Guy de Maupassant
Der Liebling
Guy de Maupassant

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VIII

Das Duell hatte Duroy zum selbständigen Feuilletonisten der ›Vie française‹ gemacht. Aber da es ihm unendlich sauer ward, Gedanken zu finden, so machte er sich eine Spezialität daraus, über den Verfall der Sitten zu klagen, über den Niedergang der Charaktere, das Erlahmen des Patriotismus und die Blutarmut des französischen Ehrgefühls.

Das Wort Blutarmut hatte er erfunden und war stolz darauf.

Und wenn Frau von Marelle, die jenen kecken, satirischen, beißenden Witz besaß, den man Pariser »esprit« nennt, ihre Glossen zu seinen Salbadereien machte, meinte er lächelnd:

– Ach was, das macht mir einen guten Ruf für später.

Er wohnte jetzt in der Rue de Constantinople, wohin er seinen Koffer geschafft hatte, seine Zahnbürste, Rasiermesser und Seife, denn darin bestand sein ganzer Umzug. Zwei- oder dreimal wöchentlich kam die junge Frau, ehe er aufgestanden war, entkleidete sich in einer Minute und glitt noch zitternd von der Kälte, die draußen war, in sein Bett.

Duroy dagegen aß jeden Donnerstag bei dem Ehepaar und machte dem Mann den Hof, indem er mit ihm von Landwirtschaft sprach; und da er selbst dieses Thema liebte, vertieften sie sich beide manchmal derartig in das Gespräch, daß sie ganz ihre gemeinsame Frau vergaßen, die auf dem Sofa eingeschlafen war.

Die kleine Laura schlief auch bisweilen ein, bald auf des Vaters Schoß, bald auf des Lieblings Knieen.

Und wenn der Journalist gegangen war, verfehlte Herr von Marelle nicht, mit lehrhaftem Ton, den er bei den geringfügigsten Dingen anwendete, zu sagen: –  Der junge Mann ist wirklich sehr angenehm, er ist sehr unterrichtet.

Der Februar ging zu Ende. Es duftete schon ab und zu nach Veilchen auf der Straße, wenn man morgens an den kleinen Wägelchen der Blumenhändlerinnen vorüberging.

Duroy hing der Himmel voller Geigen.

Da fand er eines Nachts, als er heimkehrte, einen Brief vor, den man ihm unter der Thür durchgeschoben. Er sah nach dem Poststempel: »Cannes!« Er öffnete den Brief und las:

»Cannes, Villa Jolie.

Mein lieber Freund! Sie haben mir gesagt, daß ich in jeder Beziehung auf Sie rechnen könnte. Nun muß ich Sie um einen schmerzlichen Dienst bitten, nämlich hierherzukommen und mich nicht allein zu lassen bei den letzten Augenblicken Karls, der im Sterben liegt. Vielleicht überlebt er die Woche nicht mehr, obgleich er noch auf ist. Der Arzt hat mich darauf vorbereitet.

Ich habe nicht mehr die Kraft und nicht mehr den Mut, dies langsame Sterben Tag und Nacht mit anzusehen, und mit Entsetzen denke ich an die letzten Augenblicke, die immer näher rücken. Ich kann nur Sie darum bitten, da mein Mann keine Familie hat. Sie waren sein Freund, und er hat Ihnen zu Ihrer Stellung verholfen. Kommen Sie, ich flehe Sie darum an. Ich habe niemand, den ich rufen könnte. Ihre aufrichtige Freundin

Magdalene Forestier.«

Ein seltsames Gefühl zog wie ein Hauch in Georgs Herz. Das Gefühl der Befreiung, das Gefühl, als öffnete sich vor ihm eine unendliche Ferne. Und er murmelte:

»Ich komme. Der arme Karl, es ist doch ein Jammer!«

Der Chef, dem er den Brief der jungen Frau zeigte, gab brummend Urlaub, aber mit den Worten:

»Kommen Sie schnell zurück, Sie sind unentbehrlich.«

Duroy reiste den nächsten Tag mit dem Sieben-Uhr-Schnellzug nach Cannes, nachdem er das Ehepaar Marelle durch ein Telegramm von seiner Abreise in Kenntnis gesetzt.

Andern Tages traf er um vier Uhr nachmittags ein.

Ein Dienstmann zeigte ihm den Weg zur ›Villa Jolie‹, die auf halber Höhe lag, in jenem Nadelwald, der mit weißen Häusern besäet ist, und der sich vom Cannes bis zum Golf Juan zieht.

Das Haus war klein und niedrig, in italienischem Villenstil erbaut, und lag an der Straße, die im Zick-Zack zwischen den Bäumen emporführt, und von der man bei jeder Kehre eine wundervolle Aussicht genießt.

Der Diener öffnete und rief:

»Ah, Herr Duroy, die gnädige Frau erwartet Sie mit Ungeduld.«

Duroy fragte:

»Wie geht es Herrn Forestier?«

»Ach, nicht gut, er wirds nicht mehr lange machen.«

Der Salon, in den der junge Mann trat, war rot mit blauem Muster, das hohe breite Fenster hatte die Aussicht auf Stadt und Meer.

Duroy brummte:

»Donnerwetter, das ist aber fein für ein Landhaus. Wo nehmen die bloß in aller Welt das Geld her.«

Er hörte ein Kleid rauschen, sodaß er sich umwandte.

Frau Forestier streckte ihm beide Hände entgegen:

»Das ist nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind.« Und plötzlich umarmte sie ihn; dann blickten sie sich an.

Sie war ein wenig magerer, blasser, sah aber frisch wie immer aus, vielleicht noch hübscher und zarter als sonst. Sie sagte:

»Es ist furchtbar, er weiß, daß er verloren ist und er tyrannisiert mich jetzt. Ich habe ihm gesagt, daß Sie kommen würden. Aber wo ist denn Ihr Koffer?«

Duroy antwortete:

»Den habe ich auf der Bahn gelassen. Ich wußte ja nicht in welchem Hotel ich absteigen sollte, um in Ihrer Nähe zu sein.«

Sie zögerte, dann sagte sie:

»Sie wohnen natürlich hier in der Villa. Ihr Zimmer wartet schon auf Sie. Er kann jeden Augenblick sterben und wenn das etwa in der Nacht geschähe, wäre ich ganz allein. Ich werde Ihr Gepäck holen lassen.«

Er verbeugte sich:

»Wie Sie wünschen!«

»So, nun wollen wir hinauf gehen.«

Sie öffnete eine Thür, und Duroy gewahrte in einem Lehnstuhl in Decken eingehüllt, fahl beim rötlichen Licht der untergehenden Sonne, eine Art lebende Leiche, die ihn anblickte. Er kannte ihn kaum wieder. Er riet eigentlich mehr, daß das sein Freund sei.

Man roch förmlich im Zimmer das Fieber, Thee, Äther, Theer, diesen unerklärlichen schweren Duft der Zimmer, in denen ein Lungenkranker atmet.

Forestier hob mühsam die Hand und sagte langsam:

»Da bist Du ja, Du bist gekommen mich sterben zu sehen. Ich danke Dir.«

Duroy that, als nähme er es nicht ernst:

»Dich sterben zu sehen? Na, das war nicht sehr spaßig. Dazu bin ich doch nicht gerade nach Cannes gekommen. Ich will Dir bloß guten Tag sagen und mich ein wenig ausruhen.«

Der andere murmelte:

»Setz Dich!« Und er senkte den Kopf und vertiefte sich in verzweifelte Gedanken.

Sein Atem ging keuchend, stoßweise, und ab und zu seufzte er laut, als wollte er den andern in Erinnerung bringen, wie krank er sei.

Als sie sahen, daß er nicht sprach, lehnte sich seine Frau ans Fenster, deutete mit einer Bewegung hinaus und sagte:

– Da sehen Sie mal, ist das nicht schön?

Ihnen gegenüber zogen sich die Villen-übersäten Höhenzüge bis hinunter an die Stadt, die in einem Halbkreis am Gestade lagerte, mit dem Kopf so zu sagen am Hafendamm, über dem sich die alte Stadt erhob, von einem alten Wartturm überragt, die Füße an der Landzunge von La Croisette, den Inseln von Lérins gegenüber.

Diese Inseln sahen wie zwei grüne Flecke aus, im tiefblauen Wasser. Es war als ob sie gleich zwei Riesenblättern auf dem Wasser schwömmen, so flach schauten sie von oben aus. Und ganz in der Ferne schloß auf der andern Seite des Golfes über Damm und Wartturm eine lange Reihe von blauen Bergen den Horizont. Sie zeichneten sich in bizarren, reizenden Gipfelformen vom hellen Himmel ab, bald in runden Kuppen, bald in Hörnern und Spitzen. Die Kette schloß mit einem großen, pyramidenförmigen Berg, dessen Fuß in's Meer tauchte.

Frau Forestier zeigte daraufhin:

– Das ist der Estherel.

Der Himmel hinter den dunklen Bergen war rot, von einem blutigen, goldnen Rot, dessen Blendung das Auge nicht lange ertragen konnte.

Dieser Sonnenuntergang machte sogar auf Duroy Eindruck.

Und er sagte, weil er keinen besseren Ausdruck fand um seine Bewegung in Worte zu kleiden:

– Ja, das ist kolossal!

Forestier hob den Kopf gegen seine Frau und bat:

– Etwas frische Luft!

Sie antwortete:

– Nimm Dich in Acht, die Sonne geht schon unter, Du wirst Dich wieder erkälten, und Du weißt, daß Du das bei Deinem Gesundheitszustand nicht darfst.

Er machte mit der rechten Hand eine schwache, fieberhafte Bewegung, als wollte er die Fäuste ballen, und murmelte mit zornigem Blick und indem es wie Todesqualen um seine schmalen Lippen und die eingefallenen Wangen mit den vorspringenden Backenknochen zuckte:

– Ich sage Dir, ich ersticke, es kann Dir doch ganz gleich sein, ob ich einen Tag eher oder später sterbe, wenn ich so wie so in die Binsen gehen muß.

Sie öffnete weit das Fenster. Die Luft, die herein drang, berührte sie alle wie eine Liebkosung. Es war eine friedliche, warme, weiche Brise, ein Frühlingswind, der schon den berauschenden Duft der Sträucher und Blumen mit sich trug, die an diesem Gestade wachsen.

Man konnte deutlich den strengen Harzgeruch und den scharfen Duft des Eukalyptus unterscheiden.

Forestier sog die Luft mit kurzen, fieberhaften Atemzügen ein. Er krallte sich mit den Nägeln an der Stuhllehne fest und sagte mit leiser, pfeifender Stimme, aus der die Wut klang:

– Mach's Fenster zu, es thut mir weh! Da will ich doch lieber noch im Keller krepieren.

Seine Frau schloß langsam das Fenster, dann blickte sie, die Stirn an die Scheiben gepreßt, in die Ferne.

Duroy war die Situation peinlich. Er hätte gern mit dem Kranken ein Wort gewechselt und ihn beruhigt; aber er konnte keine passende Anrede finden, und so sagte er stammelnd:

– Also geht es Dir nicht besser seitdem Du hier bist?

Der andere zuckte ungeduldig mit den Schultern:

– Das siehst Du doch! – und senkte wieder den Kopf.

Duroy meinte:

– Ach im Vergleich zu Paris ist es hier wundervoll. In Paris ist noch voller Winter, es schneit, es hagelt, es regnet, es ist so dunkel, daß man schon um drei Uhr nachmittags die Lampe anstecken muß.

Forestier fragte:

– Giebt's bei der Zeitung was Neues?

– Nichts Neues! Für Deine Arbeit hat man sich den kleinen Lacrin, der beim Voltaire war, geholt; aber der ist noch nicht so weit, es ist die höchste Zeit, daß Du wiederkommst.

Der Kranke brummte:

– Ich werde bald meine Artikel sechs Fuß unter der Erde schreiben.

Die fixe Idee tönte wie eine Glocke bei jeder Gelegenheit aus allem, was er dachte und sprach.

Es entstand eine lange Pause, ein schmerzliches, tiefes Schweigen. Langsam erlosch draußen die Glut des Sonnenuntergangs, und dunkel zeichneten sich die Berge an dem in gleißendem Rot versinkenden Himmel ab. Ein farbiger Lichtstreifen, der Anbruch der Nacht, bei dem die Helle noch einmal aufflackert wie das Feuer im Kamin, ehe es erlischt, fiel in das Zimmer und schien Möbel, Wände, Tapeten mit dunklem Purpur zu überziehen. Der Spiegel auf dem Kamin, der im Widerschein erglänzte, sah aus wie eine blutigrote Platte.

Frau Forestier bewegte sich nicht. Sie stand noch immer, den Rücken zum Zimmer gewandt, die Stirn an die Scheiben gepreßt, am Fenster.

Forestier fing an zu sprechen mit abgehackter Stimme, außer Atem, schrecklich anzuhören:

– Wie oft sehe ich noch so einen Sonnenuntergang? Achtmal, zehn, vierzehn, zwanzig, vielleicht dreißig Mal, nicht mehr. Ihr habt noch Zeit, für mich ist es aus, und wenn ich einmal weg bin, geht's ruhig so weiter, als ob ich noch da wäre.

Er schwieg ein paar Minuten, dann sagte er:

– Alles, was ich sehe, erinnert mich daran, daß ich es in ein paar Tagen nicht mehr sehen werde! Es ist furchtbar. Ich werde nichts wiedersehen, nichts von allem, was es giebt, nichts von allem, was wir brauchen, Gläser, Teller, das Bett in dem es sich so schön ruht, der Wagen – ach, es ist so schön, abends spazieren zu fahren, ich hatte es so gern.

Er machte mit den Fingern beider Hände eine leichte, nervöse Bewegung, als ob er Klavier spielte, auf der Stuhllehne. Wenn er schwieg, war es noch peinlicher, als wenn er sprach. Man fühlte, daß er an gräßliche Dinge dachte.

Und plötzlich erinnerte sich Duroy, was ihm Norbert von Varenne vor ein paar Wochen gesagt:

– Ich sehe jetzt den Tod so nahe vor mir, daß mir oft die Lust ankommt, die Arme auszustrecken, um ihn von mir zu stoßen. Überall gewahre ich ihn. Das Getier, das am Weg zertreten wird, der Bätterfall, ein weißes Haar im Bart eines Freundes zerreißen mir das Herz und rufen mir zu: Da ist er!

Damals hatte er das nicht verstanden, heute begriff er es, als er Forestier sah, und eine fürchterliche Angst, die er noch nie gekannt, überfiel ihn, als ob er ganz nahe, auf diesem Stuhl wo dieser Mann keuchte, zum Greifen nahe, den entsetzlichen Tod gesehen. Er hätte aufstehen, davonlaufen, und sofort nach Paris zurückkehren mögen. Wenn er das gewußt hätte, wäre er nicht gekommen.

Über das Zimmer breitete sich die Nacht, wie eine vorzeitige Trauerdraperie für den Sterbenden; man konnte nur noch das Fenster erkennen, in dessen hellerem Raum sich die unbewegliche Gestalt der jungen Frau abzeichnete.

Und Forestier fragte grillig:

– Na, kommt denn die Lampe heute nicht? Das ist eine nette Krankenpflege!

Der Schatten des Körpers, der sich vom Fenster abhob, verschwand, und man hörte im schweigenden Hause die elektrische Glocke.

Kurz darauf trat der Diener ein und setzte eine Lampe auf den Kamm. Frau Forestier sagte zu ihrem Mann:

– Willst Du zu Bett gehen oder kommst Du herunter zum Essen?

Er brummte:

– Ich werde 'runter kommen.

Und auf das Essen wartend, blieben sie alle drei noch beinahe eine Stunde unbeweglich sitzen.

Nur ab und zu fiel ein Wort, ein gleichgültiges, banales Wort, als ob sie sich fürchteten, zu lange zu schweigen und die stumme Luft dieses Zimmers erstarren zu lassen, dieses Zimmers, auf das der Tod niedersank.

Endlich wurde das Essen gemeldet. Es kam Duroy lange vor, als wollte es gar nicht enden. Sie sprachen nichts, sie aßen geräuschlos, und ihre Finger spielten mit dem Brot. Der Diener servierte, kam und ging, ohne daß man seine Schritte hörte; denn da der Lärm der knarrenden Sohlen Karl nervös gemacht hatte, trug der Diener Filzschuhe; nur das Ticken einer Wanduhr unterbrach mit regelmäßiger, mechanischer Bewegung das Schweigen im Zimmer.

Sobald das Essen zu Ende war, zog sich Duroy unter dem Vorwande, müde zu sein, auf sein Zimmer zurück. Er lehnte sich auf das Fensterbrett und sah, wie der Vollmond, der am Himmel gleich einer mächtigen Lampenglocke stand, auf die weißen Mauern der Villen sein verschleiertes, hartes Licht, und über das Meer weiche, bewegliche Lichter warf. Er suchte nach irgend einem Grund, um schnell wieder abreisen zu können, nach einer List, vielleicht ein Telegramm, das er bekommen, durch das ihn Herr Walter zurückrief.

Aber als er am andern Morgen erwachte, schienen ihm seine Fluchtpläne doch etwas schwierig ins Werk zu setzen. Frau Forestier würde nicht darauf hereinfallen, und durch seine Feigheit würde er alles wieder verscherzen, was er durch seine Freundschaft gewonnen.

Er sagte sich: Ach was, es ist unangenehm, na meinetwegen, es giebt auch böse Zeiten im Leben, und es dauert vielleicht nicht lange. –

Der Himmel war blau und klar, von jener tiefen Bläue des Südens, die einem Freude ins Herz gießt. Duroy ging ans Meer hinunter, er fand, er würde Forestier noch zeitig genug sehen.

Als er zum Frühstück heimkehrte, sagte der Diener:

– Unser Herr hat nach dem gnädigen Herrn schon zwei oder dreimal gefragt. Wollen der Herr nicht hinaufgehen?

Er ging. Forestier schien in einem Stuhl zu schlafen, seine Frau lag mit einem Buch auf dem Sofa.

Der Kranke blickte auf. Duroy fragte:

– Na, wie geht's denn, Du siehst ja heute früh ganz munter aus?

Der andere brummte:

– Ja, es geht besser, ich habe wieder Kräfte. Frühstücke mal schnell mit Magdalene, denn wir wollen ausfahren.

Sobald die junge Frau mit Duroy allein war, sagte sie:

– Ach Gott, heute denkt er, er ist gerettet, den ganzen Morgen hat er schon Pläne geschmiedet. Wir wollen nachher zum Golf Juan fahren, um Fayencen zu kaufen für unsere Pariser Wohnung, er will absolut heraus. Aber ich habe furchtbare Angst, daß etwas passiert, er wird die Stöße beim Fahren gar nicht aushalten.

Als der Landauer erschienen, stieg Forestier, Schritt für Schritt vom Diener unterstützt, die Treppe hinab. Sobald er den Wagen sah, wollte er ihn geöffnet haben. Seine Frau widerstand:

– Du wirst Dich erkälten! Das ist Unsinn!

Aber er blieb dabei:

– Nein, mir geht es besser, ich fühle es ganz genau.

Zuerst fuhren sie durch jene schattigen Wege, die immer zwischen Gärten liegen, wodurch Cannes das Ansehen eines englischen Parkes gewinnt. Dann kamen sie auf die Straße von Antibes längs des Meeres.

Forestier erklärte die Gegend. Zuerst hatte er die Villa des Grafen von Paris gezeigt, dann nannte er andere. Er war heiter, von einer absichtlichen, gemachten, kraftlosen Fröhlichkeit. Er hob nur den Finger, da er nicht die Kraft besaß den Arm auszustrecken:

– Das ist die Insel Sainte-Marguerite und das Schloß, aus dem Bazaine entsprungen ist. Das hat uns eine Wirtschaft verursacht!

Dann kam er auf alte Regimentserinnerungen. Er nannte Namen von Offizieren, von denen er allerlei Geschichten aufwärmte. Aber plötzlich bei einer Straßenbiegung lag der Golf Juan mit seinen weißen Häusern im Hintergrunde und der Spitze von Antibes am anderen Ende vor ihnen da. Forestier packte plötzlich eine kindliche Freude und er rief:

– O, das Geschwader, Du wirst gleich das Geschwader sehen!

Mitten auf der weiten blauen Flut sah man in der That ein halbes Dutzend mächtiger Schiffe liegen, die aussahen wie Felsen mit Ästen bedeckt. Sie waren seltsam, unförmlich, riesig, mit Aufbauten, Türmen und dem Bug der sich vorn ins Wasser bohrte, als wollte er Wurzel im Meer schlagen.

Man begriff nicht, wie die Dinger von der Stelle kommen konnten, so schwer, so massig sahen sie aus. Eine ganze schwimmende Batterie, in Gestalt eines Observatoriums, machte den Eindruck wie einer jener Leuchttürme, die man auf ein Wrack baut.

Und ein großer Dreimaster kam bei ihnen vorüber, um in die Weite hinaus zu steuern. Lustig hatte er alle seine weißen Segel entfaltet. Er sah graziös und hübsch aus, neben den Kriegsungeheuern, jenen Eisenriesen, den häßlichen Ungetümen, die auf dem Wasser lauern.

Forestier suchte sie zu erkennen, und er nannte ›Colbert‹, ›Suffren‹, ›Admiral Duperré‹, ›Redoutable‹, ›Dévastation‹, dann verbesserte er sich:

– Nein, ich irre mich, das ist die ›Dévastation‹.

Sie kamen an einen großen Pavillon am Strande mit der Inschrift: ›Kunsttöpferei des Golf Juan‹ und der Wagen der um einen Rasenplatz herumgefahren, hielt vor der Thür.

Forestier wollte zwei Vasen kaufen, um sie auf seinen Bücherschrank zu stellen; da er aber nicht aussteigen konnte, brachte man ihm Muster zur Auswahl. Er wählte lange und fragte immer seine Frau und Duroy um Rat.

– Weißt Du, das ist für den Schrank in meinem Arbeitszimmer. Von meinem Stuhl aus sehe ich ihn immer. Ich möchte gern eine antike Form haben, griechisch.

Er betrachtete einzelne, ließ andere bringen, nahm die erste wieder in die Hand, und entschied sich endlich. Nachdem er bezahlt hatte, wünschte er, daß sie sofort abgesendet würden.

– Ich fahre in ein paar Tagen nach Paris zurück, fügte er hinzu.

Sie kehrten heim, aber längs des Golfes traf sie plötzlich ein kalter Windstoß aus einem Thal, und der Kranke fing an zu husten.

Zuerst war es weiter nichts, ein kleiner Anfall, aber er wurde immer stärker und ging in ununterbrochenes Husten über, das mit Atemnot und Röcheln endigte.

Forestiers Atem ging schwer, und jedesmal wenn er die Luft einzog, quälte ihn der Husten, der tief aus der Brust kam. Nichts beruhigte ihn, nichts linderte seine Qual, und er mußte aus dem Wagen ins Zimmer getragen werden. Duroy, der seine Beine hielt, fühlte bei jeder Zusammenziehung der Lungen, wie seine Füße hin und her schlugen.

Die Bettwärme hielt den Anfall nicht auf, der bis Mitternacht dauerte. Endlich linderten Arzneimittel die tödlichen Hustenanfälle, und der Kranke blieb mit offenen Augen bis Tagesanbruch im Bette sitzen.

Seine ersten Worte waren der Wunsch nach dem Barbier, denn er wollte täglich rasiert sein. Dazu stand er auf, aber er mußte sofort wieder hingelegt werden und fing an so kurz, so schwer, so röchelnd zu atmen, daß Frau Forestier in ihrem Entsetzen Duroy, der sich eben hingelegt, wecken ließ, um ihn zu bitten, den Arzt zu holen.

Beinahe sofort brachte er Doktor Gavaut mit, der etwas verschrieb und Verhaltungsmaßregeln gab; aber als der Journalist ihn ein Stück zurückbegleitete, um seine Meinung zu hören, sagte er:

– Das ist das Ende, morgen früh ist er tot. Bereiten Sie die arme, junge Frau vor und schicken Sie nach einem Priester. Ich habe hier nichts mehr zu thun, obgleich ich natürlich gern zu Ihrer Verfügung stehe.

Duroy ließ Frau Forestier heraus rufen:

– Er wird sterben, der Arzt rät, nach einem Priester zu schicken.

Sie zögerte lange, dann sagte sie, nachdem sie sich alles überlegt, langsam:

– Ja, es ist besser in mancher Hinsicht. Ich werde ihn darauf vorbereiten und ihm sagen, daß der Pfarrer ihn sprechen möchte, oder irgend so etwas. Es wäre sehr liebenswürdig, wenn Sie einen Geistlichen holen wollten, aber sehen Sie ihn sich erst ordentlich an, und nehmen Sie bitte einen, der uns nicht zu viel Umstände macht. Sehen Sie doch zu, daß er es bei der Beichte bewenden läßt und uns das übrige schenkt.

Der junge Mann brachte einen alten Diener der Kirche mit, der sehr entgegenkommend war und den Umständen Rechnung trug. Frau Forestier ging hinaus und setzte sich mit Duroy in das Zimmer nebenan.

– Es hat ihn erschüttert, sagte sie. Als ich von einem Priester sprach, nahm sein Gesicht einen fürchterlichen Ausdruck an, als ob er etwas gefühlt hätte, wissen Sie, einen Hauch. Er hat begriffen, daß es aus ist und wir die Stunden zählen können.

Sie war sehr bleich und fuhr fort:

– Ich werde nie den Ausdruck seines Gesichts vergessen, ich glaube er hat wahrhaftig in diesem Augenblick den Tod gesehen, er hat ihn gesehen!

Sie hörten, wie der Priester, der etwas laut sprach, weil er schwerhörig war, zu ihm sagte:

– Aber nein, so schlecht geht's Ihnen ja gar nicht. Sie sind krank, aber nicht in Gefahr. Der beste Beweis ist doch, daß ich ganz freundschaftlich als Nachbar zu Ihnen komme.

Sie konnten nicht verstehen, was Forestier antwortete. Der alte Mann begann von neuem:

– Nein, Sie brauchen nicht zu kommunizieren, davon wollen wir sprechen, wenn es Ihnen wieder gut geht. Aber wenn Sie die Gelegenheit, daß ich einmal hier bin, benutzen wollen, um zu beichten, so soll es mir recht sein. Ich bin Seelenhirt und bediene mich jeder Möglichkeit, die Schafe zur Herde zurück zu führen.

Lange blieb alles still. Forestier sprach wohl mit seiner tonlosen, zittrigen Stimme. Dann sagte plötzlich der Priester in ganz anderem Ton, wie der Geistliche am Altar:

– Gottes Barmherzigkeit ist unendlich, sprechen Sie das Confiteor mein Kind. Sie haben es vielleicht vergessen, ich werde Ihnen einhelfen. Wiederholen Sie mit mir: confiteor Deo omnipotenti . . . . Beatae Mariae semper virgini.

Ab und zu hielt er inne, daß der Sterbende ihm folgen könne, dann sagte er:

– Nun beichten Sie . . .

Die junge Frau und Duroy bewegten sich nicht mehr, in eigentümlicher Verwirrung, in ängstlicher Erwartung.

Der Krank hatte etwas gemurmelt, der Priester wiederholte:

– Sie haben also sündiger Weise Gefälligkeiten geduldet? In welcher Art, mein Sohn?

Die junge Frau erhob sich und sagte einfach:

– Wir wollen etwas in den Garten hinunter gehen. Man muß seine Geheimnisse nicht belauschen.

Und sie gingen hinab, setzten sich vor die Thür auf eine Bank, unter einen blühenden Rosenstrauch und vor ein Beet von duftenden Nelken, die in die reine Luft ihren starken, würzigen Duft ausströmten.

Duroy fragte, nachdem sie ein paar Augenblicke geschwiegen:

– Werden Sie noch hier bleiben, ehe Sie nach Paris zurückkehren?

Sie antwortete:

– O nein, sobald alles zu Ende ist, komme ich.

– Vielleicht acht bis zehn Tage?

– Höchstens!

Und er begann wieder:

– Hat er denn gar keine Verwandten?

– Keine, außer ein paar Vettern. Sein Vater und seine Mutter sind gestorben, als er noch ganz klein war.

Sie sahen beide einem Schmetterling zu, der auf den Kelchen der Blumen seine Nahrung suchte, indem er von einem zum andern mit schnellem Flügelschlag gaukelte, der nur langsamer ward, wenn er sich auf eine Blume niedergelassen.

Sie schwiegen lange.

Der Diener kam, um ihnen mitzuteilen, der Herr Pfarrer wäre fertig. Und sie gingen zusammen wieder hinauf.

Forestier schien noch mehr eingefallen zu sein seit dem Tage vorher. Der Priester hielt seine Hand:

– Auf Wiedersehen, mein Sohn, ich komme morgen wieder.

Und er ging davon.

Sobald er fort war, versuchte der Sterbende seiner Frau die Hände entgegen zu strecken und stammelte:

– Rette mich! Rette mich, mein Schatz! Ich will nicht sterben. Ich will nicht sterben. Rette mich! Sagt mir nur, was man machen muß! Holt den Doktor! Ich will thun, was er verlangt! Ich will nicht sterben! Ich will nicht sterben!

Er weinte. Dicke Thränen perlten ihm aus den Augen über die abgezehrten Wangen, und die eingefallenen Mundwinkel falteten sich, wie bei einem kleinen Kind, das einen Kummer hat.

Da fingen seine Hände, die auf das Bett gesunken waren, an, langsam und unregelmäßig hin und her zu tasten, als suchten sie etwas auf den Tüchern.

Seine Frau, die auch anfing zu weinen, stammelte:

– Nein, nein, es ist ja nichts, es ist nur ein Anfall. Morgen geht Dir's besser. Die Spazierfahrt gestern hat Dich müde gemacht.

Forestiers Atem, der schneller ging als bei einem Hund, der gelaufen ist, raste so, daß man die Atemzüge nicht mehr zählen konnte, war aber so schwach, daß man ihn kaum hörte.

Er wiederholte unausgesetzt:

– Ich will nicht sterben. Was, mein Gott, mein Gott, mein Gott, was wird mit mir? Ich sehe das alles nie wieder, nie wieder. O mein Gott! O mein Gott!

Er starrte vor sich hin, als sähe er etwas Fürchterliches, ihm Entsetzen Einflößendes, das die anderen nicht sahen, und seine beiden Hände setzten ihre fürchterliche, ermüdende Bewegung fort.

Plötzlich zuckte er zusammen, ein Schauer lief ihm über den ganzen Leib, und er stammelte:

– Der Kirchhof . . . . ich . . . . mein Gott . . . . Nun sprach er nichts mehr. Er blieb unbeweglich, scheu umherblickend, stöhnend. Die Zeit verstrich. Vom Turm des benachbarten Klosters schlug es Mittag. Duroy ging hinaus, um etwas zu essen. Eine Stunde später kam er zurück. Frau Forestier wollte nichts zu sich nehmen. Der Kranke hatte sich nicht bewegt, er tastete nur immer mit den mageren Fingern auf der Decke umher, als wollte er sie aufheben.

Die junge Frau saß am Fußende des Bettes in einem Lehnstuhl. Duroy schob sich einen andern an ihre Seite, und sie warteten schweigend.

Eine Krankenpflegerin war gekommen, die der Arzt geschickt hatte; sie schlummerte am Fenster. Auch Duroy fing an einzuschlafen; plötzlich hatte er die Empfindung, als geschehe irgend etwas. Er öffnete die Augen gerade zur rechten Zeit um zu sehen, daß Forestier die seinen schloß: wie zwei Lichter die verlöschen. Ein kleiner Seufzer kam noch aus der Brust des Sterbenden, dann färbten sich die Mundwinkel blutig, und zwei Bächlein rieselten auf das Hemd herab. Die Hände stellten ihre fürchterliche Bewegung ein: Forestier atmete nicht mehr.

Seine Frau begriff, was vorgegangen, stieß einen Schrei aus, sank in die Kniee und verbarg schluchzend den Kopf in den Betttüchern. Georg war ganz verstört. Er schlug mechanisch ein Kreuz. Die Wärterin war erwacht, trat an das Bett heran und sagte:

– Es ist zu Ende!

Aber Duroy, der seine Kaltblütigkeit wiedergefunden hatte, brummte:

– Das ist schneller gegangen, als ich gedacht hatte!

Nachdem die erste Überraschung vorüber und die ersten Thränen geflossen waren, erwies man dem Toten die letzten Dienste. Duroy lief bis in die Nacht umher.

Als er heimgekehrt war, hatte er großen Hunger. Frau Forestier aß nur wenig. Dann blieben sie beide im Sterbezimmer, um die Totenwache zu halten.

Auf dem Nachttisch brannten zwei Lichter neben einem Teller, in dem in ein wenig Wasser ein Mimosenzweig lag, denn der übliche Buchsbaum war nicht aufzutreiben.

Der junge Mann und die junge Frau waren allein mit dem, der da nicht mehr war; nachdenklich, ohne ein Wort zu sagen, starrten sie ihn an. Georg, den die Dunkelheit bei der Leiche beunruhigte, konnte die Blicke nicht abwenden. Sein Auge und Geist wurden angezogen, fasciniert beinahe durch dieses entstellte Gesicht, das das flackernde Licht noch eingefallener und hohler malte. Das war sein Freund, Karl Forestier, der gestern noch mit ihm gesprochen! Welches entsetzliche Wunder, dieses vollständige Aufhören eines Wesens! Wieder fielen ihm Norbert von Varennes Worte ein, die die Todesfurcht eingegeben: Niemand käme wieder. Millionen und Milliarden ungefähr gleiche Wesen würden geboren werden mit Augen, Nase, Mund, Kopf und Gedanken darin, ohne daß der, der hier auf dem Bett hingestreckt lag, jemals wieder erscheinen würde.

Ein paar Jahr lang hatte er gelebt, gegessen, gelacht, geliebt, gehofft wie alle anderen, nun war es aus für ihn, auf immer aus. Ein Menschenleben! Wenig Jahre dauert es, und dann ist es aus. Man wird geboren, wächst, ist glücklich, hofft und stirbt. Mann oder Weib, fort damit, du kommst nie wieder auf die Erde; und doch trägt jeder Mensch in sich die fieberhafte, unstillbare Sehnsucht nach der Ewigkeit.

Jeder ist eine Art von Welt in der Welt; und jeder geht bald wieder unter, um ein Fruchtboden zu werden für neue Keime. Pflanzen, Tiere, Menschen, Sterne, Welten, alle gewinnen sie Leben und sterben, um sich umzuwandeln. Insekt, Mensch oder Planet – niemals noch ist ein Wesen wiedergekommen.

Ein unbestimmtes, starres, erdrückendes Entsetzen lastete auf Duroys Seele, die Angst vor jenem unbegrenzten Nichts, dem kein Erdensohn entgeht, das alle diese flüchtigen elenden Existenzen vernichtet. Auch er beugte schon den Nacken vor seinem Drohen. Er dachte an die Eintagsfliege, die ein paar Stunden lebt, an die Tiere, die ein paar Tage, an die Menschen, die ein paar Jahre, an die Welten die ein paar Jahrhunderte nur dauern. Was waren die einen anderes als die anderen, sie sahen ein paarmal mehr die Sonne aufgehen, das war der ganze Unterschied.

Er wandte die Augen, um die Leiche nicht mehr zu sehen. Frau Forestier saß da, den Kopf gesenkt, auch sie schien schmerzliche Gedanken zu hegen.

Ihr blondes Haar stand so hübsch zu ihrem traurigen Gesicht, daß ein süßes Gefühl, als hätte ihn eine zukünftige Hoffnung gestreift, dem jungen Mann ins Herz drang.

Was wollte er verzweifeln? Er hatte noch so viele Jahre vor sich.

Und er fing an sie zu betrachten. In Gedanken verloren, merkte sie es nicht.

Er sagte sich: Das einzige was es im Leben giebt, ist doch die Liebe. Eine geliebte Frau im Arme halten, ist die Grenze menschlichen Glückes.

Was der Tote da doch für ein Glück gehabt, diese kluge, reizende Lebensgefährtin zu finden. Wie hatten sie sich nur kennen gelernt? Wie nur sie sich entschlossen, diesen mittelmäßigen armen Kerl zu heiraten? Wie hatte sie es fertig gebracht aus ihm etwas zu machen?

Da dachte er an all das Geheimnisvolle, das es im menschlichen Leben giebt. Er erinnerte sich dessen, was man sich über den Grafen Vaudrec zuflüsterte, der sie ausgestattet und verheiratet hatte, wie man sagte.

Was würde sie jetzt thun? Wen würde sie heiraten? Einen Abgeordneten, wie Frau von Marelle dachte, oder irgend einen Mann der Zukunft, eine verbesserte Auflage Forestier? Hatte sie Pläne? Absichten? War sie schon zu etwas Bestimmtem entschlossen? Er hätte es zu gern gewußt! Aber warum kümmerte er sich um das, was sie thäte? Er fragte es sich und entdeckte, daß seine Unruhe von einem jener geheimen, unbestimmten Hintergedanken kam, die man vor sich selbst verbirgt und nur entdeckt, wenn man tief in sein Inneres hinabsteigt.

Ja, warum sollte er nicht selbst versuchen sie zu gewinnen? Mit der wäre er stark. Eine Macht einfach. Mit der wollte er schon schnell und sicher und weit seinen Weg machen.

Und warum sollte es ihm nicht glücken?

Er fühlte wohl, daß er ihr gefiel, daß sie für ihn mehr als bloße Sympathie hegte. Eine jener Zuneigungen, die zwischen zwei verwandten Naturen entstehen, und die sowohl von einer gegenseitigen Anziehungskraft stammen, als aus einer Art uneingestandenem Bewußtsein einer gemeinsamen Schuld. Sie wußte, daß er klug, zähe und energisch war, sie konnte zu ihm Vertrauen haben.

Hatte sie ihn nicht bei dieser so ernsten Veranlassung kommen lassen? Warum hatte sie ihn gerufen? Sollte er nicht darin etwas wie eine Wahl sehen, wie ein Geständnis, wie einen deutlichen Hinweis? Wenn sie an ihn gerade in diesem Augenblicke gedacht hatte, wo sie Witwe werden würde, so hatte sie am Ende darum auch daran gedacht, weil er ihr zukünftiger Lebensgefährte werden sollte.

Und die Ungeduld packte ihn, es zu wissen, sie zu fragen, ihre Ansicht zu erfahren. Er mußte den nächsten Tag abreisen, da er in diesem Hause mit der jungen Frau nicht allein bleiben konnte. Er mußte sich also beeilen, ehe er nach Paris zurückkehrte, und mit Zartgefühl und Geschicklichkeit ihre Absichten herausbringen und sie nicht heimkommen lassen, wo sie vielleicht einem andern nachgäbe und sich dann unlöslich bände.

Tiefe Stille herrschte im Zimmer. Man hörte nur den Pendel der Stutzuhr auf dem Kamin hin und her gehen. Er flüsterte:

– Sie müssen sehr müde sein.

Sie antwortete:

– Ja, aber ich bin vor allem wie zerschlagen!

Der Ton ihrer Stimmen kam ihnen eigen vor, und klang seltsam in dem traurigen Gemach. Plötzlich blickten sie nach dem Gesicht des Toten, als hätten sie erwartet, daß er sich bewegen würde, da er sie sprechen hörte, wie er es noch vor ein paar Stunden gethan.

Duroy sagte:

– O, das ist ein schwerer Schlag für Sie, und eine völlige Änderung in Ihrem Leben, eine große Erregung für Ihr Herz, eine völlige Umwandlung in Ihren äußeren Verhältnissen.

Sie seufzte tief ohne zu antworten. Er fuhr fort:

– Für eine junge Frau ist es traurig, so allein zu sein, wie Sie sein werden!

Dann schwieg er.

Sie antwortete nicht, und er stammelte:

– Na, jedenfalls wissen Sie, was wir zusammen abgemacht haben. Sie können ganz über mich bestimmen. Ich stehe zu Ihrer Verfügung.

Sie streckte ihm die Hände hin, indem sie ihm einen jener melancholischen, süßen Blicke zuwarf, die uns bis ins Innerste treffen:

– Danke, Sie sind gut gegen mich. Wenn ich irgend etwas für Sie thun könnte, zu thun wagte, würde auch ich sagen: Zählen Sie auf mich.

Er hatte die entgegengestreckte Hand genommen, hielt sie fest und drückte sie, während ihn der glühende Wunsch überkam, sie zu küssen. Endlich entschloß er sich dazu, zog sie langsam an den Mund und preßte lange seine Lippen auf die zarte, etwas warme, fieberhaft duftende Haut.

Als er dann fühlte, daß diese freundschaftliche Liebkosung zu lange dauerte, richtete er es so ein, daß ihre kleinen Hände zurücksanken. Sie glitten langsam auf den Schoß der jungen Frau, die ernst sagte:

– Ja, ich werde sehr allein sein, aber ich will mich zwingen Mut zu haben.

Er wußte nicht, wie er es ihr begreiflich machen sollte, daß er glücklich sein würde, glückselig, sie zur Frau zu bekommen.

Er konnte es ihr natürlich zu dieser Stunde, hier angesichts des Toten nicht sagen. Aber vielleicht konnte er einige vieldeutige Redewendungen finden, die passend waren und doch allerlei besagten, einen versteckten Sinn hatten, und mit schlau berechneter Zurückhaltung alles nach Wunsch ausdrückten.

Aber die Leiche hinderte ihn, die starre Leiche, die dort vor ihnen ausgestreckt lag, und die er zwischen ihnen fühlte.

Übrigens glaubte er, seit einiger Zeit in der Luft des geschlossenen Zimmers, einen verdächtigen Geruch zu bemerken, einen Hauch von Fäulnis, der aus dieser zerfallenden Brust kam, der erste Atem der Verwesung, den die armen Toten von ihrer Bahre den Verwandten zuwehen, die bei ihnen wachen, der fürchterliche Pestodem, mit dem sie bald den hohlen Raum des Sarges füllen.

Duroy fragte:

– Könnten wir nicht das Fenster aufmachen? Ich glaube es ist schlechte Luft hier.

Sie antwortete:

– Jawohl, ich habe es auch schon bemerkt.

Er trat ans Fenster und öffnete es. Die frische duftende Nachtluft strömte herein, sodaß die Flammen der beiden neben dem Bett brennenden Lichter flackerten. Der Mond goß wie am Abend vorher sein ruhiges, weiches Licht über die weißen Mauern der Villen und auf die weite, leuchtende Meeresfläche. Duroy atmete tief, und plötzlich bestürmten ihn allerlei Hoffnungen, als ob das Glück ihm nahte.

Er wandte sich um:

– Kommen Sie doch ein wenig frische Luft schöpfen, es ist so wunderschön da draußen.

Ruhig kam sie und lehnte sich an seine Seite.

Da murmelte er mit leiser Stimme:

– Hören Sie mich an und achten Sie genau auf das, was ich sagen will. Bitte seien Sie vor allen Dingen nicht empört, weil ich Ihnen dieses gerade in diesem Augenblicke sage; aber übermorgen verlasse ich Sie, und wenn Sie nach Paris zurückkommen, könnte es zu spät sein. Also . . . ich bin nur ein armer Teufel ohne Geld, der erst sein Glück machen muß, das wissen Sie. Aber ich habe den festen Willen und wie ich denke einige Schlauheit, und ich bin auf dem besten Wege; bei einem Mann, der sich seine Stellung gemacht hat, weiß man was man hat, bei jemand der erst anfängt, kann man nicht wissen, wohin er gelangen wird. Es kann gut oder schlecht gehen. Kurz, ich habe Ihnen einmal gesagt, daß es mein schönster Traum wäre, eine Frau zu heiraten wie Sie. Und heute wiederhole ich Ihnen das. Antworten Sie mir nicht, lassen Sie mich fortfahren. Ich will gar nicht eine Frage an Sie richten, Augenblick und Ort wären schlecht gewählt, ich will nur, daß Sie es wissen: Sie können mich mit einem Wort glücklich machen, Sie können an mir einen brüderlichen Freund oder einen Gatten haben, wie Sie wollen. Mein Herz und mein alles gehört Ihnen. Bitte antworten Sie mir jetzt nicht. Wir wollen hier nicht mehr davon reden. Wenn wir uns in Paris wiedersehen, sagen Sie mir, zu welchem Entschluß Sie gekommen sind. Bis dahin sprechen wir nicht mehr darüber. Abgemacht!

Er hatte dies vorgebracht ohne sie anzublicken, als ob er seine Worte in die Nacht hinaus vor sich hingestreut hätte.

Sie schien nichts gehört zu haben, so unbeweglich war sie geblieben, indem sie mit starren Blicken hinaussah in die weite mondbestrahlte Landschaft.

Lange blieben sie so neben einander, Arm an Arm, schweigend in Gedanken.

Dann murmelte sie:

– Es fängt an kalt zu werden – wandte sich um und schritt auf das Bett zu. Er folgte ihr.

Als er näher kam, spürte er, daß Forestier wirklich anfing zu riechen, und er rückte seinen Stuhl zurück, denn den Fäulnisgeruch hätte er nicht lange ertragen können. Er sagte:

– Er muß morgen früh eingesargt werden.

Sie antwortete:

– Ja, das ist schon bestimmt. Der Tischler kommt gegen acht Uhr.

Und als Duroy seufzend sagte:

– Armer Karl! – stieß auch sie einen langen Seufzer trüber Resignation aus.

Sie blickten ihn weniger häufig an, sie hatten sich schon an den Gedanken des Todes gewöhnt, indem sie anfingen sich damit vertraut zu machen, daß der dort gegangen war. Ein Gedanke der sie vorhin noch, sie, die auch sterblich waren, erschüttert und empört hatte.

Sie sprachen nicht mehr; sie hielten auf angemessene Art die Totenwache, zuerst ohne zu schlafen; aber gegen Mitternacht übermannte Duroy der Schlaf. Als er erwachte sah er, daß auch Frau Forestier schlummerte. Er setzte sich etwas bequemer und schloß wieder die Augen, indem er vor sich hinbrummte:

– Verflucht nochmal, im Bett ist's doch molliger.

Plötzlich fuhr er durch ein Geräusch auf: die Krankenwärterin war eingetreten. Es war hell. Die junge Frau, die ihm gegenüber saß, schien ebenso überrascht zu sein wie er. Sie war ein wenig bleich aber immer frisch, nett, reizend, trotz der auf dem Stuhl verbrachten Nacht.

Da fuhr Duroy, der einen Blick auf die Leiche geworfen, plötzlich zusammen und rief:

– Herr Gott, sein Bart! – In den paar Stunden war der Bart auf diesem Fleisch, das sich schon zersetzte, gewachsen, so stark wie er in einigen Tagen auf dem Antlitz eines Lebenden sproßt. Und sie erschraken über dieses Leben, das auf diesem Toten weiter blühte, wie vor einem schrecklichen Wunder, wie vor einer göttlichen Drohung der Auferstehung, vor einer jener übernatürlichen, fürchterlichen Erscheinungen, die Menschen um den Verstand bringen können.

Dann gingen beide bis gegen elf Uhr schlafen.

Um diese Zeit wurde Karl in den Sarg gelegt. Sie fühlten sich sofort erleichtert und beruhigt. Sie setzten sich einander gegenüber um zu frühstücken, indem ihnen das Bedürfnis kam von tröstlichen, heiteren Dingen zu sprechen, die sie in das Leben zurückführten, da sie mit dem Tode nun abgeschlossen.

Durch das Fenster, das weit offen stand, zog die weiche Wärme des Frühlings ein, und die Luft trug den Duft der Nelken herein, die vor der Thür blühten.

Frau Forestier machte Duroy den Vorschlag im Garten spazieren zu gehen; sie schritten langsam um den kleinen Rasenfleck herum und sogen mit Wonne die warme von Tannenduft und Eukalyptus geschwängerte Luft ein.

Und plötzlich sprach sie mit ihm, ohne den Kopf zu ihm zu wenden, wie er es während der Nacht gethan dort oben im Zimmer, langsam ernst mit gedämpfter Stimme:

– Hören Sie, lieber Freund! Ich habe schon nachgedacht über das, was Sie mir vorgeschlagen haben, und ich möchte Sie nicht abreisen lassen, ohne ein Wort zu erwidern. Ich will Ihnen nicht ›nein‹ und nicht ›ja‹ sagen, wir wollen warten, sehen wie es wird, uns besser kennen lernen. Überlegen Sie sich Ihrerseits ja die Sache genau. Gehorchen Sie nicht bei ersten Aufwallung. Aber wenn ich Ihnen davon spreche, ehe noch der arme Karl im Grabe ruht, so ist es deshalb, damit Sie, nach dem was Sie mir gesagt haben, genau wissen wer ich bin. Sie sollen den Gedanken an das, was Sie mir vorgeschlagen nicht nähren, wenn Sie nicht . . . nicht . . . Manns genug sind, mich zu verstehen und mich so zu nehmen, wie ich bin. Hören Sie wohl, für mich bedeutet die Ehe keine Fessel, sondern ein Band. Ich will frei sein, thun und lassen können, was ich will, kommen und gehen wie es mir paßt. Ich leide keine Überwachung, keine Eifersucht, keine Vorwürfe über mein Benehmen. Und daß wir uns recht verstehen, natürlich verpflichte ich mich, nie den Namen des Mannes, den ich geheiratet habe, zu kompromittieren, ihn zu beschmutzen oder lächerlich zu machen. Aber dieser Mann müßte auch in mir eine gleich Berechtigte sehen, den guten Kameraden, nicht ein unter ihm stehendes Wesen oder nur die gehorsame, ergebene Hausfrau. Ich weiß wohl, daß ich darin nicht denke, wie alle Welt, aber ich ändere mich nun nicht mehr. Das wollte ich Ihnen nur sagen.

– Und ich füge auch hinzu: antworten Sie mir gar nicht, es wäre unnütz und jetzt nicht passend. Wir werden uns schon wiedersehen und vielleicht später einmal davon reden. Nun gehen Sie spazieren, ich kehre jetzt zu ihm zurück. Heute abend auf Wiedersehen!

Er küßte lange ihre Hand und ging davon, ohne ein Wort zu erwidern.

Abends sahen sie sich nur beim Essen, und dann zogen sie sich beide auf ihre Zimmer zurück, sie waren beide totmüde.

Karl Forestier wurde am andern Tage ohne Pomp auf dem Kirchhof von Cannes begraben, und Georg wollte den Schnellzug nach Paris benutzen, ein Uhr dreißig.

Frau Forestier hatte ihn an den Bahnhof gebracht. Sie gingen ruhig auf dem Bahnsteig auf und ab, warteten auf die Abfahrt und sprachen von gleichgiltigen Dingen.

Der Zug kam, er zählte nur fünf Wagen, ein richtiger Eilzug.

Der Journalist belegte einen Platz, und stieg dann wieder aus, um noch ein paar Augenblicke mit ihr zu sprechen. Plötzlich überkam ihn eine Traurigkeit, ein Kummer, die Angst sie zu verlassen, als ob er sie auf immer verlieren würde.

Ein Schaffner rief:

– Marseille! Lyon! Paris! Einsteigen!

Duroy stieg ein und lehnte sich ans Fenster, um ihr noch ein paar Abschiedsworte zu sagen. Die Lokomotive pfiff, und der Zug setzte sich in Bewegung.

Der junge Mann beugte sich aus dem Wagen und sah der jungen Frau nach, die unbeweglich auf dem Bahnsteig stand und ihm gleichfalls nachblickte. Plötzlich als er sie fast aus dem Gesichtstreis verloren, legte er die Finger an den Mund und warf ihr eine Kußhand zu.

Sie erwiderte die Kußhand kaum merklich, zögernd, nur angedeutet.

 


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