Johann Richard zur Megede
Der Ueberkater Band I
Johann Richard zur Megede

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Drittes Kapitel

Mein lieber Graf – es ist Frühling am Garda – hüten Sie sich! . . . Die Luft so weich, der Duft so würzig. Man blinzelt, man träumt, man spürt ein süßes Sehnen in allen Gliedern . . . und plötzlich – man weiß wirklich nicht wie – ist man in den Banden irgendeines zärtlich flötenden Kätzchens, das weder besonders geistvoll, noch besonders schön, noch besonders liebenswürdig ist; aber sie lief uns gerade im gefährlichsten Moment über den Weg, das kapriziöse Wiegen ihrer Schwanzspitze bezauberte uns, sie war jung, sie schien tugendhaft – wir mußten sie haben um jeden Preis! Ich kenne diese Deliriumsintervalle, die unsre ganze Natur verkehren. Wir erhitzen unsre Phantasie unmäßig, wir sehen Wahngebilde, wir würden wahrscheinlich auch des Teufels Großmutter zu ehelichen wünschen, nur weil sie ein Weib ist. Ich habe fünfzigmal die zwei deutschen Meilen bis Gargnano durchrast, liebeglühend, toll, blind gegen die Gefahr, taub gegen die Vernunft; ich habe mit allen Katern dieses verruchten Ortes wettgesungen, ich habe mit diesen Banditen wie ein Bandit gekämpft auf Hieb und Biß, ich bin von dem hohen Dache des Palastes mitten unter eine Schar spielender Kinder gefallen, tödlich verkrallt mit einem grauen Bäckergesellen, der mein Leben ebenso wutschnaubend verlangte, wie ich das seine. Ich machte euren Menschentag zu unsrer Katzennacht, ich aß nicht, ich trank nicht, ich war offenbar unheilbar wahnsinnig. Und das alles wegen eines fuchsfarbigen jungen Wesens, mit dem allerdings schicksten Stutzschweife von der Welt, die sich für eine Marchesa ausgab, und demnach diesen Palazzo selbst, eine unschätzbare Bildergalerie, einen köstlichen Park und sogar ein Stadthaus in Brescia besaß, die aber in Wahrheit nichts war als eine hergelaufene Bodenkatze, die heimlich am Strand faule Fische suchte und sich im Sommer regelmäßig an grünen Gartenfröschen übernahm. Und was das schlimmste – nachdem ich diese Hochstaplerin ein volles Jahr verachtet, bin ich reuevoll zu ihr zurückgekehrt, habe ihr alles vergeben, alles geglaubt; ich war weder ihr erster Galan noch werde ich ihr letzter sein – aber es war nun einmal wieder Frühling, und sie war ein Weib . . . Ich habe auch in Salò eine Witwe angebetet – und nur weil sie, auf einem Dachvorsprung sitzend, die kirschroteste Zunge von der Welt kokett spielen ließ und ich dies ansehen mußte. Sie wohnte in einem geradezu verrufenen Haus am Wasser, wo auch der furchtloseste Kämpe erst die Krallen besonders schärft, um nicht in dem Maule von plumpen Fleischerhunden oder in den Schurkenhänden von Menschen zu enden, die meine kostbare Robe zum Beispiel ohne weiteres als gemeine Engadiner Katzenfelldecke an frostige Gäste im Hotel Gardone verkaufen würden. Ich mußte von einem glitschigen Stein zum andern springen, um nicht in diesen ekelhaften See zu geraten, ich wurde mit Flüchen und Steinen beworfen, sobald mein Minnegesang auch nur anhob, aus einer verräucherten Bodenluke ergoß sich eine Sintflut von Scheußlichem über mich. Und nachdem ich das alles siegreich bestanden, bereit, liebeglühend in die Arme meiner hellgrauen Geliebten zu eilen, überfielen mich drei bäuerische Weinbergskater, die mich durch die Uebermacht abwalkten, niederwürgten und diesmal wirklich ins Wasser rollten, so daß ich nur wie durch ein Wunder dem feuchtesten Tode entging, während oben gleichzeitig der handfesteste dieser Pisangs mit meiner willigen Schönen abzog. Sie war natürlich eine Dirne – aber ich bin keineswegs sicher, ob ich nicht reuevoll auch zu ihr zurückkehre . . . Aber unser Wahnsinn hört doch wenigstens immer auf – es ist intermittierender Wahnsinn –, eine Woche später fühlen wir uns ernüchtert, deplaciert, wir gedenken voll Sehnsucht unsren kühlen Diplomatengewohnheiten, unsrer tadellosen Hotels, wir haben uns wieder, der Tod auch der treuesten Geliebten würde uns jetzt nicht mal mehr eine Krokodilsträne entlocken, und aus den Söhnen unsrer Leidenschaft erstehen regelmäßig die unbotmäßigen Nebenbuhler unsers Alters. So bin auch ich – der Olympier, der weitschauende Diplomat, der Ueberkater! Aber glücklicherweise bedeutet in meinem Leben die Liebe nur eine Fieberwallung.

Wir dagegen, mein lieber Graf zu Rhyn, sind, wie ich aus Ihren Aufzeichnungen ersehe, leider kein – Uebermensch. Wir mögen ein tüchtiger Forschungsreisender sein und Pflanzengeograph – die angenehmen Baldriandüfte, die neulich an Ihrem Herbarium aufstiegen, fanden meine wissenschaftliche Anerkennung –, aber wir sind viel zu jung-phantastisch in bezug auf die Natur und viel zu ernst-wählerisch in bezug auf die Menschen. Diese »Neuen« haben mich doch beleidigt, nicht Sie – und gute Formen müssen sonst unter allen Umständen anerkannt werden. Der Geheime Kommissionsrat versuchte mich neulich zu streicheln und redete dabei in einem höchst einschmeichelnden Dialekt . . . Sie sollten die Menschen und die Dinge ein wenig leichter auffassen, mein lieber Graf – spielender, denn mit schwerblütigen Tröpfen wird sonst gespielt! Und was mir gar nicht gefällt: Sie sitzen auffällig lange jetzt in der Sonne und im Freien in jener Rivieraluft, deren sanft moussierendes Prickeln Ihnen nicht bekommen wird. Sie werden immer galliger in Ihren Aufzeichnungen. Nachher steigen Sie so hoch hinauf in die Berge, daß Ihnen kein vernünftiger Kater folgen kann, Sie atmen auf bei dem unangenehm scharfen Höhenwind und wollen nur noch von schroffen Spitzen und steinigen Wegen etwas wissen. Das ist falsche Schätzung, lieber Rin. Sie vergessen völlig, daß Ihresgleichen allerdings im Hochgebirge keine Gefahr droht, daß Sie aber um so leichter auf den weichen Kieswegen unsers Parkes unten stolpern können, weil Sie die Augen überall hin, nur nicht auf Ihre Füße richten. Und daß Sie auf einmal so unnatürlich hoch steigen, fast bis in die Eisluft, ohne Pflanzen zu sammeln, nur um zu steigen, darin liegt ein Symptom, über das Sie sich selbst am wenigstens klar sind, das mir aber ernstliche Sorge macht. Das gewisse Sehnen fängt schon an. – Aber mein lieber Graf, wir sind kein Jüngling mehr, wir dürfen darum auf keinen Fall in Jünglingstorheiten verfallen. Graf sein heißt Weltmann sein! Man muß auf Reisen dieser Art gewandt auftreten, leicht sich geben, verbindlich lächeln. Man verpflichtet dadurch doch nicht etwa sich, man verpflichtet nur andre . . . Warum die Marotte mit dem »Rin«? Man hält allerdings nicht jedem Kurgast die Visitenkarte mit der Neunzackigen ins Gesicht, aber man verleugnet sie auch nicht, man läßt klug durchschimmern. Damit imponiert man am meisten den Bädermenschen, die immer unnötig erhöhen oder erniedrigen, weil sie nun einmal klatschen müssen, weil sie gern nach Hause schreiben, weil ihnen die Wahrheit nur interessant ist wegen der Lüge, die sie darum spinnen können. – Durchschimmern lassen, lieber Graf! Man traut Ihnen dann am Ende einen heimlichen Fürstenhut zu. – Sage ich vielleicht bei jeder Begrüßung: Carlo Macchiavelli, der Katerdiplomat aus dem Palazzo Farnese? Ich begnüge mich mit dem simpeln Carlo. Aber jeder, der mich zwischen den Fleischtöpfen der Küche herumsteigen sieht, oder meine aristokratische Gelassenheit bei der Table d'hote bewundert, denkt heimlich: ›Carlo?‹ Dahinter steckt ein Geheimnis, mindestens ein Kater von Geblüt, ein Prinz wahrscheinlich. Und ich weise es gar nicht zurück, wenn man mich in Katzenkreisen wegen meiner blauen Augen und meiner gebogenen Nase einer illegitimen bourbonischen Abstammung beschuldigt. Fürsten, wenn sie auch noch so dumm sind, werden immer ihre getreuen Diener, und ihre Bastarde, wenn sie auch noch so illegitim sind, immer ihre glühenden Parteigänger finden. Die Hotelgäste sehen auch erst nach der Etikette, ehe sie den Wein loben. Die Welt verlangt nun einmal Namen, Formen, Aeußerlichkeiten. Und so häßlich es klingt, auch der schönste Kater hat seine Rolle ausgespielt, sobald er abgezogen ist . . . Ich liebe diese »Neuen« gar nicht, aber ich habe mich überzeugt, daß meine Meinung nicht durchdringt. Selbst in der Küche neulich versuchte der Küchenchef der Jungfer der Gräfin Angern liebevoll in die Backen zu kneifen. Leute mit Namen, die wahrscheinlich Monate bleiben, sind bestimmte Größen, mit denen man rechnen muß. Man darf nicht gegen sie losfahren wie ein tollwütiger Hund mit unversöhnlichem Kläffen oder gar gefletschten Zähnen. Das ist unklug. Seine wahren Gefühle soll man nie bei der Ankunft, nur bei der Abfahrt zeigen. – Die ältere Gräfin lockte mich mit einem etwas altbackenen Kake, – ich nahte ihr schmeichlerisch, obgleich mir die Dame vollkommen gleichgültig ist. Als dieser blödsinnige Quedenberg gestern im Salon allein seine buntseidenen Strümpfe beliebäugelte, fand ich mich wie durch Zufall ein und beliebäugelte gleichfalls die schottischen Carreaux, die wahrhaft menschlich geschmacklos sind. Ich hatte dabei die Krallen nur scheinbar eingezogen und war außerdem bereit, einen gelegentlichen Fußtritt mit einem gediegenen Biß zu beantworten. Der junge Mann hat Diplomat werden wollen und sucht jetzt wohl meine Protektion – leider zu spät . . . »Die gewisse junge Dame«, die das nervös machende »Kß, kß« nicht lassen kann, zwang mich, Dienstag im Garten, eine Edeltanne als Aussichtsturm zu benutzen – nicht bevor ich dem widerwärtigsten Terrier eine sanfte Prim über die Nase versetzt hatte. Es wäre mir nun ein leichtes gewesen, die junge Dame selbst als Edeltanne anzusehen und bei der Gelegenheit ihr Gesicht mit den Schmissen eines deutschen Korpsstudenten zu verzieren. Ich tat es aber nicht! Man hätte mich dann mit Recht für toll gehalten, und mein Leben hätte wahrscheinlich wie das einer unbotmäßigen Haremsodaliske in einem Sack und auf dem Seegrunde geendet.

Ich benehme mich so gemäßigt keineswegs aus Egoismus allein. Ich möchte bei der Gelegenheit auch meinen gräflichen Protegé in die Gesellschaft introduzieren. Denn da ich irrtümlicherweise als sein Protegé gelte, während er doch der meine ist, wird man sich verständig sagen: wer einen so wohlerzogenen Kater besitzt, muß selbst sehr wohlerzogen sein. Und dieses gräfliche Original ist wirklich wohlerzogen! – Es ist mir kein Vergnügen, wenn ich bei meinen nächtlichen Fensterpromenaden sehen muß, wie sich die gewisse junge Dame über Herrn Rin (einfach Rin) lustig macht, ihn den mißvergnügten Nobile nennt und dabei von den aufmerksamen Augen der Nichte und den servilen Klatschereien des Geheimen Kommissionsrats unterstützt wird, während die ältere Dame ihn aus unbekannten Gründen begönnert. Dann lachen Quedenbergs laut auf, während die Frau zugleich das Hotelklavier in einer jeder Katzenmusik hohnsprechenden Weise mißhandelt. – Mein Schützling hört eben nicht. Ich fürchte, daß er zu den Starrköpfen gehört, die alle Erfahrungen unbedingt selbst machen wollen. Ich weiß noch nicht, ob die Komtesse Angern oder die Gräfin Quedenberg seine Delila werden wird. – Eine wird es gewiß! Dazu ist es zu ausgesprochen Frühling am Garda.


Bei den Menschen ist der Mai der Wonnemond – in meinem Katzenkalender ist allernächstens der erste Mai. Es geht ein wundervolles Ahnen durch unser Herz. Die wilde Unruhe überkommt uns, wir üben uns in klagenden Ritornells. Wir können es zu Hause nicht mehr lange aushalten. So fängt's immer an – ich weiß das. Ich gehe schrecklichen Wunden, aber auch süßen Tändeleien entgegen . . . Vorläufig regt sich nur die Wanderlust. Ich muß durchaus unsre Stadt durchstreifen, die köstlich engen Straßen mit ihrem anheimelnd feuchten Moderduft, mit den Prachtgerüchen nach verfaulten Orangen und frischem Fleisch. Es gibt so viel köstlich verschwiegene Torbogen mit einem Blick auf die poetisch bröckelnde Hofmauer; ein verwachsenes Stück Gemüsegarten lockt. Und dann die blinden, geheimnisvollen Fenster, die zerbrochenen, buntgeflickten Scheiben, die dunkeln Luken! Es gibt so viel malerische Dachvorsprünge, so viel düstere Winkel, so viel duftige Trümmerstätten! Kein Gartentor schließt, kein Zaun hat ganze Latten. Man baut prachtvoll neu im sonnigen Italien, aber man repariert grundsätzlich nie. Und überall dieses Ahnen! Auf jenen schlüpfrigen Fliesen ist sichtbarlich eine verzauberte Katzenfee gewandelt . . . Oder sollte es am Ende doch ein gemeiner männlicher Mäusejäger gewesen sein? – O nein! – Auf so zierlichen Sohlen wandeln nur zierliche Frauen . . . Ich schleiche in die Höfe, ich steige auf die Böden. Da – auf einmal ein lautloses Gleiten, ein unsicherer Schatten – ich horche, stimme ein lockendes Liebeslieb an . . . Und als Antwort starrt jetzt plötzlich durch die Bodenluke der grauäugige, fauchende Dickschädel eines kohlschwarzen Katers, bei dem es schon Mai ist und der bereits, wenn auch viel gemeiner, dieselben Pfade wandelt, die ich nächste Woche wandeln werde. Ab und zu huscht durch die Dämmerung ein traumhaft süßes Wesen, eine graziöse Schwanzspitze lugt – sie ist im Augenblick verschwunden. Die Damen, die uns sonst so wenig ausweichen, wie wir ihnen, scheinen zimperlich geworden, schlagen verschämt die Augen nieder, ziehen sich jungfräulich zurück. Ueberall nur diese gottverdammten Kater, die finster brütend über die Dächer steigen, kampfbereit auf den Schornsteinen sitzen. Sonst sind wir uns völlig gleichgültig, warum beargwöhnen wir uns jetzt? – Ach, dies unverständliche Sehnen des Herzens, dieses dunkle Wallen einer bald kochenden, überströmenden Leidenschaft. Der kritische Geist verschwindet unter diesen Wogen ganz . . . Ich sehe zum Beispiel fast teilnahmlos, wie eine feiste Ratte, dies königliche Jagdtier, in einer Abflußröhre schlempt und konstatiere nur bei den spitzen Ohren eine flüchtige Ähnlichkeit mit denen unsers Geheimen Kommissionsrats; selbst gackernde Hühner regen mich nicht an; ich glaube, ich könnte einen jener sittenlosen Sperlinge greifen, ohne ihm nur das Blut auszusaugen. Und immer gerät man in Sackgassen, kommt an verschlossene Bodentüren. Heute befand ich mich ahnungslos plötzlich in einem Schuhladen, wo gerade die Verkäuferin den feilschenden deutschen Damen bei allen Heiligen unsrer Kirche beschwor, daß sie bei vierzehn Lire mindestens zwei Lire verliere, während ihr doch der dümmste Teufel nachweisen kann, daß sie dabei immer noch vier gewinnt. Eine Katze, eine ältere, noch recht begehrenswerte Jungfrau, saß auf dem Ladentisch und blinzelte mich ganz eigentümlich an, sie gefiel mir nicht übel – das Mädchen hat offenbar Glück! – Ich wollte mich nur vorstellen, ein wenig sondieren, aber ich wurde unhöflich vermittelst eines ganz abgetragenen Pantoffels herausbefördert, weil man mir Absichten auf gewöhnliche Makkaroni im Nebenzimmer zutraute, was einem Hotelkater wohl recht fern liegt. – Einmal lief ich direkt einer Italienerin in die Arme, die wie selbst der Adel hierzulande noch am Nachmittage schlecht frisiert und malpropre angezogen war. Die Leute, vornehm wie gering, leben eben nur für die Straße oder das Theater.

Schade, daß mein Graf so menschlich unbeholfen und wirklich diplomatischer Schleichwege schon körperlich unfähig ist! Er könnte unter meiner Leitung viel lernen. Er würde dann den echten Italiener kennen lernen, der seine Makkaroni immer heißhungrig schmatzend verschlingt und verständig die Liebe vor der Trauung abmacht, um dann in der Ehe nur der Bequemlichkeit und einer mir unverständlichen Kinderliebe zu leben. Kein Mädchen ist schön und jung genug, um nicht doch den ältesten reichen Greis glücklich zu erwischen. Sie sind echte Südländer, wie wir Katzen eigentlich auch, denen der Elfersuchtsdolch wohl recht lose sitzt, die aber für ewige Treue danken. Sie wissen, daß die Jugend kurz und das Alter lang ist, daß im allgemeinen Geld viel länger vorhält als Liebe. Je hübscher die Frau, desto häßlicher der Mann, oder umgekehrt – es ist ein vernünftiger Ausgleich. In das gemütliche Boudoir ladet man sich eben später andre Gäste als in das kalte Prunkgemach. Es sind alles Weltmenschen, liebenswürdig oben, dienstbeflissen unten; für zwei Soldi läuft sich jeder Bengel scheinbar die Hacken ab, aber hinter der nächsten Ecke setzt er sich schon auf die Mauer zu dem zerlumpten Papa in die Sonne. Viel reden, wenig tun – und wenn man nicht gerade Erdarbeiter auf dem Simplon oder Erntekuli in Kalabrien ist – wenigstens dem Herrgott seinen Tag stehlen! Warum sind in Italien die Kaufleute so überaus geschäftig, und warum verdienen die unhöflichen Engländer doch mehr? Ich denke, das muß wohl an der Sonne liegen, die uns so viel früher überredet, Rentner oder Tagedieb oder Bettler zu werden, als irgendwo anders im Okzident . . .

Zuweilen dehne ich meine Reisen über das Weichbild aus, ich sitze dann träumerisch auf einer Vignenmauer, während die Sonne köstlich prickelt, blinzle das gelbe Kap Manerba an, die dunkle Isola, den weißen Monte Baldo, und versuche wohl, an den Felsvorsprüngen unsrer Küste vorbeizuschielen, wo Gargnano und der stolze Palast Bettoni liegen. Ich frage mich, wenn die schönste Katze der Welt in dem Borgheseschlosse der Gardainsel schmachtete, oder auf jenem Schneebuckel ihre kokette Toilette machte, ob ich nicht doch am Ende durch diesen gruselig nassen See schwimmen oder in eine schauernde Eisspalte mich klemmen würde . . . Der Palazzo Bettoni lockt auch mächtig. Weit ist er allerdings: Aber wenn ich dem süßen, goldhaarigen Kinde dort unrecht getan hätte? – Es wäre immerhin möglich, und es täte mir furchtbar leid. Die größten Lügen erweisen sich später so oft als die lautersten Wahrheiten . . . Und während ich so träume, überkommt mich eine wunderbare Milde. Ich liebe den See, die Berge, die Menschen, ich möchte die ganze Welt in einem alles umfassenden Miau an mein Herz drücken.

Heute werde ich noch zur Table d'hote gehen – aber morgen?

Mein lieber Graf Rhyn, verfallen Sie niemals in solche Stimmungen, denn Sie kämen niemals wieder heraus.


In Badeorten wird man klätschig. Es liegt wohl in der Luft, dieser zu lauen Frühlingsluft, die uns umfächelt, in uns hineinkriecht und, glaube ich, in kürzester Zeit aus Männern Weiber macht. Wirklich arbeiten können hier nur Dichter. Die brauchen das Lasche, Sanfte . . . Sonst muß man entweder sich sonnen und singen wie diese bei allem Augenrollen und Messerstechen im Grunde doch weibischen und äußerlichen Italiener, oder aus Gesundheitsrücksichten faulenzen und sich dabei dem Herdentrieb hingeben wie meine deutschen Landsleute, die das Reisemonopol für den Garda zu besitzen scheinen . . . Es blühen auch leider noch so wenig interessante Pflanzen. Derweilen tröste ich mich, daß nach Goethe der Mensch ja des Menschen würdigstes Studium sei.


Bei den »Neuen« ist eitel Lust und Freude.

Als gestern der Nachmittagsdampfer von Desenzano hier anlegte – es ist mit der aufregendste Moment des Tages, zu dem sich persönlich Wirt, Oberkellner, Hausdiener und die gelangweilten oder sehnsüchtigen Hotelgäste einfinden. Ein junger, eleganter Herr stieg aus, dem man sofort den preußischen Offizier ansah. Eine junge Dame lief auf ihn zu, eine ältere rief: »Ach, da ist er endlich, unser Peter!«

Es war natürlich der sehnsüchtig erwartete Bräutigam. Die junge Dame besah ihn äußerst kritisch, ehe sie ihn küßte: »Du siehst famos aus in Reisezivil! Was macht die ›Armee‹, Peter?«

»Läßt untertänigst grüßen wie alles. ›Fusijama‹. dein Liebling, ist noch immer der gleiche unqualifizierbare Verbrecher, und ›Josefa‹ refüsiert vorläufig den Karlshorster Sprung.«

»Aber sie muß die ›Armee‹ gewinnen! – Ich sage dir, Peter . . .«

»Aber Schatz!«

Dazwischen der respektvolle Handkuß für die Gräfin Angern, die verbindliche Verbeugung für die übrige »Insel«, die sich beeilt, mit Reserve zu lächeln.

Jetzt der Bräutigam: »Uebrigens, Graf Quedenberg, wir müssen uns kennen, und zwar vom Korps aus.«

»Glaube auch, Herr von Lasowitz. Kann aber nur im Vorkorps gewesen sein.«

»Natürlich. Ich stoppte auch vor Lichterfelde ab . . . Und mein Vetter Bosenthin läßt Sie bestens grüßen und fragen, ob Sie jetzt etwas milder über den Briefadel dächten.«

»Scherz . . . Bosenthins sind aber wirklich nur Briefadel.«

»Na, verehrter Graf Quedenberg, ein paar Jahrhunderte mehr oder weniger – das macht's doch nicht; Bosenthin bleibt trotzdem ein famoser Kerl.«

»Selbstverständlich!«

Ich war auch am Landungssteg und hatte Mühe, mich der Vorstellung und Unterhaltung zu entziehen. Nachher wurde noch ein Begrüßungskaffee auf der Veranda serviert. Es ging sehr lustig zu, und bis zu meinem Zimmer drang das Lachen.

Seitdem promeniert das Brautpaar eingeärmelt und selig auf den Kieswegen des Parkes. Hübsche Menschen! Vernünftige Zuchtwahl . . . Das Mädel hat jetzt den federnden Gang der jungen Frau, das feine Lächeln der Erwählten, sie weiß ganz genau, daß die Augen des Hotels auf ihr ruhen. Und er, der richtige Sportsman, hundemager, gewandt, ein scharfes, trockenes Gesicht, glatt rasiert – helle Soldatenaugen, die bei einem schlecht geputzten Knopf sich unwillkürlich kühl zusammenziehen, aber bei Wein und Frauen recht ausgelassen blitzen können. Ueberhaupt die kecke Mischung von Stallknecht und Kavalier, die den Rennreiter macht. – Jetzt sind nun die beiden allein, sie reden laut, sie reden leise, sie sehen sich an, sie sehen sich wieder an; sie sind diese festgeschlossene Welt, aus der später wieder eine Welt entsteht. Ob sie nur den Liebesunsinn reden? – Meistenteils wohl. – Aber wenn sie ernst zu debattieren scheinen, ist auf einmal der Reiz weg, es sind urplötzlich Leute geworden, die nur zufällig per Arm gehen, die auch auf ganz verschiedenen Wegen wandeln könnten . . . Sind Liebe, Jugend, Torheit die große Dreieinigkeit, aus der sich allein die Menschheit wieder neugebiert?

Wenn man so zwei hübsche, törichte junge Menschen sieht, die zwischen Blumenrabatten schlendern – und wer dann selbst, wie ich zurzeit, auf seinem Zimmer vor vertrockneten Pflanzen hockt, den packt doch ein gelinder Zweifel am Wert dieser toten Wissenschaft, die nur hochmütig auf das schwellende Leben hinabsieht, weil sie selbst eine dürre Mumie ist. – Das Leben allein hat immer recht! Die tollen Streiche eines Knaben sind der Natur mehr wert als die Weisheitsworte eines Greises. Warum schaut die Jugend immer vorwärts, das Alter immer zurück? . . . Und doch muß es auch da Stufen geben. Das, was den beiden da unten vielleicht fürs ganze Leben frommt, das frommt mir höchstens für einen Augenblick. Ich verlange mehr, viel mehr! – Und eine Josefa Angern könnte mir dies Mehr beim besten Willen nicht geben.

Aber da ich den Menschen und den Dingen gern gerade ins Gesicht sehe, vor allem mir selbst – ein unverständiger Narr ist man auch. Ich habe mich keineswegs mit der Betrachtung dieser beiden Glücklichen begnügt. Ich ertappte mich auf einmal, wie ich im Zimmer auf und ab ging, dann vor dem Schrankspiegel stehen blieb und mich auf das genaueste beobachtete wie der fadeste Dandy. Ich bin sehr gut gewachsen. Meine Verbeugung ist steif, aber nicht eckig. Und ich habe einen Schädel, über den man nicht einfach zur Tagesordnung übergeht . . .

Ich habe im Leben noch alles erreicht, was ich ernstlich wollte, warum sollte ich nicht auch einmal ein ernstlicher Tor sein? Es gibt doch auf der Welt nicht nur Josefen, es gibt auch Frauen, die etwas mehr vom Manne verlangen als nur die »Hoppegartener Armee«.


Man muß erst an den Garda gehen, um sich selbst zu entdecken! – Ich bin Neidhammel – und zwar schlimmster Sorte. Arme Leidende in den Hotels tun mir herzlich leid, aber die beiden Glücklichen hier erregen fortgesetzt meine Galle. Und diese mißgünstigen Regungen eines alten Junggesellen übertünche ich pharisäisch mit allerlei sittlichen Betrachtungen: . . . ›Die beiden kennen sich nicht . . . aber wenn sie sich erst kennen – Wo alles so vortrefflich zueinander paßt, da paßt's schon ganz gewiß nicht – Sie sollten nicht zu früh heiraten, die beiden!‹ Als wenn mir das Seelenheil dieser Leute wirklich am Herzen läge! – Als wenn ich nicht lieber heimtückisch nach dem wunden Punkte suchte, der natürlich existiert, weil sie Menschen sind – als wenn es mir nicht sehr sympathisch wäre, wenn ich ihn plötzlich entdeckte! Ich merke, wie dünkelhaft und pedantisch ich bin, wie ich gravitätisch nach Art der Marabus am Weißen Nil herumstolziere und immer recht behalten möchte als echter Bildungsphilister. – Aber mich ändern? – Kuchen!


Die »Insel« hat's also glücklich zur heiligen Zahl gebracht. Das fehlte gerade noch zur absoluten Vollkommenheit. Der gute Peter Lasowitz sitzt seiner Angebeteten gegenüber, und ich habe das Vergnügen, seine zärtlichen Blicke mit aufzufangen und seine Sportanekdoten mit anzuhören. Die Gräfin Angern, die mir dabei wohl eine freundliche Anstandslehre erteilen wollte, stellte ihn mir bei der Table d'hote vor. Dabei gab's von der Tochter einen verwunderten Blick, ein innerliches Achselzucken: ›Wozu eigentlich?‹ – worüber auch er mit einer etwas flüchtigen Verbeugung quittierte. Der Mann ist keineswegs uneben. Keck, frisch, mit einem kritischen Augenblinzeln, das weder Pferd noch Mensch jemals übertaxiert. Er erzählt leicht, witzig, er ist ganz gewiß kein geistiger Zwillingsbruder von dem braven Quedenberg. Aber er erzählt eigentlich nur von Pferden. Seine Josefa wünscht das gerade. Sie ist eine so leidenschaftliche Rennreiterin, daß sie einen Gaul höchst eigenhändig durchs Ziel peitschen würde, koste es, was es wolle. Da wird gekantert, gepacet, da springt der »Chamantsohn« mit der Führung vom Start, da schießt ein verlorener Outsider in Front: ein komplettes hippologisches Wörterbuch, das die ehrgeizige Komtesse auswendig kann. Und das Leitmotiv: »›Josefa‹ kann und muß die ›Armee‹ gewinnen!«

»Wird sie auch, Schatz – schon weil sie nach dir getauft ist.« Es ist mir eine fremde Welt der Interessen, des Ehrgeizes. Sie wird auch ihr Recht haben, obgleich ich nicht verstehe, wie man ganz drin aufgehen kann. Ich sah wohl Rennen, ich verstand die Aufregung der Wettenden, aber das begeisterte Hurra für den keuchenden Sieger und das harte Greisengesicht seines ausgedörrten Widerristjockeis schien mir nur der Gefühlsausbruch des Arenapöbels. Ich halte es mit dem Schah von Persien, der zwar höchlichst interessiert zuschaute, wie man einen, der ein Attentat auf Seine Sonnenmajestät begangen, langsam totpfählte, aber von Rennen mit orientalischer Gelassenheit urteilte, daß sie ihn kalt lassen würden, weil von zehn Pferden doch wahrscheinlich eins zuerst ankommen würde . . . Und dabei ist diese Sportunterhaltung laut, der ganze Tisch kann, wenn er will, davon profitieren. Und er profitiert auch! Selbst dem großen Satiriker blieb neulich der Mund offen. Josefa wünscht zu glänzen, sie will ihr junges Glück und ihre junge Wissenschaft zeigen, die Spießbürger sollen ehrfürchtig denken: »Was für ein Tausendsassa doch nächsten Juni die ›Armee‹ gewinnen wird!« – Und wenn er sich das Genick bricht – für welch bildhübsche Gräfin hat er sich's doch gebrochen! . . . Im übrigen sind wir der jungen Dame höllisch gleichgültig, wir stehen tief unter ihr, sind höchstens Publikum, das allenfalls Beifall klatschen darf. Die Gräfin-Mutter sieht voll Glück ihre beiden glücklichen Kinder. Ich aber zucke auch nicht mit der Wimper. Und das ist weder höflich noch wahr.


Seinem Schicksal entgeht man doch nicht.

Das kam nämlich so: Er erzählt, wie gesagt, gut, und die Augen einer Braut elektrisieren. Es handelt sich um die vorjährige »Armee«.

». . . Und an der letzten Hürde – der Prinz, mit zwei guten Längen vor, kam allein noch in Frage –, und da setze ich ein. ›Josefa‹ noch ganz frisch. Ich, ohne überhaupt die Hände zu rühren, Sprung für Sprung zu dem Braunen auf. Knappe halbe Länge noch – der Prinz muß schon höllisch reiten . . . Ich habe das Rennen mit ungezählten Längen in der Tasche. Da reitet den Kerl der Deuwel, will in die Flachbahn abbiegen. Ich rufe noch: ›Hoheit, Sie reiten falsch!‹ Das war rein instinktiv das Rennen konnte er sowieso nicht mehr machen. – Und da reißt er im letzten Augenblick den Schinder noch halb 'rum –, ich pariere, damit er meiner Stute nicht die Vorderhand abreitet – und liege auf dem grünen Rasen.«

»Ich hätte nicht pariert, Peter, ich hätt's riskiert!«

»Nein, liebe Josefa, dafür war mir doch die ›Josefa‹ zu viel wert . . . Ich habe mich natürlich furchtbar geärgert, als der Prinz vor einem ganz unplacierten Felde als erster einkam. Die Kerls auf dem zweiten Platz, die auf meine Stute gewettet hatten, beschimpften mich noch gröblich, als wenn ich wie ein Gaunerjockei mit Absicht 'runtergefallen wäre . . . Aerger hat man überhaupt haufenweise. Aber der einzig wahre Sport bleibt's doch! Da wird ein ganzer Kerl verlangt. Da muß man noch viel mehr mit dem Kopf als mit den Beinen reiten, denn es gibt Ueberraschungen und Überrumpelungen jeder Sorte. Man muß eben auf alles gefaßt sein. Und der Training – namentlich für jemand, der Anlage hat, dick zu werden! Ich habe diese Anlage nicht, aber ich komme auch immer oberschlapp aus dem Dampfbade . . . Das anstrengendste Metier bleibt's . . . Die meisten Leute haben, glaube ich, keinen blassen Schimmer, was so ein Rennreiter für positive Anstrengungen und Strapazen durchmachen muß. Zum Beispiel die Afrikaner, die ich von einem Frühschoppen bei Pschorr oberflächlich kenne, behaupten, das sei gar nichts, und sie hätten ganz andres hundertmal durchhalten müssen. Dabei trinkt jeder von den Kerls 'ne Flasche Kognak allein aus. Ich glaube auch, wenn die dann so loslegen mit ihren Erlebnissen, das ist alles maßlos übertrieben. Da sind sie da verhungert und da verdurstet, und dann klapperten sie vor Fieber und waren zu allem unfähig – und haben's mit einer rasenden Energie endlich doch noch geschafft. Mumpitz größtenteils! – Es mag ja wohl anstrengend sein, und so 'n Tagesritt in der Tropenglut gehört wahrscheinlich nicht zu den Annehmlichkeiten . . . Aber dafür haben sie auf Antilopen gepürscht oder 'n Löwen geschossen, und wenn sie morgens abreiten, wird noch schnell etwas Morphium gespritzt, damit die gute Laune für den Tag anhält. Von dem eigentlichen Durst und dem eigentlichen Hunger, da werden wahrscheinlich die armen Träger weit mehr erzählen können, die gleich halbtot gepeitscht werden, wenn sie mal hinter dem Rücken eine kleine Anleihe bei der Kognakflasche des Expeditionsführers machen. Mir lügen, wie gesagt, die Kerls, die Afrikaner, zu haarsträubend. Und ich glaube, wir haben genau so viel Geistesgegenwart und Energie nötig wie sie. Nur daß sie mehr Alkohol trinken und bei ihren Legenden viel weniger kontrollierbar sind.«

»Das glaube ich auch, Peter.«

Ich muß bei der Wendung wohl ein recht gekniffenes Gesicht gemacht haben. Denn Herr von Lasowitz sah mich auf einmal mit einem verlegen stechenden Blick an und brach die Unterhaltung sofort ab. – Und ich war tatsächlich geärgert! – Was man uns Afrikanern auch nachsagen mag, wir übertreiben vielleicht unwillkürlich, wir legen da hundert Kilometer zu, wo wir sie besser abziehen sollten, aber die Ernsthaften von uns haben während einer Expedition doch mehr auf den Schultern, als sich so ein junger Dachs überhaupt träumen läßt.

Einen Moment zögerte ich noch – und Schweigen wäre unbedingt das Richtige gewesen. Doch wo man an unsre liebe Eitelkeit tippt, da sind wir toll.

Ich fragte erst eisig höflich: »Verzeihen Sie, Herr von Lasowitz, haben Sie jemals wirklich gedurstet?«

»Ob! Zum Beispiel im Manöver.«

»Ich meine so, daß sich Ihnen das Herz von achtzig auf vierzig Schläge reduzierte, daß Ihnen alles vor den Augen schwamm, daß Sie die Wahnvorstellungen kommen fühlten – und daß diese Wahnvorstellungen tatsächlich kamen?«

»Nein. Aber haben Sie das durchgemacht?«

»Allerdings – und zwar in Afrika.«

»Dann wundere ich mich, daß ich überhaupt noch den Vorzug habe, Herr Rin . . .«

»Und ich sage Ihnen: es war so! Hier sitzt Ihnen zufällig mal ein Afrikaner gegenüber, der nicht übertreibt . . . Aber gestatten Sie weiter! . . . Und wenn Sie in diesem Zustand endlich den ersehnten Brunnen erreichen, und dieser Brunnen existiert nicht mehr? . . . Ihre Karawane ist dezimiert, der Expeditionsführer ringt mit dem Tode und zählt also nicht mehr. Vom weichlichen Sudanneger bis zum durstgewohnten Teda sind sie alle fertig, der eine tobsüchtig, der andre stumpf; die Alten hocken sich betend nieder im Sand, um wenigstens in ihrem Glauben zu sterben. Ihre besten Kamele sind schon vor Wochen krepiert, und was noch übrig, sieht selbst wie ein Wahngebilde aus. Die Unglücksschatten liegen oder stehen herum, ausgemergelt, Verschmachtende – und die dummen, großen, traurigen Kamelaugen werden immer trüber, brechen . . . Und von dieser todgeweihten Gesellschaft, die vielleicht absichtlich irregeführt wurde von dem Tubu, der gestern desertierte, sind Sie der einzige, der noch einigermaßen vernünftig denken kann, weil er muß. Denn er hängt auf dem letzten Rennkamel der Tuaregs, das bisher ausgehalten hat. Es ist freilich ein trostloser Schemen, der sich gleich den Menschen niedertun möchte zum Verenden, und der nur unter den unmenschlichsten Züchtigungen weiterkriecht. Und da stehen Sie an diesem verschütteten Brunnen und wissen ganz genau, daß das Schicksal aller besiegelt ist, wenn Sie nicht auf diesem verendenden Kamel doch noch die nächste Oase oder die nächsten Beduinenzelte erreichen. Sie möchten vielleicht auch lieber sich in den Wüstensand einwühlen und da ruhig sterben. Aber Sie dürfen es nicht! Der letzte der beiden Europäer, die überhaupt bei dieser Expedition waren, hat mehr zu tun als nur zu verschmachten . . . Es ist wahrhaftig nicht der wissenschaftliche Ehrgeiz allein, die Furcht, daß die Ausbeute von Jahren hier unter Wüstendünen langsam begraben wird, es ist vielmehr die Empfindung, daß man das, was man einmal angefangen, auch durchführen muß um jeden Preis . . .«

»Und haben Sie's denn wenigstens glücklich durchgesetzt?«

»Allerdings . . . Aber ich wünschte Ihnen solchen letzten Ritt nie . . . Als ich zur Besinnung kam, war mein Kamel tot. Aber der Tuaregscheich, dem ich mich doch wohl vorher verständlich gemacht haben muß, rettete wenigstens einen Bruchteil unsrer Karawane.«

Wenn Leute, die sonst nicht überflüssig reden, auf einmal loslegen, tagt's meistens fürchterlich. Ich weiß noch jetzt Wort für Wort, was ich sagte, und ich log wahrhaftig nicht. Aber als die Leute an der Table d'hote feierlich verstummten und alle Köpfe sich nach mir drehten, wurde ich vernünftig und hörte auf. Ich war durch alles Interesse der ›Neuen‹ nicht zu weiteren Erzählungen zu bewegen. Ich sprach für mich, nicht für die Table d'hote . . . Als wir aufstanden, merkte ich an der Verbeugung, daß die vage Null zwischen Braten und Eis zu einer positiven Zahl geworden war. Das ärgert mich noch jetzt. Renommieren liegt nicht in meiner Art – und das war Renommage. Ich ärgere mich überhaupt über die ganze Sache. Den Leuten bin ich mit einem Schlage zu dem interessanten Mann geworden, der wahrscheinlich noch viel wunderbarere Dinge zu erzählen hat. – Die ›Neuen‹ wünschen mich durchaus zu den Ihren zu zählen, wenigstens für diese Saison. Graf Quedenberg stellte sich nach Tisch mir vor, und ich mußte anstandshalber für mich ein gleiches bei seiner Gemahlin erbitten. Der Geheime Kommissionsrat sagte wiederholentlich voll serviler Bewunderung: »Ja, ja, die Herren Afrikaner! – Das war wirklich höchst interessant . . .« Ich wundere mich nicht, wenn er mir nächstens einen besonders ethischen Gedankensplitter versetzt. Die Leute werden mich natürlich im Konversations-Lexikon nachschlagen, und da sie mich dort keinesfalls weder unter den berühmten Reisenden noch sonstwo finden, werden sie wenigstens über mich phantasieren können . . . Ich hasse Komödien – nun bin ich selbst als Komödiant entlarvt. Es war ganz unnötig: weder die Komödie des Schweigens noch die Demaskierung in diesem Renommistenton.


Und da haben wir den Salat! – Ich bin nämlich zum Neunuhrtee eingeladen. Nicht etwa zu jenem gemeinen Tee im Speisesaal, den sich schließlich jeder für sein Geld servieren lassen kann, sondern zu dem intimen Tee im Angernschen Salon, der dem ganzen Hotel als das Exklusivste des Exklusiven gilt, der sich allabendlich, aber nur Auserwählten öffnet, und von dem auch ich neulich, als der Geheime Kommissionsrat auf Zehen hineinging, die Empfindung hatte, daß sich da alles mögliche besonders Vornehme ereignen müsse. Die Gräfin Angern stellte mich selbst auf dem Korridor.

»Aber gnädigste Gräfin . . .«

»O, kein Aber! Sie müssen einfach kommen. Wir sitzen zusammen, wir gehören zusammen. Und dann sind wir alle furchtbar neugierig. Sie werden so viel Interessantes zu erzählen haben, und Sie werden es hoffentlich erzählen.«

»Ich erzähle sehr ungern, Frau Gräfin.«

»O, wenn Sie davor Angst haben, Herr Rin – ich verspreche Ihnen, daß auch nicht das Wort Afrika von mir oder meiner Tochter erwähnt werden wird . . . Es ist allerdings sehr schade, aber kommen müssen Sie! . . . Und da Sie mißtrauisch zu sein scheinen, so kann ich Ihnen für meine Person nur wiederholen, daß ich Sie noch immer für einen ganz alten Bekannten von mir ansehe und ja auch immer so zu Ihnen gesprochen habe. Man bittet nicht etwa den berühmten Reisenden, man bittet Herrn Rin, uns diesen Abend zu schenken. Sie sind sicher auch Ihrer Gesundheit wegen hier, und unsre leichte Geselligkeit wird Ihren Nerven besser tun als grüblerische Einsamkeit.« – Die Dame sagt dies wie alles mit einer jugendlichen Liebenswürdigkeit, der man schwer widersteht und die doch wohl nicht leere Form allein ist.

Ich wollte nicht ja sagen – und ich mußte doch! – wer die Exklusivität belächelt, darf doch nicht selbst exklusiv sein.

Und es war wirklich ein netter Abend! Der Salon selbst voll Blumen und Kleinigkeiten, aus denen Frauen im Umsehen ein kahles Hotelzimmer zu einem gemütlichen Heim machen. Wir standen erst unschlüssig umher und besahen und befaßten hinter dem Rücken der Hausfrau die niedlichen Nippes. Der gute Quedenberg wurde magisch von einem Briefbeschwerer angezogen, der den Gardedukorps-Helm des verstorbenen Grafen Angern en miniature darstellt. Er lächelte dabei etwas wehmütig: »Mein Regiment, Herr Rin, famoses Regiment!« – Der Geheime Kommissionsrat lobte besonders die Onyxpendule auf dem Kamin und erging sich in sächselnden Tiraden. Er muß wohl eine Uhrenfabrik oder so was Aehnliches gehabt haben, obgleich er immer von vornehmen Bekannten, aber niemals von der Industrie, die ihn reich machte, sonst redet. Mich fesselte am meisten ein kleines altmodisches Glasmedaillon an der Wand, ein gemaltes Wappen: der gewundene blaue Fluß im roten Feld. Es ist mein Wappen, und ich wußte nicht, daß auch noch eine andre Familie es führt. Aber als ich mich vorsichtig bei dem Bräutigam danach erkundigte, nannte er deutlich einen fremden Namen. – Wappen wiederholen sich oft, werden so gern angemaßt, namentlich wenn sie uralt sind, wie das meine. Und ich wüßte auch nicht, warum sich gerade mein Wappen hier hinter Glas und Rahmen vorfinden sollte, denn unter den Namen aus Vaters Jugenderzählungen, die mir noch sehr erinnerlich sind, befanden sich weder Angern noch Gundingen (die Gräfin Angern ist eine geborene Gräfin Gundingen).

Aber trotzdem – das Wappen gab mir eine Art Heimatsgefühl, ich fühlte mich nicht mehr so fremd unter diesen fremden Menschen.

Nachher gruppierten wir uns zwanglos, tranken Tee und aßen Konfitüren. Die leichte Salonunterhaltung flatterte. Aber sie war nicht aufdringlich, sie paßte in diese Umgebung. Und man war sehr höflich gegen mich, versuchte gewissermaßen frühere Kalendertage durchzustreichen . . . Das Hotel, der See, und wie man jetzt in Deutschland bei Schneegestöber den guten Kachelofen preisen würde, während hier im Kamin die Olivenscheite nur aus malerischen Gründen zu lodern schienen. – Das beschäftigte uns in der Hauptsache, bis der Bräutigam plötzlich sagte: »Du, Josefa, Mittwoch hat dein Patenkind in Hoppegarten einen tadellosen Kanter absolviert.«

»Peter, was habe ich dir gesagt? – Du solltest nie mehr . . .«

»Ach so! Bitte um Vergebung.«

Die Gräfin Angern lächelte mir dabei liebenswürdig zu. Wir verstanden uns nicht ganz. Warum ist jetzt auf einmal jede Sportunterhaltung ein Verbrechen?

Die Braut selbst begann wieder mit ihrem Ring zu spielen. »Fang, Peter, fang!« rief sie lustig.

Und der Bräutigam fing auch galant. Aber als er den Goldreif zurückgeben wollte, rollte der auf den Teppich. Wir bückten uns. Ich haschte ihn.

»Danke.« Und sie spielte nicht mehr.

Die junge Dame scheint überhaupt die einzige, die sich mit meiner veränderten Position noch nicht ausgesöhnt hat. Sie ist unbedingt liebenswürdig zu mir, aber mit außerordentlich kühlen, hellbraunen Augen.

Später wurde für uns Herren noch Spatenbräu serviert. Unten im Hotelvestibül konzertierte derweilen eine italienische Musikbande. Sie spielten deutsche Walzer. Fremde Klänge dennoch! Die schmeichelnde Mandoline, die dumpfe Gitarre und der kokette, südliche Hauch über dem deutschen Tanz. Wir horchten auf, und die Frauenköpfe bewegten sich leise im Takt.

»O Mama, ich muß mit Peter mal tanzen!«

»Aber, Josefa, ihr könnt doch unmöglich 'runtergehen . . .«

»Brauchen wir auch nicht, Mama. – Der Kellner nimmt einfach den Teppich weg, wir machen die Tür ein wenig auf . . .«

»Ja meinetwegen, Kind! Wenn du durchaus willst . . .«

Während der Tanzsaal präpariert wurde, standen wir Herren in den Ecken 'rum. Der Kommissionsrat kam zu mir und klagte über seinen Magen: »Nein, Herr Rin, wenn nicht diese wirklich ganz famose Gesellschaft wäre, ich bliebe keinen Tag länger. Diese Oelküche und mein Magen! Die Gräfin Quedenberg hat sich von den Fleischpastetchen gestern auch noch nicht erholt . . . Aber nicht wahr, die Gesellschaft einzig, einfach einzig?« Und er begeisterte sich wieder unnötig. – Auch der Bräutigam sprach bei dieser Gelegenheit allein mit mir: »Kannten Sie Quedenberg auch schon per Renommee? – Er ist ein Schaf, aber ein gutmütiges. Und wenn sie ihm mal Hörner aufsetzen sollte, so schadet das weiter nichts. Er merkt's ja doch nicht . . . Aber sie ist ein famoses Weib, nicht wahr? Ja, die dümmsten Bauern haben eben die größten Kartoffeln. Ich gehöre übrigens auch dazu . . . Sagen Sie mal, wie reitet sich's auf so 'nem Kamel? Hohe See?« – Und wie Frauen immer merken, wenn man sich über sie oder über ihre Männer unterhält, interviewte mich auch gleich darauf die Gräfin Quedenberg selbst. Sie sprach mit mir über Afrika, und wie gern sie einmal nach Algier gegangen wäre. »Es muß sehr interessant sein, und über die Skorpione grassieren wohl nur Fabeln . . .« Sie sprach gewandt und liebenswürdig, die blauen Augen hatten dabei den eigentümlich starren Glanz der klugen, kühlen, unbefriedigten Frau. Sie ist ihrem Grafen schon treu, aber nur aus Ueberlegung. Und wenn dieser Kopf sich einmal auf das Herz besinnen sollte, dann müßte es mindestens ein berühmter Mann sein.

Das junge Paar trat zum Tanze an.

»Aber nur einmal 'rum, Peter – und nur mit dir!« Beim zweiten Pas verstummte unten die Musik. »Aber ich will tanzen!« Sie sah sich unschlüssig im Kreise um: »Graf Quedenberg, Sie pfeifen ja wie ein Virtuos, pfeifen Sie uns einmal die Washingtonpost! – Es ist zwar ein in England verpönter Tanz, aber ich bin keine Engländerin, und ich habe gerade mal Lust.«

Der Graf pfiff. Er pfiff wirklich wie ein Virtuos. Das Paar tanzte. Wir lächelten – das Mädchen tanzt wunderhübsch. Man ahnt doch gar nicht, welch federnde Kraft in solch jungen Frauenkörpern schlummert! Ein Geigenstrich, ein Pfiff nur – und sie ist entfesselt.

Sie tanzten zweimal, dreimal. Es war wirklich ein Genuß, das Mädchen tanzen zu sehen. Ich sah ernsthaft spöttisch zu. Als sie wieder vorüberkamen, sahen das Mädchen und ich uns wie auf Verabredung an. Es liegt ein tiefer Ernst im kind'schen Spiel. – Da ließ sie ihren Tänzer los. »Genug, Peter!«

Unten begann die Musik wieder. Diesmal ein gezierter Opernsingsang. Die ausgesungene Stimme der Italienerin, die das Tamburin schlug und dazu sang, klang unangenehm schrill.

Wir blieben bis gegen Mitternacht. Die Fenster wurden geöffnet, wir durften rauchen. Die Treibhausgerüche des Südens zogen aus dem Hotelpart herein. Draußen war es windstill, lau. Ich sah von meinem Platz aus einen Streifen See mit dem flimmernden, lockenden, geheimnisvollen Aufleuchten, wenn der Neumond übers Wasser schleicht. Daneben die Edeltannen des Gartens, eigentümlich fahl, wie mit Schnee bestreut. Ueber ihnen im Hintergrund starrte ein scharfer, dunkler Felsgrat. – Sogar mein weißer Kater erschien urplötzlich mit einem Sprung auf dem Fensterbrett, verschwand aber sofort wieder. Er hat überhaupt seit einiger Zeit so was Wildes, Unstetes. Die Terrier, die im Nebenzimmer auf ihrem Betteppich gekränkt seufzten, weil sie Zurücksetzung und lange Gesellschaften nicht lieben, fuhren natürlich wie rasend durch den Türspalt zu uns herein. Die junge Dame rief ihnen ein herrisches: »Down!« Da trollten sie wieder zurück.

Als Quedenbergs sich bedeutungsvoll ansahen, war es auch für mich Zeit. Es gab ein freundschaftliches Händedrücken für alle und für mich die besondere Versicherung, daß ich zu jedem Teeabend willkommen sei. Josefa begleitete uns bis an die Tür, während Mutter und Bräutigam zurückblieben. Der letzte, von dem sie sich ohne Händedruck verabschiedete, war ich. Dabei sagte sie: »Uebrigens so oberflächlich, wie Sie annehmen, sind wir Frauen nicht.«

»Aber ich halte Sie speziell gar nicht für oberflächlich, Gräfin.«

»O, ich hab's vorhin ganz genau gemerkt beim Tanzen!«

»Dann haben Sie eben Gespenster gesehen.«

»Kaum, Gespenster gibt's nicht . . . Später sage ich Ihnen vielleicht noch mal mehr.«

»Warum nicht jetzt?«

»Weil ich noch keineswegs weiß, Herr Rin, ob ich's Ihnen jemals sagen werde . . .«

Das junge Mädchen irrt sich. Ich halte sie weder für oberflächlich noch tief, ich halte sie nur für die Tochter ihrer Mutter. Aber ihre Stimme liebe ich, weil sie Metall hat. Ich muß noch jetzt daran denken, wie wunderhübsch sie doch tanzte. Das Bild schwebt mir immerfort vor – diese knospende Jugend, diese spielende Kraft. Warum verpuffen eigentlich Frauen immer ihr Bestes in nichts?

Heute ist große Trauer. Der Bräutigam ist durch ein Telegramm abberufen worden. Sein Inspekteur kommt eine Woche früher. – Mir liegt nichts Besonderes an dem Mann. Ich wäre wohl auch zum Abschied an der Landungsbrücke gewesen, wenn ich mich nicht zufällig beim Botanisieren verspätet hätte. Auf meinem Zimmer fand ich dann seine Visitenkarte. Die ist mir eigentlich lieber als der Mann.


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