Johann Richard zur Megede
Der Ueberkater Band I
Johann Richard zur Megede

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Ich kann gar nicht sagen, wie wohl ich mich in meinem alten Heim fühle!

Es regnet seit gestern Bindfaden, und die Zugvögel des Hotels, das Gesindel mit Rucksack oder Lodenkleid knurrt über solch unliebsame Unterbrechung. Die guten Leute scheinen der Ansicht zu sein, daß die äußerst mangelhaften Toiletten ihrerseits den Garda zu einer ganz besonders raffinierten Toilette seinerseits verpflichten. Ich finde es im Gegenteil recht behaglich, von den lieblichen Düften der Küche zu dem strengen Bratenparfüm des Speisesaals abwechselnd hinauf- und hinabzusteigen, im Konversationszimmer die Seufzer der Damen, im Fumoir die Verwünschungen der Herren anzuhören, und dabei zu konstatieren, daß gerade dieser Regen das dienende Hotelpersonal mit heimlicher Freude erfüllt. Sonnenschein, der die Wadenstrümpfler so angenehm kitzelt, ist den Stubenmädchen eine Qual. Sie hören die Wagen vorfahren, die Namen der schönsten Ausflugsorte werden genannt, der überfüllte Vergnügungsdampfer am Nachmittag pfeift impertinent; man sieht's diesen Arbeitstieren an, daß sie auch gern hinaus möchten, daß bei Sonnenschein der Küchendampf besonders unangenehm beizt, der Stubenbesen sich mürrisch langsam schwingt. Aber bei Regen erhellen sich sofort die dienenden Gesichter. Wenn die Gnädige weint, lächelt die Jungfer . . . Ich habe es stets vermieden, mit den einen oder andern einseitig zu empfinden. Ich empfinde, wie's mir praktisch scheint, und augenblicklich empfinde ich mit den Stubenmädchen.

Aber es ist auch wirklich hübsch nach den Irrfahrten meines Rittertums, sagen wir ruhig Don Quichottes, sich hier auf einem Fensterbrett wiederzufinden, warm, trocken, in den Regen blinzelnd und sehr froh, daß der Honigmond vorüber, der Liebespfad nach Gargnano zu den überwundenen Dingen gehört. Ich denke jetzt über die Liebe kühl, über die Ehe verächtlich. Wenn ältere Ehepaare an mir vorbeikommen, bekreuze ich mich stets, daß ich nicht in der Lage bin, entweder zu zanken oder zu knurren, in welche Seelenstimmungen die Menschenliebe nach einigen Ehejahren ausklingt . . . Wenn ganz junge Liebende an mir vorüber wollen, ohne mich überhaupt zu bemerken, ohne auf der Welt für irgend etwas andres Sinn zu haben, als die blödesten Zärtlichkeiten beiderseits, da schnurre ich besonders ironisch und denke: ›Wenn eure Liebe nur erst einige Jahre älter ist!‹ . . . Liebe und Sonnenschein passen vorzüglich zueinander, aber einen wunderschönen Taumel bis zu Regentagen und Kindergeschrei ausdehnen zu wollen, ist wahrhaft menschlicher Wahnsinn. Ich preise diese ehelichen Zärtlichkeiten nur bei Gartenvögeln. Man delektiert sich an der schmackhaften Brut und erwischt vielleicht noch die zärtlich flatternde Mutter.

Wir sind jetzt in der Zeit, wo die afrikanischen Vogelreisenden sich einzufinden pflegen – sehr angenehme Gäste, denen das Quartier in unserm Magen auch wahrscheinlich am zuträglichsten ist. Der Schneider des Ortes wenigstens läuft schon im Regen mit einer tropfenden Muskete herum und knallt ohne Besinnen auf den See hinaus. Die Deutschen finden das grausam, ich finde es nur töricht. Denn die Taucher, nach denen er schießt, haben eine ausgesprochene Abneigung gegen die Bratpfanne und stoßen getroffen sofort in die Tiefe, wo sie dann der Küche verloren sind . . . Aber Menschen sind eben Gefühlsphantasten. Und der kleine, rabiate Schneider mit seinem löcherigen Karbonarihut und der alten Muskete, die ihm nächstens in Stücken um den Kopf fliegen wird, unterscheidet sich nur scheinbar von diesem Rin, der mir neulich einen Sperling recht unhöflich entriß. Er nannte mich dabei: »weißer Schuft!«

Menschen mit solchen Manieren können mich ebensowenig beleidigen, wie sie mich erschrecken können. Aber unser Gefühl kühlt sich dabei ab. Nicht etwa wegen dieses Vogels! Ich brauche nur in die Küche hinabzusteigen, um mich eines viel zarteren Hühnerbeins zu versichern. Aber den Mangel an Takt und Selbstbeherrschung verurteile ich. Dieser Mann ist überhaupt ein Gimpel. Er beleidigt seine Gönner, um zu seinen Feinden überzugehen. Ein richtiger deutscher Narr! Wenn ich irgend etwas auf der Welt nicht mag, so ist es gefühlvolle Unvernunft. Wie sein Tagebuch zeigt, war er bereits aus dem Netz, konnte gehen, wohin er wollte, und der albernste Köder genügt, um ihn wieder einzufangen. Jetzt wird die reizende Josefa, in der ich von Tag zu Tag mehr jene diplomatische Feinschmeckerei entdecke, die uns befiehlt, sich an dem lebenden Vogel recht lange zu erfreuen, ehe wir den toten verzehren, erst wirklich anfangen mit ihm zu spielen. Jetzt wird sie ihn verliebt machen, sich an den Zuckungen seines Herzens freuen, zuletzt diesen Gimpel ganz ruhig verhungern lassen . . . Es kommt alles, wie ich gesagt habe: der warme Sonnenschein weckte die Gefühle, der bedeckte Himmel ließ sie ausreifen, die Regenwoche jetzt gibt einem unverbesserlichen Toren den Rest.

Und dem widerspricht keineswegs, daß die junge Gräfin mich neulich in Abwesenheit ihrer Terriers zu einer wahren Kakesorgie ermutigte. Diese Liebenswürdigkeit gilt nicht mir, sie gilt meinem früheren Protegé. Aber im Grunde ist es nur das gewisse Mitleid, das auch uns vielleicht beim Anblick gefiederter Sänger ergreift und uns verleitet, sie noch möglichst lange unter unsrer Aufsicht hüpfen zu lassen; aber weidgerecht erwürgt wird der betreffende Vogel doch. Dagegen das Interesse der jungen Dame für mich wird nicht nur bleiben, es wird sogar wachsen, während ihre Mitleidsregungen für meinen Protegé sehr bald in nichts zerflattern. Nur das wirklich Gediegene dauert!

Und im Vorgefühl solcher Wandlung halte ich es für klug, mich zu salvieren, ehe ich salviert werde. Der Mann imponiert mir nicht mehr! Eines Tages wird er verschwunden sein, ohne irgendeine Spur hinterlassen zu haben, aber die junge Dame wird sich von jetzt ab mehr und mehr an mich attachieren. Sie ist mir sehr sympathisch. Sie hat jene spielende Sicherheit, die unser Geschlecht besonders hochhält, und zu der ich reuig zurückkehre, nachdem sich die Krafthubereien dieses Rin und die himmelstürmende Leidenschaft meines Tristan als eitel Trug erwiesen haben. Ich fühle wieder jene Lust zur Intrige in mir keimen, die uns Katzen mit Diplomaten und Frauen stets einen wird. Dieser Rin wird uns noch zu schaffen machen. Ich bin neugierig, wie seine sonst sehr kräftige Konstitution sich in diesem hoffnungslosen Kampfe ausleben wird. Der Vogel, der noch flattern kann, ist ein dankbareres Studienobjekt als der hilflos aus dem Nest gefallene Spatz.

Ich hätte bei meiner Kakesvisite gern die Korrespondenz der jungen Dame etwas revidiert, – nicht das, was sie schreibt, sondern das, was sie nicht schreibt, wäre mir wichtig. Aber sie ist entschieden ordentlicher als Herr Rin. Die Briefe an ihren Bräutigam schickt sie sofort ab, und die seinen verschließt sie. Der einzige, unterbrochene, den ich neulich las, bedeutet wahrscheinlich einen Wendepunkt.

Meine Visite war, wie gesagt, nur kurz, draußen bellten die Terriers. Vielleicht schwankt sie auch noch. Frauen und Katzen sind ja untaxierbar . . . Ich mußte mich darum über die Stimmung im allgemeinen vergewissern und ging zum zweiten Salon. Dort klatschte natürlich der Kommissionsrat wieder, Quedenbergs waren auch da, und dieser sächsische Uhrenfabrikant a. D. verstieg sich sogar zu der Aeußerung, daß die Komtesse Angern vielleicht doch etwas leicht sei. Die Gräfin antwortete ihm präzis: »So leicht wie Sie, Herr Kommissionsrat.« Darauf wurde herzlich gelacht, der alte Herr ließ vor Angst seinen Meerschaumkopf fallen, und ich glaube, daß ihn die Nichte etwas schadenfroh ansah. Diese Nichte kann Kater nicht anfassen. Ich halte das für ein Zeichen von großer Geistesarmut.

Bei Rin war ich auch, und zwar längere Zeit. Der Mann ist schneller verrückt geworden, als ich dachte. Jedoch sein Tagebuch kann selbst sprechen.


Ich mag in gewissen Dingen harmlos sein, aber wenn alle Regentage auf dieser Welt so reizend sind, so mag's meinetwegen immer regnen.

Ich esse allerdings noch an meinem andern Tisch, und selbst die direkte Bitte dieses entzückenden Geschöpfes macht mich nicht wanken. Es wurde mir höllisch schwer. Doch ich denke, ein Mann darf sich nicht beliebig von einem Platz zum andern schieben lassen, wie ein überflüssiges Paket. Josefa schmollte darüber ein wenig, nannte mich undankbar und beschwor, sie würde niemals wieder so offen mit mir sprechen wie neulich auf dem Wege von Gargnano. Und unberechenbar, wie sie doch ist, erklärte sie vierundzwanzig Stunden später, daß ich eigentlich recht habe.

»Ich habe mir's überlegt, Herr Rin. Männer sollen sich nicht kommandieren lassen. Ich glaube, wenn Frauen herrschen wollen, müssen sie erst verachten können. Ich werde Peter diesen letzten Gedankensplitter sofort übermitteln, aber als eignen, höchst ernsthaften, nicht wie die vom Kommissionsrat, wo ich schon beim Schreiben Tränen lache . . . Aber trotzdem, ich kommandiere so viel lieber, als ich gehorche!«

Sonst kann sie mit unsern Zugeständnissen wohl recht zufrieden sein. Die Insel hat sich neuerdings wieder zusammengefunden. Wir tagen vormittags, nachmittags, abends im Angernschen Salon, und wenn das ein Ausfluß der Regenlaune ist, wir sind kindlich vergnügt. Wenn ich mir dagegen die gelangweilten Gesichter der andern Hotelgäste denke! Wie die Herren schon vom Frühstück ab einen Verzweiflungsskat spielen, und die Damen auf lügnerisch blauen Ansichtspostkarten ihre frierenden Freunde in Deutschland zu ärgern suchen, und eigentlich nur sich selbst ärgern über diese Sonnenlüge auf Papier . . . Und ich komme zu der Ueberzeugung, daß solche Insel eigentlich etwas sehr Zweckmäßiges ist. Man holt sich heran, wen man mag, man braucht sich nicht erst abzuschieben, wen man nicht mag; man hat die Freuden der Privatvilla ohne die Leiden des Hotels. Die übrige Gesellschaft liebt uns natürlich nicht, so wenig wie ich die Insel früher geliebt habe. Aber man ist gerade darum besonders höflich, läßt uns grüßend den Vortritt, in der Gewißheit, daß alles Exklusive auch höllisch langweilig sein müsse. Jedoch wir amüsieren uns in der Tat gut. Ich kann wohl sagen, daß ich keine Woche meines Lebens so angenehm plaudernd und so intensiv genießend zugleich verlebt habe, als diese Aprilwoche am Garda . . . Es kann sein, daß dem Grafen Rhyn der Sinn für gute Formen doch angeboren ist, wenn auch Herr Rin sie zu verachten scheint, und daß die Menuettpas, die meine Vorfahren im Berliner Schlosse wahrscheinlich höchst zierlich vollführten, wenigstens als dumpfe Zuckungen in den Füßen des Epigonen nachvibrieren. Wer Fanatiker der Erblichkeit ist, darf auch die Beine nicht vergessen . . . Und es ist in der Tat ein Reiz mehr, daß diese Gesellschaft Herrn Rin akzeptiert, gern akzeptiert, ohne zu ahnen, daß das alte Wappen, das über dem Schreibtisch der Gräfin Angern hängt und das sich vielleicht diese andre Familie nur angemaßt hat, mein Wappen ist, und daß ich der Letzte, der ein Recht hat, dies Wappen zu führen. Dabei spielt kein gräflicher Ahnenstolz mit, und das Genfer Patriziergeschlecht, dem meine Mutter entstammt, ist mir mit seinen Traditionen genau so viel wert.

Freilich, wenn in diesem Salon ein Gesicht fehlen sollte? . . . Schon wenn wir uns nach dem Lunch erheben, um oben unsern gemeinsamen Kaffee zu trinken, überläuft mich ein Prickeln, wie kraftvoll graziös die schlanke Josefa geht, wie reizend nichtachtend sie sich für den ganzen Tisch verbeugt . . . Die Gräfin Quedenberg ist ja hübsch und klug, die blaßblauen Augen könnten einem Don Juan wohl die Frage anregen, ob man aus Eis nicht doch Funken schlagen kann; die Gräfin Angern ist von jener Anmut, die nicht stirbt; die Nichte besitzt wahrscheinlich auch noch andre Reize als diesen Junohals. Aber was sind sie alle dem schönen Mädchen mit den kühlen, hellbraunen Augen gegenüber, jede Bewegung von der spielenden Kraft, die ihrer wohl bewußt ist und doch schlummert! . . . Ich suche bei den Frauen das Herz. Nur starke Menschen können starke Herzen haben.

Und es ist wirklich rührend, wie zärtlich wir alle bemüht sind, uns vergessen zu machen, daß es regnet. Ich weiß nicht, ob wir tatsächlich so sind, oder ob nur vor meinen Augen der täuschende Schleier liegt, der das Leben gerade da vergoldet, wo's am grausten ist. Der Kommissionsrat kramt die ehrwürdigsten Geschichten aus, sie sind uralt, – ich weiß es, – und sie gefallen mir doch. Der Graf pfiff uns gestern eine ganze Sonate vor, einige Passagen waren bestimmt falsch – ich weiß es – und ich beneide den Mann um die Fertigkeit doch. Die Nichte läßt ihre Aquarellstudien wandern, immer derselbe italienische Junge, bald auf einer Vignenmauer liegend, bald am Strande bettelnd; kein Betteljunge hat ein so regelmäßiges Heiligengesicht – ich weiß es – und sage doch dem Mädchen Höflichkeiten gerade über dies Gesicht . . . Die Theorie und die Wirklichkeit vertragen sich mal wieder vorzüglich miteinander!

Ich habe sogar den Sinn für Kleinigkeiten in mir entdeckt, für das absolut Oberflächliche, was mir sonst fernliegt. Ich ziehe mich andächtig an, knüpfe die Krawatte mit Kennermiene, ich beschaue voll Liebe meine Lackschuhe, die mit ihrem faltenlosen Glanz eigentlich die Unnatur selbst sind. Es gibt eben tausend und abertausend Dinge, die auch zum Leben gehören, obgleich ich nicht glaube, daß ich nach dem Beispiel des Grafen Quedenberg die Eisenbahnfahrt von Hannover nach Berlin jemals stehend gemacht hätte, bloß um keine Knie in das frisch gebügelte Galabeinkleid zu bekommen. Aber über die modische Hosenfalte habe ich doch auch tiefsinnige Betrachtungen. Ich zog mich zwar immer sehr anständig an, weil ich das gewollt oder ungewollt Saloppe nicht mag, aber daß ich einmal die abfallenden Schultern des guten Quedenberg nachdenklich betrachten könnte, nur weil das für schick gilt und der Lasowitz die Mode auch mitmacht, kam mir nie in den Sinn. Doch da eine Rosenknospe in hellbraunem Haar für mich heute weit mehr bedeutet als der Tausendmarkschein aus eines Geizhalses Hand, so könnten ähnliche Erwägungen auch bei meiner Partnerin stattfinden. Die Leute, die blödsinnig werden, merken es selbst zuletzt, und die schlotterigen Tertianer, die lange Studentenpfeifen unter Seelenqualen anrauchen, sind nur in den Augen Erwachsener urkomische Märtyrer. Zur Passion jeder Art gehört nun einmal die Torheit. Und wahrscheinlich ist's mir recht gesund, daß ich auch einmal die Welt von unten ansehen, die kleinen Freuden und Leiden mitmachen lerne. Dabei lernt man, die großzügige Hoffart schwindet. Wer auf seinen Weg sieht, tritt die fleißige Ameise gewiß nicht tot.

Innerlich bleibe ich trotzdem der Gleiche, der ich bin: es liegt nicht in meiner Natur, mich selbst zu verlieren. Und wer wie ein Dandy näseln will, muß auch die entsprechende Gehirnleere besitzen. Die zwei neuen Anzüge in Brescia waren allerdings ein bedenkliches Symptom. Aber wenn ich den guten Quedenberg wegen seines englischen Schneiders interviewte, so halte ich ihn deswegen noch lange für keinen Botschafter. Und der Lackschuh wirkt bis jetzt noch nicht ausdörrend auf meine geistigen Fähigkeiten. Ich weiß noch genau, was ich rede. Unsinn ist es nicht. – Und wenn ich mich scheinbar vergesse, mit Leuten fraternisiere, die nicht meine Leute sind, so ist das ein Ausfluß jener Feststimmung, die den Lebensweg so glatt sieht, wie sie ihn wünscht . . . Ich habe gute Augen, und die vernünftige Kühle der Quedenberg, die gleichmäßige Liebenswürdigkeit der Angern täuschen mich nicht. Die wissen beide, was sie wollen, aber sie sollen nicht wissen, was ich will. Mir paßt diese Quedenberg jetzt nicht in den Kram, weil eine so ehrgeizige Natur natürlich nicht begreifen kann, daß der einzige Geist einer Gesellschaft sich nicht ihr ausschließlich widmet. Und die Mutter Angern, die wahrscheinlich in jeder Lebenslage noch zu lächeln vermag, ist eine zu gute Mutter, hat ihre Tochter, ihren Peter, unser aller Lebensglück viel zu lieb, um mich hier zu lieben. Beide sind meine offenen oder versteckten Widersacherinnen, vor allem diese Mutter Angern, von der ich noch heute nicht weiß, was uns eigentlich verbindet oder trennt. Es besteht zwischen uns ein besonderes Verhältnis. Wir sind uns nicht Fremde, so wenig wir uns auch kennen, und wir haben beide die gewisse Scheu vor dem Unbekannten, was uns doch verbindet. Vielleicht ist diese Liebenswürdigkeit gerade mir gegenüber echt, aber dann ist es die Liebenswürdigkeit der instinktiven Furcht. Entweder gibt's eine Seelenwanderung, und wir haben auf einem andern Planeten in einer andern körperlichen Hülle schon das Vergnügen gehabt; oder wir sind von den Urahnen her Gott weiß wie verwandt, müssen uns lieben oder hassen, je nachdem. Die Wege des Blutes sind so verschleiert, daß sie kein Psychiater, viel weniger ein Stammbaum entwirrt. Vielleicht findet auch eine jener unbegreiflichen Wechselwirkungen statt, die Abneigungen oder Zuneigungen den Menschen wahllos einpfropfen, die betreffenden Menschen können es am wenigsten erklären. Die Frau mag mich und mag mich auch nicht, und genau dasselbe ist bei mir der Fall . . . Jetzt, wo ich gewissermaßen in den Bannkreis dieser Familie getreten bin, weiß ich genau, daß ich mit der Liebe der Tochter zugleich den Haß der Mutter erwerben würde und umgekehrt . . . Das sind Schrullen. Im Leben muß sich alles Bestimmte auch auf etwas Bestimmtes aufbauen, und so sind mir vorläufig Sympathien und Antipathien noch recht gleichgültig.

Aber ich schweife ab. Der Menschen Sympathien oder Antipathien in der Gesellschaft erzeugen Reflexbewegungen, und so ist die Tatsache, daß Robert Rin jetzt geistig Toilette macht, auch als Reflexbewegung aufzufassen. Wann glänzt das Federkleid des Paradiesvogels am goldigsten? Wann flötet die Nachtigall am zauberischsten? – Wenn sie sich paaren wollen. In Aeußerlichkeiten kann ich mit ihnen nicht mit, ich muß also von innen herausgeben, und darum bin ich auch längst nicht mehr der Zurückhaltende, Schweigsame. Ich spreche, weil ich gefallen will – und wahrscheinlich spreche ich gut. Ich gebe willig meine Erlebnisse preis, meine Erfahrungen, nicht übermäßig tief, nicht übermäßig flach, aber angepaßt der Welt, in deren Bann ich stehe. – Ich will eine Frau bezaubern! – Und wenn sie vorher die schöne Menschenfischerin war, so bin ich jetzt der Alchimist, der seine Zauberformeln spricht. Sie muß hören! Es ist nicht der Eitelkeitsdrang etwa vor diesen Leuten auszupacken, wie viel man gesehen, gedacht, gelebt, wie sehr man sich vom Pöbel unterscheidet – ich spreche nur zu einer Frau, ich will aus zwei kühlen hellbraunen Augen lesen, daß sie mich verstehen, daß ich der bin, der ich bin. – Versteht sie mich?


Ich weiß es nicht. In meinem Zustand ist das geistige Verstehen ganz naturgemäß viel weniger wichtig als die Tatsache, daß das hellbraune Auge mir mit Interesse, vielleicht mit Bewunderung lauscht, daß es sich erwärmt, dunkler schillert, daß sie immer mehr hören möchte von dem Leben da draußen. – Es ist eigentlich unglaublich, wie viel ich jetzt rede, wie ich dieser ganzen Gesellschaft meinen persönlichen Stempel aufdrücke. Die sind ganz zufrieden, daß sie wieder einen Leithammel haben – nicht einen selbsterwählten, sondern einen aufgedrungenen – aber folgen müssen sie ihm doch! . . . Freilich gibt es auch Stunden, wo das Mädchen kein Wort spricht, zerstreut die Menschen und die Dinge betrachtet. Ist sie dann nur müde, will sie ausruhen? Oder bricht da die eigentliche Natur durch, deren Strohfeuer nicht einmal glühende Asche zurückläßt?

Ich habe keine Erfahrung in Frauenherzen. Aber es war mir doch ein Triumph, als Josefa gestern wie aus einem Traume erwachend den gedankensplitternden Kommissionsrat unhöflich unterbrach: »Herr Rin, Sie müssen uns noch einmal die Geschichte erzählen, wo Ihre Karawane nur durch ein Wunder gerettet wurde?! – Ich habe nämlich diese Nacht auf Ihrem Rennkamel mit geritten, bis es zusammenbrach . . .«

»Aber Gräfin, es war wirklich nicht so schlimm, wie ich es machte.«

»Also Sie wollen nicht erzählen?«

»Nein.«

»Aber wenn ich Sie bitte?«

»Es geht nicht auf Kommando. Ich muß erst wieder geärgert werden, wie an dem berühmten Tage damals.«

»Also ärgern wir einmal!« rief der Kommissionsrat in klassischem Sächsisch.

»Ja, ärgern wir einmal,« wiederholte die Gräfin Quedenberg dialektlos.

»Nein, ärgern wir lieber doch nicht,« besänftigte sehr liebenswürdig die Mutter Angern.

Darauf wurden die Mädchenaugen wieder kühl, unangenehm kühl. Sie ist's wohl nicht gewöhnt, daß ihr ein Wunsch unerfüllt bleibt.

Als wir am Abend am Kamin stehend unsern Zehnuhrtee schlürften, lockte sie mich harmlos raffiniert in eine Fensternische.

»Warum sind Sie eigentlich gegen mich so besonders ungefällig, Herr Rin?«

»Gräfin, ich konnte wahrhaftig nicht!«

»Aber jetzt sind wir allein.«

»Jetzt kann ich's erst recht nicht!«

»Ach, Sie sind . . .« Und sie wandte sich sehr ungnädig ab. Aber als ich mich zum Kamin zurückziehen wollte, sagte sie kurz: »Bleiben Sie!«

Einige Minuten standen wir gelangweilt.

Endlich ich: »Aber Gräfin, Sie erzählen doch auch nie mehr von dem, was Sie interessiert, und Sie erzählten wirklich wunderhübsch.«

»Von Rennen und so weiter, meinen Sie? Da können Sie lange warten! Denken Sie vielleicht, daß ich nur deshalb an den Garda gekommen bin, um mich von Ihnen belächeln zu lassen?«

»Gräfin!«

»Aber selbst wenn Sie nicht, wenn überhaupt niemand gelächelt hätte! Ein Mädchen, das eine ganze Table d'hote mit ihren Pferdegeschichten unterhält und dadurch die guten Leute zwingt, gewissermaßen Nase und Ohren aufzusperren, ist nun einmal lächerlich.«

»Aber dann war ich mit meiner Durstgeschichte doch in dem gleichen Fall.«

»Das waren Sie eben nicht! Ihre Afrikareisen sind Studienreisen, Ihre Erzählungen darüber haben einen Sinn, meine haben keinen Sinn . . . Was verstehe ich denn von Pferden? – Nichts. Ich habe Pferde gern, wie Tiere überhaupt, ich habe sogar viele Jagden mitgeritten, aber was ich sonst von Rennen und Vollblut weiß, das weiß ich von Peter. Ich habe mich eben mit fremden Federn geschmückt und tue das wahrscheinlich meistens, aber trotzdem bin ich fast dreiundzwanzig und nicht siebzehn Jahre. Vergessen Sie das, bitte, nicht!«

Da wagte ich den ersten, kecken Vorstoß: »Ich habe mich mit Ihrem Alter nie beschäftigt, Gräfin, ich habe höchstens Ihren Peter beneidet und beneide ihn von Tag zu Tag mehr.«

Sie errötete darauf nur leicht. Sie ist eben Elogen gewöhnt. »Na, ich glaube, Peter wird nicht so sehr zu beneiden sein . . .« Ihr Blick streifte mich flüchtig. »Redensarten stehen Ihnen übrigens nicht! . . . Ich habe Sie gestern immer darauf hin angesehen, wie Sie es wohl anfangen würden, wenn Ihnen eine Frau gefiele. Leute wie Sie, die dürfen nicht reden, die müssen handeln.«

»Wie denken Sie sich das?«

»Wie ich mir das denke? . . . Gott . . .« Darauf muß sie lachen. »Da fehlen mir die Erfahrungen. Peter hat jedenfalls erst geredet und dann gehandelt. Aber wir wollen doch lieber von etwas anderm sprechen! Glauben Sie an Träume?«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Darum will ich Ihnen einen erzählen. Ich kann's mit Seelenruhe. Neulich habe ich hier eine alte ›Zukunft‹ studiert; mich interessierte darin eine Abhandlung über Träume. Danach sollen Leute, die zum Beispiel ihr Fähnrichsexamen bestanden haben, später nie mehr von diesem Examen träumen, aber umgekehrt immerfort. Halten Sie es für möglich, daß der gute Quedenberg jede Nacht vom Auswärtigen Amt träumt? – Ich nicht. Die arme Jeanette muß auch das wahrscheinlich für ihn tun. Aber was die Hauptsache ist, man soll nach diesem Aufsatz immer nur von Nebenpersonen träumen. – Also, wir ritten zusammen durch die Wüste, Ihr Kamel war schon gänzlich ausgeritten, meins noch ganz frisch. Und es muß wohl sehr schlimm um unsre Karawane gestanden haben, denn ich hatte einen Durst, und die Sonne brannte, daß ich wahnsinnig zu werden fürchtete. Aber, wir ritten und ritten, und hieben auf die armen Tiere ein, daß es einen Jockei gedauert hätte. Doch vorwärts kamen wir nicht. Es war schrecklich! Ihr Kamel wurde matter und matter, und wie ich denke, daß es zusammenbrechen muß, bricht dafür meins zusammen und kann sich auch nicht mehr aufraffen. Sie sagten nichts. Sie warfen mir nur einen stechenden Blick zu, und auf einmal konnte Ihr Kamel traben, wundervoll traben, so daß es in kürzester Zeit am Horizonte verschwunden war. Ich aber blieb liegen und verschmachtete . . . Ich sage Ihnen, Herr Rin, in meinem Leben bin ich nicht so glückselig gewesen, als wie ich aus diesem Traume erwachte!«

Ich verstand eigentlich nicht recht, warum sie mir das so lang und breit erzählte. Aber Frauen sind im Grunde ihres Herzens doch furchtbar abergläubisch. Sie hielt's nämlich für ein Zeichen. Sie ist überzeugt, daß ich sehr alt werde, und sie sehr jung sterben wird.

Wir sprachen darauf viel über Träume und kamen darin überein, daß man doch niemals das ganz erlebt, was man träumt. Es war harmloser Unfug. Aber eigensinnig kam sie immer wieder darauf zurück, warum denn eigentlich dieses junge, frische Kamel fallen mußte, während mein abgetriebenes davonkam.

Ich konnte ihr darauf nur antworten, daß es dann eben mehr Lebenskraft gehabt haben müsse, und daß das bei den Menschen genau die gleiche Sache sei.

»Haben Sie nun eigentlich so viel Lebenskraft, Herr Rin?«

Ich zuckte nur die Achseln. Ich konnte ihr doch nicht antworten, wie viel Lebenskraft ich alter Mensch in ihrem Anblick noch fühlte, wie es mich drängte, ihre junge, köstliche Lebenskraft zu wecken, um sie hinaufzuführen in andre Sphären.

Während wir noch sprachen, mußte die Mutter unhörbar herangekommen sein, denn sie stand plötzlich zwischen uns und sagte: »Du hast den Brief an Peter noch nicht kuvertiert, Josefa.«

»Ach ja, der arme Peter!« scherzte das Mädchen darauf. »Sehen Sie, Herr Rin, die besten Männer vergessen wir Frauen am ehesten. Heiraten Sie lieber nicht!«

Sie wollte noch weiter scherzen, aber die Gräfin- Mutter sagte mit einer gewissen Schärfe: »Josefa, es eilt! Herr Rin wird dich gewiß gern eine Viertelstunde entschuldigen.«

»O ja, Mama, ich glaube, noch viel, viel länger!«


Das sind so unsre Gespräche. Beweisen sie etwas? Beweisen sie nichts? – Am Ende führt mich nur ein bildhübsches Mädchen an der Nase 'rum. Und es ist auch ein Wahnsinn! Was weiß ich von dieser Josefa? Was weiß sie von mir? – Alles, was sie sagt, ob klug oder töricht, ist doch weiter nichts als graziöse Spielerei. Ich tippe mir jeden Abend vor dem Spiegel an die Stirn und sage: Mensch, du bist verrückt! – Und dieselbe Vernunft, die mir befiehlt, schleunigst abzureisen, raunt mir auch wieder zu: ›Du bist doch schließlich ein Mann, du darfst nicht mit leeren Händen fortgehen. Du mußt wenigstens bleiben bis zur Gewißheit!‹ . . . Das ist ja auch richtig, aber zum Lachen ist's doch! Eine Josefa Angern und ich?

Gegen Gefühle kann man nichts. Ich habe noch nichts Törichtes getan, ich kann noch zu jeder Stunde gehen. Aber wenn ich nach dieser Woche gehe, ohne Aussprache, ohne Gewißheit, gehe ich doch in dem schlappen Gefühle, daß sich so etwas im Sande verlaufen muß, weil's keine andre Berechtigung hat. Solche Abschlüsse habe ich nie geliebt. Ich bin von jeher zu sehr auf mich selbst angewiesen gewesen, um nicht an die Möglichkeit so lange zu glauben, bis die Unmöglichkeit auf der Hand liegt. Ich will eine Frau! Warum soll ich sie nicht haben?


Seit jenem Traum scheint's wie abgeschnitten. Das Mädel will nicht mehr. Ich zerbreche mir den Kopf, was ich gesagt, getan haben könnte. Ich finde nichts. Das ist eine sehr unangenehme Probe auf das Exempel. Ich muß dagegen bleiben, der ich bin. Ich glaube, daß niemand auch nur eine Ahnung haben kann, wie sehr mich diese Wandlung quält, wie sehnsüchtig ich nach Augen suche, die mir ausweichen . . . Ist es zu Ende? – Man mag auf jede Eventualität noch so gut vorbereitet gewesen sein, beim Schlag ins Gesicht fährt man doch zusammen. – Und ich kann nicht einmal plötzlich abreisen, ich habe keinen Vorwand, nachdem ich neulich bestimmt erklärt hatte, daß ich bis zum Mai am See bleibe, weil ich die Monte Baldo-Flora durchaus studieren muß . . . Ich habe mir noch nie in die Karten sehen lassen, ich habe mich noch nie lächerlich gemacht, soll ich hier zum Gespött werden? Es ist eine Situation, die man nur eine ganz bestimmte Zeit erträgt. An einem Tage kamen zwei Telegramme für Angerns. Soll's damit zusammenhängen? Denn auch die Gräfin-Mutter kann mit aller Liebenswürdigkeit die geheime Sorge nicht ganz verhüllen.

Es ist eben zu Ende! Und ich will kein unnützes Wort darüber verlieren, was mich dieses Ende kostet. Ich habe das Mädel lieb gehabt, ich habe es noch lieb, ich kann nicht anders . . . Aber ich möchte, ich bekäme jetzt auch ein Telegramm, das mich auf der Stelle abruft. Woher soll ich wohl ein Telegramm bekommen, vielleicht vom Monde? Mir eins auszudenken, bin ich zu stolz. Es wird sich eine letzte Aussprache finden. Dann gehe ich.


Und bis dahin Ruhe, ihr Nerven, und Kopf hoch! Ich habe mich glücklich aus mancher Wildnis herausgearbeitet, und sollte aus dieser simplen Angelegenheit keinen Ausweg finden?

Ist alles blinder Zufall oder alles Vorsehung? Ich muß die törichte Frage noch einmal stellen.

Wir haben nämlich während der Regenzeit auch unsre Gesundheitsspaziergänge nicht vergessen, speziell den Quedenbergschen Pflichtspaziergang bis Gardone absolvieren wir jeden Nachmittag vor dem Diner. Regen, Schmutz, die Landstraße aufgeweicht. Nebel über dem See, Nebel vor den Bergen, und wir mit Regenschirmen und Regenmänteln immer mitten durch. Was irgendwie zusammengehört, paart sich unter dem triefenden Dach. Ich als mißvergnügter Nobile trotte hinterher. Wer solche Karawane in solchem Regen sieht, dem werden alle Hoffnungen zu Wasser.

Das letztemal war's kaum zu ertragen. Ich fühlte mich so überflüssig auf dieser Welt. Wieder die gleiche Straße, wieder der gleiche Regen, im Herzen nicht mal ein Nachtlicht. Diesmal führten Angerns. Und ich glaube, uns alle hatte mittlerweile eine stille Wut gepackt gegen dies graue Einerlei, das von dem ganzen schönen Garda nichts gelassen hat als die Speisegerüche des Hotel Gardone, an dem wir sonst regelmäßig umkehren. Aber heute waren wir eigensinnig, kehrten nicht um und wateten in stummem Einverständnis an der neuen, evangelischen Kirche vorüber, an der Dichtervilla vorüber durch Fasano, bis in seiner verschleierten Bucht Maderno vor uns lag. Der Kommissionsrat, über den ein wilder Abenteurergeist gekommen schien, schlug vor, bis Maderno selbst weiterzugehen, dort einen Raritätenhändler aufzusuchen, der früher preußischer Offizier gewesen sein soll, und dann mit dem Dampftram zurückzufahren. Ich selbst verstehe von Raritäten nichts, ein neues Bild ist mir lieber wie ein altes, und die Achs! und Os! über wurmzerfressene Chorstühle mache ich nicht mit. Ich absentierte mich also unauffällig und ging lieber am Strande spazieren. Es wallte eine wahre Gespensterdämmerung über dieser einsamen Seepromenade mit den bröckelnden Vignenmauern. Hinter dem einzigen größeren Haus, einer Pension, eine vergitterte Mauernische, das verräucherte Heiligenbild darin von einem Oellämpchen trübselig beschattet. Das Bild interessierte mich nicht. Ich wollte einen alten Bekannten aufsuchen, der am Ende der Promenade wohnt: einen verschrumpften Greis, der durchaus nicht ins Armenhaus will. Er hat sich eine alte Bretterbaracke zusammengenagelt, der Regen tropft herein, der Wind pfeift durch, der Raum ist gerade groß genug, das schmutzstarrende Bett zu fassen. Dort lebt er, schläft er. Bei gutem Wetter kriecht er in die Sonne, um von alten Zeiten zu träumen, wo er einst der berüchtigtste Messerstecher am See war. Heute hatte er ausnahmsweise Licht, saß auf seinem Bett und ließ die nackten Beine baumeln. Er phantasierte nicht etwa, er döste nur greisenhaft. Ich besuche ihn oft. Meine Soldostücke nimmt er gern und dankt auch. Aber hinter mir her krächzt er und murmelt, und ich fürchte, daß diese Gebete für mein Seelenheil zugleich Flüche gegen die ganze Menschheit sind. Es sah fabelhaft phantastisch aus, der alte, halbnackte Kerl im Bett, von dem Lichtstumpf auf der Erde diese ganze italienische Armut phantastisch beleuchtet wie in einem Räuberroman. Vagabunden, die nicht ins Hospital wollen, sind mir immer interessant gewesen. Von den Leuten kann man lernen, wie man sich knurrend ins Schicksal fügt, und doch nicht fügt. Er spendete mir auch wieder seinen Segen.

Als ich zurückkam, wandelte Josefa die Seepromenade lang. Ich erschrak fast, als wir, aus dem Nebel auftauchend, uns auf einmal gegenüberstanden. Sie wollte weitergehen, ich aber überredete sie, umzukehren.

»Was haben Sie eigentlich, Gräfin?«

»Nichts.«

»Aber Sie haben doch etwas!«

». . . Das Wetter . . .«

»Warum gehen Sie dann nicht weg?«

»Weil ich nicht mag.«

Wir kamen an dem Heiligenbilde vorüber. Da blieb sie stehen und besah sich die trübselige Maria. »Sie sind auch wie alle andern! Ich werde doch mit fast dreiundzwanzig Jahren wahrhaftig das Recht haben zu sprechen, wann ich will, und zu schweigen, wann ich will.«

»Fraglos.«

Als wir weitergehen, fragt sie auf einmal: »Sie sind Protestant?«

»Nein, Katholik.«

»Das höre ich zum ersten Male.«

»Ich gehe auch nie zur Messe.«

Da dreht sie sich nach dem Heiligenbild um, dessen Lämpchen wie ein Glühwurm aus dem Nebel lugt. »Ich möchte manchmal, ich wäre Katholikin.«

»Das möchten manche Frauen . . .«

»O nein! Jeanette Quedenberg zum Beispiel ist fanatische Protestantin.« Dann zuckt sie die Achseln. »Es ist schließlich gleichgültig, an was man glaubt, wenn man nur glaubt . . .« Und in ihrer abspringenden Art fortfahrend: »Ich sagte Ihnen neulich, ich sei eine treulose Natur. Erinnern Sie sich?«

»Gewiß.«

»Halten Sie es für möglich, daß man einen Menschen, den man liebt, unbegreiflich lange Zeit ohne Nachricht läßt?«

»Das kommt auf den Menschen an.«

»Nun, ich habe an meinen Bräutigam vier Tage lang nicht geschrieben.«

»Und der Grund?«

»Ja, wenn Sie mir das sagen könnten, Herr Rin! Ich fing an und zerriß und fing wieder an. Es kam mir alles so albern vor . . . Das passiert manchmal, aber der Anfall ging sonst schneller vorüber.« – Sie blieb eine kurze Zeit wie nachgrübelnd stehen. »Ja, so bin ich, und das ärgert mich.«

»Das verstehe ich nicht, Gräfin. Sie waren doch die letzte Zeit so gut gelaunt.«

»Ja, das war ich, ich war zu lustig, ich habe mich zu gut amüsiert! Jetzt ist der Katzenjammer da . . . Eine Braut darf sich nicht von Herzen amüsieren ohne ihren Bräutigam! Und weil ich's nun einmal getan habe, habe ich die Empfindung, als hätte ich etwas Unrechtes getan, als könnte ich ihm nicht mehr gerade ins Gesicht sehen . . . Eigentlich sind Sie daran schuld! Sie sind überhaupt an vielem schuld. Ich bin für die breite Landstraße geboren, warum führen Sie mich auf Berge?«

»Und warum folgen Sie mir?«

»Ich werde Ihnen nicht mehr folgen, haben Sie keine Angst! . . . Ich bin keine wankelmütige Natur, die immer das Neue bevorzugt, wie Mama meint.«

»Und wenn Sie es doch wären? Sein müßten?«

Sie antwortet darauf nicht, sie hat's nicht gehört. Sie fährt wie im Selbstgespräch fort: »Er hat zweimal an mich telegraphiert, aus Sorge um mich. Er ist so viel treuer als ich . . .«

Von Tremosine her huschen breite, blaue Lichter über den See, die elektrischen Scheinwerfer von den Zollkuttern leuchten die Linie ab. Es sieht sich fast dämonisch an, wie der Leuchtkegel so weich und lautlos dahingleitet, die Berge, das Wasser mit lichtem Nebel überflutend, und ganz tief hinten das böse, beizende kleine Lichtauge, das die ganze Nacht nicht ruht.

Sie sah auch hin, aber sie dachte an andres. »Die Rennen haben schon begonnen. Er kann morgen schwer niederbrechen, er kann sogar schon heute tödlich niedergebrochen sein. Früher habe ich nie damit gerechnet, jetzt muß ich immer daran denken. Ich werde ihm noch von Maderno aus telegraphieren!«

Wir sind zu der schmalen Passage gekommen, wo sich der Bootshafen zwischen Kirche und Straße zwängt. Es ist hier ganz dunkel bis auf die schwarzen, unheimlichen Wasserreflexe. Ein Ort, wo man den Todfeind überfällt, und den Sterbenden dann in die Tiefe hinabstößt. Ich muß etwas Aehnliches gefühlt haben in dem Moment. Denn ich sagte bewußt langsam: »Und wenn eines Tages dieses Unglück passierte, wenn es schon passiert wäre? Glauben Sie, daß Sie es überleben würden?«

Wir waren eng beieinander gegangen, wie es die Straße vorschreibt. Jetzt weicht das Mädchen unwillkürlich zurück: »Das ist etwas Scheußliches, etwas Scheußliches! . . . Ich werde Ihnen nie darauf antworten! . . . nie! . . . Ich selbst habe . . . Es riecht so dumpfig hier, es ist überhaupt so ekel, weich die ganze Luft.« . . . Und sie eilte sich, auf die Piazza zu kommen.

War es mehr Angst vor mir oder vor ihr, was sie so trieb? Ich weiß es nicht . . . Aber wenn ich sie in dem Augenblick gefaßt, an mich gezogen hätte? Meine Hand hält fest, was sie einmal ergriffen hat . . . Vielleicht hätte das Mädchen aufgeschrien vor Grauen, vielleicht hätte sie es auch geduldet, schwankend, haltlos und dann mit den gleichen dürstenden Lippen mich wiederküssend, wie ich sie geküßt . . . Ich kenne das Mädchen in diesem Punkte nicht, aber ich hatte die dunkle Empfindung, daß ich es hätte tun können, tun müssen, gerade an dieser Stelle . . . Ich tat's nicht. Das war nicht Mangel an Entschluß. Es war mir nur zu heimtückisch dunkel, ein Wetter und ein Ort für Feiglinge und Verbrecher. Und wenn ich einem Bräutigam seine Braut nehme, so nehme ich sie doch lieber am hellen Tage.

Auf der Piazza kam uns die Mutter ängstlich entgegen. »Josefa, wo warst du? Du darfst nie wieder so allein gehen!« Mich schien sie überhaupt nicht zu sehen.

Bei der Rückfahrt saßen wir weit voneinander. Sie hatte sich in eine Ecke des Waggons gelehnt und sah in den Nebel, während die Hand langsam den Verlobungsring auf und nieder gleiten ließ. Ich bin nicht zur Table d'hote gegangen den Abend. Ich schützte unaufschiebbare Korrespondenzen vor. Ich mußte eine Stunde allein sein, ganz allein. Jetzt nur nicht in die Helle sehen, sondern im Dunkeln sitzen, starrend auf einen Punkt!

Es ist etwas Häßliches geschehen, und ich muß darüber hinwegkommen . . . Ich kenne nicht das Hochgefühl des Verführers, vielleicht weil es meiner Natur widerstrebt, vielleicht auch nur, weil ich nicht den Training des berufsmäßigen Schürzenjägers habe. Und heute, wo mir schließlich doch klar geworden ist, daß sich alles entwickelt, wie ich es wollte, nur schneller – daß ein Mädchen ratlos an einem Kreuzweg steht. Ein einziger, fester Griff, und sie geht meine Pfade! . . . Und gerade heute komme ich über den Mann nicht weg!

Dieser Lasowitz ist mir gleichgültig, absolut gleichgültig, und wird es auch bleiben.

Ja, wenn ich ihn haßte! Das wäre ein ander Ding. Dann würde ich kühl auch über seine Leiche schreiten in der richtigen Empfindung, daß der tote Feind besser ist als der lebende . . . Aber ein Mensch, den ich kaum kenne, der wahrscheinlich weder gut noch böse ist, und der das historische Recht auf eine Frau besitzt, während ich das natürliche zu besitzen glaube! Ich liebe diese Frau, jeder, der sie auch liebt, ist mein Feind. Aber er muß vor mir stehen, ich muß mich mit ihm messen können, mit dem Kopf, mit der Hand, mit irgendeiner Waffe, die er auch notdürftig zu führen vermag. Oder er müsse sich sonst als dürre Frucht erweisen, die vom Lebensbaum abfiel. Wer kümmert sich um eine einzige dürre Frucht, wo der saftstrotzende Baum noch so viele rotwangige trägt? . . . Ja, sie hat recht! Es war etwas Scheußliches, das ich an der dunkeln Stelle zu ihr sagte, aber es war doch auch wiederum echt. Es quoll aus den Tiefen einer Natur hervor, die besitzen will, die besitzen muß, die keinen Nebenbuhler duldet.

Ach, das war ein unsinniges Hin und Her. Wenn der Mann nur nicht hundert Meilen von hier entfernt wäre, wenn er wenigstens eine Ahnung hätte! Aber er hat eben leider keine Ahnung. Ein Wildschütz tut den Forstwart mit einem heimlichen Schusse in den Rücken ab, der anständige Mörder zielt offen nach der Brust.

Und schließlich bin ich auch über diese Kavaliersbedenken hinweggekommen. Habe ich auf meinen Reisen je an Herzschwäche gekrankt? Habe ich nicht rücksichtslos dem großen Ziel die kleinen Nebendinge geopfert, das Kamel, den Träger, beides wahllos? Wie wir zwei unsre letzte große Expedition ausrüsteten, wußten wir nicht genau, daß von Tier und Mann auch nicht ein Drittel die Küste erreichen würde? Als der Führer selbst starb, der sogar mein Freund war, habe ich mich da weinerlich gezeigt? Ich habe ihm nicht einmal die Augen zugedrückt, er starb allein. Denn ich mußte weiter. Die Stunde, die ich ihm schenkte, stahl ich mir, und das durfte ich nach der Lage der Dinge nicht. Wo's irgend darauf ankam, bin ich meinen Weg gegangen, ohne viel nach rechts und nach links zu sehen. Was fällt, das fällt eben! Das Kamel, das mir liegen bleibt, kann ich höchstens aus Barmherzigkeit töten. Nach der Schlacht muß man seine Toten zählen, in der Schlacht darf man es nicht . . .

So weit bin ich jetzt auch in bezug auf den Mann. Und wenn ich's mir recht überlege: ist der ahnungslose, ferne Lasowitz nicht am Ende mein schlimmster Feind, und ihr treuester Freund? Von den Menschen kommt man so viel eher los als von ihren Schatten. Und wenn ich die Frau gestern nicht in meine Arme riß, so war es der Schatten dieses Mannes, und wenn sie mir morgen nicht in die Arme sinkt, hindert das nicht vielleicht der gleiche Schatten? Die Kinder, die ihre Eltern notorisch schlecht behandelt haben, sterben fast vor Reue, wenn sie am Elternsarg stehen. Den Lebenden liefen sie hohnlachend aus dem Hause und ehrten die grauen Haare nicht.

Die Liebe ist Kampf, der Sieg Recht. Ich hätte sie gestern doch an mich ziehen sollen, ob sie sich nun in Leidenschaft oder Abscheu wand! . . . Warum tat ich's nicht? Warum werde ich's wahrscheinlich auch morgen nicht tun?

Ich ging an dem Abend noch lange im Regen spazieren. Und wie immer, wenn ich allein mit mir bin, gewann ich auch die Klarheit mir gegenüber. Ich werde morgen eine letzte Unterredung suchen und finden, ob nun mit List, ob mit Gewalt. Dann wird sich's entscheiden auf einen Ruck.


Als ich von dem Spaziergang zurückkam, lag auf dem Schreibtisch ein Telegramm. Man fragt von Berlin an, ob ich geneigt sei, die Führung einer großen Saharaexpedition zu übernehmen. Projektierter Aufbruch: ersten Oktober. Meine Entschließung: möglichst binnen acht Tagen.

Da habe ich ja nun das Telegramm, das mich abruft! Ich hielt's lange in der Hand und las es wieder und wieder. Wenn ich je im Leben die Ahnung verspürt habe, daß es doch etwas geben muß, das uns leitet, so spürt' ich's an jenem Abend, wo auch ich an einem Kreuzwege stand. Hier eine ganz große Zukunft, ehrgeizige Träume die Fülle – und dort nur ein Weib. Und daß ich angesichts dieses auch nicht einen Augenblick geschwankt habe, das beweist nicht viel, das beweist alles. Zwischen jetzt und acht Tagen entscheidet sich mein Leben. Gäbe doch die Vorsehung, daß es nicht der großen Zukunft, sondern dem großen Glück entgegengehe! . . .

Was doch ein Weib vermag, ohne es zu ahnen! Und wie schrecklich greifbar jetzt plötzlich die Möglichkeit vor mir steht, gerade auf dieses Weib vielleicht verzichten zu müssen. Aber es gibt keine Unmöglichkeiten. Was man will, hat man!

Und jetzt kommt mir der alte afrikanische Wagemut wieder, der mich noch immer gut geführt hat. Und nun nicht mehr an das Kleine, Nebensächliche denken, die Steine, an denen man sich doch stößt, die Dornen, an denen man sich doch ritzt! Es wird gehen, und es muß.


Vorläufig schwieg ich. Beim Lunch wunderten sich meine Freunde, daß ich so zuversichtlich ausschauen könne trotz des Regens. Die Narren!

Als mir uns zum Kaffee in den Angernschen Salon zurückzogen, zeigte ich einfach das Telegramm.

Sie lasen – sahen mich an; lasen – sahen mich wieder an. Der Name, der darunter stand, war ihnen so ehrwürdig, daß sie anfangs nichts zu sprechen wagten.

Die erste, die das Schweigen brach, war die Gräfin-Mutter. »Ich gratuliere von Herzen, Herr Rin.«

Josefa hielt das Blatt als letzte noch immer in der Hand, und ich glaube, diese Hand bebte leicht. Aber unter den Händen, die sich mir glückwünschend entgegenstreckten, war die ihre nicht. Erst viel später fragte sie ruhig: »Nehmen Sie an, Herr Rin?«

»Das kommt darauf an, Gräfin.«

Unsre Augen fanden sich, verstanden sich, glaube ich wenigstens.

Sie ging kurz darauf weg, um der Jungfer noch etwas zu bestellen, wie sie sagte. Niemand fiel es auf, – nur die Mutter sah ihr nach.

Als sich die erste Freude gelegt, sagte die Gräfin Angern mit dem liebenswürdigsten Lächeln: »Schade, daß sich unser kleiner Kreis jetzt so merklich lichtet! Josefa und ich reisen auch schon morgen, erst nach Venedig und dann nach Florenz. Sie kennt Italien noch nicht außer Nizza, und wer weiß, ob sich das nach ihrer Verheiratung wieder so bequem macht. Gerade Venedig war immer ihr Traum. Sie weiß auch noch nichts. Ich wollte sie überraschen. Verraten Sie ihr, bitte, auch nichts, wenn sie jetzt kommt!«

Das war eine Ueberraschung, die fast noch mehr wirkte als die meine, weil man von so überaus höflichen Menschen solcher Ueberraschungen sich nicht versieht. Vielleicht standen alle vor einem Rätsel – mich ausgenommen.


 << zurück weiter >>