Johann Richard zur Megede
Der Ueberkater Band I
Johann Richard zur Megede

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Achtes Kapitel

Er ist weg! Und ich muß sagen: gut, daß er weg ist. Ich habe ihn nach Möglichkeit protegiert, ihn sogar bis zu gewissem Grade gern gehabt, – aber nun war es auch Zeit. Staatsmänner engagieren ihren Kopf, Weltdamen ihr Herz niemals für ewig. Denn schließlich beruht doch alles auf Gegenseitigkeit. Wir dienen den Menschen, solange sie uns dienen, das heißt für gewöhnlich nur kurze Zeit. Denn wenn man sich erst genau kennt . . . Sobald in der Liebe der letzte Schleier gehoben ist, beginnt die Ehe und mit ihr die Langweile. Prinzessinnen verheiraten sich darum nur, um ihre Adjutanten zu lieben. Das ist vernünftig: denn Adjutanten wechseln. Auf die Dauer aber vermögen sich nur Uebergeschöpfe gegenseitig zu fesseln. Und wenn Herr Rin zum Abschied sehnsüchtig nach mir rief, so verstehe ich das, und wenn ich nicht kam, so verstehe ich das erst recht. Geistig war der Abstand eben zu groß. Im übrigen glaube ich auch nicht, daß er beabsichtigte, mir einen lebenden Vogel zu verehren . . . Herr Rin, Graf Rhyn, – schließlich bleibt sich auch das gleich. Er war ein Tourist wie jeder andre, nur daß er länger blieb. Die Botschaften und die Hotels haben die Eigentümlichkeit, daß die Menschen kommen und gehen, und daß ein neues Gesicht das alte ablöst. Die Gäste verschwinden, das Hotel bleibt. Es wäre also nicht diplomatisch gewesen, mein Herz wirklich an jemand zu hängen, der doch nie wiederkommt, und außerdem ungerecht, denn die Dame, die morgen in das Zimmer zieht, kann viel interessanter sein als der Herr, der es heute verläßt. Ich rechne grundsätzlich nur mit Realitäten. Hunde bellen den Mond an, Katzen lauern dagegen vor keinem eingebildeten Mauseloch. Herr Rin hat recht: der feste Punkt. Wir haben ihn und sind eben darum die einzigen ruhenden Pole in der Erscheinungen Flucht.

Ich glaube, daß ich mein Tagebuch mit heute beschließe.

Es war der geistreiche Versuch, in dem ich ein paar Episoden aus meinem Leben herausgriff, das Bild einer realen Weltanschauung zu konstruieren. Der Versuch ist geglückt. Tatsachen entscheiden. Alles um mich geht, ich allein bleibe . . . Und wenn Hunde von uns wegwerfend sagen, daß wir die Menschen nur des Hauses wegen lieben, so entspricht das ihrer phantastischen Auffassung von Treue. Dem gegenüber steht der Erfahrungssatz, daß selbst die ältesten Häuser immer noch länger dauern, als die jüngsten Menschen. Höchstens in bezug auf Erdbeben stimmt das nicht. Aber Erdbeben sind selten, und warum sollte uns die philosophische Vorliebe fürs Haus gegebenenfalls daran hindern, mit den Menschen zugleich zu entfliehen? Also besser sind wir Katzen eigentlich immer dran, weil wir klüger sind. Ich erinnere mich zum Beispiel nicht, daß ich nach meinem Hotel geseufzt hätte, als es mir beliebte, der stutzschwanzigen Kokotte im Palazzo Bettoni den Kopf zu verdrehen. Man schickt sich zwar in die Verhältnisse, verzichtet aber darum noch lange nicht auf seine Kapricen. Wir verlieren eben nur auf Augenblicke den Kopf, um ihn für die Dauer wiederzugewinnen.

Jetzt, wo wir dem Sommer entgegengehen und bald nicht mehr in einem Passantenhotel, sondern einer Villa wohnen werden, halte ich es für notwendig, mit der kommenden Wandlung der Dinge im voraus zu rechnen. Meine Versuchskaninchen gehen allgemach. Neulich reisten Angerns, heute reiste Rin, morgen wird dem Maler seine Dulzinea unbemerkt aufs Schiff folgen. Ob Kommissionsrats oder Quedenbergs am längsten dauern werden, ist ungewiß. Wahrscheinlich Quedenbergs. Und die Frau, obgleich sie abscheulich Musik macht, war vielleicht doch in meinem Sinn die einzig wirklich Kluge. Wir haben uns weder im guten noch im bösen irgendwie engagiert. Man soll sich nie engagieren! Ich hätte mich mit der Frau vielleicht mehr beschäftigen sollen, denn was meine andre gräfliche Freundin anbetrifft, so ist sie allerdings viel klüger als Herr Rin, aber noch lange nicht klug genug.

Ja, es wird etwas langweilig werden – dafür gibt's auch keine Terriers. Die Sonne wird brennen – dafür gibt's kühle Keller. Und wenn mir besagte Isolde gewisse Kinder präsentieren sollte, so werde ich eben um eine kulinarische Erfahrung reicher sein. – Ueberhaupt die Dinge nehmen, wie sie sind.

Noch bin ich jung und knabbere gerne Taubenknochen, im Alter wird mir Sahne und Semmel aus Vernunftgründen das Leibgericht sein. Die Verhältnisse voraussehen, heißt sie beherrschen. Ich freue mich beinahe schon auf das Alter . . . Welcher Mensch ginge nach genossener Jugend wie ich so ruhig, so klar in die höheren und höchsten Semester? Ueber mein Ende hinaus denke ich nicht. Ob's ein Kater-Walhall gibt, ob der katholische Weihwedel oder das protestantische Bäffchen im Jenseits recht behält, kann ich wirklich nicht wissen. Am vernünftigsten erscheint mir eine Nirwana, wo man Ueberkater ehrt.

Murr, Hiddigeigei, duckt euch! Es ist ein Ueberkater, der hier das letzte Wort gesprochen hat.


Auch ein letztes Kapitel muß geschrieben sein.

Es war mir nur der Tag bestimmt worden für Sirmione, und ich fuhr deshalb mit dem Frühdampfer ab. Es war niemand am Schiff. Ein frischer Tag, hinter mir Gewölk, vor mir klarer Himmel. Innerlich ebenso. Die Bucht lag ruhig. Als wir hinausdampften, grüßte uns ein fröhlicher Morgenwind von Sirmione her. Der See wallte stahlblau, die Gischtköpfe zuckten, – es war ein kleiner Eildampfer, der möglichst ohne Unterbrechung nach Dezensano strebte. Auf dem schmutzigen Deck nur ein schweizerisches Ehepaar, das seine Liebesgefühle und seine Häßlichkeit hinter dem Schornstein versteckte. So glitten wir rasch an der Isola vorüber, – der köstliche Park jungfräulich duftend, das neue Borgheseschloß im Hintergrund viel zu massig und viel zu aufgeschminkt für diese Zauberinsel. Unsre hastige Kielwelle zischelte schaumig am Klippengestade entlang. Dann kam Manerba, die berühmten Totenmasken in zwei vorspringende Felsbuckel verwandelt. Der See weitet sich jetzt rasch, die Berge weichen zurück oder flachen ab, und das lombardische Hügelland tut sich hüben und drüben auf. Ich saß ganz vorn im Schiff und sah eigentlich nur auf Sirmione, das wie ein grauer Olivenberg dunstig und langsam aus dem Wasser stieg. Die Sonne begann zu lächeln, aber ohne Wärme. Erst als das Schiff in die hellgrüne, schilfbewachsene Durchfahrt zur Rechten abbog, zeichneten sich deutlicher die Felsnischen des trotzig vorgestemmten Kaps, und berstende Tonnengewölbe erzählten von römischer Herrlichkeit. Am andern Ende der schlanken Halbinsel der Ort selbst mit dem zinnengekrönten Skaligerkastell grau, gewalttätig, auch in der Ruine noch der Feudaltrotz des Mittelalters lebendig.

Ich wurde ausgebootet. Auf der Landungsbrücke der Oberkellner des Hotels, dem ich nichts zu sagen hatte. Ich ging durch das winkelige Nest, wo die Kinder noch nicht betteln, nach der sagenhaften Villa des Catull hinauf, die wahrscheinlich niemals existiert hat. Jedenfalls hatten sich die praktischen Römer mehr für die Schwefelquellen interessiert, die einige hundert Meter vom Land aus dem See selbst sprudeln, und darum die riesige Therme gebaut. Im Mittelalter scheint sie in Vergessenheit geraten zu sein. Aber vor fünf Jahren war ich selbst dabei, wie Taucher die Rohre nach dem Festland legten. Jetzt wallt fauliger Schwefelgeruch um das alte Kastell. Auf dem steinigen Wege nach der Höhe nur Oliven und dürrer Felsboden, die zerklafften, wunderlichen Stämme, in der Nähe besehen, recht nüchtern und kahl. Aber hüben und drüben schimmert der See durch. Ich stieg in den Trümmern herum. Die langen, verfallenen Gänge schieben sich tief hinein in die Erde. Wie wunderbar die alten Römer doch bauten! Die schmalen Ziegel und der Mörtel der Gewölbe fast unverwittert, hart wie Fels. Oben auf dem Kap selbst ist's köstlich! Die berstenden, wild verwachsenen Trümmer ringsum, die ihre sinkenden Hallen nach dem See zu öffnen. Man steht selbst auf solch einem stehengebliebenen Gewölbegurt, den Blick hinab in düstere Höhlen, wo der Efeu wuchert und sprengt; der gelbe Ginster festgekrallt im Gemäuer, die kleinen Eidechsen rascheln. Dazu brandet der blaue See unaufhörlich, es raunt, es plätschert, weiß und neckisch spielen kleine Wellen über die flachen, weit vorgeschobenen Klippen. Und weiter hinaus die mächtige Fläche selbst, die sich wie ein Keil ins Hochgebirge drängt. Ein säuselnder Frühling hier unten, glitzernder Schnee da oben. Ich sehe die große Landschaft in ihren schönen, scharfen Linien, wie ich sie auch sonst immer gesehen habe mit dem Gefühl, daß wir klein sind und die Natur groß, und daß wir ihr nacheifern sollen. Solch ein Bild macht frei, scheucht die engen Gedanken.

Ich erwartete Josefa noch nicht, aber ich erwartete sie hier, ich hatte das Gefühl, daß sich in Sirmione nur auf diesem Fleck mein Schicksal entscheiden könnte. Und ich habe an sie gedacht, wie man an das Liebste denkt, was man hat. Wenn's auch ein törichtes Gefühl war, so war's doch ein ganzes Gefühl, – und auch sie braucht sich dessen nie zu schämen!

Ich leide nicht an Ahnungen. Es war noch früh, und ich glaubte noch lange allein zu bleiben. Da stand sie plötzlich neben mir.

»Guten Tag, Herr Rin.«

»Guten Tag, Gräfin.«

Sie trug ein weißes, luftiges Kleid, auf dem Haar einen Strohhut. Eine rote Kamelie im Gürtel, sonst kein Schmuck. Sie wollte mir heute nicht wehe tun.

Sie war so jung und so schön wie stets, und ich kann mir nicht vorstellen, daß sie jemals alt werden könnte.

Wir sprachen über dies und das. Sie sprach hastig, ich muß wohl sehr einsilbig gewesen sein, denn plötzlich sagte sie: »Ich bin doch so nett zu Ihnen, – und Sie sind's gar nicht!« – Sie hätte das nicht sagen sollen, und empfand es wohl auch nachträglich. Dann gingen wir eine ganze Weile stumm nebeneinander her. Wir wollten ja die Aussicht von allen Seiten genießen, sahen aber in Wahrheit nichts.

»Ist Ihre Frau Mutter mit hier?« fragte ich.

»Nein. Aber sie weiß, daß ich hier bin und mit wem.«

Sie sah über den See weg nach der Gargnanoküste hinüber, die so weit, so weit war. »Es ist doch schön am Garda,« sagte sie langsam und wandte sich weg.

Ich hätte antworten mögen: »So schön wie du selbst.«

Und plötzlich, als wenn sie witterte, daß für mich wenigstens der Moment gekommen wäre, sah sie mir voll ins Gesicht. »Wir sehen uns heute zum letztenmal, Herr Rin!«

Es gibt Momente, wo auch der festeste Boden schwankt.

»Kommen Sie, Herr Rin, nach der Bank da, – ich möchte mich auch setzen. Und sagen Sie, bitte, nichts! . . . Ich habe nichts vergessen, nichts . . . Was ich Ihnen jetzt sagen werde, würde Ihnen wahrscheinlich kein andres Mädchen sagen. Ich brauchte es auch nicht, aber ich tu's . . . Meine Mutter weiß übrigens, was und wie ich mit Ihnen sprechen werde. Meine Mutter hat's selbst gewünscht. Sie ist eine ehrliche Natur, die leicht verkannt wird. – Aber das entschied nicht, es war vielmehr die Angst, daß Sie mich für oberflächlich halten könnten. Der Gedanke wäre mir schrecklich. Ihnen gegenüber bin ich's bewußt nie gewesen, das weiß Gott! . . . Wir waren die ganze Zeit in Venedig, aber ich habe Venedig nicht gesehen, – ich bin in meinem Hotelzimmer geblieben . . . Herr Rin, ich weiß, daß Sie mich gern gehabt haben, – und wenn Sie mit meiner Freundschaft vorlieb nehmen wollen . . . Aber mehr kann und darf ich nicht! Ich habe mir das in diesen Tagen klar gemacht. Was ich für Sie fühle, ist Freundschaft, – und niemand wird an Ihrem Wohlergehen herzlicheren Anteil nehmen als ich. Ich danke Ihnen geistig so viel, – und von allen war mir der Abschied leicht, von Ihnen nicht . . . Ich bin verlobt, glücklich verlobt, wie Sie wissen, und die Welt würde mich steinigen wegen dieses Rendezvous hier. Aber wenn ich meinen Bräutigam auch in den letzten Wochen vernachlässigt habe, so habe ich ihn dennoch lieb. Ich bin seine Braut und werde seine Frau sein – seine treue Frau.« Sie sprach klar, und ich dachte klar.

»Noch zwei Fragen, Komtesse! Lieben Sie ihn?«

»Ja.«

»Kennen Sie ihn?«

»Nein.«

Und da ging mir das Herz vor Bitterkeit über. Sie hatte den Handschuh abgezogen und spielte wieder mit ihrem Ring. »Nun, Gräfin, noch ist dieser Ring ein leichtes Band, das Sie abstreifen können, wann und wie Sie wollen. Aber hüten Sie sich vor dem Augenblick, wo er zur schweren Fessel wird, die Sie sprengen müssen, um frei zu sein . . . Ich bin abgetan, aber denken Sie an sich!«

Da fuhr sie zusammen. Sie wurde blaß, die Augen leer. »Das war wieder so was Häßliches! – Ich sollte aufstehen und gehen ohne ein weiteres Wort.«

»Gehen Sie ruhig, Gräfin.«

Aber sie sah nur mit zusammengezogenen Brauen vor sich hin. »Sie sagten auch neulich so was Häßliches. Denken Sie, ich hätte es vergessen? Es hat mich so schwer gequält, und es quält mich noch heut . . . Und daß Sie mir dies sagen durften, und daß ich's mir sagen ließ! . . .« Und unberechenbar, wie sie doch ist, fuhr sie fort: »Die Antwort will ich Ihnen jetzt geben. Ich wollte es eigentlich nicht, aber Sie sollen sehen, daß ich Ihnen nichts verschweige. Wenn mein Bräutigam morgen stürbe, was Gott verhüte, so wäre es ein großes Unglück auch für mich. Aber ich glaube, daß ich's ertragen würde . . . Ich glaube überhaupt, daß ich viel ertragen könnte, ohne daran gerade zu sterben. Und das ist eigentlich ein schreckliches Bewußtsein. Jedenfalls was ich habe, gebe ich ihm und werde es ihm immer geben . . . Vielleicht bin ich treulos – aber ich will's nicht sein. Und nun gehen Sie! Leben Sie wohl und vergessen Sie mich. Ich kann Ihnen nichts andres wünschen. Ich jedoch werde Sie nicht vergessen.« Sie hielt mir dabei die Hand hin. Sie dachte wohl, daß ich diese Hand andächtig küssen würde. Aber ich küßte die Hand nicht. Ein Traum ist aus. Das harte Leben beginnt wieder. Ich möcht's nicht mit einer letzten Sentimentalität beginnen.

Ich ging den schmalen Grasweg am Rande der Uferfelsen zurück. Der See blaute herauf, aber er sagte mir nichts. Eine ganze Touristenkarawane kam mir entgegen. Deutsche und sehr elegant angezogen. Da hörte ich hinter mir einen flüchtigen Fuß. Die Touristen sahen mich von der Seite an. Es war Josefa, die atemlos mir nachgelaufen kam.

»Herr Rin – ich konnte nicht anders, ich konnte wirklich nicht anders! Aber . . . nein – denken Sie lieber an mich da drüben! Ich werde ja auch an Sie denken. Und ich denke, es wird uns beiden gut tun, wenn wir uns immer wieder erinnern. Es war doch schön! . . . Ich habe noch einen Wunsch. Es ist nicht etwa Eitelkeit. Aber ich möchte nun einmal, daß Sie sich meiner nur im Guten erinnern. Und wenn Sie einmal auf einem Berg eine Pflanze finden, die noch keinen Namen hat, und Sie sind um einen verlegen, – dann nennen Sie diese Pflanze nach mir.«

Ich zögerte mit der Antwort. »Bin ich wieder kindisch?«

»Nein, Gräfin. Es ist etwas andres. Ich muß von Ihnen los, ganz los. – Es geht nicht anders.«

»Adieu.«

»Adieu.«

Ich drehte mich nicht mehr um. Ich wußte, daß sie noch auf der gleichen Stelle stand, daß sie, warmherzig wie sie ist, noch einen letzten Abschiedsgruß erwartete. Ich konnte es nicht, ich durfte es nicht. Ich wäre dann doch zurückgekehrt, ihr noch einmal wenigstens zu sagen, wie lieb ich sie gehabt und wie schwer mir die Trennung für ewig. Aber ich empfand nur mit dem dumpfen Instinkt der Selbsterhaltung, daß ich alles tun müsse, um diese Frau niemals wiederzusehen.

Ich nahm mir in Sirmione sofort ein Boot, um nach Manerba hinüberzufahren. Manerba kam mir gerade in den Sinn. Ich habe da nichts zu suchen. Aber ich mußte fort, gleich fort. Ich befahl auch den Ruderern, sich scharf in die Riemen zu legen, obgleich das erst recht keinen Sinn hatte, es war ja noch so viel Zeit bis zum Abend und bis zur Rückkehr.

Als wir um das Kap herumkamen, da winkte von oben ein weißes Tuch. Es winkte wieder und immer wieder. Sie war also zur Stelle zurückgegangen, wo sie frei geworden war – und ich auch. Ich tat, als wenn ich sie nicht sähe, und starrte auf den Boden des Kahns. Torheit! Diese letzte Sentimentalität hätte ich ruhig begehen können. Wenn ich auch zurückwinkte, jetzt war keine Gefahr mehr, der See lag zwischen uns, und der ist tief. Die Sonne hatte zu stechen angefangen, und ich erstickte fast in der Glut. Als ich bei Manerba zwischen den beiden kahlen Felsen hinaufstieg, mit dem Gefühl, daß eigentlich alles Illusion ist im Leben, wie diese beiden berühmten Totenmasken – man muß die Dinge nur näher besehen –, bedeckte sich der Himmel wieder mit kleinen Wölkchen. Und als ob ich's gar nicht mehr erwarten könnte, gab ich in dem nächsten Dorf mein Telegramm nach Berlin auf, daß ich annähme und in wenigen Tagen zur näheren Besprechung eintreffen würde. Dann irrte ich ziellos in der Gegend herum. Ich weiß nicht, wie sie aussieht, – das ist ja auch gleichgültig.

Erst am Spätnachmittage dachte ich an den Heimweg. Es war schwül, und der Himmel hing voll Wolken. Ich ging die Landstraße, wie sich's für vernünftige Leute schickt. Sie führt landeinwärts zuweilen mit Durchblicken auf den See. Ich konnte das Grand Hotel Gardone einmal deutlich sehen. Es schien nahe, aber das Wasser täuscht, wie alles. Es war noch recht weit. – Ein sanfter Regen begann zu rieseln. Er tat mir wohl. Ich behielt immer ruhigen Touristenschritt bei, obgleich es schnell dämmrig wurde. Ich mußte ja bald die Bucht und die Lichter von Salò auftauchen sehen. Aber die Straße steigt und fällt und windet sich wie der See an dieser Uferseite. Es regnet stärker. Endlich in der Tiefe die Lichter von Salò. Aber ich konnte auch sehen, einen wie großen Umweg ich noch zu machen hatte bis nach Haus. Ich ging schneller, weil sich die Schleusen des Himmels recht tropisch reich öffneten. Unterwegs fragte ich ein altes Weib, ob es einen Richtweg gäbe. Ich weiß nicht, ob sie mich verstand. Jedenfalls zeigte sie hinunter auf den See, wo Land und Wasser in trägen Dunst verschwammen. Es war ganz finster geworden. Der neue Weg führte durch Olivengärten und Weinberge. Plötzlich stand ich vor einer steilen Schlucht, in der es rauschte. Ich hatte aber keine Lust, mir den Hals zu brechen. Gerade heute nicht! Das könnte so aussehen, als hätte ich dieses Ende gesucht. – Ich stieg darum direkt zum See hinunter, irgendeinen Fischer zu finden, der mich hinüberruderte. Ich ging auf gut Glück und hatte gut Glück. Aus einem einsamen Steinhause glimmte Licht. In einer wüsten Zimmerhöhle saßen drei fragwürdige Gestalten, einen Haufen gebackener Fische vor sich, der schmutzstarrende Tisch zugleich der Teller. Sie kauten bedächtig wie Lasttiere nach schwerer Arbeit. Ich wußte nicht, ob es Fischer oder Pascher waren. Jedenfalls hatte ich keine Wahl. Als ich dampfend hineintrat, musterten sie mißtrauisch meinen vollgesogenen Bresciaanzug und interessierten sich für meine kostbare Perlennadel mehr, als mir lieb war. Es war ein alter Fischer mit seinen beiden Söhnen. Sie sprachen erregt hin und her, aber halblaut und in einem Patois, das ich nicht verstand. Es hätte mir graulich werden können bei dem Gedanken an eine solche Bootfahrt und in solcher Nacht. Endlich erklärten sie sich bereit, mich für sechs Lire zu fahren. Ich hätte ihnen ohne Besinnen hundert gegeben, so gleichgültig ist einem zuweilen das Geld . . . Sie bemannten mürrisch das große, schwerfällige Fischerboot, das wie ein Wrack halb auf den Strand gezogen im Wasser lag. Dann fuhren wir. Die beiden Söhne an den Rudern, der Alte am Steuer, vorn eine winzige Laterne. Der See war schwarz, und mich umwallte widerlich Nebel und Wasserhauch. Der Regen strömte noch immer gleichmäßig aus seinen Schleusen. Ich saß mittschiffs, die schweren Ruder tauchten in die Flut. Ich hatte nicht die Befürchtung, daß mir irgend etwas passieren könnte. Aber wie die plumpen Rudergriffe mir rechts und links dicht am Kopf vorbeiglitten, dachte ich wohl mit einem gewissen Behagen, daß ein einziger zufälliger Schlag mich betäuben könnte – und dann mit dem ausgeraubten Körper hinab in den See, der in solcher Nacht tief und verschwiegen ist wie das Grab! Hinten der alte zusammengekauerte Mann, vorn die trübselige Laterne und unter den langen Ruderschlägen die dumpfgurgelnde Flut – eine Lustfahrt wahrhaftig nicht! Es war eine Stimmung, wo die sagenhaften Wasserungetüme vom Grund zur Oberfläche hinaufkriechen, um mit glitschigen Armen herabzuziehen, was sich in ihren Bann wagt. Aber sie kamen nicht. Und wie mir an diesem Tage alles scheinbar glückt und doch nicht glückt, so booteten mich die Unglücksmenschen aus Unverstand nach Hotel Gardone, wahrscheinlich weil sie annahmen, daß ein gut angezogener Fremder nur dort wohnen könnte. Dort blieb ich auch die Nacht. Ich war müde und hungrig. Ich aß auf meinem Zimmer und aß mit Appetit. Dann zündete ich mir meine Zigarette an und fühlte mich ganz wohl. Das Leben verlangt auch sein Recht. Ich saß lange. Ich wollte allein sein. Nach der »Insel« sehnte ich mich nicht. Ich brauche keine Menschen, am wenigsten gleichgültige Menschen. Dann fielen mir die Augen zu. Ich schlief in meinem Lehnstuhl ein und schlief wie ein Toter.

Ob sie wohl auch so geschlafen haben mag? – Sie braucht ja nichts zu verschlafen.


Und am andern Morgen . . . Wie der See blaute! Wie die Sonne lachte! Es war über Nacht voller Sommer geworden, noch ehe es rechter Frühling gewesen war. Aus allen Gärten duftete es, und der Monte Baldo hatte nur noch eine ganz kleine Nachtmütze. Angesichts dieser leuchtenden Natur, die mir zum schlimmen Abschied gab, was sie mir zum guten Willkommen hätte geben sollen, krampfte sich in mir noch einmal alles zusammen. Ich fühlte zähneknirschend den Verrat des Schicksals. Ja, Verrat und nochmals Verrat!

Aber auf sie keinen Stein, niemals! Sie hat getan, was sie ihrer Natur nach tun konnte, – groß und klein zu gleichen Teilen, wie sie nun einmal ist. Und wie es kam, war's gut. Die Welt des Scheins und die Welt des Seins verbinden sich doch niemals dauernd. – Ich habe sie geliebt – wie geliebt! . . . Es sollte nicht sein, es konnte nicht sein. Ich aber beuge mich damit nicht heuchlerisch unter mein Schicksal. Im Gegenteil, ich will heraus aus seinen Fingern. Und indem ich mich mit einem Ruck losreiße von allem, was mir hier einmal lieb, ja heilig war, tue ich nur, was ich hier nicht tun konnte: ich mache mir wieder mein eignes Schicksal.

Und an dem gleichen Morgen bin ich auf den Pizzocolo gestiegen, ohne Führer und Bergschuhe, in meinem Brescianer Torenanzug. Es war eisig kalt, und der Sturm riß mich fast vom Gipfel. Aber da oben habe ich einmal wieder die Weite gespürt, und die alte Sehnsucht kam mir zurück, die Sehnsucht nach den uferlosen Weiten. Leb wohl, Garda! Wir werden uns nicht mehr wiedersehen.

Zum Diner war ich schon wieder in meinem Hotel. Daß ich am nächsten Tage abreisen würde, verwunderte scheinbar niemand. Jedoch man irrt sich. Als wir von der Table d'hote aufstanden, bat mich die Gräfin Quedenberg auf einen Augenblick ins Klavierzimmer. Die Frau weiß alles, selbst daß ich Graf Rhyn heiße. Sie weiß es lange, aber sie hat geschwiegen bis zum letzten Moment und gegen jedermann. Sie ist eine kluge Frau, die man nie durchschaut, die mich aber ganz durchschaute. Und wie kluge Frauen doch ihre Backfischwünsche haben, bat sie mich ernstlich, ich solle ihr einmal schreiben aus der Wüste – einen wirklichen Brief. Aus der Wüste schreiben? Wie ich das wohl anstellen werde . . .?

Aber ich versprach's. Erst hinterher wurde mir die Tragikomik des Schicksals, die auch hierin liegt, klar. Den Herzenswunsch eines heißgeliebten Mädchens wies ich zurück, den Eitelkeitswunsch einer ungeliebten Frau erfülle ich.

Das war eigentlich mein Abschied vom See.

Nein, er war es doch nicht. Als wir in die Bucht von Riva dampften und ich noch einmal zurückschaute in die schimmernde, flimmernde südliche Bläue, die ich von hier zum letztenmal in meinem Leben schaue, da sagte ich nur leise zu mir: »Ich will dich nie, nie wiedersehen, Josefa!«

Es war hier doch zu schlaff für unsereinen. Es ist Zeit, daß ich mal wieder Wüstenluft atme.


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