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Der ihnen bis zur Grenze des Landes entgegenritt, war Fürst Taxila auf wundervoll geschmücktem Elefanten. Das weiße Tier trug an den Schlappohren Trauben von Perlen, auf dem Rücken einen kleinen Turm aus Gold, Perlmutter und Seide gebaut, darin saß der Raja zwischen lauter Kissen und Köstlichkeiten.
Taxila, und was ihm anhing, war den Mazedonen sehr wohlgesinnt, nicht nur aus Güte, sondern hauptsächlich aus Berechnung, denn sie erhofften sich von den Fremden Hilfe gegen ihren starken und eigenwilligen Nachbarn, den Poros, dessen feste Hauptstadt am Hydaspes lag.
Die Landschaften diesseits des Indus zeigten sich größtenteils friedlich, nur wenige wagten noch Widerstand, zum Beispiel die Aspaier, deren Stadt zerstört werden mußte. Auch von den Assakenern erfuhr man, daß sie rüsteten. Man hatte Schlimmere besiegt, ihre Kapitale Massaga fiel.
Nach den harten Abenteuern der Gebirge erschienen den Soldaten diese Gegenden verführerisch wie ein Traum. In einer sanften und verlockenden Landschaft gediehen Mandelbäume und Lorbeeren; solche Blüten hatten sie noch nirgends gesehen.
Milde wie das schönbebaute Land waren die Lehren der Heiligen, die im Walde saßen, um Buße zu tun. Sie waren so sanft, daß die Soldaten Alexanders oft erschraken. Für diese Weisheit fühlten sie sich noch nicht reif, trotzdem rührte sie wunderlich ihre Herzen. Gegen solche Rührung wehrten sie sich, sie empfanden sie fast als Schwäche.
Sie fingen schon an, den Kampf nicht mehr so wie früher zu lieben. Früher hatte es sie gelangweilt, daß man oft mit friedlichen Abmachungen zum Ziel kam; heute waren sie dankbar.
Das freundliche Land, dessen Hauptstadt Nysa hieß, war von dreißig edlen Männern regiert. Hier wurden die Griechen besonders andachtsvoll aufgenommen, denn die Einwohner Nysas behaupteten des Dionysos Nachkommen zu sein. Man glaubte es ihnen, sie waren groß gewachsen, braunhäutig und klug.
Die Hellenen lauschten mit Ehrfurcht, wenn diese angenehm gebauten Fremdlinge, die ihre Verwandten zu sein behaupteten, von den Taten und Abenteuern des Dionysos erzählten. Er war der einzige Abendländer, der vor ihnen bis hierher ins zauberische Land gekommen war. Alexanders Soldaten durften sich als seine Nachfolger fühlen, was sie stolz und fromm stimmte.
Ihren König, den sie beinah gehaßt hatten, liebten sie wieder. Er war wieder der Griechengott, der sie führte. Sie verstanden seine Arbeit so wenig wie jemals. Aber da er sie in gesegnetes Land führte, glaubten sie wieder an ihn. –
Fürst Taxila übergab ihnen seine Residenz, die als schönste Stadt zwischen Indus und Hydaspes galt. Keine andere konnte schöner sein: diese prunkte mit Tempeln, in deren Schnitzereien Götter, Tiere und Gewächse üppig sich ineinanderverflochten; in den duftenden und weiten Gärten ruhte zwischen rosigen und violetten Büschen das blaue Wasser in den weißen Marmorbecken der Bassins. Weiße Pfauen schlugen ihre Räder, wobei durch ihren ganzen eitlen Leib ein Zucken lief, ein Vibrieren von Hochmut; andere Vögel waren bunt mit Glitzergefieder, goldbronzierten Schnäbeln, purpurnen bösen Augen. Geschmückte Elefanten trabten durch die weiß steinernen Gassen, aus denen Gesang, Wohlgeruch und Wärme stieg. – Die Nachfolger des Dionysos glaubten sich nicht mehr auf dieser Erde, sicher waren sie im Paradies der Verheißung.
Alexander indessen empfing Gesandtschaften. Viele Fürsten schickten zum Zeichen der Unterwerfung Geschenke. Nur Porös, von dem alle mit Besorgnis und Ehrfurcht sprachen, blieb trotzig. Er ließ ausrichten: mit bewaffneter Hand werde er den König an seines Reiches Grenze erwarten. Man mußte also gefaßt sein.
Kehrten von ihren Streifzügen die Soldaten ins große Heerlager zurück, erzählten sie einander das Tollste und Unglaublichste. Sie überboten sich in ungeheuerlichsten Geschichten, jeder hatte etwas noch Phantastischeres erlebt.
Unter den üppigen Gewächsen kauerten sie im Kreise; da die Nacht unruhig war, konnten sie doch nicht schlafen. Es duftete und wehklagte aus dem Dickicht der Wälder. Die Affen turnten, viele hatten die fetten Schlangen gesehen, die sich bunt und gebläht um die Bäume legten. Da auch die Vögel schrien und flatterten, hätte man alleine bestimmt Angst bekommen. So lagerte man lieber im Kreise und log sich allerlei vor.
Große Löwen, Riesenschlangen, Elefanten waren nicht mehr interessant genug. Aber Skorpione gab es, stachelige, groß wie Hunde, die schauerlich hüpften und krochen. Ihnen zu entfliehen war beinah unmöglich, denn sie konnten auch große Sprünge tun. Sie töteten nur aus Grausamkeit, Menschenfleisch fraßen sie nicht. Doch hielten in ihrer Nähe sich die großen weißen Füchse mit den roten Augen; diese waren es, die die Opfer der Rieseninsekten verspeisten; manche Soldaten hatten es selber gesehen.
Andere waren dem sechshändigen Affenmenschen begegnet, der behaart war und stank. Er konnte sechse auf einmal erwürgen, jeden mit einer Hand. Dazu lachte er, aber wie scheußlich. Er lachte dumpf und meckernd, grollend belustigt, daß es widerlich zu hören war.
Einer hatte die unangenehme Bekanntschaft mit dem verwunschenen Obstbaum gemacht. Der stand mitten auf einer Wiese, breit, schöngeformt und allein; die Früchte, die er trug, schimmerten so verlockend und strotzend, daß sie sogar für Indien Seltenheiten waren. Doch wollte man sich harmlos eine dieser fetten Birnen pflücken, hatte man auch schon die fatalsten Schläge im Gesicht. Von völlig unsichtbarer Hand geschwungen, prügelten die Zweige auf den ahnungslosen Übeltäter los, dazu rief eine Stimme so dröhnend, daß man, von Entsetzen gelähmt, nicht fortlaufen konnte, vielmehr stillhielt, sogar noch blutüberströmt.
So erriet man in Indien nie, was heilig war und wo man sich versündigte. Die Götter mochten wissen, welche reizbaren Gewalten in diesen Obstbäumen zu Hause waren. »Aber schließlich«, meinten die hellenischen Soldaten beleidigt, »auch in unseren Bäumen wohnen Gottheiten, und sie prügeln nicht gleich, wenn man mal etwas abpflücken will.«
Manchen war auch Hübsches widerfahren. So dem jungen Ritter, der auf dem Gipfel eines Berges den leuchtenden Palast gesichtet hatte. Zweitausend aus Saphir hergestellte Stufen führten hinauf; oben entdeckte er: ganz aus Edelsteinen war der Palast, daher sein Glänzen. Er drang ein, teils, weil er rauben wollte, teils, weil eine unvergleichlich innige und herzerweichende Musik ihn lockte. Das sei eine Musik gewesen, berichtete der Kavalier, ein Schmelzen und Flöten, ein Liebeswerben, wie wenn ein Weib girrt. Alle Türen seien festlich aufgesprungen, sogar die Glocken – goldene Glocken – hätten zu seinem Empfang reizend geläutet.
Im Innersten des Palastes, wo die Musik am buhlerischsten wurde, fand er eine zauberische Prinzessin aufgebahrt, purpurn zugedeckt, Edelsteine an den Füßen, an den Handgelenken und im mattschwarzen Haar. Nur schien es, daß die Aufgebahrte tot war, sie atmete nicht. Dafür ging Musik von ihr aus; kein Zweifel, die Töne strömten aus ihrem ruhenden Körper, so berauschend, daß der Reitersmann die Augen schließen mußte.
»Ihr ahnt nicht, in was für Abgründe ich da versank«, erzählte er, noch nachträglich verzückt, den Kameraden. »Das läßt sich mit nichts anderem vergleichen, so eine verwirrend angenehme Höllenfahrt. Wißt ihr, wie ich erwachte? Eine kalte, zarte Hand faßte mich an –: zart, könnt ihr euch vorstellen, aber eisig kalt. Als ich die Augen aufschlug, hatte die Prinzessin sich aufgerichtet, wie sich Tote aufrichten, starr. Sie griff nach mir, sie hatte mich schon beinah zu sich gezogen. Was für ein wundervoller Tod das in ihren Armen gewesen wäre! – Wie riß ich mich von ihr los, wie kam ich die edelsteinernen Treppen hinunter? Es sang doch so magisch hinter mir drein. – Den Druck dieser süßen Zauberhand vergesse ich nie«, schloß er träumerisch; alle merkten, daß er heimlich bereute, diesem Drucke nicht gefolgt und so den wundervollen Tod in ihren Armen versäumt zu haben. –
Der junge Blonde, mit dem sie zärtlich wie mit einem Kinde waren, wußte wieder das Reizendste. Auch in seiner Geschichte kam Musik vor; sie handelte auch von Mädchen, aber von vielen, und sie waren lebendig. Freilich lebten und gediehen sie anders als von den irdischen Mädchen die Mehrzahl. Man fand sie in einem Walde; wieder war es Gesang, der führte. Aber dieses Mal kein üppig buhlerischer, vielmehr plätschernd klarer, »wie ein Gebirgsquell«, sagte der junge Blonde, lächelnd über der Erinnerung. Die Mädchen, zeigte sich, wohnten in Blumenkelchen, sie waren an die Blumenkelche gebunden, mit ihnen verwachsen. Doch das beengte sie nicht, sie freuten sich ihres Daseins.
Sie selber waren blütenhaft zart, weiß und ganz durchsichtig; übrigens nackt, mit winzig kleinen, spitzen und reizenden Brüsten. Sie lachten sich zu, sie scherzten, spielten, spaßten miteinander, sie sangen und warfen Bälle. Den jungen Fremden empfingen sie mit Freudenruf und Gezwitscher.
»Ich war drei Monate und zwölf Tage bei ihnen«, sagte der Blonde still und beseligt – alle wußten, daß er nur zwei Tage fortgewesen war, aber sie nickten dankbar, weil seine junge und gefühlvoll verschleierte Stimme ihnen angenehm war –; »es war in meinem ganzen Leben die glücklichste Zeit. – Und wird es bleiben«, schloß er wehmütig.
Er berichtete auch, aber tränenerstickt, wie seine freundlichen Wundermädchen zu Tode kamen. »Sie können nur in der Sonne atmen, den Schatten vertragen sie nicht. Ach, wie die Schatten der Bäume immer näher krochen, und sie wurden immer bleicher und bekümmerter. Sie lachten nicht mehr, manch eine klammerte sich angstvoll an mich –«
So schloß auch das Abenteuer des jungen Blonden nicht heiter.
Aber die, welche nach Hause kamen und behaupteten, am Ende der Welt gewesen zu sein, ließ Alexander selber in sein Zelt kommen.
Er ruhte, als die beiden Fußsoldaten schwerfällig eintraten, im Hintergrund auf dem Lager; aus dem Halbdunkel schaute er sie mit seinem saugenden, zugleich weichen und befehlshaberischen Blick an: »Ihr behauptet, am Ende der Welt gewesen zu sein?«
Die Soldaten murmelten und stockten. Alexander, plötzlich aufgerichtet, mit einer kindlichen und hellen Neugier: » Wie sah es aus?« Die beiden brummten was in ihre Bärte; Alexander befahl, schon ungeduldig und mit gefährlicher Schärfe: »Sprecht deutlich, wenn ich euch etwas frage.«
Um so fassungsloser stotterten die zwei Bärtigen: der Himmel habe sich wie ein Rad gedreht; es sei dort, meinten sie, ein großer Sturm gewesen, so ein Brausen, ein dumpfes. – Alexander winkte angeekelt ab. »Ihr wißt ja auch nichts«, sagte er müde. Und da die beiden noch stehenblieben: »Warum geht ihr denn nicht? Trollt euch!« Blitzend, zu seiner ganzen Höhe aufgerichtet, schrie er sie an: »Ihr habt euren König angelogen! Seid dankbar, wenn ich euch nicht peitschen lasse!«
Da die beiden hinausgestapft waren, sank er in der Dämmerung wieder zusammen. »Die wissen auch nichts«, wiederholte er.
Geplagt von seiner ungeheuren Neugierde wie von einer Krankheit, stöhnte er, an die Schläfen die Hände gepreßt: »Wer doch wüßte! Wer es doch gesehen hätte!«
In den abgelegenen Hainen saßen die, die Buße taten. Sie hockten hager und nackt, ihre finnige Haut hatte ganz die Farbe des Lehms. Sie schabten ihren Aussatz und suchten nach der Erkenntnis. Mazedonische Soldaten, die solche fanden, betrachteten sie sowohl angeekelt wie ehrfurchtsvoll.
Sie hatten schon manchen Weisen so im Kote gesehen; zu Hause wurden sie die Zyniker genannt, weil sie taten, wie die Hunde tun. Hier hießen sie die Gymnosophisten, denn sie waren unbekleidet und trachteten nach der Weisheit.
Man versuchte sie zu verhöhnen, aber ihr Blick blieb milde, sogar stolz bei aller Demut. Wenn die Soldaten sie mit Stöcken und Halmen an den verfilzten Bärten, den krustigen Ohren kitzelten, lächelten sie nachsichtig und ermunternd. Sie drohten mit dem Finger; was sie murmelten, verstand man nicht, aber sicher war es bescheiden und fromm.
Zu einigen, die besonderen Ruf hatten, ließ Alexander sich führen; sie begrüßten ihn mit stiller, unbewegter Freundlichkeit, wie sie auch den gemeinen Soldaten begrüßt hätten. Über ihre Augen erschrak der König: sie hatten einen Blick von seligschmerzlicher Entrücktheit. In ihren verschimmelten, von Schmutz und Ausschlag rauhen Gesichtern leuchteten diese Augen mit einer mehr als menschlichen Kraft.
»Lehrt mich!« bat Alexander, der gewohnt war, fremden Offenbarungen zuzuhören. Einer der Greise erwiderte freundlich, doch unerbittlich: » Du kannst uns nicht zuhören.« »Warum nicht?« fragte Alexander, etwas verletzt. »Unterrichtet mich!« bat er heftig noch einmal.
Sie schüttelten mit sanfter Strenge die verfallenen Häupter: »Dein Geist ist unruhig. Du mußt in dich gehen. Setze dich auf diesen Baumstumpf und sprich vierundzwanzig Stunden kein Wort.«
Alle drei wiesen mit ihren welken Händen dorthin, wo er sitzen sollte. Sein Wissensdurst war stärker als sein Trotz. Er zögerte einen Moment, wollte auffahren; dann setzte er sich, um zu schweigen.
Es war schwer, denn er war alles gewohnt, nur nicht Ruhe. So kamen Gedanken, die beinah nicht zu ertragen waren; vor allem kam der Gedanke an Kleitos.
»Tröstet mich!« bat er nach zwölf Stunden. Doch die Verschimmelten schüttelten mit stiller Unnahbarkeit die Häupter. Er mußte nochmals zwölf Stunden in sein Inneres schauen, das zu erkennen er sich fürchtete. Er merkte, daß es unergründlich war, es schwindelte ihm. »Wohin schaue ich, wenn ich in mich schaue?« fragte er sich entsetzt.
Endlich winkten sie, daß er fragen dürfe. Er fragte hastig, denn er war des Trostes so bedürftig wie einer, dessen Wunde blutet, eines Verbandes: »Sind die Taten gut gewesen, die ich vollbracht habe?«
Sie erwiderten rätselhaft, als wüßten sie alle seine Gedanken: »Abgrundtief ist das Wesen der Tat.« Nach langer Pause fügten sie hinzu:
»Wer in der Tat das Nichttun schaut und in dem Nichttun grad die Tat, der ist ein einsichtsvoller Mensch, andächtig tut er jede Tat.« Nach noch größerer Pause sagte einer von ihnen mit träumerisch entgleitendem Blick: » Dem löst das Tun sich völlig auf.« Worauf alle drei die Augen schlossen und verstummten.
Aus ihrer Rede wehte es den König friedevoll und schauerlich an. Er fühlte, einige Sekunden lang, alles, was er getan und geleistet hatte, ins Nichts zerfließen, sah es aufgehoben; ebenso das, was er noch tun würde. Während dieser beängstigende Friede noch wie Hauch seine Stirne berührte, sprachen die drei schmutzigen Weisen auch schon vom Hauche, den sie das oberste Prinzip, den ersten der Götter nannten.
»Der Wind ist es, der alles an sich zieht«, begann der erste mit singender und lockender Betonung. »Wenn das Feuer ausgeht, geht es in den Wind ein. Wenn die Sonne untergeht, geht sie in den Wind ein. Wenn die Wasser austrocknen, gehen sie in den Wind ein. Der Wind zieht diese alle an sich.«
Da der erste seinen träumerischen Singsang beendet hatte, begann der zweite, ebenso süß und ebenso monoton. »Der Hauch ist es, der alles an sich zieht. Wenn einer schläft, so geht die Stimme in den Hauch ein; in den Hauch das Auge, in den Hauch das Ohr, in den Hauch das Manas, der Geist –«
Alexander, der vierundzwanzig Stunden gewacht und in den Abgrund geschaut hatte, schlief schon. In seinen Schlaf hinein hörte er den dritten mit seiner leiernden Verführerstimme:
»Prâna, der Hauch, ist Brahman; kam, die Freude, ist Brahman; kham, der Äther, ist Brahman.
Lebenshauch, Raum, Himmel, Blitz – das bin ich, offenbart Brahman.«
Im Tiefschlaf, so hieß die Lehre, vereinigte die Einzelseele sich mit dem Atman, der die Allseele ist. Erst der ermüdete Alexander war empfänglich, den Schlafenden erreichte der Vortrag der Eingeweihten. Dem sanfter Atmenden konnten sie das Geheimnis vom unendlich gestalteten, nie geoffenbarten, milden, friedevollen und unsterblichen Schoß des Brahman vorsingen und vorleiern; erst der ganz Beruhigte war aufnahmefähig.
In feierlicher Wechselmelodie lösten sie einander ab.
»Brahman ist Speise«, sagte der erste.
»Brahman ist Hauch«, der zweite.
Drauf der dritte: »Brahman ist Geist.«
Der erste sagte wieder, mit großer Betonung: »Erkenntnis ist Brahman.«
Der zweite schwieg, worauf der dritte stolz vollendete:
»Wonne ist Brahman.«
Es zeigte sich, daß Brahman alles war, das Wesen aller Erscheinung, das aus Denken und Wonne besteht. Er trug viele Namen; doch schaute man ihn fromm und gründlich an, war er immer derselbe.
Der eingeschlafene Alexander erfuhr, wie der Mensch am sichersten sich dem Brahman nähert. Ach, er selber hatte es durchaus falsch angefangen; die klugen Stimmen empfahlen als Pfad zur Erlösung nicht Nachkommen, Reichtum oder fromme Werke, geschweige denn kriegerische Taten, die blutbefleckt waren; sie empfahlen Entsagung. Diese gerade hatte er nie geübt.
Da der Schlafende die Greise fragte, was Erlösung sei, schwiegen sie alle drei und sahen mit undurchdringlichem Lächeln zur Erde. Aber aus ihrem Schweigen noch wehte der Friede, der so unheimlich wie verführerisch war.
Statt der Antwort begannen sie wieder zu lehren, wie man sich Brahman nähert. Welch genau vorgeschriebene und geheimnisvolle Näherung!
»Der Weise geht in die Flamme ein«, begann der erste mit singender Umständlichkeit. »Aus der Flamme in den Tag; aus der zunehmenden Monatshälfte in die sechs Monate, in denen die Sonne nach Norden geht; aus diesen Monaten in das Jahr, aus dem Jahr in die Sonne, aus der Sonne in den Mond, aus dem Monde in den Blitz. Dort endlich trifft er den vergeistigten, nicht mehr menschlichen Mann, der ihn geleitet zu Brahman.«
Drauf der zweite, mild bestätigend: »Das ist der Pfad der Götter, der Pfad des Brahman.«
Verheißungsvoll schloß der dritte: »Wer auf ihn gelangt ist, kehrt zu dem menschlichen Strudel nicht mehr zurück. – Nicht mehr zurück«, wiederholte er lieblich und hohl.
Nun ahnte der Eingeschlafene, was Erlösung bedeutete: Nicht-Wieder kehren; »keine Neugeburt mehr erleiden«, nannten sie es. Sein Ich wollte sich auflehnen, aber die Verführung blieb stärker.
Ihm war, als triebe er ein sanftes Gewässer hinunter, auf einem Kahn, der leicht schaukelte. Düfte kamen, sowohl aus dem Wasser als auch von den Ufern, die voll blühender Büsche standen. So zauberhaft war er noch nie geschaukelt worden. Um ihn löste sich's auf, Farben und Formen. Was er für Materie gehalten hatte, erwies sich als Trug; mit Lustgefühlen sah man, wie es sich verflüchtigte. Natur, Traum und Geist gingen eins ins andere hinüber, alles wurde zur Gottheit, schließlich die Gottheit zum Nichts.
Das Meer, dem man entgegentrieb mit so süßem Geschaukel, war das Nichts; der stromabwärts Fahrende wußte es, ohne es sich einzugestehen; es lockte formlos, bodenlos, endlos. Erst kam die Erkenntnis, dann die Wonne, dann die Auflösung, die von allen Banden befreit.
Die lehrenden Stimmen raunten und betörten; wie lange ruhte der König bei den drei Greisen? Noch ein wenig länger Tiefschlaf in ihrer Mitte, und er wäre vielleicht nie wieder aufgestanden.
Denn das Meer war schon nahe, als er mit letzter Anstrengung die Augen aufmachte. Er merkte, daß ihn fror, das brachte ihn zu sich. Es war kalt geworden, außerdem regnete es. Über den Bäumen, die in Dunkelheit standen, rauschte leise das Wasser.
Erst glaubte Alexander, er sei allein; dann bemerkte er, daß die Greise, ein paar Meter von ihm entfernt, alle drei nebeneinander an einem Baum hockten; ihre Augen hatten in der Dunkelheit mattes Leuchten, wie feuchtes Holz.
Sie winkten kindisch, da der König aufsprang und sich schüttelte. Der fühlte sich wie von einer Hypnose befreit. Diese drei konnten unter ihren verkrusteten Bärten nichts mehr als lallen.
Dabei sagten sie ihm ihre beste und endgültigste Weisheit erst jetzt.
»Wer in allen Wesen sich und sich in allen Wesen sieht, der geht, nicht aus einem anderen Grund, in das höchste Brahman ein –«
Ihre Stimmen hatten keine Verführungskraft mehr, sie waren nur noch warnend und schwach. Alexander stürzte schon fort, wobei er heftig Zweige auseinanderbog, Blumen und kleine Tiere zertrat.
Mit schmerzlich glimmenden Augen sahen die drei Greise ihm durch die Regennacht nach, wie er die Kreatur beleidigte und sich entfernte vom Pfade der Erkenntnis, der Wonne und der Erlösung.
Der Hauch, an dem Alexander gefrevelt hatte, rächte sich: als er mit seiner Armee am Hydaspesstrom der Macht des Fürsten Poros gegenüberstand, wüteten Wolkenbruch und Orkan. Gegen den Eindringling wehrte sich die empörte Natur.
Der angeschwollene Fluß ließ seine Wasser toben und brüllen, der Regen blendete die Augen, schlug ins Gesicht; sogar die Elefanten schienen, über ihre Pflicht hinaus, aus persönlicher Aufgebrachtheit grausam und wild.
Ihrer waren es zweihundert, je fünfzig Schritt voneinander entfernt beherrschten sie beinah eine Meile Terrain. Wenn sie trompeteten und mit den Rüsseln schlugen, wichen die mazedonischen Pferde in voller Panik zurück. Die Fußsoldaten, die sich in die Nähe der rabiaten Riesen wagten, wurden gleich von den Fangzähnen durchbohrt; oder vom Rüssel gepackt, hochgeworfen, zerstampft.
Auf dem größten Tiere saß Poros, der auch der größte Mann war; über dem weißen Kleide sah sein Gesicht schwarz aus, mit dicken Lippen, goldenen Augen, beinah negerhaft. Obgleich diese zugleich finsteren und leuchtenden Augen blicklos schienen, zielte der Fürst mit fürchterlicher Genauigkeit. Jeder seiner langen und vergifteten Pfeile fuhr einem griechischen Soldaten zwischen die Rippen oder in die Kehle. – Poros zielte auch noch, als er schon aus vielen Wunden blutete. Aus dem Leib seines Herrn, der unempfindlich, wie bronzen war, zog mit seinem Rüssel der Elefant die Pfeile und Geschosse der Feinde.
Die Schlacht blieb länger unentschieden als irgendeine andere, bei der Alexander Führer gewesen. Seine Soldaten versanken fast im aufgeweichten Boden. Sie kämpften gleichzeitig gegen den Feind, gegen den Sumpf, der sie am Stürmen hinderte, gegen den unaufhörlichen Regen, der ihren überanstrengten Gesichtern wehtat, ihre Nerven folterte, gegen die Elefanten, deren quälender Trompetenlärm ihre Pferde scheu machte, deren Zähne und Rüssel gefährlicher als alle Waffen waren und einen schlimmeren Tod brachten.
Hätte Alexander einen Augenblick lang nachgegeben, es wäre die entscheidende und endgültige Niederlage geworden. Sein Beispiel, das übermenschlich war, rettete. Endlich wichen die Inder. Der Elefant des Fürsten Poros sank, da gaben auch die anderen Elefanten alles verloren.
Seit langem schon ging im Lager ein Geraune und Geschwätze über die märchenhaften Reichtümer einer indischen Königin, die Kandake hieß. So herrschte eine gewisse Genugtuung, als endlich ihre Gesandtschaften vor Alexander erschienen.
Die Pracht, mit der sie auftraten, bestätigte alle Gerüchte, die über den schweren Reichtum dieser Fürstin in Umlauf waren; vor allem aber die Geschenke, die man in feierlicher Prozession am Mazedonenkönig vorbeitrug. Da gab es goldene kleine Gottheiten mit diamantenen Augen, auch solche aus Elfenbein; in Käfigen aus feinem Metall fünfhundert Vögel von der buntesten Sorte, die singen, aber auch plappern konnten, Sittiche und Sphingen. Schwarze Sklaven, halb nackt, führten an bunten, hübsch geflochtenen Leinen gezähmte Tiger, Löwen und Leoparden, die nach der Wildnis rochen und in sprungbereit geduckter Anmut im Zuge schlichen; ihnen folgten, gravitätisch aufgeputzt, fünfundzwanzig weiße Elefanten, auf denen Mohrenkinder saßen; alle Soldaten mußten lachen, weil die finsteren Kleinen so erschrocken aus verquollenen Gesichtern schauten und so große, hängende Ohren hatten. Man hatte auch gleich einen Maler mitgesandt, der das Porträt des Königs sehr künstlich auf eine Holztafel brachte.
Eine Dame, die sich mit solchen Geschenken vorstellte, war mindestens so mächtig, wie die kühnste Legende von ihr vermutet hatte.
Die Gesandten verabschiedeten sich nach einigen Tagen, nachdem sie Gegengeschenke in Empfang genommen hatten, die zwar geschmackvoll waren, aber den Vergleich mit denen, die die Fremden ihrerseits mitgebracht hatten, nicht im entferntesten aushalten konnten.
Einige Tage später erschien mit großem Gefolge wieder ein Herr, der sich auf Frau Kandake berief, er behauptete ihr Sohn zu sein und Kandaulus zu heißen; in wichtiger Angelegenheit habe er mit dem König zu sprechen.
Alexander war zu Maskeraden aufgelegt, er befand sich im Zustand einer etwas bedenklichen Lustigkeit, die an Albernheit grenzte. Er beschloß den Prinzen zu narren, davon versprach er sich Spaß.
Er empfing ihn zwar, aber der Leibwächter Ptolemaios mußte den König spielen. Alexander ließ sich Hephaistion nennen; der wirkliche Hephaistion, den der Scherz beunruhigte, stand mit besorgter Miene im Hintergrund.
Kandaulus sank vor Ptolemaios zur Erde und überreichte ihm ein Angebinde. Der falsche König, ganz ungeschickte Gravität, nahm das goldgeflochtene Körbchen, das mit Früchten und Edelsteinen zierlich gefüllt war, mit verlegener Grandezza entgegen; der Prinz, der den Mazedonenkönig sehr würdig und zurückhaltend fand, trug kniend sein Anliegen vor.
Es handelte sich darum, daß seine junge Gemahlin, die der Beschreibung nach, die er gab, begehrenswert sein mußte, von einem Räuberhauptmann entführt worden war und jetzt in einer Felsenburg saß. Kandaulus, seiner Natur nach unkriegerisch, weichlich und menschenfreundlich, wußte sich keinen Rat. Ihm war zu Ohren gekommen, daß die Mazedonen sowohl tapfer als edel seien: so fragte er kniend an, ob man ihm helfen wolle.
Ptolemaios räusperte sich unsicher und geziert, schließlich sagte er hochmütig, mit einer so privaten Affäre könne er, der vielfach in Anspruch genommene Monarch, sich natürlich nicht abgeben, dergleichen überlasse er seinem General, dem wackeren Hephaistion.
Alexander trat vor, anmutig, aber bescheiden; er verneigte sich tief. Es ehre ihn, dem Prinzen helfen zu dürfen – wenn sein Herr es erlaube, fügte er respektvoll hinzu. Ptolemaios nickte verlegen und gnädig; ihm war es peinlich, daß Kandaulus schon wieder seine Füße mit Küssen bedeckte.
Man brach, den Trotz des Räuberhauptmanns zu besiegen, mit einer kleinen Abteilung tüchtiger Soldaten auf. Alexander ließ sich von allen Hephaistion nennen, schließlich glaubte er selbst schon an seine Verwandlung, was ihm sonderbar schmeichelte und ihn auf sehr angenehme Art verwirrte.
»So leicht also ist es, sich selbst zu verlieren«, dachte er träumerisch benommen. »Wie sorgenfrei ich mich fühle.« Dieser Freiheit ergab er sich wie einer süßen und verbotenen Lustbarkeit. Noch in Baktrien hätte ein solches Spiel ihm nichts als Ekel bereitet; Indien hatte ihn sehr verzaubert.
Der Räuberhauptmann, der so grimmig getan hatte, war nicht schwer zu besiegen, da er mazedonische Reiterei sah, bekam er es mit der Angst, Kandakens Sohn hatte seine Allerliebste wieder. Tränen in den Augen, bedankte er sich bei dem General, der devot und zurückhaltend blieb.
»Alexander hat treue Diener«, sagte der Prinz markig, wobei er dem Offizier die Hand schüttelte. In seiner großen Freude machte er ihm den Vorschlag, einige Tage auf dem Schlosse seiner Mutter zu verbringen. »Sie wird glücklich sein, wenn nicht den Herrn, so doch seinen besten Vasallen kennenzulernen.«
Auf dem Weg zum mütterlichen Palaste fragte Kandaulus den General nach vielen Eigenheiten Alexanders aus. Der falsche Hephaistion antwortete frisch und exakt. »Ist Alexander sehr fromm?« fragte der Neugierige. »Glaubt er an alle Götter?«
»An alle«, sagte Alexander mit Munterkeit.
Er mußte, wie lange Alexander zu schlafen pflege, berichten, was er esse, wie er seine Freunde behandele. Auf alles antwortete er mit unbeteiligter Ausführlichkeit. »Was für ein reizendes Spiel«, dachte er, während er über sich selbst berichtete. Ohne Gewissensbisse genoß er das Unerlaubte und Frivole dieser Situation. –
Kandake war eine nicht mehr ganz junge, aber unvergleichlich prachtvolle Dame. Das geraffte Schleppenkleid, das sie trug, war aus weichem und besticktem Glitzerstoff; Blumen, Vögel und Figuren zierten den weiten Rock und die gepufften Ärmel. Aus der Frisur hingen ihr Perlentrauben und diamantene Rosen, auch ihre weißen Hände waren schwer von Diamanten, blauen und roten Juwelen. Sie war etwas breit, streng betrachtet beinahe dick; doch vergaß man es gerne, da sie sich anmutig zeigte. Ihre milchig zarte Haut schien makellos, freilich nicht frisch, sondern von reifer, klug behandelter Schönheit.
Mit verlockendem Augenaufschlag begrüßte sie Alexander, den man ihr als General vorstellte. »Mein Sohn ist Euch sehr zu Dank verpflichtet, also auch ich«, sagte sie würdig, dabei verführerisch. – In der großen Halle ihres Palastes war das Empfangsmahl angerichtet.
Drinnen duftete es, daß man die Augen schließen mußte; die Götter wußten, was sie hier verbrannte. Aus bunten kleinen Pfannen stiegen silberne und blaue Dämpfe auf.
Wenn man sich an das von Wohlgerüchen satte Halbdunkel gewöhnt hatte, merkte man, daß man in einem Zaubersaal war. Aus den Wänden wuchsen Palmen und Blütenbüsche, unter der ins Unendliche gewölbten Decke kreisten in ihrem purpurngoldenen Lichte Sonnen, Monde und Planeten. Schwarze Papageien sangen aus ihren Käfigen wie Nachtigallen, zwischen allen Geräten turnten Affen, die reden und zanken konnten, am hübschesten waren die gelben, roten und grünen kleinen Katzen mit vergoldeten Pfötchen.
An einem runden Tisch voll duftenden Geschirrs saß Madame Kandake, auch Alexander mußte sich setzen. Zwerge waren es, die servierten, mindestens hundert. Sie hatten alle niedliches Pelzwerk an, graues, gemustertes, buntes; so trippelten sie herbei, mit runzligen, andachtsvollen Gesichtern. In den bauchigen Schüsseln, die sie hielten, dampften unerhörte Gerichte.
Alexander aß mit Genuß, seine Wirtin stützte ihr träges, seidig schimmerndes Gesicht in die ringbeschwerten Hände, sie beobachtete ihn mit schlaftrunkener Zärtlichkeit: »Wie schmeckt es, mein General?« –
Nachher, in dem teppichverhangenen Kabinett, in das sie ihn geleitet hatte, reichte sie die lange, silberne Pfeife: »Rauchen wir!« – wobei sie sich dehnte und reckte, daß an Busen und Frisur Geschmeide klingelte. Sie handhabte die Pfeife mit bedachter Anmut, wie ein Schäfer seine schönste Flöte.
»Ich habe noch nie geraucht«, behauptete Alexander, immer noch etwas störrisch, obwohl er viel gegessen und getrunken hatte. Sie wiegte sich, daß es ihn bezaubern sollte. »Mein General!« bettelte sie mit gurrenden Kehlkopf lauten. »Es wird Ihnen gut tun, mein Hephaistion.«
Daß sie ihn Hephaistion nannte, schmeichelte ihm wieder und verwirrte ihn angenehm. »Ich will nicht«, widersprach er nur noch sanft. » Du bist nicht du«, sagte sie plötzlich; worauf er das Gefühl hatte, als wiche der Boden ihm unter den Füßen.
Mit runden und vollendeten Bewegungen röstete sie das bräunliche Gift über der kleinen Flamme, die in einem Lämpchen brannte. Das Präparat roch köstlich, mit silbernen Instrumenten tat sie es in die Pfeife, an der er, über die Flamme gebeugt, mit aller Kraft ziehen mußte.
Nach dem ersten Zug glaubte er, daß ihm übel würde; aber er hörte tröstend ihre sonore Flötenstimme: »Es ist harmlos«; dabei legte sie ihm die kühle und fleischige Hand auf seine glühende Stirne. »Mach die Augen zu!« riet sie singend. Er behielt sie lieber halb offen, denn er sah gern über sich ihr großes Gesicht mit den breiten mattweißen Wangen, den schläfrigen Augen, dem breiten, unanständig halbgeöffneten Mund.
»Bist du gerne nicht du?« fragte sie lüstern.
»Sehr gerne«, lallte Alexander, der ins Bodenlose sank.
»Wollen wir zusammen schlafen?« fragte sie und winkte mit den verhangenen Augen. »Ich schlafe nicht mit Frauen«, wehrte sich der falsche Hephaistion. »Du nicht«, neckte sie ihn, »aber schon du – nicht du, weil nicht du – doch du schon, oh, wie sehr –«
Der feuchte Kuß, mit dem sie seine Antwort erstickte, roch nach Gewürzen. »Küsse mich nicht so fett!« grollte er noch. Aber jetzt hatte er die Augen geschlossen.
Aus der Silberpfeife nahm er ein paar tiefe Züge, da wich die Decke, auch die Wände gingen auseinander. Kreise und Figuren kamen ihm aus einem träumerischen Blau entgegen.
Was die drei Greise gelehrt hatten, wurde auf unentrinnbar süße Art lebendigstes Abenteuer. Bei ihnen war Flucht möglich gewesen; hier war es dafür zu spät.
Der Kampf des Ichs galt nicht mehr, welche Seligkeit, sich fallen zu lassen. Vor allem galt die Tat nicht mehr, wenn die Tat etwas war, dann Sünde. Sie entfernte von der Erkenntnis; aber mit den verführerischen Traumgesichten strömte aus der bewegten Dunkelheit Erkenntnis auf ihn ein, freilich eine sehr ungenaue und allgemeine, doch war es die, die zum Innersten des Weltalls führte, das die ahnungsvollen Inder Brahman nannten.
»Nicht du, weil nicht du – doch du schon, oh, wie sehr –«, gurrte mit Kehlkopflauten über ihm Kandake. Er sank kraftlos in ihre weite Umarmung, die sich kühl und weich um ihn schloß.
»Sie hat mir den indischen Liebestrank eingegeben«, dachte, während die Sinne ihm schwanden, der benommene Alexander. »Mit dem hat die Königin Kandake schon den Herakles und den Dionysos besiegt –«
Sie bat ihn, die Silbe Om zu sprechen; er tat es, denn er wollte dem großen Rausche der Erkenntnis so nahe wie möglich kommen. »Om – Om – Om – Om –«, lallte er monoton, hundertmal. Er verlor das Bewußtsein, mit dem er sonst lebte; dafür näherte er sich einem anderen, grenzenlosen, von dem er ein Teil ohne Namen wurde.
Auflösung in den Wind, hieß die Lehre; zum Bestandteil werden, zur Ruhe kommen – –
Wie endete dieses unmoralische Märchen, das die Seligkeit des aufgegebenen Bewußtseins bot? Kam nicht ein groteskes Nachspiel, an das man sich später nur noch ungenau erinnerte?
Einer drang ins Gemach, es war der jüngere Sohn Kandakens, Karakter. Was wollte er? Es schien, daß er ein Freund des besiegten Fürsten Poros war, denn er wollte, diesen zu rächen, den General des Alexander töten. Floß Blut, oder wäre es nur beinah geflossen? Breitete die Königin ihre Arme, klirrte Metall, stürzte Kandaulus herbei, den bedrohten Fremdling zu retten, der sich augenscheinlich selbst nicht wehren konnte?
Wie entkam man? Wie empfing einen die kühlere Nacht? Und wie erreichte man das Lager, das Zelt, wo der verkleidete Alexander niedersank, beseligt, weil zum erstenmal besiegt?
Am nächsten Morgen erwachte Alexander mit schmerzhaften Gewissensbissen. Was er sich gestern nacht gestattet hatte, war gerade das gewesen, was er sich niemals hätte gestatten dürfen.
Vor allem Hephaistion gegenüber fühlte er sich schuldig: hatte er nicht seinen Namen und seine Freundschaft abscheulich mißbraucht? Gerade deshalb ärgerte ihn der stille Vorwurf, mit dem der andere ihm begegnete; er machte ihn trotzig.
»Ich habe mich unbedingter denn je auf mich selbst zu besinnen«, sagte er sich mit Härte.
So berief er die Heeresversammlung, um ihr mitzuteilen, was sein Wille sei. »Wir ziehen weiter«, erklärte er in kurzer und merkwürdig aufgebrachter Rede. »Uns erwartet noch der ganze Orient: das Ganges-Land mit beispiellosen Schätzen, dahinter China, dahinter das Ende der Welt. Die Grenzen dieser Erde werden unseres Reiches Grenzen sein. Wir haben noch viel zu erobern.«
Er sprach enthusiastisch wie je, auch sein Blick strahlte; aber die instinktsicheren Truppen merkten, daß er entkräftet war. Dies Leuchten seines Blicks war fiebrig, er reckte sich mit übertriebener Geste. So wagten sie Widerspruch, Murren antwortete seinem Vortrag.
Noch weiter? Immer noch nicht nach Haus? Was kümmerte sie das Ende der Welt? Sie murmelten, daß sie genug gesehen hätten. Was ginge sie der Ganges, und was China an? Er schrie wütend: »Wer spricht hier?« Da antworteten sie alle zusammen: »Wir – wir – wir!«
Daß die Gemeinschaft, die er als dumpf verachtet hatte, jemals stärker sein könnte als er, der Einzelne, der die Passion und den Willen hatte, schien ihm unglaublich. Was er hier, angesichts dieser unbotmäßig johlenden Menge, erlebte, bedeutete ihm die direkte Bestrafung für die unerlaubte Lustbarkeit, die er sich die Nacht vorher gegönnt hatte.
So widersprach er nicht mehr, zog sich wortlos in sein Zelt zurück, um nicht mehr zum Vorschein zu kommen.
Diesmal merkten die Soldaten, daß sie die Stärkeren waren, sogar, daß er sich ihnen drei volle Tage nicht zeigte, ertrugen sie. Er mußte nachgeben, verzichten, sich ihnen fügen. Das war beispiellos, er tat es mit knirschenden Zähnen.
Der Hyphasisstrom, der für neue östliche Züge Ausgangspunkt hätte sein sollen, wurde der Endpunkt. Hier wendeten sie.
Auf den Flüssen sahen die frommen und geduldigen Einwohner, die auf den Reisfeldern arbeiteten, Schiffe, die mit bunten Segeln überraschend wirkten. Sicher waren es ihrer tausend. Manche waren als Kriegsschiffe bedrohlich eingerichtet, andere unbedeckt, zum Transport der Pferde. Alle, die in den Schiffen wohnten, mußten bewaffnet sein, man hörte Klirren von Schwertern, Lanzen und Schilden.
So zog die wilde Jagd, die teuflisch Unglück bringende, bunt und klirrend die Ströme hinunter, dem Meere zu. So rasselten sie, die Nichts-als-Bösen, dem Ozean entgegen, der sie verschlingen mochte. Die frommen und geduldigen Einwohner schauten von ihren Reisfeldern aus schauerlich berührt hinter ihnen drein; sie legten die Hände als Schirm vor die Augen und wendeten entsetzt die bräunlichen, sanften Gesichter.
Sie wußten von so viel Fürchterlichem, was diese blutrünstigen Gesellen im großen und friedlichen Lande ringsum angerichtet hatten. Wieviel gute Elefanten waren an ihren vergifteten Pfeilen gestorben. – Kopfschüttelnd sahen die Frommen und Arbeitsamen in ihren weißen Hemden den Schiffen nach, die stromabwärts schwankten. Manchmal hüpften und bebten sie, daß es gräßlich wurde anzusehen; das war, wenn sie über Strudel und Stromschnellen fuhren; aber sie kamen immer wieder davon. Diese mußten übernatürliche Kräfte haben.
Ihr junger Führer war ohne Frage ein Göttersohn, nur ein böser. Man erzählte sich, daß er mit den Augen töten könnte. Seine Augen hatten ein todbringendes Leuchten, sie schienen aus kreisenden Ringen zu bestehen – aus roten, grünen und schwarzen. Es mußte grauenhaft sein.
Wenn man ihn zu haben glaubte, entwich er mit Lärm und Zaubergewalt; so war es zum Beispiel in der Hauptstadt der Maller vorgekommen. Dort war er plötzlich von der Stadtmauer mitten auf den Marktplatz geflogen, wo man ihn umringte und ihn zu überwältigen dachte. Er aber knirschte mit den Zähnen, daß es klang, als schlüge man fünfzig Schilde gegeneinander, er funkelte, spreizte sich, tötete einige mit den Augen, flatterte scheußlich davon.
Diese Geschichte hatte sich, von der mallischen Hauptstadt aus, im ganzen Lande verbreitet. Ein böser Gott, ohne Zweifel. Seitdem wagte niemand mehr, ihn anzugreifen, obwohl manche dazu rieten, vor allem die Priester. Denn sie waren es, die ihn besonders haßten. Sie beschworen vergeblich das Volk, ihn zu strafen und zu überfallen; es fürchtete sich.
Alexander gelangte mit seiner Flotte ungehindert die großen Ströme hinunter, zum Meer.
Die Soldaten besprachen sich abends am Feuer.
»Alexander hat die Fahrt in diesen unbekannten Ozean fast alleine gewagt. Nur ein paar Matrosen sind bei ihm.«
»Was sucht er im Ozean?«
Es war der junge Blonde, der antwortete: »Er sucht das Ende der Welt.« Sie nickten erschüttert.
»Er wird mit Ungeheuern kämpfen müssen«, meinte einer. »Es soll Meerdrachen geben.«
»Aber er ist stärker als sie«, beschloß vertrauensvoll der junge Blonde.
»Dieses Meer ist anders als alle anderen Meere. Es ist das Weltmeer. Kein Grieche noch hat es befahren.«
Und wieder der junge Blonde, mit einer Stimme, so hell, daß alle sich nach ihm hindrehten: »Er ist mehr als ein Grieche. Sein Vater, der in der Oase haust, wird ihm helfen, daß er übers Wasser wandeln kann.«
Sein Gesicht strahlte vom Glauben so sehr, daß sie alle hinüber zum Ozean schauten. Sie glaubten ihren König, hinten am Horizonte, wandeln zu sehen.
Demselben Horizonte reiste Alexander entgegen. Nach zwei Tagen baten die Matrosen, umkehren zu dürfen, der Proviant würde knapp; er aber schüttelte den Kopf: »Wir sind dem Horizont noch nicht näher gekommen.« Sie berieten sich flüsternd: Ob wir gegen seinen Willen das Schiff wenden? Aber da sah er sie an, bis sie merkten, daß sein Schmerz, sein Zorn und seine unerbittliche Neugierde schlimmer und gefährlicher waren als alle Unruhen dieses Meeres.
Er stand am Bug, die Hände auf den Rücken gelegt, mit der trotzig gesenkten Stirn, als stemme er sie gegen eine undurchdringliche Wand. So starrte er hinaus und hinüber zum Horizont.
Der änderte die Farbe; das nützte nichts, denn er kam nicht näher. Von blauer Tiefe erblaßte er zum Perlmuttergrau; er verfinsterte sich, verbarg sich im wogenden Schwarz, um nach den trostlosen Stunden des Wartens seine kalte, hellblaue Linie wieder aufsteigen zu lassen. Aber er war nicht näher gekommen.
»Er ist nicht näher gekommen«, stellte der am Schiffsbug erbittert fest.
Kamen schnappende und scherzende Seeungetüme, seine Einsamkeit zu necken? Aber er blieb störrisch und lächelte nie. Ihm spielten die Wolken ihre hübschesten Spiele vor; gruppierten sich rosig, bildeten Treppen und Tore, als lüden sie ihn ein, aufzufliegen, sich bei ihnen niederzulassen. Er flog nicht, obwohl er es bestimmt gekonnt hätte.
Da das Meer ihn nicht verführen konnte, drohte es ihm. In der Nacht kam Sturm auf, die schwarzen Wellen warfen das kleine Schiff, schlugen über das Deck, der Schweigende mit der Trotzstirne stand salzig durchnäßt, es hätte ihn beinah hinweggespült, aber er rührte sich nicht.
Er starrte in die Unendlichkeit, die sich wild gebärdete. »Das Grenzenlose ist mir aufsässig«, sagte er höhnisch zwischen den Zähnen. »Es will sich nicht von mir bezwingen lassen, es bäumt sich vor Haß. Es fügt sich mir nicht; was habe ich dann erreicht?« – – –
Nach sechs Tagen sahen die am Ufer, die den König schon verloren gegeben hatten, das Schiff mit den braunen Segeln endlich wiederkommen. Aus einem abendlich beruhigten Meer tauchte es auf, eine stille, traurige Erscheinung. Seine Konturen zitterten silbrig, gegen den feierlichen, blaß verklärten Himmel standen die braunen Segel. Langsam und unbewegt kam es näher. Bei seinem Anblick mußten die am Ufer weinen, ohne zu wissen warum.
Der auf dem Deck in einem Winkel kauerte, hatte blutig unterlaufene, todmüde Augen. Sie erkannten ihren König kaum. Sein Haupt war nach vorne gesunken.
»Er hat wieder nicht gefunden, was er suchte«, erzählten mit scheuen Flüsterstimmen die Matrosen. »Mit uns hat er die ganze Zeit nicht gesprochen. Aber mit anderen, die wir freilich nicht sahen.«
Ein paar Tage später berief Alexander die große Heeresversammlung. Er verkündigte seinen Willen.
»Ich habe beschlossen, für den Rückzug meine Armee in zwei Teile zu spalten. Ich nehme mit der einen Hälfte den Landweg über das Land Gedrosien: mein Admiral Nearchos wird mit der Flotte über den Seeweg heimkehren.
Es gilt viel zu erfahren. Zwischen der Indusmündung und der Mündung des Euphrat muß eine Verbindung möglich sein. Diese Verbindung wollen wir der Menschheit schenken. Ein Stück weniger dieser Erde wird unbekannt, ein Stück mehr von uns erobert sein.«
Zunächst gab es noch Myrrhenbüsche, die in der Sonne stark dufteten. In der Nähe der Flüsse und kleinen Seen gedieh die Tamariske und die Nardenwurzel. Hier lebten noch Menschen, wenn es auch nur die stumpfsinnigen Ichthyophagen waren.
Wie sie hockten und lallten, waren sie ärmer und verkommener als verreckende Tiere. Sie nährten sich von stinkendem Fischfleisch und von faulem Wasser, ihre Hütten waren aus Fischgräten gebaut. Den Weg weisen konnten sie nicht, fragte man sie, grinsten sie blöde. Die Begabteren von ihnen wiesen mit einer idiotisch zittrigen Gebärde in die Öde hinaus. – Ihre Gesichter waren ekelhaft, man schaute sie besser nicht an. Daß menschliche Kreatur so erbärmlich sich erniedrigen konnte, entsetzte die hellenischen Soldaten.
Sie ließen diese übelriechenden Hütten hinter sich; nun erst begann die Hölle des Sandes.
Diesmal war es wirklich die Hölle, durch die ihr König sie führte. Es war in Baktra schlimm gewesen; auch in Indien, als die Wolkenbrüche kamen. Hier aber war der Aufenthalt der Verdammten.
In die Unendlichkeit des Sandes starrte Alexander mit derselben hoffnungslosen Gier, mit der er in die Unendlichkeit des Wassers gestarrt hatte. Diese Ewigkeit foppte ihn so unbarmherzig, wie es die andere getan hatte. Auch dieser Horizont entwich.
Er flirrte gelblich-rötlich, lastete bräunlich am Abend, entschwebte tiefblau zur Mitternacht. Die Wüste schlug violette Wellen, sie rauschten auch, leise, aber durchdringend. Aus den scharfen, schwarzen Schatten, die sie warfen, schauten abscheuliche kleine Raubtiere mit hinterhältig-friedlichen Augen. Größere Tiere, sanft und langbehaart, trabten in Rudeln über die Fläche. Den grün-gläsernen Himmel durchwanderte ein rosig silberner Mond.
Mit starkem Rauschen kam ein Wind daher, ein Wüstenwind, der großen Flügelschlag wie Meereswind hatte. Durch die erstarrte Landschaft ging Schauern. Der Sand rieselte. Die bösen kleinen Tiere winselten, die langhaarigen Sanften trabten geschwinder davon.
»Noch nicht genug in die Unendlichkeit gestarrt?« flatterte und höhnte der Wüstenwind.
Da Alexander nicht antwortete, rauschte er, daß es wie großes Gelächter klang: »Du bist sogar in der Hölle noch hochmütig, Halsstarriger. Weißt du denn nicht, wo du bist?«
Vom Horizont her echote es, Tiere winselten mit. Im grünen Himmel war der Mond verschwunden, die langhaarigen Sanften waren aufgestiegen, sie formten die klagende Wolke, in der der Mond sich verbarg.
»Halsstarriger Narr!« rauschte, schon im Davonfliegen, der Ewigkeitswind. Die Landschaft lag wieder starr; nur, da der Mond nicht mehr schien, in einem noch blasseren, grüneren und kälteren Licht.
Gingen diesem Halsstarrigen und höchst Widerspenstigen auf seinem klapprigen Roß endlich die Augen auf? Sie hatten so lang nichts gesehen, vor lauter Starren zum Horizont.
Seit wann waren seiner Armee die Eßvorräte ausgegangen, seit wann die Wasserschläuche leer geworden? Wie viele waren in diesem Sande geblieben? Die Hälfte oder ein Dreiviertel seiner Truppen?
Hatten sich unter den Kamelen Männer gewürgt und geprügelt um das Vorrecht, den Urin des Tieres trinken zu dürfen? Hatten andere, die verrückt geworden waren, sich Sand in den Mund gestopft, gespuckt, gejohlt und gelacht?
Überall Stöhnen, Jammern, Hinsinken und Verrecken. Großes Stinken, Austrocknen und Verrecken, überall unter der sengenden Sonne. Freilich, nicht umsonst hatten am Eingange zur Ebene der Verdammten die zwergigen Ichthyophagen ins Öde gegrinst und gedeutet. Sie waren, diese kleinen Haufen Unrats, die letzte Warnung gewesen. Man war an ihnen vorbeigeritten. Die Wüste Gedrosien, hatte man gedacht, wird sie ärger sein als andere Wüsten? Laß doch sehen, Wüste Gedrosien!
Dem Halsstarrigen auf dem verschmachtenden Roß sank der Kopf. »Das ist das Paradies, zu dem ich aufgebrochen bin.«
Seine Augen begegneten den zu Tode ermatteten eines anderen, der im Sand lag. O Wunder: die Augen in diesem verhungerten jungen Gesicht leuchteten, wo alle übrigen klagten.
»An was denkst du, daß du dich freust?« fragte Alexander, der sein Pferd halten ließ.
Der junge Blonde konnte nur noch flüstern, Lippen und Zunge waren ihm vertrocknet. »Ich glaube«, flüsterte der junge Blonde.
Alexander, näher zu ihm gebeugt: »Aber du stirbst ja –«
Der junge Blonde nickte und lächelte. »Du bist auf dem Wasser gewandelt«, flüsterte der Verklärte. »Du wirst sie aus der Hölle – in deine Hauptstadt – heimführen.«