesen. Es ist seltsam.«

»Erzählen Sie die Geschichte, gnädige Frau. Glauben Sie denn, daß wir bis zum Essen warten können? Es gibt nichts Gräßlicheres, als von einer Geschichte erzählen hören, die man nicht kennt.«

»Schön, ich werde sie Ihnen schlecht wiedergeben; so also hat man sie mir erzählt: – Herr Darcy war in der Türkei, um, ich weiß nicht welche Ruinen am Meeresstrande zu erforschen, als er einen sehr düsteren Zug auf sich zukommen sah. Stumme waren es, die einen Sack trugen, und in diesem Sacke sah man etwas sich bewegen, wie wenn etwas Lebendiges darinnen wäre« ...

»O, mein Gott!« rief Frau Lambert, die den Gjaur gelesen hatte, »das war eine Frau, die man ins Meer werfen wollte!«

»Richtig,« fuhr Frau Dumanoir etwas geärgert fort, weil sie sich um den dramatischsten Zug ihrer Erzählung gebracht sah.

»Herr Darcy betrachtet den Sack, hört ein dumpfes Seufzen und errät sofort die gräßliche Wahrheit. Er fragt die Stummen, was sie tun wollen; statt jeder Antwort ziehn die ihren Dolch. Glücklicherweise war Herr Darcy gut bewaffnet. Nachdem er die Sklaven in die Flucht gejagt hatte, zieht er endlich aus dem Sacke ein Weib von hinreißender Schönheit hervor und bringt die Halbohnmächtige in die Stadt zurück, wo er sie in ein sicheres Haus führt.«

»Armes Weib!« sagte Julie, die sich für die Geschichte zu interessieren begann.

»Sie halten sie für gerettet? Ganz und garnicht! Der eifersüchtige Ehemann, denn es gab einen Ehemann, wiegelte die ganze Bevölkerung auf, die mit Fackeln nach Herrn Darcys Haus stürzte und ihn lebendig verbrennen wollte. Das Ende des Geschehnisses weiß ich nicht genau; alles, was ich weiß, ist, daß er einer Belagerung standgehalten und das Weib schließlich in Sicherheit gebracht hat. Es scheint sogar,« fügte Frau Dumanoir hinzu, indem sie ihren Ausdruck plötzlich änderte und einen sehr frömmelnden Nasalton annahm, »es scheint, Herr Darcy hat dafür gesorgt, daß man sie bekehrte und taufte!«

»Und Herr Darcy hat sie geheiratet?« fragte Julie lächelnd.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Die Türkenfrau aber ... hatte einen seltsamen Namen; sie hieß Emineh ... Sie liebte Herrn Darcy hitzig. Meine Schwester erzählte mir, daß sie ihn immer »Sotir« nannte ... Sotir ... das heißt auf Türkisch oder Griechisch: »mein Retter«. Eulalie hat mir gesagt, sie wäre eine der schönsten Personen, die man sehen könnte.«

»Wir werden seiner Türkin den Krieg erklären!« rief Frau Lambert, »nicht wahr, meine Damen? Man muß ihn ein bißchen quälen ... Übrigens überrascht mich dieser Zug an Darcy nicht ganz; er ist einer der edelmütigsten Männer, die ich kenne, und ich weiß Handlungen von ihm, die mir jedesmal, wenn ich sie erzähle, Tränen in die Augen treiben. – Sein toter Onkel hinterließ eine natürliche Tochter, die er nie anerkannt hatte. Da er kein Testament gemacht, hatte sie keinerlei Erbschaftsrechte. Darcy, der Alleinerbe war, wünschte, daß sie miterbte, und wahrscheinlich ist der auf sie gekommene Teil sehr viel höher, als sein Onkel ihn je festgesetzt haben würde.« »War die natürliche Tochter hübsch?« fragte Frau von Chaverny mit recht boßhafter Miene, denn sie fühlte jetzt das Bedürfnis, etwas Böses über diesen Darcy zu sagen, den sie nicht aus ihren Gedanken verjagen konnte.

»Ach, meine Liebe, wie können Sie annehmen? ... Doch überdies war Herr Darcy noch in Konstantinopel, als sein Onkel gestorben ist, und wahrscheinlich hat er das Geschöpf nie gesehen.«

Châteauforts, Major Perrins und einiger anderer Leute Ankunft machte dieser Unterhaltung ein Ende. Châteaufort setzte sich zu Frau von Chaverny und benutzte einen Augenblick, wo man sehr laut sprach, um zu ihr sagen:

»Sie sehen traurig aus, gnädige Frau, sehr unglücklich würd' ich sein, wenn das, was ich Ihnen gestern erzählte, die Ursache davon wäre.«

Frau von Chaverny hatte ihn nicht verstanden, oder vielmehr nicht verstehen wollen. Châteaufort war daher gekränkt, weil er seine Phrase wiederholen mußte, und war noch gekränkter über eine etwas trockene Antwort, nach welcher Julie sich sofort in die allgemeine Unterhaltung mischte. Den Platz wechselnd, entfernte sie sich von ihrem unglücklichen Bewunderer.

Ohne sich entmutigen zu lassen, wandte Châteaufort nutzlos viel Geist auf. Frau von Chaverny, der er allein gefallen wollte, hörte ihm zerstreut zu: sie dachte an Darcys baldiges Erscheinen und fragte sich ständig, warum sie sich so sehr mit einem Manne beschäftige, den sie vergessen haben mußte, und der auch sie wahrscheinlich längst vergessen hatte.

Endlich ließ sich Wagenlärm vernehmen; die Salontüre öffnete sich. – »Ach, er ist da!« rief Frau Lambert. Julie wagte nicht den Kopf zu wenden, wurde aber furchtbar bleich. Ein plötzliches und lebhaftes Kältegefühl überkam sie; alle ihre Kräfte mußte sie anspannen, um sich zu fassen und Châteaufort zu hindern, den Wechsel auf ihren Zügen zu bemerken.

Darcy küßte Frau Lambert die Hand und sprach stehend einige Zeit mit ihr. Dann setzte er sich neben sie. Tiefes Schweigen herrschte anfangs; Frau Lambert schien zu warten und das Wiedererkennen kunstreich herbeiführen zu wollen. Mit Ausnahme des guten Major Perrin beobachteten Châteaufort und die übrigen Männer Darcy mit etwas eifersüchtiger Neugierde. Da er aus Konstantinopel kam, war er ihnen in vielem voraus, und das war ein hinreichender Grund, um ihnen jene abgemessen steife Miene zu verleihen, wie man sie Fremden gegenüber gewöhnlich aufzieht. Darcy, der auf niemanden Acht gegeben hatte, brach das Schweigen zuerst. Er sprach vom Wetter, dem Wege. Belanglosigkeiten ... seine Stimme war sanft und musikalisch. Frau von Chaverny wagte ihn anzusehen, erblickte ihn im Profil. Er erschien ihr mager und sein Ausdruck hatte gewechselt ... Kurz, sie fand ihn gut aussehend.

»Mein lieber Darcy,« sagte Frau Lambert, »schauen Sie genau um sich und sehen Sie zu, ob Sie nicht eine Ihrer früheren Bekannten finden!«

Darcy wandte den Kopf und bemerkte Julie, die sich bislang unter ihrem Hute versteckt hatte. Jäh erhob er sich mit einem Überraschungsruf und trat, die Hand ausstreckend, auf sie zu; Plötzlich blieb er dann stehen, grüßte, wie wenn er seinen Vertraulichkeitsüberschwang bereue, sehr tief und drückte ihr in geziemenden Worten all seine Freude aus, sie wiederzusehn. Julie stotterte einige höfliche Worte und wurde sehr rot, weil Darcy immer vor ihr stehen blieb und sie starr ansah.

Bald bekam sie ihre Geistesgegenwart wieder und betrachtete ihn ihrerseits mit jenem zerstreuten und zugleich beobachtenden Blicke, über den Gesellschaftsmenschen nach Belieben verfügen. Er war ein großer, blasser junger Mann, auf dessen Zügen die Ruhe geschrieben stand, eine Ruhe jedoch, die weniger einem gewöhnlichen Seelenzustande zu entspringen schien, als der Herrschaft, die sie schließlich über den Ausdruck der Physiognomie erlangt hatte. Markierte Falten furchten seine Stirn bereits. Seine Augen lagen tief, die Mundwinkel waren heruntergezogen und an seinen Schläfen begannen sich die Haare schon zu lichten. Indessen war er kaum über dreißig Jahre alt. Darcy war sehr einfach, aber mit jener Eleganz gekleidet, welche die Gewohnheiten der guten Gesellschaft und die Gleichgültigkeit einer Sache gegenüber anzeigt, die so vieler junger Leute Gedanken beschäftigt. Voll Freude machte Julie all diese Beobachtungen. Sie bemerkte noch, daß er auf der Stirn eine ziemlich lange Narbe hatte, die er mit einer Haarlocke schlecht verdeckte, und die von einem Säbelhiebe herzurühren schien.

Julie saß an Frau Lamberts Seite. Zwischen ihr und Châteaufort gab's einen Stuhl; sowie aber Darcy sich erhoben, hatte Châteaufort seine Hand auf den Rücken des Stuhles gelegt, ihn auf ein Bein gestellt und hielt ihn im Gleichgewicht. Klar war es, daß er sie bewachen wollte, wie der Gärtnerhund die Haferkiste bewacht. Frau Lambert hatte Mitleid mit Darcy, der immer aufrecht vor Frau von Chaverny stehen blieb. Sie machte auf ihrer Seite auf dem Sofa Platz und bot ihn Darcy an, der sich auf diese Weise neben Julie befand. Er beeilte sich, diese günstige Position zu benutzen und spann eine fortlaufende Unterhaltung mit ihr an.

Gleichwohl hatte er seitens der Frau Lambert und einiger anderer Leute ein regelrechtes Verhör über seine Reisen zu bestehn; zog sich aber ziemlich wortkarg heraus und benutzte jede Gelegenheit, um seine Art Privatgespräch mit Frau von Chaverny wieder aufzunehmen.

»Nehmen Sie Frau von Chavernys Arm,« sagte Frau Lambert zu Darcy im Moment, wo die Schloßglocke das Diner anzeigte. Châteaufort biß sich auf die Lippen, brachte es aber fertig, sich bei Tische ziemlich nahe bei Julien unterzubringen, um sie genau zu beobachten.


 << zurück weiter >>