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11. Was der Bettler erzählt

Hoch oben in den Bergen der Pyrenäen, da wo westlich von Andorra der gewaltige Maladetta, »der Verfluchte«, seine Spitzen in die Wolken reckt und seine finstern Schluchten tief in die Erde gräbt, schlich ein Wanderer den wilden Pfad hinab.

Keine Quelle ließ ihre erfrischenden Wellen abwärts murmeln; kein Busch oder Strauch bot einigen Schatten. Heiß, glühend heiß brannte die südliche Sonne auf den nackten Felsen, auf die öden Gänge und die kahlen Bergstürze, und doch hätte der einsame Wandersmann gar sehr eines kühlen Trunks oder eines kühlen Orts bedurft, wo er seine müden Glieder vor den verzehrenden Strahlen verbergen konnte.

Er war alt. Sein Haar war ergraut und sein Gesicht eingefallen und verwittert. Auch die Haut seiner Hände war von Wind und Wetter lederhart gegerbt; die Kleidung hing ihm beinah nur noch in Fetzen um den Leib, und seine alten Sandalen waren so zerrissen, daß die nackten Füße den glutgesättigten Boden berührten. Dabei schien er sehr krank zu sein, denn ein immerwährendes Hüsteln ließ seine eingefallene Brust erbeben.

So schlich er sich weiter und weiter, immer tiefer in die Schluchten hinein. Er konnte vor Erschöpfung kaum fort, aber immer wieder zwang er die brennenden Füße weiter, als werde er von einem mitleidlosen Verhängnis oder von einem grausamen Fluch über diese Einöden getrieben.

Endlich machte er halt und warf den Blick forschend umher, »Hier in der Nähe muß es sein«, murmelte er. »Hierher habe ich den Knaben gebracht; von hier ging ich nach Mexiko, und von hier beginnt die Qual, die mir das Mark aus den Knochen und das Leben aus dem Herzen fraß. Hier werde ich ausruhn.«

Er ließ sich auf den glühend heißen Stein nieder und senkte den Kopf in die Hände. Es war kein Laut umher zu vernehmen. Nur das Keuchen seiner kranken Brust unterbrach die ringsum herrschende Stille.

» O, santa madre dolorosa«, ließ er sich endlich wieder vernehmen. »Was habe ich gesündigt; wie wurde ich belohnt, und was hatte ich von dem Verbrechen! Jetzt habe ich mich über Länder und Meere gebettelt, um den Himmel zu versöhnen und meinen armen Kopf ins Grab zu legen. Herrgott im Himmel, vergib mir! Laß mich nicht umsonst suchen! Laß mich finden, damit ich nicht zur Hölle fahre!«

Wieder schwieg er, um eine geraume Weile hustend nachzugrübeln. Dann begann er abermals:

»Aber, ob er noch lebt? Hätten sie ihn getötet, den schönen Knaben, der schlafend in meinem Schoß lag, wie das Heilandskind in den Armen der heiligen Madonna? Es wäre schrecklich! Nein, ich halte diese Ungewißheit nicht aus! Ich muß auf und fort, da links hinüber, wo die Gegend ist, in der die Räuber ihr Versteck hatten. Aber keiner darf mich erkennen, keiner darf ahnen, wer ich bin und was ich hier bei ihnen will. Sie werden mich nicht von sich stoßen, sie werden mich, den Kranken, den Sterbenden, bei sich aufnehmen, und ich werde bald erforscht haben, ob der noch lebt, den ich suche. Vorwärts, ihr müden Füße! Noch einen Weg nur sollt ihr tun, und dann werdet ihr ausruhn für immerdar!«

Er erhob sich mühsam und setzte seine Wanderung fort. Während er sich bisher möglichst grade nach Süden gehalten hatte, wandte er sich jetzt einer mehr östlichen Richtung zu. Die Längstäler verloren sich; er hatte jetzt tiefe Seitentäler und kurze, schroffe Felsenmauern zu überwinden; er hustete und keuchte, er ächzte und stöhnte, aber er gönnte sich keinen Augenblick Ruhe, bis er einen Streifen erfrischendes Grün vor sich erblickte. Nun hatte er die Grenzen der Öde hinter sich und gelangte zu Bergen, die zunächst von niederm Gestrüpp, bald aber auch von Büschen und endlich gar von einem dichten Baumwuchs bestanden waren.

Zwischen diesen Büschen und Bäumen kletterte er empor, bis er einen freien, rings von hohen Sträuchern eingefaßten Platz erreichte, auf dem er sich niederließ. Kaum aber hatte er dies getan, so vernahm er Schritte hinter sich, und noch ehe er Zeit gehabt hatte, sich umzudrehn, fühlte er eine feste Hand auf seiner Achsel, und eine barsche Stimme fragte:

»Was willst du hier, Alter?«

»Sterben!«

Nur dieses eine Wort antwortete er, dann ließ er den Kopf, den er erhoben hatte, wieder sinken.

»Sterben? Warum?«

Der Frager war ein junger, kräftiger Mann, der wegen der Waffen, die er trug, nicht gut für den friedlichen Bewohner einer Stadt oder eines Dorfs gehalten werden konnte.

»Weil ich nicht weiter kann«, seufzte der Kranke.

»Warum kommst du hierher? Was suchst du hier?«

»Ich suche schon viele Tage lang in den Bergen nach einer Wurzel, die mein Leiden heilen kann, aber ich habe sie noch nicht gefunden.«

»Wo bist du daheim?«

»Weit von hier, bei Orense, an der Grenze von Portugal.«

»So weit wagtest du dich fort mit deiner Krankheit? Hast du Brot bei dir?«

»Nein.«

»Nichts, gar nichts? Heilige Mutter Gottes, da wirst du ja verhungern, ehe du an der Auszehrung stirbst! Wart, ich werde fragen, ob ich dich bringen darf!«

Der junge Mann verschwand hinter den Büschen, kehrte aber bald wieder zurück.

»Wenn du dir die Augen verbinden lassen willst, so werde ich dich an einen Ort führen, wo du ausruhn und dich pflegen kannst, solange du willst«, sagte er.

»Die Augen verbinden? Warum?«

»Es ist notwendig. Du darfst den Eingang zu uns nicht sehn.«

»Ah, wer seid ihr?«

»Wir sind Briganten, sonst aber ganz ehrliche Leute, Alter.«

»Briganten? Also Räuber? Ach, ich fühle mich müde, und ich bin arm; ich brauche mich vor euch nicht zu fürchten. Verbinde mir getrost die Augen und führe mich, wohin du willst!«

Der Räuber nahm sein Tuch vom Hals, band es dem Alten um die Augen und ergriff ihn bei der Hand, um ihn zu leiten. Es ging eine Strecke lang durch Büsche hin, dann, dem Klang der Schritte nach, in einen Gang hinein, bis sie haltmachten und dem Alten das Tuch wieder abgenommen wurde. Er befand sich im Innern eines oben offnen Felsenkessels. Rundherum saßen gegen zwanzig wilde, bewaffnete Gestalten, die entweder aßen, tranken, rauchten und spielten, oder sich mit ihren Gewehren zu tun machten. Man führte ihn vor einen starken, vollbärtigen Mann, der etwas abseits auf einer wollenen Decke lag und damit beschäftigt war, Geld in einen großen, ledernen Beutel zu zählen.

»Wie heißt du?« fragte dieser den Neuangekommenen barsch.

»Mein Name ist Bernardo, Señor.«

Der Brigantenführer richtete einen scharfen Blick auf ihn und meinte, sich besinnend:

»Mir ist, als hätte ich dich schon einmal gesehn!«

»Ich weiß nichts davon.«

»Man sagt, daß du aus der Gegend von Orense bist. Warum bleibst du nicht daheim, wenn du krank bist?«

»Grad meine Krankheit trieb mich fort, Señor. Ich suche auf den Bergen eine Wurzel, die alle Krankheiten heilt.«

»Oho, die gibt es nicht!«

»Die gibt es, Herr; eine kluge Gitana Zigeunerin hat es mir gesagt.«

»Hast du keinen Sohn, der an deiner Stelle gehn konnte?«

»Ich habe weder Sohn noch Tochter und keinen einzigen Freund auf Erden.«

»So bleibe hier und ruhe dich aus! Du wirst es nicht mehr lange treiben, Mann. Hinaus darfst du ohne meine Erlaubnis nicht wieder. Und wenn du ein Verräter bist, so nimm dich wohl in acht! Ich scherze mit solchen Leuten nicht.«

Es wurde dem Alten ein abgelegner Platz angewiesen, wo er Speise und Trank erhielt; kein Mensch schien sich weiter um ihn zu bekümmern.

Nach einer geraumen Weile trat der Mann wieder ein, der draußen Wache hielt, und meldete dem Hauptmann, daß ihn ein Fremder zu sprechen begehre.

»Wer ist es?« lautete die Frage.

»Er will es nicht sagen. Er trägt eine schwarze Larve, damit man ihn nicht erkennen soll.«

»Ah, ich komme gleich.«

Der Hauptmann erhob sich, steckte noch eine Pistole zu sich und verließ das Felsenversteck. Draußen erblickte er den Fremden. Jedenfalls kannte er ihn; denn er eilte auf ihn zu, streckte ihm die Hand entgegen und begrüßte ihn mit den Worten:

»Willkommen, Señor Gasparino, willkommen! Es sind Jahre vergangen, seit wir uns das letztemal gesehn haben!«

»Pst!« warnte die lange, hagere Gestalt des Verhüllten. »Wer wird hier Namen nennen! Sind wir sicher und unbelauscht?«

»Vollständig! Die Wache ist dort rechts auf ihrem Posten; sie kann uns nicht hören, und sonst ist kein Mensch zugegen. Ich hoffe, Ihr bringt mir eine gute Arbeit.«

»Möglich, wenn Ihr nicht zuviel verlangt. Was kostet es, zwei Menschen verschwinden zu lassen?«

»Das richtet sich ganz danach, wer sie sind.«

»Es ist ein Graf und ein Arzt.«

»Welcher Graf?«

»Der alte Manuel de Rodriganda y Sevilla.«

»Euer Herr? Beim heiligen Sebastian, Ihr seid ein treuer Diener! Leider aber kann ich Euren Wunsch nicht erfüllen! Der Graf steht unter dem Schutz eines meiner Freunde. Ich darf ihm kein Haar krümmen.«

»Pah, ich zahle gut!«

»Das ändert nichts. Wir Briganten sind ehrlich gegen unsre Freunde. Ihr könnt mir zehntausend Dublonen geben, so würde ich Euch dennoch abweisen müssen. Betrachtet das als abgemacht! Wer ist der zweite?«

»Ein Arzt aus Deutschland.«

»Das wird besser gehn.«

»Und billiger?«

»Allerdings. Wo wohnt er?«

»Beim Grafen.«

»Ah, so wird es nicht sehr billig sein. Wenn er bei einem Beschützten wohnt, wird man sich nicht leicht an ihm vergreifen dürfen.«

»Dürfen, sagt Ihr? Wer will Euch, dem Hauptmann, etwas verbieten?«

»Ich selbst. Ich kann die Gesetze nicht selber übertreten, die ich gegeben habe. Warum soll dieser Mann verschwinden?«

»Er ist mir im Weg; das muß Euch genügen.«

»Gut. Soll er sterben oder nur verschwinden?«

»Das erstere ist sichrer.«

»So zahlt Ihr tausend Dublonen.«

»Tausend Dublonen? Seid Ihr des Teufels, Capitano?«

Der Hauptmann erhob sich und meinte sehr einfach:

»So könnt Ihr es lassen. Adios, Señor!«

»Nun gut! Also tausend Dublonen. Wann zahlbar?«

»Die Hälfte jetzt und das andre danach.«

»Und wenn es nicht gelingt?«

»Es muß gelingen! Wie ist ihm beizukommen?«

»Das läßt sich jetzt noch nicht sagen. Es mögen mehrere Männer nötig sein. Diese laßt Ihr nach Rodriganda gehn, wo ich sie im Park treffen und ihnen meine Anweisungen erteilen werde. Hier habt Ihr Eure fünfhundert Dublonen, Capitano.«

Er zählte dem Hauptmann das Geld vor und erkundigte sich:

»Habt Ihr den kleinen Burschen von damals noch?«

»Ja. Er ist unter dieser Zeit ein großer Bursche geworden.«

»Warum stirbt er nicht?«

»Ihr bezahltet mich damals nur dafür, daß er verschwinden sollte. Aber sagt mir doch nun einmal, wer er denn eigentlich ist!«

»Das erfahrt Ihr später. Wofür hält er sich denn?«

»Für einen Findling.«

»Fast bin ich begierig, ihn einmal zu sehn.«

»Das laßt Euch vergehn, Señor! Ihr seid kein Mitglied. Ihr bezahlt mich für meine Arbeit und könnt gehn. Weiter als hierher kommt Ihr nicht.«

»So muß ich mich zufrieden geben. Wann werden Eure Leute in Rodriganda sein?«

»Morgen abend. Adios, Señor!«

»Adios!«

Die Männer gaben einander die Hände und trennten sich. Es war hier über das Leben eines Menschen verhandelt worden, wie über einen nebensächlichen und geringfügigen Gegenstand. Doch es fragt sich, wer von den beiden der Schlimmere, der Gefährlichere war, der Räuberhauptmann, oder der schleichende Notar, der zu seinen Taten die Kunst der Verstellung und die Maske des Geheimnisses zu Hilfe nahm.

Nachdem der Bandit in seine Höhle zurückgekehrt war, verhandelte er, in eine abgelegene Ecke zurückgezogen, sehr eifrig mit fünf seiner Leute, die den Auftrag erhielten, sich nach Rodriganda zu begeben, um die von dem Notar gewünschte Tat auszuführen.

Als der Abend hereinbrach, nahte sich einer der Briganten dem kranken Bettler, gebot diesem, ihm zu folgen und führte ihn in einen dunklen Gang, der sich tief in das Innere des Berges hineinzog. Zu beiden Seiten dieses Gangs waren kleine Zellen in den Felsen eingehauen, die von den Bewohnern der Höhle als Schlafraum benutzt wurden. Einige waren mit schweren, eisenbeschlagnen Türen versehn, so daß es schien, als ob sie den Zweck hätten, als Gefängnisse zu dienen.

Der Räuber war ein junger Mann, der vielleicht zweiundzwanzig Jahre zählen mochte. Er trug die malerische Kleidung der Provinz Katalonien. Beim Schein der kleinen Lampe, die er in der Hand hielt, konnte man die edlen Züge seines Gesichts erkennen, die durchaus nicht einen Räuber in ihm vermuten ließen. Er war schlank, aber kräftig gebaut, und seine Bewegungen zeigten eine Anmut und Gewandtheit, die jeden Beschauer für ihn einnehmen mußten.

»Hier ist deine Kammer, mein guter Alter«, sagte er, auf eine der offnen Zellen zeigend. »Du findest da ein gutes Lager. Soll ich dir das Licht hier lassen?«

»Ja«, antwortete der Bettler, »Wer weiß, ob ich diese Kammer jemals wieder verlasse!«

»Warum nicht? Der Mensch soll sich nicht von Ahnungen beherrschen lassen. Du bist wohl sehr krank, aber Gott kann auch die schlimmste Krankheit heilen. Du darfst also hoffen!«

»Ja, ich hoffe,« entgegnete der Bettler unter einem qualvollen Hustenanfall, »aber nur auf den Tod. Er soll mir der Erlöser sein von allen meinen Leiden.«

»Hast du große Schmerzen?« fragte der Räuber, indem er sich mitleidig bückte, um dem Greis das Lager aufzuschütteln.

»Das Leben darf nicht schmerzlos fliehn; der Körper wehrt sich gegen den Tod. Aber was sind die Leiden des Körpers gegen die Qualen des Geistes! Diese sind fürchterlicher, mein Sohn. Hüte dich, sie jemals kennenzulernen!«

»Du leidest an der Seele? Ich wollte, ich könnte dir deinen Kummer erleichtern; ich würde dir gern helfen.«

»Ja, du scheinst ein mitleidiges Herz zu besitzen. Aber mir kann nur der Capitano –oder doch, vielleicht wirst du mir ein wenig behilflich sein in dem Anliegen, das mich hierher führt.«

»Wenn ich kann, gern!«

»Weißt du vielleicht, ob sich unter euch einer befindet, der seine Abkunft nicht kennt?«

Der junge Brigant horchte auf. »Wie kommst du zu dieser Frage?«

»Weil ich nach einem solchen Mann suche.«

»So muß ich sagen, daß ich einen, aber auch nur einen solchen Mann kenne.«

Der Alte blickte mit einem Ausdruck freudiger Hoffnung auf. »Wer ist es?«

»Ich selber bins.«

»Ists möglich? Wie heißest du?«

»Mariano.«

»Und weiter? Hast du sonst keinen Namen?«

»Nein.«

»Ah! Wie bist du denn unter die Briganten gekommen?«

»Der Hauptmann hat mich in den Bergen gefunden. Ich bin ein Findling. Er hat mich zu sich genommen, aber all sein Forschen nach dem, der mich ausgesetzt hat, war vergeblich.«

»Wie alt bist du?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wie lange bist du bei den Briganten?«

»Es sind nun achtzehn Jahre gewesen.«

»Achtzehn Jahre?« fragte der Alte nachdenklich. »Oh, das ist dieselbe Zeit. Hast du keine Erinnerungen aus deiner Jugend mehr? Kannst du dich auf nichts mehr besinnen, mein lieber Sohn?«

»Nein. Ich weiß nichts mehr aus jener Zeit, obgleich ich oft von ihr geträumt habe.«

»Vielleicht hältst du für Traum, was Wirklichkeit gewesen ist. Was hat dir denn geträumt?«

»Ich träumte viel von einer kleinen Puppe. Sie lag in einem schönen, weißen Bettchen, an dessen Ecke eine goldne Krone zu sehn war, und sie war lebendig.«

»Weißt du vielleicht noch, wie sie hieß?«

»Ja«, antwortete er. »Ich weiß noch ganz genau, daß ich sie Roseta Röschen, genannt habe. Auch hat mir von einem großen, hohen Mann geträumt, der mich Alfonso nannte. Er nahm mich auf seinen Schoß und trug stets eine schöne, goldne Uniform. Bei uns war auch immer eine schöne, stolze Frau, die mich sehr liebhatte und mich und die kleine Roseta herzte und küßte. Ich war klein, doch ich weiß, daß ich sie Papa und Mama nannte. Auch lag ich in einem Bett, das Kronen trug. Einmal kam ein fremder Mann, als ich schlief; da erwachte ich, und der Mund ward mir verbunden. Aber ich hatte nicht auf unserm Schloß geschlafen, sondern in einer Stadt, wohin ich mit dem Papa und der Mama gefahren war. Ich wollte schreien, denn ich fürchtete mich vor dem Mann, aber er band das Tuch fester, und ich schlief vor Angst wieder ein. Als ich erwachte, lag ich im Wald. Das ist es, was mir geträumt hat.«

»Weiter nichts, weiter gar nichts? Weißt du nicht, wie der Mann hieß, der die Uniform trug?«

»Die Diener nannten ihn Graf oder auch wohl Exzellenz.«

»Ah! Nannten sie nicht zuweilen einen Namen?«

»Nein.«

»Höre, mein Sohn, das hat dir nicht geträumt, sondern das ist Wirklichkeit!«

»Ich habe es auch zuweilen gedacht; doch wenn ichs dem Capitano sagte, so wurde er sehr zornig und gebot mir zu schweigen. Von der Krone durfte ich gar nicht sprechen, obgleich ich sie genau schildern konnte. Er wollte mich schlagen, wenn ich sie beschrieb, und so habe ich immer darüber geschwiegen.«

»Kannst du dich noch jetzt auf sie besinnen?«

»Sehr genau. Sie hatte goldne Zacken mit Perlen, und darunter standen zwei silberne Zeichen.«

»Welche Zeichen waren das?«

»Ich wußte es erst nicht, aber als man mich das Lesen lehrte, da lernte ich diese beiden Zeichen kennen. Es waren zwei Buchstaben, nämlich ein R und ein S

»Das war eine Grafenkrone. Vergiß diese Zeichen niemals!«

»Ich werde dies alles nie vergessen, obgleich ich mit niemand darüber spreche.«

»Und es hat auch niemals außer dir hier unter den Briganten ein Findelkind gegeben?«

»Niemals!«

»So bist du es, den ich suche.«

Mariano erstaunte. »Gesucht hast du mich? Warum?«

»Mein Sohn, wenn es Gottes Wille ist, so wirst du vielleicht einmal erfahren, wer du bist. Das, was du heute von mir hören wirst, soll dir den Weg zeigen, auf dem du es erfahren kannst.«

Das Gesicht des jungen Mannes nahm einen freudigen, glücklichen Ausdruck an. Er rief:

»Ists wahr? Gelobt sei Gott für diese große Barmherzigkeit!«

»Still!« warnte der Bettler. »Es darf kein Mensch wissen, daß ich über diese Sache mit dir reden will. Wenn es der Hauptmann erführe, wärest du verloren. Eigentlich solltest du getötet werden, aber der Capitano tat es nicht; sollte er es jedoch merken, was ich dir mitteilen will, so müßte er dir das Leben nehmen, damit das Geheimnis nicht verraten wird. Es ist ein glücklicher Umstand, daß gerade du es bist, der mir diese Kammer anweist. Aber es darf kein Mensch erfahren, was ich dir zu sagen habe. Darum sollst du erst dann zu mir kommen, wenn man dich nicht vermissen wird.«

»Das wird sein, sobald die andern alle schlafen.«

»Bring auch Papier, Feder und Tinte mit, denn du wirst etwas zu schreiben haben. Auch mehr Licht wirst du besorgen müssen, da das Schreiben eine lange Zeit erfordert.«

Mariano ging, und der Alte blieb allein.

»Habe Dank, Madonna,« murmelte er, »daß du mir Kraft gegeben hast, diesen Ort noch zu erreichen. Vielleicht wird Gott mir vergeben, wenn ich gutzumachen suche, was ich im Leichtsinn verbrochen habe.«

Ein neuer Hustenanfall raubte ihm den Atem.

Bald zog sich einer der Räuber nach dem andern zum Schlaf zurück. Einige blieben auch gleich im offnen Felsenkessel liegen, und es war noch nicht Mitternacht, als auch der letzte sich in seine Decke hüllte, um die Ruhe zu suchen.

Dann schlief alles, und nur der Posten draußen am Berg lauschte in die dunkle Nacht hinaus, um die Kameraden vor jedem Unglück zu bewahren.

Da verließ Mariano seine kleine Zelle. Er hatte seine Aufregung kaum zu beherrschen gewußt. Endlich, endlich sollte der Schleier gelüftet werden, der seine Vergangenheit bedeckte! Seine Träume sollten nicht Trug, sondern Wirklichkeit gewesen sein! Er fühlte das schnelle Klopfen seines Herzens, als er sich nach dem Gang schlich, in dem die Zelle des Kranken lag. Dieser war wach und setzte sich bei seinem Kommen auf. Mariano stellte das Licht auf den Boden und nahm neben dem Lager des Alten Platz.

Der Kranke atmete mühsam. Er streckte die Hand aus und nahm die Rechte Marianos in die seine, die im Fieber glühte.

»Mariano,« begann er seine Beichte, »an dir ist ein großes Verbrechen begangen worden, und ich – ich habe dabei mit geholfen. Ich verlange jetzt noch nicht deine Verzeihung. Höre zuerst, wie ich gegen dich gesündigt habe.«

Der Kranke schwieg und holte tief Atem, als ob er sich erst die nötige Kraft verschaffen müsse, um fortfahren zu können.

»Du mußt nämlich wissen, Mariano, daß ich einst Mitglied der Briganten war.«

»Du? Ah! Der hiesigen Briganten?«

»Ja. Der Capitano war mein Hauptmann. Ich heiße Tito Sertano und bin aus Mataro. Ich war ein armer Schiffer und schaffte zuweilen einige Ellen seidenes Zeug von Frankreich über die Grenze herein. Da wurde ich einst ertappt. Man beschlagnahmte mir mein Boot und die Ware und steckte mich ins Gefängnis. Ich aber entfloh, und da ich nun nirgend sicher war, so ging ich unter die Briganten. Meine erste Tat, die ich verrichten mußte, war die Vertauschung eines Kindes. Ein kleiner Schmuggel hatte mein Gewissen nicht beschwert, diese Tat aber machte mich bange. Ich konnte des Nachts nicht mehr schlafen, und als dann der Capitano gar von mir verlangte, einen Menschen zu töten, da brach ich den Eid der Treue, den ich ihm geleistet hatte, und ging davon.«

»Erzähle mir die Geschichte von der Vertauschung des Kindes!« bat Mariano.

»Es war, wie ich bereits bemerkte, meine erste Tat. Der Hauptmann ging, um ganz sicher zu sein, selber mit. Er führte mich in einen Gasthof der Stadt Barcelona, wo wir einkehrten und über Nacht blieben. Um Mitternacht trat ein Mann zu uns herein, der ein Bündel auf den Tisch legte. Als er das Tuch auseinanderschlug, enthielt es einen etwa vier Jahre alten Knaben. Das Tuch roch sehr nach Äther, und daraus schloß ich, daß man das Kind besinnungslos gemacht hatte. Ich mußte diesen Knaben mit einem andern verwechseln, der in einem zweiten Gastzimmer lag und schlief. Das Zimmer war nicht verschlossen, und ich bekam ein Ätherfläschchen mit, um auf die gleiche Weise auch den zweiten Knaben bewußtlos zu machen. Nachdem ich die Kleidung der beiden Kinder vertauscht hatte, kehrte ich mit dem fremden Kind zurück, das der Hauptmann nun mit hierher nach der Höhle nahm.«

»Weißt du dies bestimmt?«

»Ja. Ich ging ja mit und mußte den Knaben tragen. Es ist kein andrer als du.«

»Auch das weißt du genau?«

»Ich möchte es beschwören! Du glaubst, geträumt zu haben, aber du irrst dich, denn dein Traum ist Wahrheit gewesen. Als ich die Kleider vertauschte, sah ich auf den Kleidern des fremden Knaben die Grafenkrone mit den beiden Buchstaben R und S. Ich kann mich noch genau besinnen, daß es am 1. Oktober des Jahres 1830 gewesen ist, nämlich in der Nacht vom 1. auf den 2. Oktober.«

»Hast du den Mann nicht erkannt, der euch den Knaben brachte? Dies zu erfahren, muß für mich von der allergrößten Bedeutung sein.«

»Ich kannte ihn nicht, aber seinen Namen habe ich gehört. Der Hauptmann vergaß sich einmal und nannte ihn Señor Gasparino, und beim Abschied draußen an der Treppe, als sie sich unbeobachtet glaubten, sprach er diesen Namen abermals aus. Die Tür stand offen, und so hörte ich ihn deutlich. Ich würde den Mann sofort wiedererkennen, wenn ich ihn noch einmal zu sehn bekäme.«

»Wie war seine Gestalt?«

»Lang und hager. Er hatte eine schnarrende Stimme und sprach in sehr salbungsvollen Worten und Ausdrücken.«

»Also du hast den fremden Knaben in fremden Kleidern hierher gebracht. Was wurde dann mit ihm?«

»Er blieb in der Höhle und wurde gut gepflegt. Er sprach immer von seiner Mama, von seinem Papa, von der kleinen Roseta, von dem guten Alimpo und von der guten Elvira. Endlich verbot ihm der Capitano, diese Namen zu nennen, und dann mag er sie wohl ganz und gar vergessen haben.«

»Nein«, fiel Mariano ein. »Ich habe sie nicht vergessen. Die beiden letzten Namen waren mir allerdings entfallen, aber jetzt entsinne ich mich ihrer genau. Der gute Alimpo trug mich viel auf seinen Armen. Was er im Schloß war, das weiß ich nicht. Er hatte ein wunderbares Bärtchen unter der Nase. Die Spitzen dieses Schnurrbarts waren fortrasiert, und nur grade unter der Nase hingen ihm zwei lange Haarflocken weit über den Mund herab. Ich litt es deshalb nicht, daß er mich küßte. Er schloß seine Reden immer mit der Behauptung: ›Das sagt meine Elvira auch.‹ Die Elvira war seine Frau. Sie war sehr dick. Sie steht so lebhaft vor meinem Gedächtnis, daß ich sie sofort erkennen würde, wenn ich ihr einmal begegnete. Erzähle jetzt weiter!«

Nachdem der Kranke einen erneuten Hustenanfall überwunden, fuhr er fort:

»Einige Wochen nach der Umwechslung des Kindes sollte ich einen Reisenden töten. Ich weigerte mich. Der Capitano drang darauf und drohte mir mit der Todesstrafe, wenn ich seine Befehle nicht erfüllen würde. Ich tat, als ob ich gehorchen wolle, und ging; aber ich bin nicht wiedergekommen. Ich ging nach Jean de Luz in Frankreich und kam als Matrose auf ein Schiff. Wir fuhren nach den Antillen, und von da an diente ich auf verschiednen amerikanischen Küstenfahrern, bis ich einst in San Juan de Callao erkrankte. Ich genas und trat in den Dienst eines reichen Mexikaners, der mich mit in die Hauptstadt Mexiko nahm. Bei ihm diente ich viele Jahre, bis er starb. Von da an ist es mir sehr traurig gegangen. Meine kleinen Ersparnisse gingen zu Ende, und die Auszehrung ergriff meine Brust. Ich fühlte, daß ich dem Tod nicht entrinnen könne. Da ergriff mich die Sehnsucht nach Vergebung meiner Sünden; mich beseelte das Verlangen, den geraubten Knaben aufzusuchen und ihn um Gnade und Verzeihung zu bitten. Ich bettelte mir die Überfahrtgelder zusammen und kehrte nach Spanien zurück. Die Krankheit hat meinen Körper verheert, und niemand kann mich erkennen. So konnte ich es wagen, die Höhle aufzusuchen, um mich nach dem Knaben zu erkundigen. Gott hat es gefügt, daß ich ihn gleich am ersten Tag treffe, und das ist gut, denn ich weiß nicht, ob ich den morgigen Tag noch erleben werde.«

Ein fürchterlicher Hustenanfall ergriff den Alten nach der Beendigung seiner Erzählung, die die widersprechendsten Gefühle im Herzen Marianos hervorgerufen hatte. Es litt ihn nicht mehr an seinem Platz und er durchmaß in großen, aufgeregten Schritten die Zelle. Hier vor ihm lag ein Mann, der eine große Sünde an ihm begangen hatte. Aber dieser Mann hatte als das Werkzeug eines Schurken gehandelt, das sich obendrein für verpflichtet hielt, den Befehlen des Capitano zu gehorchen. Konnte er noch diesem von körperlichen und seelischen Qualen geschüttelten Menschen zürnen, nach dem der Tod bereits seine Hand ausstreckte?

Da erhob der Kranke die Hände und richtete einen bittenden Blick auf Mariano, der nun näher trat und, ihm die Hand entgegenstreckend, sagte:

»Tito Sertano, ich vergebe dir. Ich ersehe die ganze Größe deines Vergehns, aber auch ich bin ein Sünder, und Gott mag mir vergeben, wie ich dir vergeben habe.«

Der Bettler ließ sein Haupt nach rückwärts sinken, seine Augen schlossen sich, und über seine Züge breitete sich der Ausdruck eines tiefen Friedens.

»Oh, wie leicht und wohl wird es mir!« flüsterte er. »Mein Gott, ich danke dir, nun kann ich ruhig sterben. Doch vorher laß mich auch noch das tun, was notwendig ist, um das von mir gestörte Glück einer vornehmen Familie wiederherzustellen. Ich sehe, daß du Papier und Feder bei dir hast. Schreib alles auf, und ich will dir meine Unterschrift geben, um dich als den anzuerkennen, der geraubt wurde.«

»Ja, das wollen wir tun«, entgegnete Mariano, indem er die Schreibgegenstände hervorzog. »Zwar ist das, was ich von dir erfahren habe, noch nicht ausreichend. Aber Gott wird erforschen, wo jener fremde Mann ist, der Señor Gasparino genannt wurde, und diejenigen Leute, denen ihr Kind vertauscht wurde. Wie hieß das Gasthaus, in dem die Verwechslung geschah?«

»Es war der Gasthof › El Hombre grande‹«, antwortete der Bettler.

»Und in welchem Zimmer war es?«

»Ich holte den Knaben aus dem letzten, eine Treppe hoch gelegnen Gemach. Wir aber befanden uns von der Treppe an gerechnet im zweiten Zimmer.«

»Haben die Fremden von der Verwechslung etwas gemerkt?«

»Ich weiß es nicht, denn wir verließen das Haus vor Anbruch des Morgens, während noch alles schlief.«

Jetzt begann Mariano die Anfertigung des Schriftstücks, das alles enthielt, was wichtig war. Als er es beendet hatte, wurde es von dem Bettler unterzeichnet.

»So,« sagte Mariano, »diese Schrift werde ich sorgfältig aufbewahren. Ich gehe jetzt und danke dir für deine Mitteilungen, durch die du eine schwere Last von mir genommen hast. Ich habe dir deine an mir begangne Sünde verziehn. Möge Gott dir ebenso gnädig sein!«

Nach diesen Worten kehrte Mariano zwar in seine Zelle zurück, aber er fand während der ganzen Nacht keine Ruhe. Was er erfahren hatte, war so unendlich wichtig für ihn und war grad in der Hauptsache noch in ein so geheimnisvolles Dunkel gehüllt, daß es sein ganzes Nachdenken in Anspruch nahm.

Er hatte bisher den Hauptmann als seinen Wohltäter betrachtet. Nun aber hatte er ihn als den Urheber eines Verbrechens kennengelernt, das ihn, den unschuldigen Knaben, aus den Armen liebevoller und vornehmer Eltern gerissen und unter eine Bande geächteter Menschen gebracht hatte. Die Zuneigung für den Capitano verwandelte sich in einem Augenblick in Abneigung; auf ihn fiel der ganze Zorn des Mannes, denn der Bettler war ja nur sein Werkzeug gewesen; er hatte gehorchen müssen und dann gebüßt; er stand außerdem am Rand des Grabes, und dies machte auf den weichherzigen Mariano einen solchen Eindruck, daß er dem alten Manne nicht zu zürnen vermochte. Er beschloß, seine Sinnesänderung dem Hauptmann nicht merken zu lassen, im stillen sich aber alle Mühe zu geben, das Geheimnis seiner Geburt und Abstammung aufzuklären.

Es gab in der Brigantenhöhle noch einen, der erst spät zur Ruhe kam, und das war der Hauptmann.

Er saß in seiner Zelle, deren Wände von kostbaren Waffen behangen waren, hatte den Kopf schwer in die Hand gestützt und war in tiefes, grübelndes Nachdenken versunken, aus dem er zuweilen auffuhr, um einige halblaute Worte zu murmeln.

»Dieser Gasparino Cortejo ist ein großer Schurke, viel schlimmer als der schlechteste Brigant!« sagte er leise vor sich hin. »Warum will er diesen Doktor töten lassen? Hm, ich habe eigentlich gar nichts danach zu fragen; aber ich möchte es doch wissen. Er zahlt gut; ein Dummkopf ist, wer eine Zitrone nicht so sehr ausquetscht, daß auch der letzte Safttropfen herauskommt.«

Wieder sann er nach. Sein Gedankengang war ein sehr unruhiger. Er erhob sich sogar, ging einige Schritte auf und ab und murmelte weiter:

»Auch die Geschichte mit dem Mariano soll mir noch manches Sümmchen einbringen. Ich sollte den Jungen töten, aber ich wäre doch ohne Verstand gewesen, wenn ich es getan hätte. Ist er mir doch dem Advokaten gegenüber für immer ein Geisel! Jetzt habe ich den Jungen sogar liebgewonnen, und es sollte mir leid tun, wenn ich noch gezwungen würde, ihn ganz verschwinden zu lassen.«

Der Hauptmann schritt abermals eine kleine Weile in dem engen Raum auf und ab. Dann stieß er ein kurzes, höhnisches Lachen aus und trat an die Felsenwand seines Gemachs; als er an einer Stelle daran drückte, gab ein kleines, viereckiges Stück des Steins nach, und es kam ein Raum zum Vorschein, in den der Hauptmann hineinlangte, um ein vergilbtes Schriftstück daraus hervorzubringen.

»Wie sich der Elende weigerte, wie er sich wand und krümmte, als ich diesen Schein von ihm verlangte«, murmelte er vergnügt. »Aber er mußte, denn ich hatte ihn in der Hand! Und ich durfte nicht genannt werden, denn da dieser Schurke Tito den Jungen geholt hatte, war er es, dessen Name niedergeschrieben wurde.«

Er schlug das Papier auseinander, trat näher an das Licht der Lampe heran und las:

»Ich erkläre hiermit der Wahrheit gemäß, daß der Fischer Tito Sertano aus Mataro am 1. Oktober 18** im El Hombre grande in Barcelona auf meine Veranlassung und gegen Bezahlung von tausend Silberpiastern einen Knaben gegen einen anderen umgetauscht hat. Der umgetauschte Knabe lebt unter dem Namen Mariano unter sicherm Schutz in einer Höhle des Gebirges.

Manresa, den 15. November 1830.
Gasparino Cortejo.
Notar.«

Der Capitano faltete das Papier wieder und verbarg es ins Versteck zurück, strich sich mit zufriedener Miene den Bart und sagte:

»So habe ich den Alten fest in der Hand, und sein Beutel wird bluten müssen. Schade nur, daß er sich so hartnäckig weigert, mir zu sagen, wer die beiden umgetauschten Knaben gewesen sind. Allerdings, eine schwache Vermutung habe ich ja. Er ist Geschäftsführer des Grafen Manuel de Rodriganda y Sevilla. Ich werde nachforschen! Der junge Graf soll zurückkehren oder ist vielleicht gar schon da. Soll ich ihn beobachten? Soll ich die Familienverhältnisse des Grafen ausforschen lassen? Ja, das wäre das sicherste Mittel. Aber durch wen?«

Seine nachdenkliche Miene erheiterte sich plötzlich, und er stieß ein kurzes Lachen aus, um drauf in seinem Selbstgespräch fortzufahren:

3 obere Buchseiten unleserlich. Textfragmente aus dieser Quelle ergänzt: http://projekt.gutenberg.de/may/waldroe1/waldroe1.xml. Re

»Das ist allerdings ein lustiger Gedanke! Schicke ich vielleicht Mariano, um das Nötige zu erfahren? Ja, er ist der einzige, der dazu fähig ist. Er ist der einzige von uns, der sich unter solchen Leuten fehlerlos bewegen kann. Ich habe ihm ja alles lehren lassen, was ein vornehmer Señor wissen muß; er reitet wie ein Kavalier, kann fechten, schießen, schwimmen, ist stark und tapfer, treu und anhänglich, dabei klug und listig – ja, ich werde es tun! Der Notar hat ihn nie gesehn; er wird ihn also nicht erkennen, er wird gar nicht ahnen, daß dieser junge, liebenswürdige und gewandte Mann der Knabe ist, den er einst tödten lassen wollte. Per dios, das ist ein wirkliches Abenteuer! Das ist ein Streich, der meinem Kopf die größte Ehre macht!«

Er schritt noch einige Zeit in der Zelle auf und ab und begab sich dann in den Nebenraum, um sich schlafen zu legen.

Als er am Morgen kaum erwacht war, trat ein Brigant bei ihm ein und meldete:

»Capitano, der fremde Mann, dessen Beichte ich heute nacht hörte, ist soeben gestorben.«

»Das werde ich nicht zugeben, Capitano! Er ist als ein reuiger Christ gestorben und soll als ein solcher auch begraben werden.«

»Mir gleich. Tut, was Ihr wollt, nur laßt mich dabei aus dem Spiel! Ist Mariano schon wach?«

»Ja.«

»Er soll gleich zu mir kommen!«

Der Pater entfernte sich, und kurze Zeit später trat Mariano ein. Er grüßte freundlich, und zwar mit der vertraulichen Untertänigkeit, die er sich für den Umgang mit dem Hauptmann angeeignet hatte, und ließ sich nichts von der Gesinnung merken, die zu verbergen er sich vorgenommen.

Der Capitano bot ihm einen Sitz an und begann:

»Mariano, wie befindet sich dein Rapphengst?«

In den Zügen des Jünglings ward es hell, und in sein Gesicht stieg eine leise Röte. Es war augenscheinlich, daß die Erwähnung des Pferdes ihm angenehm war.

»Er wird kaum zu bändigen sein«, antwortete er. »Er steht nun über einen Monat drüben in der Pferdehöhle, und ich habe ihn von den andern Tieren fortnehmen müssen, weil er sie sonst zuschanden schlägt.«

»So nimm dich heut in acht, daß es kein Unglück gibt! Wenn so ein edles und mutiges Pferd vier Wochen lang keinen Reiter getragen hat, so ist es schwer zu bändigen.«

»Ah! Soll ich ausreiten, Capitano? Wohin?«

»Nach Manresa und Schloß Rodriganda.«

»Das ist sehr weit, Hauptmann!«

»Du hast viel Zeit zu diesem Ausflug. Es ist möglich, daß du wochenlang dort verweilen wirst.«

Das Gesicht des Jünglings hellte sich immer mehr auf. Der Gedanke, auf eine so lange Zeit von seiner jetzigen düstern Umgebung erlöst zu sein, erfüllte ihn mit Freude.

»In einem Auftrag?« fragte er.

»Ja, und noch dazu in einem sehr schwierigen«, antwortete der Capitano. »Ist dein Kleidervorrat in Ordnung?«

»Vollständig.«

»Auch die Uniformen?«

»Ja. Soll ich mich als Offizier verkleiden?«

»Als französischer Offizier. Du bist ja des Französischen durchaus mächtig. Ich werde dir einen Urlaubspaß geben, der auf den Husarenleutnant Alfred de Lautreville lautet. Du hast auf irgendeine Weise auf Schloß Rodriganda Zutritt zu suchen und dich dabei so zu verhalten, daß man dich veranlaßt, längere Zeit als Gast zu bleiben. Während dieser Zeit studierst du die Verhältnisse der Bewohnerschaft aufs sorgfältigste. Ich werde dir darüber einen eingehenden Bericht abverlangen. Du bist klug genug zur Lösung einer solchen Aufgabe.«

»Willst du mir vielleicht einzelne Anhaltspunkte mitteilen, Hauptmann? Das wäre mir sehr lieb.«

»Ich kann dir nicht viel sagen. Aber da ist besonders ein Notar, ein gewisser Cortejo, der der Geschäftsführer des Grafen ist, und den du am aufmerksamsten beobachten sollst. Ich möchte gern wissen, wie er zu den Gliedern der gräflichen Familie steht. Dann ist da der junge Graf Alfonso, der in Mexiko gewesen ist. Sieh einmal zu, wie er sich gegen den Grafen und dessen Geschäftsführer verhält! Es liegt mir besonders daran, zu wissen, ob er diesem letztern vielleicht ähnlich sieht. Geh und mache dich fertig! Das Geld, das du brauchst, werde ich dir mit dem Paß einhändigen. Du mußt fein auftreten und als ein wohlhabender Offizier gelten; darum wird die Summe nicht unbedeutend sein. Ich werde dafür sorgen, daß du einen tüchtigen Mann als Diener erhältst, den du als Bote verwendest, wenn du mir etwas mitzuteilen hast.«


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