Hugo Marti
Rudolf von Tavel - Leben und Werk
Hugo Marti

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270 Das Vermächtnis

Der junge Student Rudolf von Tavel verzeichnet in seinem Lausanner Tagebuch einen Besuch der Familienkapelle in Vivis, wobei ihn sein Bruder begleitete, der zur gemeinsamen Feier des Auffahrtstages aus Bern eingetroffen war. Diesem selben Bruder berichtet der fast Sechzigjährige in einem Brief aus Bex, wo er am Roman «Unspunne» arbeitet, er habe in Vivis nach Tavelspuren geforscht. Denn von dort stammt das Geschlecht; der Zweig, dem der Dichter angehört, kam im Anfang des 18. Jahrhunderts nach Bern.

Es war im Hause des Herrn Burgerratsschreibers eine selbstverständliche Sache, dass man über seine Vorfahren einigen Bescheid wusste. Aber ebenso selbstverständlich war, dass die Vorfahren ihre Nachkommen verpflichteten, das begonnene Werk über die Generation hinweg weiterzuführen und in ihrem Sinn einer Zukunft, nicht einer Vergangenheit zu leben. Ein erschütterndes Gedicht, mehr Selbstgespräch als Kunstwerk im strengen Verstand, hat Rudolf von Tavel einmal im Andenken an seinen Vater 271 geschrieben; es zeigt sehr deutlich, dass Ahnenkult in der Erziehung dieses Hauses keine Flucht vor der eigenen Verantwortung jedes neuen Geschlechts bedeutete.

An des Vaters Grab

        Du schaust mich an,
Dein Blick ist Frage und lässt nimmer los.
In der feinen edlen Wölbung deiner Höhlen spielen Licht und Schatten
Und formen Fragen, fordern Antwort.
Und ich stehe da und weiss die Worte nicht, die mich rechtfertigen.
Du fragst: Wo sind meine Waffen?
Und sind sie blank noch? oder rostig?
Haben sie in deiner Hand gewirkt? oder geschlafen?
Oder hast du sie missbraucht und schartig geschlagen?
Was hast du mit Haus und Hof getan? mit Geld und Gut?
Wie brauchtest du Hand und Fuss?
Gingen sie auf gerechten Pfaden?
Wieviel bist du schuldig geblieben
Meinem Andenken, meiner Ehre?
Deinem Nächsten?
Deinem – meinem Vaterland?
Deinem – meinem Gott?
Wie steht es um deine Saat?
272 Um deine Liebe?
Du? Mein Sohn. Hörst du's, mein Sohn?
Leb ich in dir?

Hast du vollendet meinen Kampf, hast du meinen Sieg vollendet,
Die Sünde, die mich verfolgte, niedergeworfen?
Oder hast du ihr Raum gegeben, Gewalt gegeben über mein Andenken?
Kämpfst du noch?
Glaubst du noch?
Hoffst du noch?
Hast du noch Siegeszuversicht?

Vater, frage nicht weiter! Wie streng ist deiner Augen Blick.
Ich weiss nicht Bescheid noch Antwort. Meine Augen sind Fleisch und brennen.
Und du zwingst mich zu denken, zurückzuschauen auf meinen Weg.

Nein, Sohn. Wenn du, der du dastehst an meinem Grabe, mein Sohn bist,
    so schaust du vorwärts. Noch hast du Weg vor dir. Kurz zwar ist die Strecke
    schon zwischen dir und mir, aber lang genug, um ewig zu werden,
    unvergängliche Saat auszustreuen.
Vergiss nicht! Aus diesen meinen Augen, die Licht und Schatten sind,
    hat der Schöpfer des Himmels und der Erde, hat dich der angeschaut,
    der dich schuf.
273 Und nun lass schlummern in der Erde, was von der Erde genommen ist.
Und komm – komm zu mir, ins Licht,
Das sich in deinem Sein schon bricht.

Im Grunde sprechen Tavels dichterische Werke alle mehr oder weniger deutlich diese schlichte Lehre aus. Wie eine Summa seiner Gedanken vom «Wert der Tradition» mutet uns aber ein Vortrag an, den er am 11. Februar 1931 in einer Berner Gesellschaft von Standesgenossen hielt; hier sprach er ein Bekenntnis aus, das sein Leben und Werk durchdrang und das, richtig verstanden, keineswegs für einen Stand allein, sondern für jeden einzelnen gilt, der sich auf Ursprung und Ziel seines Lebens und damit auf eine höhere Heimat besinnt, als sie der nur im Irdischen Sesshafte zu besitzen vermeint.

In diesem Vortrag wiederholte Rudolf von Tavel ausgreifend, was sein Gedicht im Zwiegespräch mit dem Schatten des Vaters angetönt hatte: «Ein Stammbaum sollte uns niemals nur ein Apparat zum Sichvornehm-Dünken sein, niemals bloss Dokument zum Nachweis adeliger Herkunft, sondern eine erschütternde Aufforderung zum Nachdenken über das Woher und Wohin, ein Mahnruf zur Überlegung der eigenen Tüchtigkeit oder 274 Nichtswürdigkeit. Ist er nicht die lapidare Urkunde von unzähligen Leiden, gehegten und zerstörten Hoffnungen, von Zeiten des Glücks und des Unglücks, von Schuld und Sühne, durch die alle dein Blut geronnen ist? Fühlst du nicht die Frage all dieser Wappenschilder und Namen an dich gerichtet, die Frage: Wirst du es vollenden? Bist du deinem, unserm Volk, dem Lande, für das wir unser Leben einsetzten, was du ihm sein sollst? Würdigst du die Opfer, die wir für die gemeinsame Sache brachten?»

Früh mag ihm in kindgemässen Formen die sittliche Verpflichtung der Tradition bewusst oder gefühlsmässig klar geworden sein. Uns ist durch das Zeugnis der einstigen Schulfreunde die Erinnerung an das peinvolle Ereignis bewahrt, wie ein Lehrer dem langsamen und verträumten Schüler, der immer wieder in seinen Leistungen versagte, tadelnd den Besitz eines Siegelringes vorhielt, den er seit kurzem trug, und wie der Gescholtene in jäher Aufwallung vom Sitz aufsprang und dem taktlosen Lehrer zurief: «Das geht Sie gar nichts an, ob ich einen Siegelring trage oder nicht!» Der Zwischenfall muss bei den jugendlichen Zeugen einen starken Eindruck hinterlassen haben, während Rudolf von Tavel ihn in seinen Aufzeichnungen nicht erwähnt. War er 275 ihm entfallen? Hatte er ihn im Gedächtnis weggeschoben, wie er es offenbar damals, in jenen schweren Schuljahren, mit allerlei Unannehmlichkeiten und Widerwärtigkeiten auf virtuose Art zustande brachte? Uns will wahrscheinlicher dünken, er habe in der grossen Krise und Wandlung, die sein Leben noch während den letzten Schuljahren erfasste, die Berechtigung des schulmeisterlichen Tadels innerlich anerkannt, wenn auch seine Form verletzend war und blieb, und vielleicht zum erstenmal den Wert der Tradition in ihrer Mahnung zum Leisten, in ihrem unbedingten Aufruf zur Pflichterfüllung am eigenen Leibe verspürt; er habe sich zum erstenmal als Ring in der Kette gefühlt und als Nachfahr, dem zu vollenden aufgegeben sei, was andere begonnen.

Der Einzelne und die gemeinsame Sache: unter diesem Gesichtswinkel betrachtete Tavel das Leben und die Geschichte. Seine grosse epische Dichtung, wir haben es von Buch zu Buch festgestellt, war eine immer wiederholte, vertiefte, immer leidenschaftlichere Beschwörung bernischer Vergangenheit, als ob aus ihr alles zu schauen und zu erfahren, ja zu lernen wäre, was man zur Bewältigung der Gegenwart und zum Bau der Zukunft wissen müsste. Das Rankenwerk des Anekdotischen umspielt diese 276 Offenbarung, nicht als etwas ihr Wesensfremdes, sondern als dichterischer Ausdruck einer historischen Wahrheit.

Je weiter sein gestaltender Geist in die Zeiten der Vergangenheit ausgriff, um so sicherer verliess sich die Phantasie auf seine Einsicht in das Wesen der bernischen Volksseele. Er hatte sie in jungen Jahren schon kennengelernt, im Elternhaus wie bei unfreiwilligen Begegnungen weit jenseits der Grenzen seines herkömmlichen Kreises, und er wurde zeitlebens nicht müde, ihren verborgensten Regungen und heimlichsten Eigenschaften nachzuspüren. Nicht nur den Patrizier und den Städter alten Schlags kannte er, der Handwerker und Bauer waren ihm ebensowenig fremd wie der Pfarrer und Offizier. «Dir wüsset ja alles», schrieb ihm eine begeisterte Leserin, «nie isch es dernäbe. I gloube, für nes Ross z'gschirre oder z'Acher z'fahre stundet Dir nid zrügg. Dir wüsset villecht no wie me der Suurchabis ymacht, u dernäbe schynt's mer, ds Häägglen und ds Filochiere syg Ech o nid frömd.» Aber wichtiger als die Kenntnis aller Hantierungen war die der Seele. Ihre Grundzüge stellte er in mehr als einer Gestalt dar, und immer verliess er sich dabei auf eine gewisse Unwandelbarkeit durch die Zeiten hindurch. «Das eigentliche Wesen, der Charakter 277 des Volkes ist, wo dieses nicht allzusehr mit fremden Elementen untermischt ist, derselbe geblieben, wie er vor Jahrhunderten war. Er hat nach den Stürmen, die ihn auf die Probe stellten und zeitweise verwischten, immer wieder das alte tüchtige und loyale Gepräge angenommen und den Untugenden, die ihm anhaften, standgehalten, eine Feststellung, die uns erlaubt, getrost in die Zukunft zu blicken.» So schrieb er in einem Aufsatz über die bernische Volksseele.

Unter den grossen Gestalten der Vergangenheit, die er heraufbeschwor, waren es vor allem die Bubenberge, die ihm die schönsten Züge der bernischen Seele zu verkörpern schienen. Sie rief er denn auch in jenem Vortrag über den Wert der Tradition zu Kronzeugen einer Gesinnung an, die wahren Adel beweist: «Das Grosse in ihrem Verhalten war ihr Verantwortungsbewusstsein. Sie fühlten sich durch ihren Besitz dem Volke verpflichtet. Sie kargten nicht mit ihren Opfern. Sie rechneten gar nicht, sondern sie gaben sich hin an die gemeinsame Sache, die Bubenberge sogar in so unhaushälterischem Mass, dass sie sich innerhalb dreier Generationen wirtschaftlich ruinierten.» In seiner selbstlosen Treue zu Bern wächst Adrian von Bubenberg zu heroischer Grösse empor. Ob wohl Tavel, 278 während er den «Ring i der Chetti» schrieb, an den Brief dachte, den 1844 Gotthelf seinem Freunde Rudolf Fetscherin gesandt hatte mit dem Stoßseufzer: «Adrian von Bubenberg hatte ich schon lange im Auge als den herrlichsten Stoff zu einem historischen Roman, ein Stoff, wie Walter Scott ihn nicht hatte . . . aber mir fehlt dazu der nötige Boden, die Detailkenntnis der Schauplätze; wenn ich die hätte, ich wollte daraus einen Roman machen, wie kein Schweizer noch einen gemacht hat.» Die historischen Unterlagen zu seinem Werk erarbeitete Tavel sich in einem gründlichen Studium der Chroniken und Spezialabhandlungen und in manchen Reisen und Wanderungen zu den Stätten, deren Vergangenheit er schildern wollte. Die Notizenhefte sind voll von Aufzeichnungen über Adrian und seine Zeit, über den Burgunderherzog und seinen Hof. Nur auf diesem sicheren Fundament gelang es Tavel, das dichterische Denkmal für den Ritter zu errichten, um dessen erzenes sich Karl Stauffer ohne Erfolg bemüht und gequält hatte.

Bubenbergs Wappenstern stand ja schon über einer früheren Dichtung Tavels. Unvergesslich die Szene, da Oberst Wendschatz beim Schachspiel den lauen, der Regierung ergebenen Pfarrer Gryph heftig anfährt: «Ds Volk 279 wott nid nume Gsicht und Händ vo syr Regierung gseh, es wott ihres Härz für sech ghöre schla, und da het's es Rächt druuf, Herr Pfarrer. Es wott nid nume Pfleg wie öppe-n-es Chueli, es wott Liebi gspüre, Liebi. Und es het es Rächt uf Regänten und Füehrer, die jeden Ougeblick parat sy, öppis uf sech z'näh, z'lyde für ds Wohl vom Ganzen und, wenn's nötig wird, o z'stärbe für ds Volk. Das hei äbe d'Buebebärge verstande. Das isch der Stärn vo Buebebärg, dä muess wieder ufgah, und däm wott i folge.» Später kommt er auf seine Lieblingsidee zurück, die von den Standesgenossen so leicht missverstanden wird: «Wo-n-i gseit ha, me sötti dem Volk zeige, dass es eim lieb syg, het's gheisse, ja frylech, me müess ihm jitz chüderle! I fragen Ech, Herr Pfarrer, chüderle! Wenn i vo mene Stärn vo Buebebärg rede, so meinen i äbe, me sött Höch und Nider derzue bringe, sech a kei vergänglechi Regierung z'binde, a kei stärbleche Möntsch, sonderen es söll es jedes derzue cho, z'erchenne, was dem ganze Volk zum Heil dienet. Si hei doch wahrhaftig di öschtrychische Vögt nid verjagt und der Burgunder z'Murte nid gchlopfet und z'Loupe di chlyne Deschpote nid us em Sattel glüpft, für sech nachhär sälber wieder unter nen unwürdigi Chnächtschaft z'stelle.»

280 Früh schon kündete sich hier, im «Schtärn vo Buebebärg», der 1907 erschien, die Gestalt des Niklaus von der Flüeh an, dem später des Dichters ganze Liebe gehörte und den er doch nie als handelnde Person in einem Werk auftreten liess. Der Bubenbergroman wies auf ihn als auf den Vollender dessen hin, was Adrian gewollt und begonnen hatte: «I mache's nümme; aber er chunnt de, dä, wo nüt het. Däm lose si de», sagt der Ritter auf dem Totenbett. Tavels nachdenklicher Leser, Professor Max Huber, schrieb darauf dem Dichter: «Ihre Hemmungen, den Klausner aus dem Ranft unmittelbar in die Erzählung einzuführen, verstehe ich sehr gut; den einen Lesern wäre die Darstellung zu viel und den andern zu wenig "katholisch".» Ein Jahr nach diesem Brief übergab Tavel dem, der ihn geschrieben, den neuen Roman mit den Worten: «Den Bruder Klaus konnte ich nur so an die Wand des Hintergrundes malen; aber ich hoffe, er werde vom Leser trotz dem Gewimmel der im Raum des Romans agierenden Personen noch bemerkt. Es ist wahr, seine Stimme sollte heute deutlicher denn je vernommen werden.» Dann aber trat neben den Klausner in den Gesichtskreis des Dichters jener Rudolf von Erlach, den der Oberst Wendschatz auch schon in seinem Rückblick 281 auf Berns Vergangenheit nennt, der Sieger von Laupen.

So fern in frühe Zeiten der Stadt Bern hatte sich des Dichters Schau noch nie vorgewagt. Ein namhafter Historiker, dem er in einer Gesellschaft von dem Plane Kenntnis gab, bestärkte ihn darin: je näher der Stadtgründung, desto schöner sei die Geschichte. Die anwesenden Damen protestierten unisono und verwiesen den Dichter ins 18. oder 19. Jahrhundert. Das erinnerte Tavel an die biedere, ihm sehr ergebene Leserin in Adelboden, die schon am Bubenbergroman auszusetzen hatte: «Ach ja, es ischt ja o schön, aber – wie soll i sägen? Es ischt halt meh so Schwyzergschicht.» Auf den Beifall der Leser, die Romane lieben, in denen sie einander kriegen, konnte Rudolf von Tavel nicht ohne weiteres mehr zählen, wenn er die Gestalt des Rudolf von Erlach heraufbeschwor, dessen glücklich-unselige Liebe die Stadt Bern war. Aber diese lächelnde Erwägung hinderte den Dichter nicht, an das grosse Werk zu gehen.

Wir treten ehrfürchtig in die Werkstatt, die der Meister verlassen hat, und betrachten die Vorarbeiten, die den Griff seiner Hand verraten und uns seine Absichten enthüllen, nicht bis ins Letzte allerdings, aber doch in grossen Umrissen. Das Letzte, die Vollendung, nahm 282 er mit sich ins Grab; was uns blieb, ist ein Entwurf.

Doch bis zu welchem Grad der Reife dieser Entwurf gediehen ist, belegt uns aufs anschaulichste ein Übersichtsplan über die Gestalten und Hauptereignisse des Romans. Tavel liebte es, auf solchen synoptischen Darstellungen die überbordende Fülle des Materials in einen strengen Rahmen zu schliessen und sich selber über die Dichte des epischen Gewebes auf allen zeitlichen Stufen des Handlungsverlaufes genaue, vergleichende Rechenschaft zu geben. Es sind mehrere solcher Übersichtspläne von früheren Werken erhalten; sie dienten dem Dichter gleichsam als Unterlage während seines Schaffens, als feste Orientierung auf seinen epischen Gängen. Wie die Landkarte eines Gebietes, das Schritt um Schritt erobert sein will, lag der umfangreiche, aus mehreren Stücken zusammengeklebte Plan im Arbeitsraum des Dichters, während er Bogen um Bogen des Manuskripts, meist starkes graues Papier, mit den regelmässigen Zügen seiner Handschrift bedeckte. Der Übersichtsplan zur «Unvollendeten» seines epischen Lebenswerks hatte ihn an den Genfersee begleitet, wo ihm die letzten Arbeitstage beschieden waren; in ihm, der als Anhang unserm Buche beigefügt ist, 283 dürfen wir seines Schaffens äusserste Grenze sehen. Welches aber war nun der Stoff, den dieser Plan umriss?

In einem graugebundenen Heft, auf dessen Umschlag der Titel des werdenden Buches mit sicherer Schrift vermerkt steht: «Ds Schwärt vo Loupe», lesen wir, was Tavel selber als erste Idee bezeichnet:

«I. Idee. Ritter Rudolf von Erlach, Dienstmann des Grafen von Nidau, Vogt und Freund seiner Söhne, in engstem Vertrauensverhältnis zu dem Grafen, erblickt in der Stadt Bern das Heil der Zukunft (die Weisheit und Kraft ihrer leitenden Männer und die Opferwilligkeit ihrer Burgerschaft eine Garantie für Sicherheit und Entwicklung). Er sieht in der feindseligen Solidarität des Adels eine schwere Bedrohung der Stadt; aber anderseits geht der Adel dem Zerfall entgegen, weil jeder vorerst für sich sorgt und nur soweit an der Solidarität teilnimmt, als er in ihr Schutz für seine Interessen erblickt. Dabei fressen sie, wenn's darauf ankommt, sich gegenseitig auf. Es läuft darauf hinaus, dass brutale Gewalt und List, Besitz und gute Verbindung dem Einzelnen Erfolg garantieren. (Der Wert der Tugend, der ehrlichen Freundschaft!?!) Man schont auch die nächsten Verwandten nicht und opfert sie, wenn's grad 284 dienlich ist. Dieser Zustand macht das Leben ungfreut.

Der Ritter erkennt, dass man im Schoss einer biderben Burgerschaft von diesem Druck befreit würde. Dort gönnt man dem Nächsten seine Sache. Sein Gedeihen ist das Interesse aller und das Gemeinsame, zu Kraft und Macht erwachsen, der beste Schutz für alle. Das Geheimnis der Prosperität liegt in der Förderung und im Schutz der freien Entfaltung des Einzelnen durch die Macht des gemeinsamen Ganzen, das zugleich die Grenze der individuellen Freiheit bezeichnet. Sobald das Interesse des Einzelnen das Ganze schädigt, muss es beschnitten werden. Draussen im Adel bedeutet solche Operation Erweckung des Rachedurstes. Innerhalb der Stadtmauern begreift man deren Notwendigkeit. Das gemeinsam aufgestellte Gesetz ersetzt den brutalen Zwang des Herrn. Die Seele dieses Verhältnisses ist die Genügsamkeit, die sich auch mit der Lehre der Kirche deckt, da Reichtum Blendwerk ist und dem Einzelnen zum Verderben wird.

Erlach dringt zwar zu dieser Einsicht durch; aber er überwindet sich selber nicht, sondern möchte nur den Schutz der Stadt ausbeuten für seine eigenen Interessen. Nur denen zuliebe dient er der Stadt.

285 So verknüpft er die Söhne von Nidau mit der Stadt, und es entsteht der Konflikt mit dem Grafen, der zwar nicht bestreiten kann, dass Erlach recht hat; aber er selber ist im Adel verwurzelt, ist Ritter durch und durch, hält zum Alten und kommt darin heldenhaft um. Er will nicht in dem Ding syn und zieht es vor, mit dem Alten zu siegen oder zu sterben, obschon eigentlich auch er einsieht, dass Bern vieles für sich hätte; aber Ritter und Burger!!

Die Söhne hingegen erfassen die Wahrheit und erschliessen sich Erlach, dessen Inkonsequenz sie noch nicht erkennen. Der Tod des Vaters macht den einen stutzig, überzeugt den andern. Die Söhne kommen zwischen Erlach und ihrem Vater in einen Konflikt, der über die Kraft ihres Alters geht. Der Krieg zerreisst sie, und sie verstehen den Ausgang nicht. Erst spät geht dem Überlebenden das Licht auf über die Bedeutung des Berner Sieges.

Nach und nach aber erkennt er auch den Zwiespalt zwischen Erlachs Egoismus und dem Wesen Berns, für das er sich doch bei Laupen eingesetzt mit Leib und Leben. Es entsteht ein neuer Konflikt. Der tragische Ausgang erschüttert ihn, und er erkennt jetzt erst recht die conditio sine qua non des demokratischen Gemeinwesens. Kann man denn nicht 286 Rittertum bewahren auch in den Mauern der Stadt, unter dem Bärenbanner?»

Das ist das historische Gerüst des Romans. Solid, tragfähig baut es der Meister vorerst auf. Sofort aber verstärkt er einzelne Pfeiler, die Hauptträger sind, so die Rolle der Stadt in der Bildung und Bewährung des Gemeinschaftsinnes:

«Die Stadt bietet den Zufluchtnehmenden nicht nur materielle Vorteile und Existenzsicherheit, sondern sie weckt in ihnen das Verantwortungsgefühl für ein Ganzes, und dieses Gefühl weckt in ihnen die Fähigkeit und den Willen zur demokratischen Betätigung, im Ritter wie im Handwerker. Nur dieser aus Verantwortung erwachsende Eifer um das Heil des Ganzen gibt Berufung und Recht zur demokratischen Betätigung. Streber und Usurpatoren haben kein Recht darauf und müssen ausscheiden. Der gesunde Solidaritätstrieb soll diese Ausscheidung bewirken.»

Jetzt aber drängt sich dem Dichter die menschliche Atmosphäre um Erlach, sein privates Schicksal, zwischen die politischen Erwägungen, und er umreisst den Ritter knapp als den in Frauendienst und Sinnesgenuss verstrickten Mann, der die Liebe einer Frau in Rachedurst verwandelt, da er sie nach dem Auflodern der Leidenschaft fahren 287 lässt und aufgibt. Ihr Hass gibt Erlach dem Mörder preis. Er fällt unter den Streichen der Streitaxt, die er bei Laupen siegreich geführt hat.

Abschliessend zieht Tavel in diesem ersten Entwurf, dessen Aufzeichnung sechs Seiten füllt, das Fazit des Romans in folgenden Sätzen und Stichworten:

«Die Lehre von Laupen ist: Gott sitzt im Regimente und gibt den unbegreiflichen Sieg dem Schwachen, der da glaubt. Auf diesem Grunde bauen Bubenberg und Baselwind. Erlach hingegen Realpolitiker à outrance meint, durch Aufbau der Gewalt die Aufgabe lösen zu können und zu müssen. Mammon die Seele dieses Prinzips mit aller seiner brutalen Skrupellosigkeit. Nicht für sich will er's, aber der Stadt zuliebe. So muss er präventiv (Vorsehung) ausgeschieden werden, bevor Unheil geschieht, der Stadt und dem, was die Stadt jetzt in der Welt bedeutet, zulieb. Ausführendes Organ ist die Streitaxt von Laupen, die Siegerin, Sinnbild des guten Prinzips, des Gottvertrauens, des Glaubens Gideons, in der Hand des Fanatikers, der, weil interessiert, nicht der Berufene ist, sondern die richterliche Funktion und Gewalt usurpiert. – Erlach ein Ideal, aber nicht Gott, und wenn das Werkzeug zum Unheil sich wendet, 288 verwirft Gott es. Hier nimmt er es weg. Jes. 45, 9–15, V. 13.»

Nun folgen vorerst Notizen aus Äschbacher, Bloesch, Wattenwyl und aus Urkunden, später eine genealogische Darstellung der Erlacher Familienverhältnisse, eine Zeittafel der Schultheissen von Bern zwischen 1320 und 1361, Kostümstudien nach Schilling und andere Notizen aus der Lektüre historischer Werke.

Dazwischen aber stehen drei «Fassungen» des Romans; Entwürfe, die zum Teil schon in Kapitel unterteilt sind und die eine Fülle von Einzelheiten, Einfällen, Nebenhandlungen enthalten, die aber auch die gleiche Idee in verschiedenen Wendungen wiederholen und die von nachträglichen Bleistiftergänzungen durchsetzt sind. Die erste Fassung ist nicht datiert, die zweite stammt vom 1. August 1934, die letzte vom 8. August. Aus einigen Formulierungen wichtiger Motive wie des schicksalhaften Schwertes (das in der ersten «Idee» eine Streitaxt war) oder des Liebeshasses der Frau Varenne (später Verena genannt) ersieht man deutlich, wie das ganze Gedankengut noch im Flusse war, wie der Dichter es andauernd überprüfte, abwog, umgoss. Der Ritter von Erlach ist ihm keine pathetische Festspielfigur, sondern ein Mensch von Fleisch und Blut, Gottes Werkzeug und der Sünde Knecht, 289 ein Mann in Licht und Schatten, der als Rivale Bubenbergs um die mächtige Braut Bern wirbt.

Sein Gegenspieler ist aber nicht so sehr der ritterliche Bubenberg, sondern der Leutpriester Baselwind, der an der Spitze des Heeres in die Schlacht zog und auf die politische Entwicklung des noch jungen Gemeinwesens offenbar starken Einfluss gewann. Der Dichter schildert in seinen Entwürfen diese historische Gestalt als Seher, dem die göttlichen Kräfte im Wachstum der Stadt und im Schicksal Erlachs bewusst und spürbar sind: «Bern wird zur Stätte, da einzelne Menschen sich dem Willen Gottes zur Verfügung stellen im wahren christlichen Sinn; vorbehaltlos glaubend, setzen sie ohne Anspruch für sich selbst das Evangelium in die Tat um» (Tavel erinnert an die wohltätigen Stiftungen der Frau Bela und der Frau Anna Seiler für eine geordnete Krankenpflege in der Stadt). Aber Gott schirmt die Stadt «auch gegen Missleitung und beseitigt, was seine Pläne durchkreuzt, geschähe es auch in der edelsten Menschlichkeit. Das Objekt der Gottesliebe muss ganz und rein erhalten bleiben.»

Der Leutpriester Baselwind nun erhält in der Gestalt des Mönchs oder Schreibers Hilari einen Genossen, der in Tavels Notizen 290 während der Arbeit erst auftaucht, dann aber in der dritten Fassung des Entwurfes und in dem breitangelegten Übersichtsplan über alle Figuren eine wichtige, ja zentrale Stellung erhält. Er «gibt den Text» zu einer Ansprache des Leutpriesters an die Ritter Bubenberg und Erlach. Welchen Text? Tavel teilt ihn klipp und klar mit; es ist eine Stelle aus der Inschrift über dem Höllentor in Dantes Göttlicher Komödie:

(Fecemi) la divina potestate,
La somma sapienza e il primo amore.
(Geschaffen ward ich durch die Allmacht Gottes,
Durch höchste Weisheit und durch erste Liebe.)

Baselwind wendet diese Worte auf das junge Gemeinwesen an, vor dessen Mauern er mit den Rittern zusammentrifft; Erlach «fühlt, dass da etwas Wahres, Grosses drin steckt, aber schon hier lächelt er in sich hinein ob dem Idealismus». Wie kommt nun aber der Vertreter des religiösen Gedankens zu diesem Dante-Spruch? In Italien mochte allerdings, wie Erwähnungen bei Zeitgenossen beweisen, Dantes Werk bei seinem Tod 1321 einigermassen bekannt sein; aber diesseits der Alpen war das sicher nicht der Fall. Also muss Hilari dem Leutpriester die Kenntnis des Spruchs 291 übermittelt, muss ihn hergebracht haben: war er ein wandernder Scholar? Ein Fremder, vielleicht ein Italiener? Auf etwas Derartiges mag der Umstand hindeuten, dass die Besprechung des Priesters mit den Rittern vor dem obern Tor auf dem Weg zum Spital hinaus stattfindet, wo doch wohl auch die Passantenherberge war.

Seltsam berührt uns die Einführung dieses unbekannten Hilari mit seinem Dante-Wort in den Kreis der altbernischen Ritter und Priester. Wir spüren, dass seine Verszeile zur religiösen Achse des Werkes wird, um die sich Opfer, Ehrgeiz, Dienst und Ruhm der handelnden Personen drehen werden. In den Urkunden hat man uns die Existenz eines Hilarius nicht nachweisen können. Also hat ihn Rudolf von Tavel erfunden, als den Repräsentanten der göttlichen, geistigen Macht gegenüber den Vertretern der weltlichen, materiellen Kräfte. Warum aber nannte er ihn Hilari? Wie kam er auf diesen nicht sehr gebräuchlichen Namen?

Die Notizen geben keinen Aufschluss. Aber wir möchten eine Vermutung nicht unterdrücken, die uns innerlich begründet erscheint und die auf ein Hauptproblem der Tavelschen Kunst ein unerwartetes Licht wirft.

In der Dante-Forschung spielt der 292 lateinische Brief eines Mönchs Hilarius vom Kloster Santa Croce auf dem Monte Corvo eine gewisse Rolle. Danach sollte Dante auf seiner Landflüchtigkeit in jenem Kloster nahe bei Pisa eingekehrt sein und dem Mönch von seinen damals vollendeten Gesängen Kenntnis gegeben haben. Frater Hilarius verwunderte sich, dass der Dichter einen so hohen Gegenstand in der Volkssprache behandelt habe. Dante gab zu, dass er zuerst wie alle gebildete Welt lateinisch geschrieben habe, ehe er den Entschluss gefasst, sich des Ausdrucks der Menge zu bedienen. Die Echtheit dieses Hilarius-Briefes wird von der Forschung bestritten, Scartazzini bezeichnet ihn als zweifellose Fälschung; aber es tut natürlich nichts zur Sache, ob der Brief echt oder falsch ist und ob Hilarius überhaupt gelebt hat – wenn bloss Rudolf von Tavel von ihm gelesen oder gehört und seine suggestive Frage an den grossen Dichter auf sich selber hat wirken lassen: Warum schreibst du die Mundart des Volkes?

Nachweisen können wir diese Bekanntschaft ebensowenig wie einen Ausflug Tavels von Pisa, wo er 1926 einige Stunden weilte, zum Kloster Santa Croce, wo eine Inschrift an Dantes Besuch erinnert; aber dass diese Frage unsern Berner Dichter mindestens so tief wie den Florentiner ins Herz getroffen hat, wenn 293 er sie vernahm, das wissen wir aus zahlreichen Zeugnissen. Und so würden wir verstehen, warum er den Namen des umstrittenen Hilari in sein Werk übernommen hätte, das wie kein anderes den höchsten Gegenstand, Gottes Walten in bernischer Wirklichkeit, in der schlichten Sprache des Volkes aussprechen sollte.

Verliert sich hier auch unser Wissen in das Dämmer der Vermutung, so schauen wir doch klar genug das fast mythische Bild, das sich Rudolf von Tavel von der jungen Stadt Bern machte. Er baute sie auf als eine Utopie der Vergangenheit, als eine Burg des Friedens für die Friedfertigen, als eine wahre Gottesstätte. «Das Heilige in der Stadt erträgt keine menschlich ausgedachte Führung, die nicht von Gott eingegeben ist.» Im Aufstieg Berns sieht er den «Sieg des demokratischen Gedankens». Wahrer Adel dient.

Ein unvollendetes Werk, dessen Grundrisse wir entziffern, lässt uns trauernd die Grösse des geplanten Baues ahnen. Aber es kann uns nicht die Sicht verstellen auf das bestehende Lebenswerk, das wie des Dichters Leben selber nach grossem Plan einheitlich geworden und in seiner Art glücklich vollendet ist.


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