Hugo Marti
Rudolf von Tavel - Leben und Werk
Hugo Marti

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98 Zwischen Beruf und Berufung

Die ernste Stimmung, in die Tavels eigener Bericht über die Maturität ausklingt, mochte gewiss seinem innersten Zustand entsprechen, mochte seine Erkenntnis der Opfer an Selbstüberwindung und Selbstzucht andeuten, die er geleistet hatte. Aber ebenso natürlich war der Jubel, der jetzt manchmal aus seiner Brust hervorbrechen konnte, wenn er sich «der vollen, goldenen Freiheit» bewusst wurde, die er in diesem Frühling genoss. Nächtliche Träume bannten ihn etwa noch in die Schule zurück oder in bange Examenstunden; Schreckträume, die auch den reifen und sogar den bejahrten Mann noch plagen konnten; aber der Tag gehörte neuem Hoffen und neuem Tun.

«Es wäre wohl so recht eine Periode der Poesie geworden, dies Frühjahr, und doch, die Gedichte wollten nicht von der Feder. Mein Gemüt war zu erleichtert, zu freudig aufgeregt, als dass es sich mit der ruhigen Abfassung von Liedern hätte abgeben können.» Aber ein Gedicht sei ihm in jenen Apriltagen doch gelungen, vermerkt er weiter, bei dem 99 Denkmal für Albrecht von Haller am schattigen Rand des Schosshaldenwäldchens, der sein Lieblingsaufenthalt geworden war – und zeitlebens sein Lieblingsspaziergang geblieben ist. Wir besitzen die Blätter mit dem Gedicht «Berufung»: in einem romantischen Rausch inneren Stolzes und Glückes schreitet er an der Hand des Dichters der «Alpen» zu dem Waldheiligtum der Siona, die in ihm ihren Sänger grüsst und ihm die goldene Harfe reicht, damit er das verklungene Lied aufwecke und es den Menschen wieder singe.

So knüpft auch seine junge Kunst, wie er es sich vorstellt, an bester bernischer Tradition an, bei jenem «erleuchteten Vorgänger» aus gleichem Stand und Blut wie die, denen Rudolf von Tavel sich verpflichtet fühlt. Aber eben diese Überlieferung, die ihm in den Nöten der Schule schon das Rückgrat gestärkt hatte, hielt ihn nicht bloss aufrecht, sondern zwang ihn vorerst noch streng zur Rücksichtnahme auf väterliche Wünsche und Erwägungen.

In der Familie waren spürbare Veränderungen eingetreten. Seit dem Jakobstag 1879 wohnte man ständig in der Schosshalde, wo der Burgerratsschreiber sich ein Haus im englischen Stil gebaut hatte, in unmittelbarer Nähe des geliebten grosselterlichen Sitzes, der 100 schon das Paradies der Kinder gewesen war. Die Grosseltern lebten allerdings nicht mehr. Aber auch der älteste Bruder Alexander hatte 1882 Haus und Heimat verlassen, um in Amerika sein Auskommen als Landwirt zu suchen; ein Jahr darauf heiratete die Schwester Marie nach Luzern, im Examensfrühling auch die jüngere Schwester Rosalie, die sogar nach dem fernen Ostpreussen zog. Dieser Abschied ging Rudolf besonders nahe, denn er war von frühesten Kindertagen an gewohnt gewesen, mit ihr Freud und Leid zu teilen. Als ein neckisches Nachspiel fügte er den Trauerworten über diese Trennung bei: «In der Schosshalde schien das Heiraten plötzlich Mode geworden zu sein. Dem Gärtner fiel es ein, sich in die Kammerzofe zu verlieben, und nach ein paar Wochen hatten wir ein neues Brautpaar im Hause. Der Gärtner, mein Musiklehrer, trat bald darauf aus seinem Dienste aus und zog sich in seinen Heimatort Seelhofen zurück. Damit schwand auch die letzte Spur von Musikgenuss aus der Schosshalde; denn im allgemeinen war man in der Familie doch zu wenig begeistert für mein Trompetenspiel, als dass man mir ein eigenes Instrument angeschafft hätte, und selber vermochte ich es nicht, eines zu kaufen.»

Die Monate nach dem Examen brachten 101 nicht nur eine Wetterhornbesteigung mit Freund Rohr, nicht nur den Besuch des siebzehnjährigen Prinzen Heinrich XXXI. Reuss jüngere Linie, den Rudolf von Tavel zum Trümmelbach begleitete und den er als «etwas undeutlich sprechend, aber sehr freundlich und bescheiden» kennzeichnet – sondern sie brachten auch die Einberufung in die Rekrutenschule, die er im Mai und Juni in Bern absolvierte, worauf er anschliessend die Unteroffiziersschule in Chur und im gleichen Jahr noch die Offiziersschule in Luzern durchlief.

Auch das gehörte zur Tradition, war eine der höchsten Forderungen, die es zu erfüllen galt: Dienst am Vaterlande. Wie hatte der Jüngling schon gebangt, dass ihm seine Kurzsichtigkeit zum unübersteigbaren Hindernis auf dieser Laufbahn werden könnte! Dem Tag der Rekrutenprüfung blickte er in ängstlicher Spannung entgegen. «Auf mir ruhte die Hoffnung, dass ein von Tavel dieser Generation die militärische Ehre der Familie retten würde; dessen war ich mir wohl bewusst.» Und seine Freude über die Tauglicherklärung giesst er in einen innigen Dank an Gott, der seine «langjährigen heissen Wünsche» erhört hat. Sonderbar mag es vielleicht anmuten, gerade von ihm, dessen jünglinghaftes Gemüt so oft die Verlockungen des früher traditionellen 102 Dienstes in fremdem Sold gespürt hatte, jetzt das besinnliche Lob des demokratischen Waffendienstes zu vernehmen: «Unter den körperlichen Strapazen, der eisernen Disziplin, dem Zwange, mit Leuten jeglichen Standes dasselbe Brot zu essen, dasselbe Nachtquartier zu teilen, genau dieselben Rechte und Pflichten zu haben, bildet sich der Charakter, der Horizont der Weltanschauung wird weiter und das Pflichtgefühl wie das persönliche Ehrgefühl schärfer.» Mit einem Blick, der von keinem politischen oder Standesvorurteil getrübt ist, sieht der junge Offizier «den unschätzbaren Wert der allgemeinen Dienstpflicht für das soziale Leben eines Volkes». Ein Freund und zugleich Dienstkamerad bezeugt von ihm, dass er durch sein bescheidenes, freundliches und dabei doch so gefestigtes sicheres Wesen die Hochachtung und Sympathie auch solcher Kameraden gewann, die weltanschaulich aus entgegengesetzten Lagern kamen. Und schrieb Tavel nicht eben diesem Freund, vielleicht in Erinnerung an den gemeinsam geleisteten Militärdienst, fast fünfzig Jahre später das nachdenkliche Wort: «Wie merkwürdig harmoniert doch eigentlich die richtige Soldatenmentalität mit der christlichen Lebensauffassung! Gerade in den letzten Zeiten bin ich immer einleuchtender zur Erkenntnis geführt 103 worden, dass das Erfassen der Gnade eigentlich Disziplin ist. Man möchte gut, rein, heilig sein und quält sich damit herum, anstatt zu denken: es ist alles Gnade. Und wenn Gott selbst aus seinen unerforschlichen Erwägungen heraus uns auf unbestimmte Zeit im Sumpf wollte liegen lassen, nun, so sei's! Für uns heisst es ganz einfach: Begnügt euch mit eurem Kommisbrote!»

Wir werden nicht fehlgehen, wenn wir den Eifer, ja die Begeisterung für den Militärdienst, die Rudolf von Tavel damals erfüllte, in ursächliche Beziehung setzen zu den tiefen Enttäuschungen seiner Schuljahre, die ihm ein schweres Minderwertigkeitsgefühl eingehämmert hatten, und wenn wir den Dienst als Gegengewicht, das seine gesunde Natur forderte, zu den geahnten Gefahren eines künstlerischen, aber vorläufig noch ziellosen Strebens bewerten. Die beiden Neigungen liegen in ihm, offenbar ohne sich allzu heftig zu bekämpfen. Auch unter den Waffen schweigt ihm die Muse nicht. Auf nächtlichen Patrouillengängen sinnt er gelegentlich dichterischen Plänen nach und beklagt sich nur, dass ihm die Zeit fehle, die guten Einfälle niederzuschreiben; und das künstlerische Arbeiten, dem er sich neben den Studien alsbald eifrig hingab, unterbrach er immer wieder von Zeit 104 zu Zeit, um militärische Kurse zu absolvieren, eine Schießschule in Wallenstadt, den Truppenzusammenzug 1888 im Oberaargau, den er den Freunden im «Elaphebolion» launig beschrieb und in drolligen Federzeichnungen festhielt, später den Wiederholungskurs und die Zentralschule in Thun.

Federzeichnungen in den «Erinnerungen eines Siebenund-
dreissigers aus dem Truppenzusammenzuge 1888»

106 Fast sah es eine Zeitlang so aus, als ob er sich ganz der militärischen Laufbahn hätte verschreiben wollen. Er legte den Plan, Instruktor zu werden, schon vor der Maturität in einem Brief seinem Vater zur Erwägung vor; erschütternd ist darin die Verteidigung gegen den Vorwurf, er hätte gar keinen Trieb in sich und könne es deshalb zu nichts bringen: «Das hat bei mir tiefer eingeschnitten, als die Betreffenden glaubten; denn ich bin mir sehr wohl bewusst, dass ich Trieb in mir habe. Unglücklicherweise sind aber die Triebe, die mir eingepflanzt sind, derart, dass sie Dir und andern Leuten nicht einleuchten und das wohl mit Grund.»

Der Vater, der vielleicht den Sohn besser kannte als dieser sich selber, schickte ihn vorerst an die Akademie in Lausanne, wobei er ihn dem Professor Busset, bei dem Rudolf wohnen sollte, als für ernsthafte Studien nicht reif schilderte, aber beifügte: «il a pourtant des goûts littéraires et un certain talent assez prononcé pour écrire.» Das erste Semester sollte die allgemeine Bildung weiter fördern, ausserdem gestattete der Vater, dass Rudolf Unterricht im Zeichnen nahm. An zwei Nachmittagen in der Woche besuchte er das Atelier des Malers Bischof und studierte dort «mit Feuereifer». Glaubte er, auf diesem Feld der 107 Kunst nicht die gleichen Schwierigkeiten anzutreffen, die er auf dem Gebiet der Literatur schon zu spüren bekommen hatte? Schien ihm dieser Weg leichter, vielleicht sogar ein Ausweg aus gesellschaftlichen Verwicklungen zu sein, denen er als Dichter nicht glaubte entrinnen zu können? Er bekundete die Absicht, zur Ölmalerei fortzuschreiten, was den Vater veranlasste, den Rat des Onkels Rudolf in Gerzensee einzuholen; dieser wies auf die Gefahren einer zu früh und ohne rechte zeichnerische Unterlage begonnenen Malerei hin. Der Vater legte deshalb sein Veto ein. Der Sohn empfand dieses Verbot zwar schmerzlich, fügte sich jedoch. Ist uns an ihm ein Maler verloren gegangen? Wir glauben es nicht. Dass er es im Zeichnen zu mehr als bloss lernbarer Fertigkeit gebracht hat, beweisen uns die Skizzenbücher, die er auch in späteren Jahren nicht vernachlässigte. Aber gerade dass er diesen etwas altmeisterlichen Baumschlag und die strichzarten Landschaften zeitlebens pflegte, zur Erholung von anderer Arbeit und zum eigenen Vergnügen, scheint uns den konfliktlosen Abschied von einem flüchtigen Malertraum zu bezeugen; als Liebhaberei behält man nicht bei, was man als Lebenszweck aufgeben musste. So gehört Rudolf von Tavel zu den nicht seltenen Dichtern, deren Begabung 108 offensichtlich stark visuell bedingt und deren Kunst von wirklicher Welt-Anschauung getragen ist. Seine Dichtung ist in hohem Masse Augenkunst, schaubar für das innere Gesicht des Lesers oder Hörers. Einer seiner besten Leser hat einmal, ohne des jungen Tavel Umweg durch das Atelier Bischof in Lausanne zu kennen, sehr zutreffend dem Verfasser des «Ring i der Chetti» geschrieben: «Sie hätten sicherlich das Zeug zu einem Maler. Wer die Murtenschlacht wie Sie darzustellen imstande ist, so grosslinig und plastisch, der weiss auch, wie ein grosses nationales Freskogemälde aussehen müsste.» So darf man wohl sagen, es sei im Wachstum von Tavels Kunst kein Jahrring saftlos geblieben und auch dieser Umweg nicht umsonst gewesen. Es war übrigens noch lange nicht der letzte.

Zum erstenmal erhalten wir aus dem Lausanner Tagebuch Kenntnis von einer journalistischen Tätigkeit: «Spedierte heute an Herrn Redaktor Burren einen Artikel über die Folgen der Progressivsteuern.» Das war ganz im Sinne des Vaters, der ihn wohl gern nach dieser Seite in einen bürgerlichen Beruf einschwenken sah. Am 21. Geburtstag schrieb Rudolf seinem Bruder in Amerika: «Bezüglich meines Berufes kann ich noch nichts sagen. Ich werde wahrscheinlich Journalist 109 oder so etwas.» Um ihm die dazu nötige Unterlage zu verschaffen, schickte ihn der Vater, damit übrigens «ächt altbernischer Auffassung» folgend, im Herbst 1888 zum Studium der Jurisprudenz und der Kameralwissenschaften nach Leipzig. Dort blieb er die nächsten zwei Semester.

In die ersten Tage seines Leipziger Aufenthaltes fällt ein Ereignis, das auf den jungen Studenten tiefen Eindruck macht. Ein Freund aus Bern wird beim Fechten schwer verletzt, der Hieb durchschlägt über dem Auge die Hirnschale, eine Trepanation muss vorgenommen werden. Tavel wird herbeigerufen und muss sich sowohl des unglücklichen Gegners annehmen, wie auch die Familie des Verletzten schonend benachrichtigen. Er empfängt den Vater, der herbeieilt, und verzeichnet im Tagebuch jede leiseste Besserung im Zustand des Verunglückten.

Dass die Großstadt dem jungen Berner auch neben den Vorlesungen allerlei zu bieten hat, versteht sich von selbst. Das Theater wird fleissig besucht, Ibsen sehr kritisch diskutiert. Das Auftreten Stöckers in einer Volksversammlung lenkt die Aufmerksamkeit auf politische Fragen. Im Schweizerverein macht der Student einen Ball mit, wozu er die ihm vom Komitee zugeteilte Dame in einer Kutsche 110 abholt, «eine kolossal resolute Waadtländer Gouvernante. Ich verlor sie lange Zeit vor dem Souper . . .». Doch trifft er dort auch einige Zürcher Studenten, und mit einem von ihnen, Rudolf Römer, begibt er sich im Frühsommer 1889 auf eine Fahrt nach der Insel Rügen, wobei sich in Berlin Franz Thormann den beiden anschliesst. Die Reise hat durch Tavel eine ausführliche illustrierte Schilderung erfahren. Ob ihm die landschaftlichen Schönheiten, die Segelfahrt auf dem Meer vor den Kreidefelsen, das Naturalienkabinett im einsamen Wirtshaus mit dem versteinerten «rechten Fuss der heiligen Hertha» und der romantische Besuch des Jagdschlösschens Putbus mehr Eindruck gemacht haben als der Anblick des Reichskanzlers Bismarck, der im gleichen Zug wie die jungen Schweizer nach Stettin fuhr, ist nicht leicht aus der begeisterten Schilderung zu entscheiden, die Tavel allen Erlebnissen auf dieser Reise zuteil werden liess. Der Mutter schrieb er darüber: «Bei der Abfahrt von Berlin begann das Publikum "Hoch" zu rufen, und bald hatten wir's heraus, dass Bismarck mit uns im gleichen Zug fahre. Dass ich von diesem Moment an kaum mehr ruhig sitzen konnte und bei jeder Station den Kopf ellenweit aus dem Wagen streckte, könnt ihr euch leicht denken. Endlich hielt der Zug in 111 einem grösseren Bahnhof an. Ich ohne weiteres auf die Suche nach Bismarck! Die andern blieben zurück. Da sehe ich einen schönen Personenwagen, auf welchen von weitem die Leute hinblickten. Ich trete so nahe wie möglich an den Wagen heran und gewahre sogleich den Grafen Herbert Bismarck. A bah! dachte ich schon. Aber auf einmal streckt der leibhaftige alte Bismarck seinen Bronzekopf zum Fenster hinaus und schaute mich an mit einem Paar Augen, dass ich unwillkürlich nach einer Rückzugslinie spähte. Er kam mir viel rüstiger und jünger vor als auf den neuern Bildern. Einen Gesichtsausdruck hat der Mann, ich werde ihn meiner Lebtage nicht vergessen. Unterdessen drängte das Volk herzu und brüllte; wir taten auch dergleichen. Man hob ein Kind nach dem andern ans Wagenfenster, um Blumen hineinzureichen. Da drängte sich mitten im Getümmel ein armselig gekleideter Arbeiter hervor bis zum Wagen und schüttelte dem Fürsten lange die Hand. Mitten in dieser Ovation erschien die Hand der Madame Bismarck und setzte sorglich ihrem Gatten von hinten einen uralten, verpöleten Filzhut auf den Kopf, was der Kanzler aber mit einem furchtbar ärgerlichen Gesicht zurückwies. Das Glück, den grössten Staatsmann des Jahrhunderts so 112 nahe gesehen zu haben, schien uns allen unerhört.»

Der Student und Literat in Berlin

Dass auch in Leipzig neben den Studien die literarischen Pläne nicht vernachlässigt wurden, beweisen häufige Eintragungen im Tagebuch und vor allem die Briefe, die er mit den Freunden wechselte. Schon in Lausanne hatte er begonnen, eine Antwort auf Dranmors «Requiem» zu dichten, einen ganzen Verszyklus, den er «Cypressen» betitelte und zu veröffentlichen gedachte. Einer der Freunde sandte ihm eine offenbar ablehnende Rezension dieser Gedichte nach Leipzig, das Vorhaben verzögerte sich und wurde dann fallen gelassen. Eifriger wurde dafür das Hofer-Drama gefördert. «Ich habe mich nach und nach so in den Stoff hineingearbeitet, dass ich oft mit meinem Haupthelden und seinen Leidensgefährten ein Mitleid empfinde, als wäre der edle Mann lebendig vor meinen Augen. Die Begeisterung für die Sache steigt bei mir noch, und ich arbeite mit ziemlicher Leichtigkeit daran. Letzten Sonntag z. B. rückte ich um mehr denn 200 Verse vor.» Schon dachte er an die Möglichkeit einer Aufführung im Berner Stadttheater, erprobte aber vorerst die Wirkung im kleinen Kreis: «Die beiden ersten Akte habe ich letzthin zwei Zürcher Studenten vorgetragen. Obwohl mir gegen das Ende fast 113 der Atem ausging – es dauerte wohl eine Stunde – waren sie befriedigt davon.» Im Sommer 1889 schrieb er «den letzten Strich» am «Sandwirt von Passeyer», wie das Werk nun endgültig hiess, und legte die Jambentragödie in kühnem Entschluss Ernst von Wildenbruch vor, der ihm als damals erfolgreicher Dramatiker höchste Instanz in der Beurteilung seines Werkes bedeuten musste. Wildenbruch scheint ihm das Drama ziemlich scharf kritisiert zu haben, was Tavel veranlasste, es später in Prosa umzugiessen. Zwar bestand Wildenbruchs Rat zur Hauptsache darin, Tavel solle sich eher der erzählenden Dichtung zuwenden, wofür er grösseres Talent zu haben scheine; dennoch wagte er es, ihm auch noch sein nächstes Drama «Major Davel» zu unterbreiten und ihn abermals um sein kompetentes Urteil anzugehen. Die Antwort liess auf sich warten.

Eine Annäherung an die journalistische Tätigkeit bedeutete für Tavel der Umgang im Hause des «Daheim»-Redaktors und Literarhistorikers Dr. W. König, der ihm allerdings deutlich davon abriet, in die Redaktion eines politischen Blattes einzutreten: «es sei ein undankbarer Beruf, eine dornenvolle Lebensbahn, nur für den gemacht, der ein dickes Fell besitze, viel aushalten könne und der Feder mächtig sei. Ich behauptete nun ganz kühn», 114 schrieb Tavel seinem Vater, «diese Eigenschaften stehen mir nicht sehr fern, und fragte ihn um seinen Rat betreffend die zu machenden Studien». Über eine erste unglückliche Fühlungnahme mit dem «Leipziger Familienblatt» berichtet er dem Freunde: «Da gebe ich jüngst dem Redaktor ein Gedicht "Schweizers Heimweh". Er nahm es mit vielem Dank an, kam aber am letzten Sonntag zu mir und sagte, er hätte das Gedicht durch eine dritte Person in dem Sinn umändern lassen, dass das speziell Schweizerische daraus verschwinde, nur damit es den Deutschen besser gefalle. Ich wurde fast ohnmächtig ob dieser Schaueridee. Sofort gab ich ihm den "Napoleon vor Moskau" und verlangte das andere Manuskript zurück, habe es aber heute noch nicht. Es ist mir angst und bang, eines schönen Tages werde der unglückliche Bastard von Gedicht gedruckt mit meiner Namensunterschrift erscheinen.»

Im Herbst 1889 siedelte Rudolf von Tavel nach Berlin über, wo er wiederum zwei Semester blieb und seine Studien schon im Blick auf einen Abschluss systematisch fortführte, neben den Kameralwissenschaften aber auch bei Treitschke hörte, bei Hermann Grimm Kunstgeschichte und bei Erich Schmidt Geschichte des Dramas. Die Berliner Zeit war 115 wohl die heiterste und ungebundenste Periode seines Studiums. In der «lustigen Acht» war er abgestiegen, bei der «gnädigen Frau»; beide Abkürzungen würzen andauernd seine Berliner Briefe und werfen noch Jahrzehnte später einen verklärenden Schein auf die Erinnerung an jene Tage. Frau von Lagerström, Artilleriestrasse 8, war nicht nur für viele Schweizerstudenten die traditionelle Berliner Mutter, sondern sie betreute auch die zum erstenmal in der deutschen Hauptstadt auftauchenden japanischen Jünger der Wissenschaft, wofür sie die lebenslängliche Anhänglichkeit der später zu hohen Würden aufgestiegenen Söhne des Ostens gewann. Über seine Ankunft in ihrem höchst originellen Haushalt, gemeinsam mit Freund Thormann, der schon früher hier gewohnt hatte, berichtete Tavel seinen Eltern:

«Letzten Mittwoch abends um 9 Uhr langten wir hier an. Ich sagte im Eisenbahnzug noch zu Th., an das merkwürdige Wesen unserer Wirtin denkend: Das wird jedenfalls einen rührenden Empfang absetzen! Aber, wie sonderbar fiel dieser in Wirklichkeit aus! Als wir das Haus betraten, eilte mein Freund voraus ins Esszimmer, wo zwei Pensionäre sassen, die ihn herzlich begrüssten. Auf seine Frage jedoch, wo die "Gnädige" sei, hiess es, 116 dieselbe hätte uns gar nicht erwartet, da Th. die Zimmer gar nicht definitiv bestellt hätte. Die Zimmer waren in der Tat mit zwei Russen besetzt. Nicht lange darauf erschien Frau von Lagerström und stürzte mit lautem Geschrei auf Th. los: "Aber, was haben Sie denn angerichtet?" Und nun ging eine richtige Debatte los. Niemand wollte im Fehler sein, mein Freund schimpfte wie ein Rohrspatz, und ich platzte einmal über das andere vor Lachen heraus. Um den Streit abzubrechen, befahl die Gnädige, wir sollten ihr folgen; sie wolle uns unsere provisorischen Nachtquartiere anweisen. Für die nächsten Tage wollte sie uns Zimmer auswärts suchen, bis die Russen weggezogen seien. Th. weigerte sich, ihr zu folgen. Da ergriff sie mich bei der Hand und schleppte mich durch die Küche über eine kleine Treppe in die obere Etage und brüllte in einem fort: "Kommen Sie erst her und sehen Sie, wie brillant ich kombiniert habe!" Wir traten ein in ein niederes Zimmer mit einem einzigen, kleinen kreisrunden Fenster. "Hier", erklärte sie pathetisch, "ist das Himmelreich, hier wird Herr Th. einstweilen wohnen." Ich erklärte, dieses Himmelreich wäre denn doch ein wenig dunkel. "Aber, lieber, einziger Herr", meinte sie, "das ist wie geschaffen, um recht, recht fleissig zu sein!" Unterdessen 117 war mein Freund auch erschienen. "Sehn Sie, mein Herr", jauchzte die Gnädige ihm entgegen, "Sie werden hier im Himmelreich schlafen, und Ihr Freund, der kommt" – ich dachte schon in die Hölle – "in die Felsenspalte". Das klang ja ganz romantisch. Wohlweislich führte sie mich aber noch nicht in die "Felsenspalte", sondern fütterte uns erst ab.

Erst als Mitternacht über Berlin ruhte, ergriff sie mich abermals an der Hand und befahl mir, ihr zu folgen. Wieder ging's durch die Küche und dann über eine halsbrecherische Treppe hinunter, bis vor so eine Art Stalltüre. Da blieb man mit geheimnisvollen Mienen stehen, und sie hub an: "Schlafen Sie lieber kalt oder warm?" "Das ist mir egal", sagte ich, "ich komme ja aus dem Lande der Felsenspalten." Dann öffnete sie hocherfreut die Türe, ging hinein, und ich versuchte zu folgen, was aber aus Mangel an Raum nicht möglich war. Diese Felsenspalte ist ein weissgetünchtes Loch, das von seinem Mobiliar, einem Bett, einem ganz schmalen Tischchen und einem Stück von einem ganz alten Büchergestell als Nachttischchen soweit ausgefüllt ist, dass ein Mensch grad noch stehen kann. Das Gemach hat zwei Fenster, eines gegen den Hof, das man mit der Hälfte dieses Papierbogens füglich verkleben könnte, 118 das andere doch etwas grösser gegen die halsbrecherische Treppe. Die Gnädige entfernte sich. Ich setzte mich mit einem Seufzer auf das Bett: "Das sind also die Paläste der Großstadt! Daheim dürfte man keinen Schelm so einsperren!"

Nichtsdestoweniger schlief ich sehr gut und lange. Als ich am Morgen zum Déjeuner ging, war mein Freund schon ausgegangen, ohne zu sagen, wo ich ihn etwa treffen könnte. Ich suchte ihn auf der Universität, dann daheim, dann wieder auf der Universität und fand ihn – nirgends. Halbwütend stürmte ich unter den Linden herum. Wo sollte ich bleiben? Ich hatte ja kein Zimmer! Endlich musste ich lachen über mein ganzes Missgeschick, rannte nach Hause und fand Th., aber nicht allein, so dass ich meinem Zorn nicht Luft machen konnte. Er klagte über Kopfweh und verzog sich in sein "Himmelreich". Nun bestürmte ich die Gnädige, mir das versprochene Zimmer im Nebenhause anzuweisen. Endlich kam sie mit.

Im fraglichen Haus führte man uns in ein schönes Zimmer, das aber offenbar bewohnt war. Die Hauswirtin erschien auch und erklärte: "Tut mir leid, gnä Frau, aber der Doktor sind noch nicht weggezogen!" "Aha." Vor der Türe packte mich die Gnädige wieder, 119 und so ging man weiter. Plötzlich sagte sie: "Dies Zimmer nehmen wir doch, und bis es leer ist, wohnen Sie bei uns!" "Ja, wo denn?" In die Felsenspalte wollte ich nicht wieder, und so ging man weiter fort, bis an einen andern Ort, wo sich dieselbe Geschichte abspielte. Ich sah mich in Gedanken der Felsenspalte wieder nahe gerückt. Beim Schlossermeister Knopfe hing ein Zettel am Hause: "Ein Garçonlogis." Wir erstürmten dieses Haus, welches, nebenbei gesagt, in der Ziegelstrasse steht, und fanden das Zimmer sehr gut, aber – teuer. Wir zogen uns zurück. Auf der Treppe blieb Frau von Lagerström stehen, lauschte mit gespitzten Ohren nach unten, wo man eben zwei Studenten mit Reisegepäck anrücken hörte. Da sagte sie zu mir: "Liebster Herr, wir haben keine Zeit mehr zu verlieren, wollen Sie das Zimmer? Ja oder nein?" Des Herumrutschens müde, sagte ich ja. Die beiden Studenten waren unterdessen schon bei uns angelangt, und so entstand ein Wettrennen. Die Gnädige hängte sich an den Glockenzug und brüllte in den Flur: "Wir nehmen das Zimmer!" 42 Mark mit Bedienung und Kaffee. Dieser Preis ist ja eigentlich für Berlin nicht zu hoch. Ich werde nun hier bleiben, bis es bei Frau von Lagerström Platz gibt. Das Zimmer hat sie gemietet, nicht ich.»

120 Aber trotz dieser turbulenten Ankunft gefiel es Tavel sehr wohl in der «lustigen Acht», wo er in eine recht bunte Gesellschaft geraten war. Neben dem Komponisten Krasting und dem Kunstmaler Curt Liebich samt einigen deutschen Studenten, einem Amerikaner, den Japanern und Russen lernte er dort den jungen Grafen Felix von Stosch kennen, einen Gardeoffizier, der durch seine strenge und fordernde Gläubigkeit vorübergehend auf den innerlich noch immer nicht ganz gefestigten Tavel starken Einfluss gewann und ihn in neue Zweifel und Seelenkämpfe stürzte, aus denen er jedoch bereichert und geklärter hervorging. Die aufwühlende Begegnung mit dem faszinierenden Junker hinterliess nicht nur einen nachhaltigen Eindruck, sondern sie beruhigte sich später in einer Freundschaft, die sogar die Jahre des Weltkrieges überdauerte. In welchen inneren Konflikt sie aber den Studenten Tavel gedrängt hat, belegt ein Brief vom 2. Juni 1890 an die Schwester:

«Die Ursache, warum ich Dir so lange nicht geschrieben, liegt weder an Mangel an Stoff, noch an Mangel an Schreiblust, sondern einfach darin, dass ich mit mir selber nicht einig werden konnte, in welchem Sinne ich schreiben wollte, waren doch die vergangenen Tage für mich eine unerfreuliche, ja peinliche Zeit. 121 Die Frage des Theologiestudiums war abermals und dringender als je vor mich getreten, woran nicht zum wenigsten Stosch schuld war. Die Sache ging mir so nahe, dass ich jeden Sonntag in der Kirche dem Heulen nahe war. Das ganze Gewicht der Frage, deren Lösung über das Gelingen und das Glück meines Lebens entscheiden muss, voll und ganz fühlend, überlegte ich unendlich oft, und je mehr ich überlegte, desto schwieriger wurde mir die Entscheidung. Einen Moment hätte ich jeden um Rat fragen können, im nächsten lief ich weg, um keinen Rat zu hören. Schliesslich weiss der Mensch selber am besten, für was er in der Welt steht. Nun war das Unangenehmste für mich das Verhältnis zu Stosch. Hatte ich im Anfang seines Hierseins keinen Moment versäumt ihn zu sehen, so wich ich ihm in der letzten Zeit mehr und mehr aus, geplagt vom Bewusstsein, dass mir damit manche schöne, wertvolle Stunde verloren ging. Seine lieben freundlichen Augen, die mich früher aus der schlechtesten Laune wegzauberten und in mir so viel Zutrauen geweckt, waren wie Pfeile und Messer. Er wollte mit aller Gewalt einen Pfarrer aus mir machen, und ich wollte mich nicht beeinflussen lassen durch einen, der mich zwar kennt, der aber meine Verhältnisse nicht kennt. Ich wollte ruhige Überlegung 122 haben, er wollte im Sturm vorgehen und gewissermassen dem lieben Gott eine Entscheidung baldigst abnötigen. Er selber war mit den gleichen Fragen beschäftigt und sollte sich bis zum Schlusse seines Dienstes entschlossen haben. Mit ruhiger Überlegung schien es bei ihm aus zu sein, und ich gab ihm zu verstehen: Wenn's denn absolut sein muss, so sattle um, ich muss mich noch länger besinnen. Das war am Dienstag vor acht Tagen. Diesen Tag werde ich meiner Lebtag nie vergessen. Die Frage war da am brennendsten geworden, und wir gingen ohne Entscheidung auseinander, ich aber doch mit dem Gefühle, als ob's bei mir mit der Theologie ein Ende hätte.

Am Sonntag früh sagte ich zu Stosch: Ich bin entschlossen, nicht Theologie zu studieren, es sei denn, dass bis zum Schlusse des Semesters etwas Besonderes passiere, was mich umstimmen könnte. Er hatte unterdessen einen abratenden Brief von seiner Mutter erhalten und hatte denselben Entschluss gefasst. Heute früh ist er nach Grünberg abgereist, und wir sind in süssester Harmonie der Seelen geblieben. Was mich zum Entschluss gebracht hat, kann ich hier nicht ausführen. Der Hauptgrund ist der, dass ich das Risiko, jetzt ein Studium neu anzufangen, von dem ich absolut nicht weiss, ob es mir zusagen wird, während 123 ich am bisherigen immer mehr Interesse bekomme, nicht so ohne weiteres übernehmen will. Ich will mit Gottes Hilfe und treuem Fleiss weiter arbeiten und im Glauben zu erringen suchen, was mir vorschwebt. Es wird mir oft sehr schwer, aber es muss so sein, ich würde sonst übermütig. Leide ich Schiffbruch, so ist es mit meinem Glück und Frieden auf immer fertig, lässt es mir Gott gelingen, den Eltern als Entschädigung für die viele auf mich verwendete Geduld einmal eine Freude zu bereiten, so habe ich erreicht, was ich will. Ich habe jetzt furchtbar viel Arbeit und sehe noch gar nicht, wie ich mit allem fertig werden soll, ich hoffe, dass mir der Mut, den ich gefasst, bleiben wird.

Letzthin spazierte ich einsam im Tiergarten. Da begegnete mir eine reizende kleine Amazone mit fliegenden blonden Locken, die bis fast auf den Sattel herunter reichten. Sie war gefolgt von einem Kammerdiener. Nun habe ich erfahren, dass es die elfjährige Prinzessin Feodora von Sachsen-Meiningen war.

Im Kolleg sitzt mit mir der Prinz Ruprecht von Bayern, ältester Enkel des Prinzregenten, also zukünftiger König von Bayern. Diesen hatte ich bis gestern immer für einen Welschschweizer (etwa Neuenburger) angesehen, weil er ganz diesen Typus hatte.

124 Heute abend werde ich mir im königlichen Schauspielhaus eine Vorstellung von Wildenbruchs Stück "Die Quitzows" ansehen. Vor 14 Tagen habe ich an Wildenbruch einen Brief geschrieben, aber bis heute noch keine Antwort erhalten, woraus ich schliesse, dass er abwesend ist. Es handelt sich um sein Urteil über "Major Davel", welches Stück meiner Ansicht nach, was Kunstgerechtigkeit anbetrifft, den "Andreas Hofer" vollständig in Schatten stellt.»

Am Studium hatte Tavel inzwischen richtige Freude bekommen. Das Verdienst, ihn dazu gebracht zu haben, schob er Stosch zu, auf dessen Rat er die Schriftstellerei «bis auf weiteres an den Nagel hängte». Der Entschluss dazu kam ihn hart an, und ein kleines Hintertürchen behielt er sich immerhin offen, wenn er beifügte: «Damit ist nicht gesagt, dass ich nicht an einem Sonntag in der Stille noch etwas schreiben kann. Aber ich habe die bestimmte Zuversicht, dass ich mit den Berufsstudien ein Ziel erringen kann, und ich will es.»

Um bei den Hofpredigern Stöcker und Frommel die Besuche abstatten zu können, zu denen er von daheim angehalten wurde, liess er sich eine «Bratiskutte bauen», da man ihm gesagt hatte, er müsse bei solchem Anlass «einen vernünftigen Gehrock» tragen. Über 125 die Besuche, die er in Gesellschaft zweier Mitbewohner aus der «lustigen Acht» absolvierte, dem stud. jur. Cleve aus Weimar und dem Japaner Tanaka, berichtet er nach Hause in jener übermütigen Art, die drollige Kleinigkeiten ebensowenig übersieht wie pathetische Gebärden. Man kann sich einzelne Abschnitte dieser Briefberichte ins Berndeutsche übersetzen: sie liegen nicht sehr fern von jener gemütvollen Situationskomik, die er später in seinen Erzählungen so meisterhaft heraufzuzaubern vermochte.

«Bei Stöcker habe ich mich sehr formlos eingeführt. Nämlich Cleve nahm mich einfach mit an einem Empfangsabend und liess mich zuvor anmelden. Man hiess uns eintreten. Da standen wir mitten in einem grossen Kreis von unbekannten Herren und auch einigen Damen. Stöcker begrüsste mich sehr freundlich als einen alten Bekannten aus Bern und stellte mich sofort zwei Fräulein v. B. von Vaumarcus vor, die auf einem Sopha thronten. Man setzte sich, und ich nahm Platz neben dem jüngeren Fräulein v. B., die mir "fei e chly guet" gefiel. Stöcker sprach über verschiedene Tagesfragen, auch über Gerok, wobei ein fürchterliches altes Weib, das hinter ihm sass, ihm einmal übers andere ins Wort fiel. Erst dachte ich, Stöcker müsse fürwahr 126 in Herzenssachen weniger guten Geschmack haben als in der Politik, denn ich hielt die Person für seine Gattin, von der es heisst, sie habe diese Art des Dreinredens auch. Später belehrte mich Cleve, die fragliche Person sei gewissermassen ein deutsches Reichspfarrhaus-Faktotum, das von einem Pfarrhaus ins andere rutscht. Sie heisst mit Namen Osiander und wird in der Leute Mund "Hosianna" genannt. Als Stöcker verstummte, ging ein allgemeines Colloquium los, wobei ich mich herrlich mit meiner Nachbarin unterhielt. Beim Abendessen verteilte sich die Gesellschaft an drei Tische. Stöcker ordnete die Sitzerei, indem er sich verschiedene Personen auslas, die seine nächste Umgebung bilden sollten am ersten Tisch. Diese Ehre wurde auch mir zuteil, indem er mich neben Fräulein v. B. setzte, und diese sass neben ihm. Ausserdem sassen da die liebenswürdige Frau Hofprediger, ein Fräulein v. R., die, wenn sie lachte, zum Küssen, wenn sie nicht lachte, zum Kläpfen war.

Beim Nachhausegehen hätte man Küss die Hand machen sollen, aber für diesmal brachte ich's noch nicht über mich. Vielleicht ein ander Mal git's es de öppe. Als ich schon im Korridor war, rief mich Stöcker wieder ins Zimmer und trug mir freundliche Grüsse an 127 die Eltern auf. Der Abend war im höchsten Grade genussreich.

Sonntag war ich bei Frommels zum Tee eingeladen mit Dr. Tanaka. Unser Erstaunen war nicht gering, als wir daselbst den Salon ganz vollgedrückt fanden. Es empfing einen kaum jemand, so dass man sich wohl oder übel anschicken musste, von einem zum andern zu gehen, seinen Kratzfuss zu machen, den Namen zu nennen und den Namen des andern – natürlich nicht zu verstehen. Zum Glück fand ich einen Genfer, den ich oft im Christlichen Verein gesehen hatte. Ein furchtbar schneidiger Leutnant von den Gardefüsilieren begrüsste mich bei der Vorstellung so furchtbar freundlich, dass ich gar nicht begriff, was er eigentlich von mir wollte . . . Endlich kam ich im Gedränge zum Hofprediger selber: Er fragte mich – wie ich heisse! Ich war empört, dass er mich nicht wieder erkannte. Sehr liebenswürdig waren die Töchter Frommel.

Auf einmal wurde ein Flügel aufgeklappt, mehrere Geigen herbeigeschleppt. Die Gesellschaft setzte sich wie die Fliegen an die Wände. Viele mussten stehen bleiben, da keine Stühle vorhanden waren. Ich "gruppierte" mich vor einem geschnitzten Trog, als wollte ich vor versammeltem Reichstag eine Rede halten. Nun fing das Geklimper an, und laut 128 quiekend fielen die Geigen ein. Alles sass in stummer Bewunderung da. Ich benützte die Gelegenheit, um mir die versammelte Menschheit etwas näher anzusehen . . . Ein glänzendes Bild! Da sass mein Mongole neben irgendeiner strahlenden Gerichtsrätin und grinste überglücklich aus seinen schiefen Äuglein. Mir gegenüber sass ein hübscher 6 bis 7jähriger Bub, der Großsohn Frommels. Eine recht deutsche Idee, den Kleinen da zu behalten, der immer einschlief! Er konnte sich zwischenhinein einfach nicht mehr halten, störte die Musikvorträge. So wurde er nicht etwa ins Bett geschickt, sondern in einer Fensternische auf eine gepolsterte Bank hingelegt. Aber er "ranggelte" immerfort. Da beugte sich Dr. Tanaka zähnefletschend über ihn und wollte ihm flattieren. Aber der Anblick des Mongolengesichts erzeugte den gegenteiligen Effekt. Es wurde nicht besser, bis man den Bengel entfernte.

Als Klavier und Geigen schwiegen, stellte sich Papa Frommel mit seinen Töchtern und seinem Sohn beim Klavier auf, und sie sangen alle ein Lied . . . Nachdem man seiner Bewunderung allseitig gehörigen Ausdruck verliehen, ging man zu Tisch. An einer langen, langen Tafel sass man zusammengepfercht wie die Häringe. Zu meiner Rechten sass eine Frau Dr. W., zu meiner Linken der junge Frommel. 129 Von meiner Nachbarin bekam ich nur Rippenstösse. Absolut nicht wissend, was mit der resoluten Dame anfangen, stürzte ich mich krampfhaft auf das ergiebige Thema des Theaters und der Wagneropern. Da ging sie darauf ein. Ich glaube, die Worte, die sich an diesem Abend nicht auf Musik bezogen, wären leicht zu zählen trotz der 40 bis 50 Personen, die da waren. Beim Dessert musste die ganze Corona ein Lied singen lernen mit Klavierhilfe. Als das fertig war, hielt der Hofprediger eine lange, lange Rede, die mich nun erst darüber aufklärte, dass heute zum erstenmal nach geraumer Zeit der Familientrauer eine Soirée bei Frommels stattfand. Zum Schluss der Rede musste nun das eben erst gelernte Lied noch einmal gesungen werden . . .

Endlich wurde die Tafel aufgehoben, und die Musik begann wieder. Mittlerweile waren aber noch mehr Gäste gekommen. Ein Herr fiel mir besonders auf. Er war sehr lang, so lang, dass er bei jedem Bückling entweder mit dem Hinterteil oder mit dem Kopf an jemand anschoss. Da vorn an dem Gestell der Johanniterorden und hinten daran ein goldener Schlüssel hing, hatte ich bald weg, dass es ein Kammerherr war. Es war nämlich der Kammerherr der Kaiserin von Ende. Er hiesse besser ohn' Ende! Nun kam der höfliche 130 Leutnant, der mich anfangs so freundlich gegrüsst, auf mich zu und fragte mich, ob ich Schwede sei. "Schweizer", sagte ich, worauf er erwiderte: "Ach, entschuldigen Sie, ich habe mich in Ihnen getäuscht!" Also daher die freundliche Begrüssung.»

Was sich der Student und angehende Literat von seinem Aufenthalt in Berlin erwünscht hatte: «Ich wollte Leben, Kunst und Menschen sehn!», das wurde ihm in reichem Masse zuteil. So nahm er denn in einem beschwingten Gedicht ernsten, fast gerührten Abschied von der Großstadt, indem er ihr dafür dankte, was sie zu seiner Entwicklung beigesteuert hatte:

Zur Freiheit, der ich einmal ward geboren,
Ward mir ein ordnendes Gesetz gefügt.
Wo in die Wildnis sich der Geist verloren,
Wird, Frucht zu schaffen, fetter Grund gepflügt.
In Furchen liegt der Same tief vergraben,
Bald wird er spriessen in der Sonne Glut.
Nun lass der Morgenstille Tau ihn laben!
Im Keime wallt ein junges starkes Blut.

Er durfte mit Recht der eigenen Einsicht in sein inneres Wachstum, der Erkenntnis seiner organischen Reife mehr vertrauen als dem Spruch der Zigeunerin, die ihm am Schlachtensee gewahrsagt hatte, er werde 85 Jahre alt 131 werden, zwei Söhne und zwei Töchter haben und 32 Jahre lang glücklich sein!

So begab er sich, entschlossen, die Studien auf dem raschesten Weg zum Abschluss zu bringen, im November 1890 nach Heidelberg, wo er bei Geheimrat Knies seine Dissertation über «Die wichtigsten Änderungen in der Lebenshaltung der schweizerischen Hochgebirgsbewohner im Laufe des 19. Jahrhunderts» ausarbeitete. Die gründliche Abhandlung, die Tavel mit selbstgezeichneten Verkehrskarten des Alpengebiets versah, fand die Billigung des Professors. Auf die Prüfung bereitete sich Tavel mit «Ruhe, aber nicht ohne Sorge» vor; einzelne Fächer wurden auf der «Dampfschnellbleiche» repetiert. Von Schriftstellerei ist in diesen Wochen nicht mehr die Rede; der Phantasie, die ihn «in den goldenen Faulenzstunden des frühen Morgens selten so verfolgt hat wie jetzt», darf kein Gehör geschenkt werden. Nur teilt er dem Freunde eben noch gerade mit, dass er sein Quartier im Nebelschen Hause am Fusse des Schlossbergs aufgeschlagen habe, «worin nebst Goethe auch J. V. Widmann gehorstet hat». Frau Rat Nebel sorgt mit ihren Töchtern so gut für das leibliche Wohl ihrer Studenten, dass Tavel sich vorkommt wie eine Fliege im Honigtopf und der Mutter gegenüber in einem Brief sich 132 so weit gehen lässt, dass er zu fluchen anfängt: «Donner und Doria, sind doch die Weiber ein leimsiederiges Gewächs! Ich möchte manchmal mit dem Stecken dreinschlagen . . . Ich weiss nicht, ob ich es je noch dazu bringen werde, mein Herz zu verlieren! Die ganze Familie hier vergeht fast vor Süssigkeit, es ist mir einfach des Guten zuviel.» Lässt ihn die Nervosität vor dem Examen die schuldige Zurückhaltung vor der geliebten Mutter verlieren? Dennoch schenkt er der Frau Rat zu ihrem Geburtstag eine Tuschfederzeichnung, die den Reichenbachfall darstellt und die er nach einem Kupferstich von Lory angefertigt hat. Fast reut es ihn, das Stück wegzugeben, da es die Arbeit vieler Sonntage der letzten Semester in sich birgt; doch es findet grossen Anklang. Wenige Tage später steigt er ins Doktorexamen, und am 4. Juli 1891 meldet der Draht nach Bern: «Mit dem zweiten Grad durch.» Wenig später kehrt er selber zurück in die Schosshalde und in eine Heimat, der er als geprüfter und bestandener Mann dienen will. Bern feiert in jenem Sommer mit mächtigem patriotischem Schwung das 700jährige Jubiläum seiner Gründung. Sein Sohn feierte die stolze Vergangenheit aus befreitem Herzen mit. Aber wie durfte er an der Zukunft dieser Heimat mitarbeiten?


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