Hugo Marti
Rudolf von Tavel - Leben und Werk
Hugo Marti

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7 Die kleine und die grosse Welt

Die Absicht, seine Jugenderinnerungen niederzuschreiben, hat Rudolf von Tavel des öftern beschäftigt. Noch im letzten Sommer seines Lebens, wenige Wochen vor dem Tode, als seine Gedanken forschend und dichtend um die rätselvolle Gestalt des Rudolf von Erlach kreisten und die Vorarbeit zu dem neuen Roman «Ds Schwärt vo Loupe» schon bis in Einzelheiten gediehen war, riet ihm ein Freund, von Rudolf von Erlach solle er schon wegen der historischen Ungewissheit lieber absehen, dagegen sei jetzt für ihn der Augenblick gekommen, seine Jugenderinnerungen zu schreiben und preiszugeben. «An Letzteres habe ich schon oft gedacht», bemerkt Tavel am 16. Juni 1934 in einem Brief an Professor Max Huber, «aber es hat damit seine eigene Bewandtnis. Das Schönste des Erlebens berührt doch vielfach Menschen, die entweder selber noch leben oder die noch in frischer Erinnerung stehen. Es ist eine so delikate Sache, dass man es darauf müsste ankommen lassen, ob nicht das Ganze dann doch einstweilen in 8 einen wohlverschlossenen Kasten und der Schlüssel dazu in die Hand derer gehört, die nach uns kommen. Dies sollte mich freilich nicht abhalten. Es ist eine Schwäche des demokratisch eingestellten Menschen, immer die Saat wollen aufgehen zu sehen. Wahrlich grösser wäre es, den Nachkommen die Ernte zu überlassen und die Augen vertrauensvoll zu schliessen, bevor die Saat aufgeht. Allerdings müsste man die Verantwortung dafür auf sich nehmen.»

Müssen wir also leider auf eine vollständige Lebensdarstellung aus des Dichters eigener Hand verzichten, so können wir doch an bruchstückhaften Aufzeichnungen, die er zu verschiedenen Malen in seinen spätern Jahren begann, genügend ermessen, wie frisch und reich ihm der Quell der Erinnerung floss und was für ihn und die Gestaltung seines Charakters die Erlebnisse, Umwelt und geistige Luft seiner frühesten Jugend bedeuteten. Dass sie gar für sein dichterisches Werk den Grundstoff lieferten, nämlich die schicksalshafte Verbundenheit mit bernischer Geschichte und bernischem Wesen, bedarf kaum des besondern Hinweises.

So mag er selber, ein besserer Erzähler als jeder Biograph es wäre, das Lob seines Herkommens aussagen und die frühesten Stätten 9 schildern, die sein Auge geschaut und sein Herz als unverlierbaren Besitz in sich aufgenommen hat. Rudolf von Tavel gab seinen weder in sich geschlossenen noch endgültig bereinigten Aufzeichnungen den Titel:

Meine Kindheit

Am oberen Ende der Spitalgasse sonnseits stand bis zum Jahre 1909 ein gar stattliches, altes Haus dicht neben der Heiliggeistkirche, die man damals noch ziemlich allgemein Spittelchilche nannte. Es bildete die Ecke zwischen der Spitalgasse und dem äusseren Bollwerk, das aber längst kein Bollwerk mehr war, sondern eine breite Strasse, die zwischen dem genannten Wohnhaus und der Kirche hindurch nach dem Aarbergertor hinausführte und sich dicht hinter der Kirche zu dem mit Kastanienbäumen bepflanzten Bahnhofplatz erweiterte. Am nördlichen Ende des Platzes stand, dem Bahnhof gegenüber, das alte Hotel Schweizerhof, und an dieses schloss sich ein schöner Parterrebau, dessen Mitte die Dalpsche Buchhandlung innehatte. Mit seiner andern Schmalseite stiess dieses Magazingebäude an den kleinen Dependenzflügel des Eckhauses.

Dieser ganze Komplex vom «Schweizerhof» bis an die Spitalgasse war Eigentum der Frau Julie von Tavel geb. von Wagner, Witwe des 10 Emanuel Rudolf von Tavel, gew. Oberamtmann von Frutigen und ehedem Hauptmann im holländischen Schweizerregiment Nr. 23. Die schon hochbetagte Dame bewohnte mit zwei ledigen Töchtern das erste Stockwerk des Eckhauses, eine behagliche Wohnung von z. T. sehr grossen Zimmern. Der zweite Stock bildete die Behausung des Grossrats und Burgerratsschreibers Alexander von Tavel-von Wattenwyl und seiner aus Gattin, drei Knaben und zwei Töchterchen bestehenden Familie. Als die Grossmutter starb, zogen die Tanten in den dritten Stock, und Alexander von Tavel bewohnte den ersten Stock, der durch drei Zimmer im Dependenzbau der grösseren Familie mehr Platz bot. Im zweiten Stock wohnte dann der pensionierte Neapolitaneroberst August von Stürler. Im Erdgeschoss betrieb ein polnischer Flüchtling namens Edler ein Uhrmachergeschäft, daneben der biedere Meister Schilt einen sehr frequentierten Coiffeurladen und im Anbau der Vater Binder eine Confiserie.

Dem Burgerratsschreiber – er war der zweite Sohn der Hausbesitzerin – wurde in der längsten Nacht des Jahres 1866 ein viertes Söhnchen geboren, das der Nestbuz bleiben sollte und in der schönen Barockkirche nebenan auf die Namen Otto Friedrich Rudolf getauft wurde. Zu Gevatter standen ihm der 11 Oberst und Stadtpräsident Otto von Büren, der Altertumskenner Friedrich Bürki und die Frau Adele von Graffenried geb. von Erlach in Muri. Die ältere Schwester Marie soll Tränen vergossen haben, als ihr an ihrem Geburtstage statt des erhofften Schwesterchens der Storch einen vierten Bruder bescherte. Nachgetragen hat sie die Enttäuschung dem Jüngsten, mit dem sie bis an ihr Ende Jahr um Jahr den gemeinsamen Geburtstag feierte, nie.

Zu den zahlreichen Hausgenossen gehörten die Kindsmagd Mädeli, später und bei schlechter Laune Madle genannt, welche den Nesthöck mit der für einen solchen üblichen Verwöhnung betreute, und der gutherzige Wasserträger Hans, der die Küchen des Hauses alltäglich mit Brunnenwasser versorgte. Dieser bezeugte mir seine Freundschaft, indem er mich zum erstenmal in meinem Leben – ich mag 5 oder 6 Jahre alt gewesen sein – in ein Wirtshaus brachte, und zwar an der Brunngasse. In meine zarteste Jugend fällt ein vorübergehender Aufenthalt im Schattenhof an der Muristrasse. Von dort aus sah ich Truppen, die zur Grenzbesetzung während des deutsch-französischen Krieges einrückten, vorübermarschieren. Der jüngere Bruder meines Vaters, Onkel Franz, ging als Scharfschützenhauptmann mit. Er hatte bis zur 12 Aufhebung der Kapitulationen als Offizier im Berner Regiment in Neapel gedient und sich dann in Oberhofen mit einer von uns allen sehr geliebten Oberländerin, Elisabeth Ritschard, verheiratet und niedergelassen. Während des Krieges 1870/71 wohnten wir aber in der Stadt, denn ich erinnere mich noch gut der internierten Franzosen, die in der Heiliggeistkirche untergebracht waren und für die man – nicht zum Entzücken der Hausbewohner – vor unsern Fenstern am Bollwerk Latrinen gebaut hatte.

Noch nach dem Krieg bekam unser Mädeli jedesmal, wenn er zum Militärdienst einrücken musste, den Besuch ihres Bruders, des Tambours Nobs, dessen graurot gestreifte «Schwalbennester» (Epauletten) mir mehr imponierten als sein «Gitzibart». Da Mädeli immer nur «der Brueder» sagte, wenn sie von ihm sprach, ward er für mich auch schlechtweg der Brueder, was für mich gleichbedeutend war mit Tambour, so dass ich auf die Frage, was ich werden wolle, mit Bestimmtheit antwortete: «Brueder».

Kurz bevor ich mich in das warme Nest an der Spitalgasse gesetzt hatte, war mein Vater in den Grossen Rat gewählt worden. Da er nun zufällig in jenen Tagen einen neuen Überzieher mit einem Samtkragen anschaffte, 13 brachte einer meiner Brüder diesen Samtkragen mit des Vaters neuer Würde in Zusammenhang. Ob er deshalb auch gerne Grossrat geworden wäre, weiss ich nicht.

Das Eckhaus war eine Art Lueginsland. Was da nicht alles vorbeiging und -fuhr! Alles, was vom Bahnhof, vom Aarberger- und vom Murtentor herkam, ging an unsern Fenstern vorüber. Eines Tages sah ich eine dicke Bauernfrau zu Markte kommen; die hatte ein feuerrotes Tuch um den Kopf gebunden und trug unter dem Arm einen gewaltigen himmelblauen Regenschirm mit messingenem Krückgriff. Mädeli erklärte, das sei eine «Fryburgere». Sie kam also von Westen, wie der aus dem Laupenamt stammende «Brueder». Von Westen waren auch die Franzosen gekommen. Im Westen spielten die Schauergeschichten, die mir Mädeli und das «Nähjer-Lisebeth» aus Schliern erzählten. Im Westen war das «Mohrepoh» (Mädis Aussprache für Monrepos), ein Landgut, von dem gelegentlich die Rede war, und noch so vieles andere Merkwürdige. Auch gingen die Fenster der Kinderstube gegen Westen. Was Wunder, wenn da der Westen für mich eine seltsame, fast mystische Bedeutung bekam, die noch heute, nach bald 60 Jahren, in meiner unbewussten Vorstellungsmaschinerie eine gewisse Rolle spielt 14 und unbestimmte Ahnungen weckt. Über Köniz ging übrigens auch der gute Stern meiner Mannesjahre in schönem Glanz auf, meine Gattin.

Ohne Zweifel hatte aber auch das Innere des Hauses Anteil an meiner Gemütsbildung, weshalb ich noch einiges davon mitteilen muss. Schon der ungeheure Estrich mit seinen geheimnisvollen Kammern. Sie hatten alle unten an der Türe ein Katzenloch, durch das man, platt auf den Backsteinplatten liegend, wunderbare Sachen zu sehen vermeinte. In der einen stand im dunklen Hintergrund ein prächtiger antiker Schrank, in welchem es geisterte, in der andern hing an vier Seilen eine «Brügi», auf welcher Reservebettstücke, vor den Mäusen gesichert, lagerten. Waren wir unartig, so drohten uns die Mägde, wir würden abends auf dieser Brügi schlafen gelegt – schauervoller Gedanke! Die nächtliche Einsamkeit da oben bei Mäusen und Ratten! Ratten stellte ich mir vor als Tiere mit brauner Schafwolle am fusslangen Leib, schwarzem Kopf und halbellenlangem Schwanz. Zum Entsetzen meiner treuen Behüter brachte ich von jeder Entdeckungsreise in diesen Regionen abgetakeltes Spielzeug herunter, das man um so inniger ans Herz schloss, je zerbrochener und darum erbarmungsbedürftiger es war.

15 Im ersten Stocke hauste die «Gramamma» mit Papas ledigen Schwestern, die man nach der Art ihres Lachens die Tanten «Hihihi» und «Hähähä» nannte. Alle drei waren feine heimelige Damen, die wir respektierten und herzlich liebten. In ihrem Wohnzimmer webte etwas, das meinen Gedanken die Richtung in die Vergangenheit wies. Kam es daher, dass man uns oft von kriegerischen Ereignissen und andern vergangenen Dingen erzählte? Dort lag auch das «grosse Kriegsbuch», ein Bilderbuch von den napoleonischen Kriegen, das gelegentlich beim Erklären auf die Person des «Onkel Obrist» führte, einen damals schon verstorbenen Bruder meines Grossvaters, der als bayrischer Offizier den russischen Feldzug mitgemacht und bei Polotzk verwundet worden war.

Bei den Tanten wirkte ich zum erstenmal in einem lebenden Bilde mit. Meine ältere Schwester «machte» die Lotte, und ich sollte als kleiner Knirps dabei stehen. Da nun meine Höslein doch schon nach vorn aufgingen, so dass man den Hemdzipfel nicht, wie auf dem Bilde, hinten konnte heraushängen lassen, heftete man mir ein weisses Taschentuch an den Hinterteil. Da war aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Das Ding genierte mich, und ich tat wie ein kleines Ungeheuer. Ein 16 ander Mal fand ich mich als ungebetener Gast bei den Tanten ein, als sie ein Souper gaben. Unsre Eltern waren dabei. Eben als man oben bei Tische sass, entstand zwischen einem meiner Brüder und dem Kindermädchen Streit, wobei mein Bruder eine sehr drohende Haltung annahm. Da lief ich hinunter, brach ins Esszimmer und schrie in die tafelnde Gesellschaft: «Mama, der Bärti wott ds Mädeli ermorde!» Mit dem Rat, es darauf ankommen zu lassen, und einigem süssen Backwerk wurde ich tröstlich abgefertigt. Zu meiner Genugtuung fand ich Mädeli noch am Leben. Ich hing sehr an ihr, und nicht viel fehlte, so hätte die mich verwöhnende Magd in meinem Herzen den ersten Rang erstritten. Das ging, bis ich einmal Mädeli unter den Dienstboten Mamas Schelten nachahmen hörte. Da war das Verhältnis für immer zurechtgerückt, obschon ich der Magd bis an ihr Ende zugetan blieb.

Das Geburtshaus bei der Heiliggeistkirche
Der Christoffelturm wurde 1865, im Jahr vor Tavels Geburt, abgebrochen

Der Bewohner des zweiten Stockes, Oberst von Stürler, war uns Kindern sehr gewogen, aber allzu oft sahen wir ihn nicht. In den Sommermonaten bewohnte er Oberried bei Belp. Dort durften wir ihn einmal besuchen, und von daher datiert meine Bekanntschaft mit dem herrlichen Landsitz. Ich glaube nicht, dass ich diesen von nahe wieder sah, bis «Jä 17 gäll, so geit's!» geschrieben war, sonst würde ich Haus und Hof anders geschildert haben.

Nun der erste Stock, den wir nach dem Tode der Grossmutter bezogen. Es war keine elegante, aber eine sehr behagliche Wohnung. Der Hausrat war von gutem alten Geschmack. Über Tag hielten wir Kinder uns in dem grossen, nach der Hofseite gelegenen Esszimmer auf, das in der Rückwand einen mächtigen Kachelofen mit «Tritt» enthielt. Dieser Tritt war uns Wiege, Thron, Altar, Kanzel, Schaubühne, Burg und war deshalb immer heiss umstritten. Die Wände waren mit Familienportraits vollständig besetzt. Die alten Damen und Herren hielten täglich Zwiesprache mit uns, und es hat sich gefügt, dass sie bis auf den heutigen Tag meine Zimmergenossen blieben. Es ist nie einer von ihnen aus dem Rahmen gestiegen, nie hat einer den Mund aufgetan; aber ich fühle, dass sie mir auf die Finger schauen, und ihre Blicke halten mir vor, was ich ihnen schulde. Ich denke ihrer Leiden und Kämpfe, ihres Ringens um das Heil ihrer Seelen, um das Glück ihrer Kinder. Sie hätten so vieles mir zu sagen, womit sie mich warnen und mir den Weg leichter machen möchten. Manchmal, wenn ich so allein mit ihnen bin, ist mir, ich sollte jedem einzelnen mit einem lauten, dankerfüllten Ja antworten. Da sind 18 die ganz alten Herren, die mit grossen Ambitionen in fremde Kriegsdienste traten, Ratsherren, die ihr Vaterland zugleich mit ihrem Namen gross zu machen hofften, da ist der etwas grimmige Gamaliel mit dem Federhut und der schön geschmiedeten Partisane, der weitgereiste, der eine Salis-Soglio zum Weibe nahm und die Viviser in der ersten Schlacht bei Villmergen führte. Des Rats von Vivis war er und hat dann die Berner Kaufleute wohl in Harnisch gebracht mit der Einrichtung des «welschen Tuchladens». Er war der erste und letzte, der es mit dem Handel probierte. Sein wackerer Sohn gab sein Leben für die bernisch-protestantische Sache im Toggenburgerkrieg. Dann blieben sie alle beim Waffenhandwerk und Staatsdienst und machten meist ihre Lehrzeit in der französischen Armee bis zu jenem eleganten Ratsherrn im Rokokokleid, der meinen armen Urgrossvater nach den Ideen J. J. Rousseaus erzog. Arm – warum? Weil er den Untergang des Vaterlandes erleben musste. So viele ihrer damals das Alter hatten, haben sie unter Berns Fahnen gestritten und gelitten. Den Grossvater habe ich nie gesehen. Er diente in Holland, ward hernach Oberamtmann auf der Tellenburg und führte, wie mein Vater, eine gute Feder. Er besass Humor.

19 In einem der vielen tiefen Wandschränke wohnte die Romantik des Esszimmers. Da waren die Waffen der alten Herrschaften aufbewahrt und auch einige Kostüme, die Mama gelegentlich zum Komödie- oder Scharadenspielen herausgab.

Vom Esszimmer kam man durch ein finsteres Kämmerlein, in dem ich hinter beidseitig verriegelten Türen meine erste, von Papas Schreibtisch gestohlene Zigarre rauchte, in den nach der Spitalgasse gelegenen Salon, der auch nicht prunkhaft, aber im Stile Second Empire hübsch möbliert war. Für uns Kinder spielte er nur an seltenen Festtagen eine Rolle, besonders am Neujahr. Die Neujahrsbescherung wusste Papa meisterhaft zu gestalten. Er schenkte reichlich und mit Sinn und Verstand. Törichte Wünsche blieben stets ohne Erfolg. Durch die Wahl der Geschenke suchte er erzieherisch zu wirken, wobei er es einerseits auf die Gewöhnung ans Einfache, Nützliche, anderseits auf die Bildung des Geschmacks abgesehen hatte. Alles musste echt und währschaft sein. Papa kaufte mir nicht schön lackierte Pferde und Wägelchen. Nein, einen massiv gearbeiteten kleinen Lastwagen und ein Viergespann roh geschnitzter, mit Brandtupfen verzierter Pferde vom Besenmarkt, wie man sie sonst nur in Bauernhäusern fand. 20 Einmal liess er mir aus schwarzem Samt eine komplette preussische Totenkopf-Husarenuniform machen, bei der nur der Totenkopf am Kolpak durch einen Stern ersetzt war. Zur Beruhigung der Antimilitaristen sei hier gleich mitgeteilt, dass ich bis heute nie jemand ermordet habe und es heute weniger als je zu tun gedenke.

Westwärts an den Salon stiess Papas Arbeits- und Schlafkabinett und an dieses Mamas Schlafzimmer. Zeitweise schliefen auch wir Kleinen drin. Dann wieder diente es als Allerwelts-Wohnzimmer. Es enthielt u. a. ein hübsches Marmorkamin mit grossem Wandspiegel, über welchem auf blauem Grund in weissem Relief eine Bacchantenszene dargestellt war. Während langer Zeit diente diese grosse Stube meinem anspruchslosen Vater gleichzeitig als Arbeitszimmer. In der Ecke am Fenster stand sein reich beladener Schreibtisch und in der Mitte sein mächtiger Sekretärschrank. Vor diesem Möbel hatten wir gewaltigen Respekt. Es enthielt neben ererbten Familienheiligtümern wie Tagebüchern, Briefen, Goldmünzen, Orden, Siegeln u. dgl. die tadellos geführten Rechnungsbücher Papas. Aus seinen Schublädchen empfing Mama das Haushaltungsgeld, wir Kinder unser bescheidenes und daher um so wertvolleres Taschengeld. Auf dem heruntergeklappten Schreibbrett, an dem Papa 21 stehend und gehend arbeitete, wurden scharfe Zeitungsartikel geschrieben, wurde das Hausbuch geführt, wurden unsere Schulzeugnisse unterzeichnet. Und da diese Zeugnisse oft schlecht waren (die meinen fast regelmässig), empfing man vor diesem unheimlich geheimnisvollen Möbel eindrucksvolle Strafpredigten und vergoss davor viele Tränen. Wir Kinder haben, glaube ich, hier ausnahmslos auch Blut vergossen. Das Schreibbrett befand sich in der richtigen Höhe, um im Alter von zehn bis zwölf Jahren gerade mit dem Kopf an seine scharfen Ecken zu rennen, was jedes von uns aus Unachtsamkeit wenigstens einmal tat.

An das Eckzimmer stiess auf der Westseite, der Kirche gegenüber, die Bubenstube, die als wichtigsten Gegenstand einen Trittofen mit zwei Platten enthielt, auf denen sich prachtvolle Festungen bauen liessen für die Bleisoldatenarmee, der wir die zärtlichste Aufmerksamkeit widmeten. Sowie man die nötigen Batzen beisammen hatte, lief man zu Frau Berner hinüber, welche gerade gegenüber an der Spitalgasse ein wahres Paradies von einem Soldatenladen hielt. So ein sauberes Druckli «Preussen im Feuer» oder «Franzosen im Sturm», nicht zu reden von der fahrbaren Artillerie, entschädigte reichlich für wochenlanges Schulungemach.

22 An die Bubenstube schloss sich die Küche und dann jenseits des hellen, geräumigen Treppenhauses das «Stöckli» mit drei Zimmern. Das mittlere davon war die Kinderstube, in der ich die ersten sechs oder sieben Jahre meines Lebens in Gesellschaft Mädelis verbrachte. Da ist die Volkspoesie zu mir zu Gaste gekommen. Abends, wenn ich schlafen sollte, kamen in diesem Zimmer die Mägde zusammen und sangen Volkslieder, bis ich vor Rührung laut zu heulen begann. Da auch setzte sich die Romantik zu mir, denn zwischen Mädis Bett und den halbherausgezogenen Schubladen der Chiffonnière bauten wir mit Tischbrettern und Tüchern die Baumwohnung und das Schiff Robinsons, von dem die Geschwister mir erzählten. Ach, was leistete da die Phantasie für herrliche Sachen! Da auch blickte die Weltgeschichte zu mir herein, als die Franzosen in der Kirche drüben einquartiert wurden. Einen ungeheuren Eindruck hinterliess mir der Feueralarm und das Strassengetümmel beim Brand der Spinnerei Felsenau und später der Brand eines Nachbarhauses an der Spitalgasse. Dazu kamen die Bilder des schon erwähnten Kriegsbuches und die Geschichten, die das Nähjer-Lisebeth und das Hüter-Lisebeth, eine liebe alte «Lismere», erzählten. All das arbeitete an meinen 23 Gemütsanlagen herum und befruchtete meine Phantasie.

Endlich muss ich des kleinen Hofes erwähnen, der mit seinen niedrigen Holzschöpfen, auf denen sich wunderschön Feuerwehr spielen liess, mein Lieblingstummelplatz war. In diesen Hof holte ich manchmal ganze Heerscharen von Kameraden zum Spiel. Ich wundere mich noch heute über die Geduld der Nachbarn, die sich unsern Heidenlärm gefallen liessen, wundere mich auch über die treue Heerfolge, die meine Kameraden dem kleinen Demagogen so willig leisteten, dass ich mir bald genug einbildete, ich müsste was Besonderes sein. Auf die Gasse kam ich eigentlich selten. Eine Zeitlang wurde auf der kleinen Schanze emsig Soldaten gespielt. Ein Kamerad besass eine grosse hübsche Kanone mit Bronzerohr. Da wurde mir beigebracht, dass eine Kanone gerichtet werden müsse, und das sei eine grosse Kunst. Ich glaube aber, das «Klepfen» habe mir zeitlebens mehr Spass gemacht als das «Breichen».

Als Nesthöck von verschiedenen Seiten verwöhnt und wohl manchmal schon recht aufs Anerkanntwerden erpicht, daher vermutlich oft frech, fand ich an meinem Vater den rechten Meister, und die Geschwister unterstützten ihn, indem sie sich von mir doch nicht 24 ganz alles gefallen liessen. Vor Papa hatten wir gewaltigen Respekt, und wenn auch die Reitpeitsche, welche die älteren Geschwister bei Tisch wegen schlechter Haltung oder unziemlichen Manieren zu fühlen bekamen, schon bald nach meinem Eintreffen ausser Gebrauch gesetzt wurde, so wusste ich doch von Anfang an, wessen ich mich zu versehen hatte bei schlechter Aufführung. Ohrfeigen gab es immer noch, aber äusserst selten, und das war gut; denn in mir lösten sie die schlechtesten Wirkungen aus: Selbstbedauern, Bitterkeit, tiefinnere Auflehnung. Für die väterliche Strenge in den Kinderjahren kann ich Gott nicht genug danken. Was die Eltern in den Kinderjahren versäumen, wird nie wieder eingeholt. Das ist meine vollendete Überzeugung. Jede noch so schmerzhafte Korrektur in den Kinderjahren erspart einem bittere Erfahrungen im Jünglings- und Mannesalter. Dafür, dass die Strenge nicht zu hart empfunden wurde, sorgte in herrlicher Weise die unerschöpfliche Geduld und Güte der Mutter, die niemals Zuflucht versagte und doch nichts verdarb, weil sie selber Papa mit unerschütterlicher Hochachtung gegenüber stand und es für ein Sakrilegium gehalten hätte, seinen erzieherischen Massnahmen auch nur den leisesten Widerstand entgegen zu stellen. Und uns allen 25 kam immer vor, die ganze Verwandtschaft beiderseits bilde eine geschlossene Phalanx in gleicher Gesinnung und Lebensanschauung. Erst in den späteren Gymnasialjahren entdeckte man bei der Verwandtschaft etwa Meinungsverschiedenheiten, die jedoch nie sehr tief gingen.

Im zweiten Gliede hinter den Eltern standen, diese durch Übereinstimmung fest unterstützend, die Grosseltern. Den Grossvater von Tavel habe ich selber nicht erlebt. Er war schon 1840 gestorben. Das Grossmütterchen habe ich in ziemlich blasser Erinnerung als eine liebe alte Dame, die uns, auf ihrem heimeligen Ruhbett sitzend, Schokoladetäfeli spendete. Sie führte mit den zwei unverheirateten Schwestern meines Vaters ein sehr stilles Leben. Ein Familienleben, wie die drei Damen es führten, würde vielen Kindern der heutigen Generation, die sich vor nichts so sehr fürchten wie vor der Stille und dem Beisammensein mit sich selbst, langweilig vorkommen. Es war aber keineswegs langweilig. Die frohe Traulichkeit, in der ein fein kultivierter Geist und wahrhaft vornehme Gesinnung walteten, ist uns allen zeitlebens in erquickendster Erinnerung geblieben, trotz der strengen Ordnung, die dort herrschte.

Papas übrige Geschwister waren von 26 gleicher Gesinnung. Sein älterer Bruder Rudolf, vormals Tagsatzungssekretär, lebte zurückgezogen im alten Schlösschen zu Gerzensee. Er interessierte sich für Politik, ohne sich am öffentlichen Leben stark zu beteiligen, las viel, malte in Öl und gab hie und da seinen Gedanken Form in ein paar guten Versen. Seine Frau, geb. von Werdt vom Längmoos, war eine äusserst korrekte, ordnungsliebende Dame, der keine unserer Dummheiten entging. Sie hatte nicht nur offene, sondern erstaunlich scharfe Augen und Ohren. Von ihrem Lieblingsplatz auf dem «Bergli» erkannte sie ihre auf der Station Wichtrach aussteigenden Besuche. Am Hufschlag der Pferde, so ging unter uns die Sage, erkannte sie in grosser Entfernung die vorüberfahrenden Equipagen der benachbarten Landgüter. Am Anfang durch die scharfe Aufmerksamkeit der Tante etwas eingeschüchtert, gewannen wir sie mit der Zeit immer lieber, und die Aufenthalte in Gerzensee wurden mehr und mehr zu lichten Höhepunkten unserer Jugendjahre. Es war ja gar nicht anders möglich. So liebenswerte Menschen in einem solchen Paradies, wie das alte Schlösschen zu Gerzensee!

Eine halbe Stunde weiter westwärts liegt das Längmoos-Gut, damals von Frau von Pourtalès-von Werdt, einer Schwester meiner Tante, 27 und ihren Kindern bewohnt. Dort gab es einen Teich mit einem Kahn und einen wirklichen lebendigen Esel, auf dem wir reiten durften. Herz, was willst du mehr!

Nicht minder schön waren die Tage, die wir in Schloss Hünigen zubrachten. Der Besitzer, Herr Alfred von May, hatte Papas älteste Schwester Julie zur Frau, eine sehr fein veranlagte Dame, die ebenfalls in aller Stille Gedichte machte. Onkel May war eine schöne, respektgebietende Erscheinung und als Gutsherr ausserordentlich exakt. Im Gegensatz zu dem stillen Gerzensee ging es hier schon etwas lebhafter zu, trotz Onkels strengem Regiment. Söhne und Töchter brachten von der Stadt her viel Besuch mit, so dass der herrliche, von der Kiesen durchströmte Garten nicht selten von fröhlichem Getümmel erfüllt war. Das Schlossgut an sich war belebt, denn an das Schloss war die Mühle angebaut. Jenseits des Gartens lag die grosse Sägerei, die Schmiede, später eine Knochenstampfe, und das Ganze lag inmitten eines schönen landwirtschaftlichen Komplexes. Man hatte Pferde, Wagen, Kutscher und Gärtner.

In gewissem Sinne genossen wir fast noch am meisten die Aufenthalte bei Papas jüngerem Bruder Franz in Oberhofen, in dem kleinen Häuschen, das rebenumsponnen zwischen 28 dem Klösterli und dem Sägebach zuoberst im Dorfe Oberhofen am Thunersee lag, denn hier wohnte die Freiheit. Onkel Franz, der zurückgezogen lebte, war eine sehr behäbige Erscheinung, ein heimeliger humorvoller Jägersmann, der vortrefflich zu erzählen wusste von seinen Kriegs- und Jagdabenteuern. Er malte hübsche Landschaften in Öl, was uns mit stiller Bewunderung erfüllte. Seine Frau, eine anmutige, lebhafte und sehr gesprächige Oberländerin, wusste uns die Ferienaufenthalte auf ihre Art zu verschönern, verstand sie sich doch nebenbei vortrefflich auf das Backen guter Sachen. Bei ihnen wohnte eine junge Nichte der Tante, ein liebes blondes Mädchen, mit dem wir alle sehr befreundet waren. Ein weiterer guter Spielgenosse war der schöne Hühnerhund Ali. Mit Jagdtrophäen und Waffen reich geschmückt, besass das mit Lauben versehene Häuschen einen unvergleichlichen Charme. Dazu kam die Nähe des Sees und die wilde Schlucht des Mühlebachs, Balm genannt, die Gelegenheit zu den herrlichsten Entdeckungsreisen bot, nach denen Tante Elise jedesmal tüchtig zu flicken bekam. Dass hinter dem Idyll auch Mühsal verborgen lag, kümmerte uns Kinder wenig. Wir sahen nur das Schöne, um so mehr als zwischen den Eltern und ihren Geschwistern in Oberhofen ein sehr 29 freundliches Verhältnis bestand. Onkel Franz kam eine Zeitlang nach Bern, wo er als Kupferstecher im topographischen Bureau arbeitete, was er aber infolge schwerer Erkrankung bald wieder aufgeben musste. Er kehrte dann wieder nach Oberhofen zurück, wo er 1888 starb. Einen unauslöschlichen Eindruck hinterliess mir sein Begräbnis. Das halbe Dorf folgte seinem Sarge, den man an einem wunderschönen Tage angesichts der herrlichen Thunersee-Landschaft über die Höhe nach dem malerischen Friedhof bei der Hilterfingerkirche trug. Lautes Wehklagen, das unzweideutig für die grosse Herzensgüte dieses Erdenpilgers zeugte, erscholl am offenen Grabe. Die Tante Elise verbrachte ihre letzten Tage im Hause meiner Eltern, in der Schosshalde.

Von den weitern Verwandten väterlicherseits möchte ich noch Frau Sophie von Diesbach-von Tavel nennen, eine Cousine meines Vaters, deren Haus ein gesellschaftliches Zentrum war. Sehr lebhaften Geistes, liebte sie theatralische Veranstaltungen. In ihrem Salon wurde gespielt, gelesen, musiziert und getanzt. Dort trafen sich die Spitzen der Berner Gesellschaft mit Diplomaten, Gelehrten und Künstlern. Sie selbst amüsierte sich aufs beste dabei, blieb aber in echtem Humor über der Sache. Selber ein Original, gute Traditionen in sich 30 verkörpernd, wusste sie aus dem Schatz ihres Gedächtnisses viele Anekdoten aus der Gesellschaft auf köstlichste Art wiederzugeben. Als ich in das Alter kam, wo mir die nahe Verwandtschaft mit einer solchen Persönlichkeit von grossem Nutzen hätte sein können, war Frau von Diesbach schon bedeutend stiller geworden. Die schönen Künste spielten in ihrem Hause keine grosse Rolle mehr. Aber ihre persönliche Originalität verbreitete noch Leben um sich bis nahe an ihr Hinscheiden.

Fast noch mehr hatte die Verwandtschaft von der Mutterseite dazu beigetragen, meine Jugendjahre froh und sonnig zu gestalten. Da war einmal die ältere Schwester meiner Mama, Frau von Wattenwyl von Rubigen, eine originelle Persönlichkeit. An der Seite ihres Mannes und als Mutter von vier Söhnen und zwei Töchtern hielt sie im alten Herrschaftsgute von Rubigen offenes Haus. Das war auch ein gesellschaftliches Zentrum, aber von ganz anderer Art, bernisches Landjunkertum schlichter, froher Art. Um Landwirtschaft und Militär bewegte sich in Rubigen das Interesse. Dort gewann man Einblick in bernisches Landleben. Die Hochzeiten meiner Vettern und Cousinen waren Familienfeste alten Gepräges. Tante Jenny, die mit der Zeit das Gehör vollständig verlor, überlebte ihren Gatten, eine 31 Patriarchengestalt, und alle ihre Söhne, blieb aber gastfrei und gesellig bis an ihr Ende.

Eine jüngere Schwester meiner Mutter hatte den Forstmeister von Wurstemberger von Wittikofen geheiratet. Sie starb ziemlich jung, und ich kann mich ihrer nicht erinnern. Dagegen blieb uns in ihrem Manne, den wir kurzweg Onkel Wurst nannten, noch viele Jahre ein herrlicher Oheim erhalten. Ein mittelgrosser, gedrungener Mann mit martialischem Schnurrbart, war er eine originelle, richtige Försterfigur. Er wusste unzählige Schnacken, hatte ein gewaltiges, hinreissendes Lachen und teilte mit seiner fleischigen Hand, an der ein halber Finger abgeschossen war, klatschende «Freundschaftsbrätsche» aus. Da er lahm war, besorgte er seine Amtsgänge häufig zu Pferde, und zwar auf einem hübschen Araberschimmel, den er von den Bourbakisoldaten gekauft hatte, was in unsern Augen die Romantik von Wittikofen und seinem Besitzer noch erhöhte. Wittikofen, damals noch mehr in uralten Bäumen versteckt als heute, war wie gemacht als Wohnsitz für einen Forstmann. Im tiefüberschatteten Hofe brodelte ein gewaltiger Brunnen. Das Haus, in grauer Vergangenheit Filiale des Klosters Interlaken, war voll geheimnisvoller Winkel und enthielt in seinem nördlichen, durch offene Lauben mit dem 32 bewohnten Südflügel verbundenen Bau einen selten benützten Saal, in dessen Familienbildern man die Spuren französischer Bajonette (von 1798) sah. Ein als Waschhaus dienender Anbau, vor dem sich der herrliche Lindensaal ausbreitete, enthielt eine fahrbare Feuerspritze, von der später noch die Rede sein wird. Das Schloss stand mitten in einem grossen Landwirtschaftsgut, dessen Marche ringsherum mit prächtigen alten Eichen bestanden war. Diese nach allen Himmelsrichtungen laufenden Eichenreihen geben noch heute der Gegend ein eigenartig schönes Gepräge.

Der Vater Alexander von Tavel

Nach einem Porträt von Dietler 1857,
kopiert von Wilhelm Balmer

Der alte Herr war nicht nur selber ein Original, er hatte auch ein entsprechendes Dienstpersonal, darunter eine alte Kammerjungfer, die wir Marie Härzig nannten, weil sie zu allem, was ihr gefiel, sagte: «Eh wie härzig!» Da sie im Hauswesen regierte und uns Kindern besonders zugetan war, liebten wir sie sehr. Aber es gab Leute, die sie von einer andern Seite kannten. Da war z. B. der alte Spenglermeister Engel, ein ehemaliger Soldat vom preussischen Neuchateller Bataillon, der noch immer neben seinem weissen Kranzbart die sog. Neuchatellerlocken trug, d. h. er hatte die Schläfenhaare zu spitzen Hörnchen nach vorn gedreht und gewichst. Dieser originelle Kauz besorgte in der ganzen Verwandtschaft die 33 Spenglerarbeiten. Er verfügte über eine wahre Donnerbaßstimme, die er nie dämpfte, so dass man ihn immer im ganzen Hause hörte. Wenn er ein wenig angesäuselt war, pflegte er, wo er gerade stand und ging, zu donnern: «Ja, ja, es ischt alles eitel, es ischt alles ganz eitel, sagt der Prediger.» Mit dieser gleichen Bärenstimme nun erklärte er einmal von unserer geliebten Marie Härzig, er ginge gerne nach Wittikofen hinaus, aber «ds Marie, dä donners Regierhung ma-n-i nid lyde!»

Den lebhaftesten Verkehr pflegten wir mit der Familie von Mamas Bruder Albert, der mit der sehr feinen und hübschen Claire von Wattenwyl verheiratet war und damals das Amt des Regierungsstatthalters von Bern bekleidete und später während langer Zeit als Polizeidirektor dem Regierungsrat angehörte. Sie hatten zwei Söhne und eine Tochter, die uns drei jüngsten Geschwistern im Alter nahe standen. Man war nicht nur verwandt, sondern gut befreundet und kam sich noch näher, als die beiden Familien gleichzeitig den Schattenhof bewohnten, wir das heute noch stehende, damals jedoch viel einfacher aussehende und mit der Scheune zusammengebaute Chalet, Onkel Alberts ein seither abgebrochenes, heimeliges Landhaus. Es waren mit der später durch Feuer zerstörten Kalchegg die einzigen 34 unmittelbar an der Muristrasse gelegenen Wohnhäuser. Wir lebten also trotz der Nähe der Stadt ganz auf dem Lande. Beide Familien unternahmen häufig gemeinsame Ausflüge in die weitere Umgebung von Bern. Wenn die Eisenbahn nicht benützt wurde, nahm man einen kleinen, schön blau gestrichenen Leiterwagen mit, den man hatte bauen lassen. Der Wagen ist unser Spielkamerad geblieben, bis auch die Jüngsten keine Zeit mehr fanden zum Spielen. Auf den Ausflügen diente er zum Transport des Proviants und aller Dinge, die man nicht auf dem Leibe tragen wollte, so namentlich auch der müden Knirpse, die sonst auf dem Heimweg doch von den Vätern hätten Huckepack getragen werden müssen. Zuweilen aber wurden die Rollen vertauscht, und dann gab es einen Hauptspektakel, so namentlich, wenn der Herr Regierungsstatthalter sich auf den Wagen setzte und von der ganzen Kinderschar unter grossem Geschrei und Hundegebell durchs Land gefahren wurde.

Den schönsten Treffpunkt der ganzen Verwandtschaft mütterlicherseits bildete aber das grosselterliche Haus. Die Grosseltern waren in jeder Hinsicht würdige originelle Repräsentanten der guten alten Berner Gesellschaft. Wir hatten gewaltigen Respekt vor ihnen und liebten sie sehr, denn es waren liebe, heimelige 35 Menschen voll goldenen Humors. Der Grossvater, Hauptmann Emanuel von Wattenwyl, Sohn des vom «Stecklikrieg» her bekannten Generals, der am 5. März 1798 die Kapitulation mit Schauenburg abschloss und damit die Stadt Bern vor einer Plünderung durch die Franzosen rettete, war ein mittelgrosser Mann, eine sehr sympathische Erscheinung. Von der Grossmutter immer als «Mandli» angesprochen, hiess er auch bei den Enkeln bald allgemein Grandpapa Mandli. Seine Frau, Rosalie von Ougspurger, von den Dienstleuten nach damaligem Brauch «Frau Hauptmänni» genannt, war eine famose Hauptmännin und blieb es auch nach dem Tode ihres Mannes. Sie verstand es vortrefflich, ein mildes Regiment zu führen. Ich erinnere mich noch sehr deutlich ihres Bruders Fritz, des letzten damals noch lebenden Offiziers der französischen Schweizergarde. Er trug «Vatermörder», breite schwarzseidene Halsbinden und rauchte im Gegensatz zu Grandpapa Mandli, der aus einer Schildkrott-Tabatiere schnupfte, lange Pfeifen, und zwar so fleissig, dass sein Mund, auch wenn der alte Herr in seinem Lehnstuhl eingeschlafen war, immerfort die Bewegung des Saugens an der Pfeife machte. Dem einsamen Junggesellen, der hochinteressante Kriegserinnerungen hatte, 36 leistete ein schöner Kater idyllische Gesellschaft.

Die Grosseltern von Wattenwyl waren begütert und sehr freigebig. Sie lebten winters am «Wybermärit», wie man damals die Marktgasse noch nannte, sommers in der Schosshalde. Da sowohl das so geheissene Landgut, wie dessen Umgebung, die als Quartier den gleichen Namen trägt, für mich und meine Familie die eigentliche engste Heimat wurde, muss ich über diesen Tummelplatz meiner Jugendjahre hier noch einiges mitteilen.

Östlich von Bern führt der steile Kleine Muristalden auf ein aus Moränenhügeln gebildetes Hochplateau, dessen natürliche Terrassen eine herrliche Aussicht auf die Berner Alpen bieten. Den der Stadt zunächst liegenden Teil nannte man die vordere, den nach dem Ostermundigenberg zu in steilem Waldbord abfallenden, höher gelegenen Teil die hintere Schosshalde. Im Norden trennt die Bolligenallee die Schosshalde vom Exerzierplatz Beundenfeld. Ihr südlichster Wall läuft in das flache Murifeld aus, und nach Westen ist sie durch die herrliche Muriallee von der Brunnadernflur und dem Kirchenfeld geschieden. Wir zählten die angrenzenden Gebiete des Kirchenfeldes mit dem Dählhölzli, 37 Brunnadern, Elfenau, Murifeld und das östlich angrenzende Wittikofen auch zur Schosshalde, denn das alles trug den gleichen Charakter und gehörte zu unserm Tummelplatz.

Was war denn da besonders Charakteristisches daran?

Nun, zu Beginn meiner Wallfahrt, bis gegen das Ende des Jahrhunderts noch, bestand das umschriebene Gebiet aus lauter Landgütern alter Berner Familien und einigen Komplexen von Feldäckern und Waldparzellen, die der Burgergemeinde gehörten. Von der Stadt nur durch die Aare getrennt, war das ganze Gebiet vollkommen ländlich. Von Vorstadt war gar nichts zu sehen. Die Güter bestanden alle aus einem von Park und Garten umgebenen Herrenhaus und einem Pachthof. Da und dort lag eine Vorwerksscheune oder ein kleines Taglöhnerhaus. Jedes Gut hatte seine Eigenart, die freilich nicht immer in die Augen sprang. Das Schönste war aber die Bevölkerung dieser Güter. Nicht dass es an Zwisten etwa gefehlt hätte, bewahre! Aber im Ganzen herrschte zwischen all diesen Herrenfamilien, die zum Teil den Winter in ihren Stadthäusern zubrachten, ein schönes Einvernehmen, und auf allen Höfen bestand ein sehr erfreuliches, patriarchalisches Verhältnis zwischen Herrschaft, Pächtern und Dienstleuten. Man 38 kannte sich, wie eine Dorfbevölkerung sich kennt. Unvergesslich sind mir z. B. die Leichenbegängnisse, die bei gutem Wetter im Freien stattfanden und an denen Herren, Pächter und Knechte als eine einzige Trauerfamilie beisammen standen.

Von diesem glücklichen Völklein muss ich hier ein wenig erzählen. Die nördlichste Gütergruppe bildeten der Rosenberg, der Schönberg und der Baumgarten. Der herrlich gelegene Rosenberg, zu dessen Füssen die Aare die Stadt umrauscht, war die Domäne der Thormann. Herr Georg Thormann, Oberstleutnant im Generalstab und Präsident der Gesellschaft zu Pfistern, erbaute am Hang gegen die Stadt eine elegante Villa französischen Stils, die in ihren Mauern häufig grosse Gesellschaft vereinigte. Nahe bei der Villa stand das Schulhaus der «Stalden-Primarschule». Von uns Herrensöhnen besuchte keiner diese Schule; aber unsere Gespielen von den Gutshöfen empfingen dort ihre Bildung, die Lehrer erteilten dem einen und andern von uns Privatstunden, unsere Väter sassen in der Schulkommission, unsere Mütter halfen beim Handarbeitsunterricht – man nahm ein freundschaftliches Interesse an der Volksschule. An der Bolligenallee lag der Baumgarten, das Gut des alt Schultheissen 39 von Fischer. Ich kann mich seiner nicht erinnern, wohl aber seines Sohnes, des Herrn von Fischer-Manuel, gew. Genie-Offizier in österreichischen Diensten. Er hiess in der Schosshalde «le petit Capitaine» oder auch «petit Avoyer». Der treffliche Mann war leider taub, was ihn aber nicht hinderte, jeden Sonntag dem Gottesdienst in der Nydeckkirche beizuwohnen, um seiner religiösen Pflicht zu genügen und sich zur Kirche zu bekennen. Der Baumgarten ist wohl das einzige Gut, dessen Bewohner noch bis in die Gegenwart Brot vom eigenen Getreide essen und Wein von eigenen Reben (Bougy und Rolle) trinken.

Der Schönberg, das höchstgelegene Gut der Schosshalde, war der Sitz der Familie von Fischer-von Bondeli. Auch in diesem Hause war feiner gesellschaftlicher Ton mit bernischer Biederkeit in glücklicher Weise verbunden. Frau von Fischer war bekannt als ausgezeichnete, praktische Hausfrau. Wir hatten wegen ihrer Geradheit in der Meinungsäusserung einen gewaltigen Respekt vor ihr. Als ich ihr dann durch meine Heirat näher kam, lernte ich sie aufrichtig lieben. Sie war ein naiver Charakter, durch und durch originell in ihren Äusserungen. Bezeichnend für die Art, wie sie sich am Wohlergehen ihrer Kinder und Enkel freute, war folgendes: Als meine 40 Frau und ich in der ersten Zeit unseres Eheglücks einen Besuch gemacht hatten, begleitete sie uns bis zum Gartentor, wo man gewöhnlich noch zu einem kleinen Schwatz stehen blieb. Plötzlich sagte sie: «Ganget jitz! I muess ech luege!» Wir wanderten, und sie verfolgte uns noch lange mit Blicken mütterlichen Wohlgefallens. Es war Freude an unserm jungen Glück. Sie schwärmte für Goethe und sagte von ihm: «Er isch schön gsi, wiene junge Gott.» Sehr originell in ihrer Ausdrucksweise, konnte sie auch mit hinreissendem Lachen hübsche Ereignisse besonders anschaulich erzählen. Von zwei ungleich hübschen Schwestern pflegte sie zu reden als von der «besseren» und der «minderen».

Eine mittlere Gruppe bildeten die an der Schosshaldenstrasse gelegenen Güter der von Wattenwyl, von Wyttenbach und von Büren. Grossvaters Gut umfasste das heutige Obstbergquartier und reichte vom Abhang über dem Bärengraben bis an das Egelmoos. An allen ein- und ausspringenden Winkeln standen als Wahrzeichen mächtige Pappeln. Östlich grenzte daran das Gut des Stadtpräsidenten und Obersten von Büren, das bis in die hintere Schosshalde sich ausdehnte und dort zwei von armen Leuten bewohnte Vorwerke hatte. Das 41 kleinere Wyttenbachsche Gut lag zwischen beide hineingeschoben. Die heute noch stehenden Herrenhäuser der drei Güter haben eine hervorragend schöne Lage auf dem mittleren Moränenzug der Schosshalde. Sie dominieren das Vorgelände und bieten freie Aussicht auf die Alpenkette.

Unser grosselterliches Haus war für die bernische Art des Wohnens damaliger Zeit so typisch, dass ich hier noch ein wenig hineinleuchten möchte. Mit der Rückseite lag es hart an der Strasse. Die Mitte der Südfront nahm das mit grün gestrichenen Möbeln und herrlichen Blumenetageren (meist englische Geranium) ausgestattete Peristyle ein. Davor hing an sonnigen Tagen das gelbgestreifte «Pente-à-l'air» über dem bekiesten Vorplatz. Hinter dem Peristyle lag das ziemlich dunkle Esszimmer, an das links die Küche stiess, rechts, durch einen Korridor getrennt, das «Sääli», worin man sich aufhielt, sobald das Wetter den Aufenthalt im offenen Peristyle nicht gestattete. Dieses «Sääli» war der Inbegriff des Vornehm-Heimeligen. Vornehm sah es aus wegen seiner schönen alten, mit gelbem Seidendamast bezogenen Möbel, heimelig wegen der Einfachheit und der bescheidenen Dimensionen und besonders wegen des Wesens seiner Bewohner, des Grosselternpaares, unter 42 dessen Augen einem bei aller Familiendisziplin und Ordnungsliebe äusserst wohl war. Durch die zwei Frontfenster streifte der Blick in den herrlich gepflegten Park, durch das westwärts gelegene Eckfenster auf die «Bande», d. h. eine Blumenrabatte, die sich zu Füssen einer wohl hundert Schritte langen Spalierwand vom Hause bis zu einer prachtvollen Gruppe von Rosskastanien hinunter zog. Im ersten Stock, über Esszimmer und Peristyle, lag der grosse, mit sehr schönen Familienbildern geschmückte Saal, der nur benutzt wurde, wenn man unten nicht genug Raum hatte.

Vor dem Hause, nach Süden, lag ein grosser Rasenplatz, über den hinweg man die herrlichste Hochgebirgsaussicht genoss. Er war umrahmt von herrlichen Baumgruppen, links ein Hickory und eine Lärchengruppe, rechts ein Tulpenbaum und eine mächtige Gruppe von Weymouth-Kiefern und Akazien. Hinter diesen Bäumen lag links das «obere Bosquet», rechts, von einem rotblühenden Rosskastanienbaum überschattet und von einem dichten Kranz von Capucines umrankt, ein kleiner Teich mit Springbrunnen und etwas weiter das «untere Bosquet» und der Obstgarten des Herrenhauses. Er zog sich, durch die oben genannte Spalierwand von der Strasse getrennt, bis zu den alten Rosskastanien, unter denen 43 eine mit dem Wappen v. Steiger und Nägeli geschmückte Pforte nach der Ausmündung des Kleinen Muristaldens hinaus führte. Die Stützmauer daneben war ein beliebter Luegaus. Von diesen Parkanlagen senkte sich südwärts das Gelände bis an das malerisch von Bäumen umgebene Egelmoos. Ostwärts vom Herrenhaus, von diesem nur durch die Einfahrt in den Hof getrennt, lag an der Strasse das «Stöckli» mit der Pächterwohnung, das Ofenhaus, der Gemüsegarten des Herrenhauses und weiterhin ein grosser Obstgarten. Nördlich der Strasse standen zwei grosse Scheunen, ein Gemüsegarten der Pächtersfrau und zwei weitere Obstgärten. Im äussersten nördlichen Winkel des Gutes, da, wo sich die Laubeckstrasse mit dem Haspelweg schneidet, standen die Küherscheuer und ein Taglöhnerhaus. In dieser Küherscheuer winterte jeweilen ein Senn mit seiner Herde. Im Hof, am Rande des «obern Bosquet», brodelte ein stattlicher Brunnen der Schosshalden-Wasserversorgung, die in den Sechziger Jahren auf die Initiative von Oberst von Büren genossenschaftlich errichtet wurde und vom Ferrenberg her gutes Quellwasser in die Schosshalde leitete. Zum Tränken des Viehs diente ein hinter der Hauptscheune stehender Sodbrunnen. Ein weiterer solcher, der sog. «gemeine Sod», 44 stand zwischen zwei Pappeln am Strassenbord, da, wo heute das Mädchensekundarschulhaus steht, gegenüber dem Spritzenhaus. Herrliche alte Nussbäume, riesige Silberpappeln und Reihen von Flieder- und Goldregenbüschen säumten die Strasse.

Vom Grosselternpaar, das in diesem Paradies ein mildes Regiment führte, sprach ich schon. Unter der Dienerschaft spielte neben dem «Chammermeitli» älterer Observanz der Kutscher und Gärtner Zaugg Hans die erste Rolle. Das war ein Prachtskerl. Einst blond, trug er zu meiner Zeit schon einen grauen Kranzbart mit rasierter Oberlippe. Er hätte einen schönen Kapuzinerpater abgegeben. Wenn er in der Livree auf dem Bock sass, imponierte er sehr. Er war aber auch im Garten uns gegenüber mit gewissen polizeilichen Kompetenzen ausgestattet. Ich hielt mich aus nicht allzu fern liegenden Gründen mehr als nötig in der Küche auf. Um mir das abzugewöhnen, hing mir Zaugg Hans auf so verzwackte Weise eine hölzerne Kelle in den Aufhänger meines Rockes, dass ich die grösste Mühe hatte, sie loszukriegen. Die Dienstboten und Knechte genierten sich überhaupt nicht, uns aus dem Bereich ihrer Arbeit abzuschieben, wenn wir ihnen lästig wurden. Der Melker spritzte uns vom Euter weg Milch auf die 45 sauberen Kleider. Einen meiner Vettern setzte er ungeachtet seiner hellen Indienne-Höslein oben auf die geladene Mistbäre. Derlei Vorkehren wirkten endgültig, denn überall drohte im Hintergrund die Autorität der Grossmutter.

Ich erinnere mich eines Sommernachmittags, da wir sechs Geschwister bei der Grossmama zu Besuch waren. Da verlockte uns ein grosser Ast der ältesten Weymouth-Kiefer, der in erreichbarer Höhe über den Parkweg hing, uns alle gleichzeitig mit den Händen daran zu hängen. Das war nun dem Ast doch zu viel. Er tat einen Knacks, und wir lagen am Boden. Die vier Ältesten von uns fanden nun der Grossmutter einen plausiblen Grund anzugeben, weshalb sie daheim, in der Stadt, zu Nacht essen müssten, und liessen die beiden Jüngsten allein. Wir sahen einem vernichtenden Strafgewitter entgegen. Sei es nun, dass Grossmutter von dem Schaden noch nichts erfahren oder dass sie die älteren Geschwister durchschaut hatte, es geschah nichts, und wir atmeten nach Stunden grosser Angst wieder auf.


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