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XIII.
Has juvenum lachrymis ...

Sie holten sich Kleider und Wäsche, fuhren zum Bahnhof und erreichten in der Nacht noch Mailand. Sie waren in ihrem Coupé allein gewesen, und sie zögerten, sich unter Menschen zu wagen. »Wohin«, meinte Claude. Es ging bald ein Zug an den Gardasee. Gilda, in Claudes Mantel und das Gesicht darin versteckt, schlummerte unruhig auf einer Bank im Bahnhofsrestaurant. Als sie den Wagen bestiegen, schüttelte sie sich heftiger. Es war kalt, draußen prasselte Hagel. Sie sei matt wie noch nie, klagte Gilda.

»Warum bist du gestern abend im leichten Spitzenkragen in den Sturm hinausgefahren?«

»Ich weiß nicht, mir schien's, ich müsse schwarz gekleidet sein«, erwiderte sie, ganz bleich und den Blick zum Erschrecken weit.

Der See stürmte im grauen Morgen. Die Röte des Himmels färbte langsam seine Wogenkämme, machte sie zu lauter roten Lippen, die sich begehrlich wölbten.

»Gib deinen Mund«, verlangte Claude. »Wie er glüht! Und deine Hände sind kalt ...«

Sie antwortete nicht. Sie sah ihn immer groß an, sehnsüchtig und seltsam nachdenklich. Es kam ihm vor, als lebte sie nur mit den Augen und mit ihren stummen Lippen. Er empfand Furcht.

Der Nebel stieg vom Ufer, ein Kap trat vor mit einem Dickicht von Zypressen, und darin eine Pfeilerhalle. Gilda sah hin; unter einer Eingebung, eilig, flüsterte sie:

»Wir wollen ans Land gehn.«

Der Dampfer stoppte; ein kleines Boot trug sie in den Hafen. Der halbrunde Perron, an dessen Stufen das Wasser schlug, lag in Trümmern. Die Heiligen Markus und Vigilius, mächtig in flatternden Gewändern, schirmten den demütigen Fischer Benacus, in einer Nische am Palast. Die Fassade, niedrig, dreiteilig, um den Hafen herumgestellt wie ein Windschirm, war brüchig und grau. Aber in den Marmorfenstern standen hölzerne Rahmen, in den Zimmern waren hölzerne Dielen gelegt und Öfen gesetzt. Das Gasthaus war noch unbewohnt; niemand kam im Januar nach San Vigilio.

Es brauchte viel Zeit, die nie geheizten Räume zu erwärmen. Die Ankömmlinge speisten. Gilda, mit der Stirn an einer Fensterscheibe, gestand ein rätselhaftes Unwohlsein.

»Du zitterst immer vor Frost, und deine Augen sind fiebrig. Ich führe dich ins Schlafzimmer.«

»Nicht zu Bett.«

»Doch. Morgen ist alles gut.«

»O nein, keine Zeit verlieren.«

Sie lachte erregt.

»Wir müssen die Sonne genießen, uns liebhaben, draußen, in dem Rest Sonne.«

Sie traten vor die Tür. Wie stolz und wie schwermütig setzte der zerbröckelnde Palast seine Stufen ins Wasser. Es erschauerte nur noch leise unter einer letzten Liebkosung des Windes. In einem starren Bogen schritten Zypressen um das Ufer her. Aus dem Garten des Palastes drängten hohe Pflanzen sich über die Mauer. Gilda sah hinauf.

»Die schönen Myrten! Und dahinten hängen Zitronen ... Was steht auf der Tafel in der Mauer?«

Es umschlang sie Efeu; Claude entzifferte zwischen den Blättern die lateinischen Verse.

»Diese Myrten und Zitronen pflanzte Venus selbst und ließ sie blühen. Mit den Tränen junger Menschen begoß die Liebe sie selbst. Süß und bitter zugleich, eisig und glühend wachsen die Früchte. So wächst in unserer Brust die Liebe.«

»Mit den Tränen junger Menschen«, wiederholte Gilda, während sie weitergingen ... »Auch damals.«.

Sie senkte den Kopf. Sie verließen die Landzunge, durchschritten den Zypressengang, schmal und durch den See hinziehend wie ein Fahrzeug. Sie bogen in die Straße nach Torri. Claude erhob, indes er einen seiner Arme um Gilda drückte, den andern nach dem Fluß des Olivenlaubes, sanft schimmernd über den Hügel hin; nach den engen, braunen Wellen der Äcker. Große schwarze Zypressen brachen drunten in die weichblaue Fläche des Sees. Dies Blau war von entnervter Leidenschaftlichkeit, hingerissen, erstickt schluchzend, tragisch und süß.

»Mit den Tränen junger Menschen ... Warum fällt mir eine Geschichte ein, die unlängst Silvio mir erzählte.«

»Der Delegato?«

Sie sahen sich an, beide erschrocken.

»Er hat ein Liebespaar aufgefunden, das geflohen war. Man wollte ihrer Liebe nicht wohl. Sie hatten kein Geld, die Stadt zu verlassen. Sie haben sich in einer Dachkammer eingeschlossen, niemand wußte von ihnen. Manchmal vor Tag ist eines von ihnen fortgeschlichen, um ein paar Kohlblätter zu sammeln von der Straße. Sie haben nicht gemerkt, wie sie abmagerten und gelb wurden. Sie haben den Schmutz nicht gesehn, der sie bedeckte, haben die verpestete Luft nicht gerochen. Sie wußten nichts von ihrem Elend, fühlten nichts, als daß sie sterben durften, während sie einander in den Armen lagen.«

»Das ist Liebe«, sagte Claude. »Und nur das.«

Hundert Schritte weiter sagte Gilda:

»Süß und bitter zugleich, eisig und glühend ... Unsere Herzen haben zu schroffe Wechsel erlebt, Claude. Können sie noch gesund werden?«

Sie atmeten gleichzeitig auf, mühsam, inmitten des strickenden Blaus von See und Himmel. Claude zweifelte:

›Ich gehöre ihr nicht. Ich war ihrem Zauber ergeben bis an die Schwelle des Verbrechens. Aber da zerbrach er ... Sie denkt an den Toten. Wie ist jeder von uns allein.‹

Und er ließ sie los.

Das Ufer bog sich, die Straße fiel jäh ab, und am weißen Strande dämmerte ein Olivenhain, in der Tiefe und in der Ferne. Eine odysseische Klage zog herauf. Eine Frau mußte dort gestanden haben und über das Wasser einem nachgerufen, der fortgefahren war.

Gilda dachte an den Geliebten, von ihr selbst zur ewigen Finsternis geschickt.

Darauf kehrten sie um. Es dunkelte schon. In der weiten Stille fühlten sie sich starr und allein. Ihre Augen, und es war ihnen, als seien es Geisteraugen, schauten hinter den Abendschleiern nach Fabelspielen. Aus einem Olivenstamm streckte sich ein wilder Kopf heraus. Ein Baum, gespalten, war verwandelt in den lautlosen Kampf zweier Männer.

›Abenteuer an einer Straße‹, erinnerte Claude sich, ›das ist die Liebe mit Gilda. Wie viele von ihren großen Gesten, von ihren Hingerissenheiten, ihren wilden Flüchten ins Rote, wie viele erlebten wir zusammen! ... Ich habe das Verbrechen, das sie forderte, nicht begangen. Aber ich habe gekämpft um die Tat, ich habe einen Weg finden müssen um sie herum. Ich habe schlimmere Ängste ausgestanden als einer, der unbedenklich hindurchgerannt wäre. Ich liebe Gilda kraft schlimmerer Ängste!‹

Er riß sie an sich, hüllte sie in seinen Mantel. Sie zitterte, stammelte fieberhaft.

»Ich habe keinen je geliebt als dich, glaube es, Claude, keinen. Hätte ich ihn sonst getötet? Um dir gehören zu können, tat ich's. Nur dir allein.«

Sie umklammerte ihn fester, hängte sich an ihn, einige Schritte mußte er sie schleifen.

»Und du bist mein! Sag's? Oh, zu vieles haben wir miteinander durchgemacht. Süß und bitter zugleich, eisig und glühend; das macht reifen. Solch eine Liebe vergißt du nicht, der entrinnst du nicht mehr. Weißt du wohl, daß wir zusammen sterben müssen, wie jene in der Dachkammer?«

Sie lallte Fieberworte, sie zitterte und flog; Claude stolperte. Sie waren wieder in dem schmalen, erhöhten Zypressengang, zwischen diesen Friedhofsbäumen, deren Reigen durch den fahlen See hinzog wie ein Schiff. Und Claude fühlte sich auf dem Schiff, das Manon bis an jene Wüste trug. Er saß zu ihren Füßen, sie starrten ins Blau, in das Nichts, das sie berückte. Er gehörte ihr, seit er sie erblickt hatte. Er hatte für sie seiner Familie und seinem Stand entsagt, war Spieler und Dieb geworden. Nun trieb er dahin, losgelöst vom alten Lande, von allen Gesetzen, allen Gemeinschaften, ausgestoßen und durch Armut, Verbrechen, Verworfenheit, an sie geschmiedet. Ihre Fahrt endete nun in jener von Manons Sterben ganz rot bestrahlten Wüste.

Er brachte sie zu Bett. Sie gestand endlich ihre Schmerzen, die Schwellungen an Knien, Händen, Schultern. Sie wand sich, als er ihre Hüfte berührte. Er fand ihre Gelenke aufgeschwollen und blaß. Unter den Decken wurden sie rot. Ihre Fieberhitze nahm zu, der Puls klopfte schnellend.

Claude ging hinaus, er schickte jemand, nach einem Arzt. Bei der Rückkehr blieb er vor ihrer Tür stehen, lehnte sich gegen den Pfosten, bedeckte die Augen. Jetzt starb sie, und jetzt, jetzt liebte er sie! In dieser Stunde mochte sie die Tat verlangen: er würde stehlen können. Er log nicht mehr, während sie ihn liebte. Auch er liebte. Er gehörte ihr, endlich und auf immer. Aber sie starb.

Er trat ein, er beugte sich über sie. Sie wand ihm unter Schmerzen die Arme um den Hals. Er empfing die angstvollen Stöße ihres Atems in seinem Gesicht, rötete sich unter ihrer Hitze, erblaßte vor Schreck bei den Sprüngen ihres Herzens. Die Lampe brannte hinter ihnen; und zuweilen sahen sie voneinander weg, gradaus ins Dunkel, beschwörenden Blicks, als heischten sie von einem, der dort wartete, Geduld und Aufschub ... Verzweifelt kehrten ihre Augen zueinander zurück.

Als es dämmerte, kam der Arzt. Er erkannte den Gelenkrheumatismus, verkündete ihn, und wollte die Umstände wissen, die ihn herbeigeführt hätten. Claude zuckte die Achseln. Gilda fragte plötzlich:

»Ist eine Zeitung da?«

Der Doktor meinte, sie phantasiere. Er gab zunächst ein Beruhigungsmittel und unterrichtete Claude davon, daß die Erregtheit des Gehirns und des ganzen Nervensystems unter dem Einfluß der Krankheit sehr wohl in geistige Störung mit furibundem Charakter ausarten könne. Übrigens bemerke er dumpfe Herzgeräusche. Eine Art Blasebalggeräusch deute den Beginn einer Herzentzündung an. Die Krankheit sei lange unbeachtet gelassen, sie habe sich gefährlich ausgedehnt.

»Sehr gefährlich?« fragte Claude und fand die Frage unnötig.

»Wir wenden kaltes Wasser an«, erklärte der Arzt.

Am Morgen schlummerte Gilda. Nach zwei Stunden merkte Claude, daß sie ihn ansah. Sie lächelte, weil sie bei ihm gewesen war, wach und liebevoll, ohne daß er's wußte. Er kniete vor sie hin, küßte ihre Hand. Gilda beugte ihre Lippen auf seinen Scheitel. Sie fiel gleich wieder ins Kissen, erschöpft, blaß, liebend und bezaubert. Claude unterschied nicht: war sie gerettet oder starb sie im nächsten Augenblick? Aber er erwiderte ihr Lächeln in einem gefesteten Glück. Denn Leben oder Sterben gehörte ihnen nun gemeinsam, sie waren dessen gewiß. Zum erstenmal liebten sie sich ohne Angst, ohne die tiefe Angst, die alle ihre Umarmungen durchjagt hatte. Sie waren beruhigt, rein, allen Stürmen entronnen, bereit, einer in des andern brechenden Blick seinen letzten Gedanken zu tauchen.

Plötzlich trompetete ein Dampfer; sie fuhren auf. Claude sah sich enttäuscht um, wartete. Sie waren nicht gestorben, ihre Liebe war nicht erlöst. Grausamkeiten würden ihre Liebe wieder anfüllen wie mit Eiter.

Gilda nötigte Claude, endlich zu ruhen. Auch sie wolle noch schlafen. Als er wiederkam, träumte sie zur Decke, hörte ihn gar nicht. Ein Zeitungsblatt lag entfaltet auf dem Boden. Claude erblickte das Bildnis des Delegierten der öffentlichen Sicherheit. Er las einige Zeilen des Artikels zu seinem Ruhme. Man pries ihn als gefallenen Helden; von Gilda stand nichts da.

Sie sprachen nicht darüber. Gegen Abend trat wieder das Fieber in Gildas Augen. Der Arzt war unzufrieden, er verschärfte die Anwendungen von kaltem Wasser. Nachts phantasierte sie, ihre herausgestoßenen Worte wiederholten den Auftritt vor dem Tor von San Frediano, auf dem Gartenplatz zwischen den Vignen. Claude sah, im roten Licht der gestürzten Papierlaterne, den Delegato umfallen, und die Gesichter der Leute, und Gilda, die sich über ihn warf. Sie schluchzte auf ihm – ja, sie schluchzte echt, die Frau im Bett, die fieberte und die dem Toten gehörte! Claude, geschlagen, sank auf einen Stuhl.

Gildas Delirien kehrten wieder, wochenlang. Zu mancher Tagesstunde verging sie weiß, gelinde und zärtlich an Claudes Hals. Aber des Nachts, in wilden Schreien, war sie bei dem andern. Sie flehte zu ihm um Verzeihung, wollte im Bette hinknien, versprach sich ihm für immer, rief seine Hand an, sie zu töten. Sie war bei seiner Leiche, trug sie auf ihren Armen, wollte mit ihr fliehen; dann entsetzte sie sich über die Verwesung, schrie auf bei der Berührung ekelhafter Tiere, die aus dem Körper des Geliebten hervor, ihr über die Hände liefen ... Claude hoffte nichts mehr, er ward müde. Seine Kraft spannte sich ganz plötzlich ab, er versank in Erschöpfung, jäher und tiefer als früher, mußte sich zuweilen hinlegen, um atmen zu können, betrachtete gleichgültig seine wieder erschlafften Gesichtsmuskeln und empfand kein Verlangen, aus der um sich greifenden Verödung noch einmal herausgerissen zu werden.

Nach vier Wochen, zu Anfang März, besserte sich Gildas Zustand, sie konnte aufstehn. Es ging Südwind, unter blauem Himmel; der Arzt empfahl eine Fahrt auf dem See. Sie fuhren nach Riva. Gilda saß in Decken gewickelt, sah an den Ufern hin. Claude las aus dem Reisehandbuch vor. Eine Verlegenheit war zwischen ihnen. Gilda fragte plötzlich:

»Wovon hab ich denn im Fieber geredet?«

»Ich konnte wenig verstehen.«

Und Claude wandte den Kopf weg von dem Dritten, der auf Gildas anderer Seite saß, ein Gespenst, dem sie vielleicht zulächelte.

»Es ist doch schön, daß ich noch lebe«, sagte sie an diesem Tage einmal. Er flüsterte nur: »Gilda.«

»Ach du – du bist nicht schuld, wenn ich noch da bin.«

»Ich?«

»Ja, du. Warum hast du mich nicht zurückgehalten, damals von der verrückten Partie, bei der ich mich erkältet habe. Dann wäre auch jener noch am Leben. Warum mußte ich ihn umbringen lassen, das versteh ich nicht mehr. Es muß auch schon krankhaft gewesen sein. Er war ja ein Held in seinem Beruf.«

In Riva ging die Sonne früh hinter den Berg; sie machten, um sie wiederzufinden, eine Spazierfahrt nach Varone. An der Straße, schon im Schatten, badete ein Bach die Wurzeln zarter Büsche, entlockte ihnen, wie im Spiel, ihre feinen Düfte. Dann hörte man von fern ein Gemurmel wie von tausend Stimmen, eine feierliche Anrufung dieses ringsum von Bergen eroberten Himmels. Aus dem Schoß der Berge, mit der Stimme des Wasserfalls, drang das mystische Verlangen – wohin, nach wem. Gilda seufzte; Claude fühlte, nicht um ihn.

Sie ruhten im Gasthaus; es dunkelte, als sie den Weg zur Kaskade antraten. Sie drangen in den Berg. Am Eingang blieb Gilda stehen, den Kopf zurückgelegt, die Hände offen, als erwartete sie, gebannt, daß diese finstergrünen Massen sich auf sie senkten ... Aber etwas Mildweißes, Kühles floß über ihre Stirn. Ein Mondstrahl, durch dichte Tannen gefiltert, traf aus unbekannter Höhe die Stirn der schwachen, phantastischen Liebenden. Claude sah zu, wie sie die Botschaft empfing. Sie würde dennoch sterben, sie gehörte dem Toten.

Das Innere des Berges strahlte elektrisch. Der Fall toste, eine enge Brücke führte darüber weg. Claude ging voran, Gilda berührte seine Hand mit Widerstreben. Er spürte mit den Fingern ihr Mißtrauen. Er hatte den Steg fast schon überschritten, da schrak sie auf, tastete sich, rückwärts schreitend, schaudernd, die Augen überfüllt mit Angst, ans Ufer zurück: ganz mit sich allein. Claude, drüben und allein, wendete sich um. Und an den beiden Enden des zitternden Brückchens, durch Gischt und Prasseln getrennt, und unter dem Rest Nachthimmel, den die schräg zusammensteigenden Felsen erstickten, wechselten sie den traurigsten Blick ihres Lebens.

Gilda gelangte tags darauf mit Mühe nach San Vigilio zurück. Sie ward ohnmächtig ins Bett getragen. Ihre Hitze wechselte mit Frösten. Sie lag Tag und Nacht, mit kleinem, raschem Puls in stillen Delirien. Der Arzt gab das kalte Wasser auf und versuchte es mit warmem, sichtlich ohne zu wissen, warum. Die Gelenke schwollen ab; aber Gilda sank unter Schweißausbrüchen unaufhaltsam zusammen. Sie weigerte sich, Nahrung anzunehmen, fand eine Genugtuung in der eigenen Schwäche und daran, den Mann neben ihrem Bett fühlen zu lassen, sie gehe ihn nichts an, sie sei allein.

Sie schickte ihn hinaus. Dann ließ sie ihn hereinholen und erzählte ihm mit der kindlichen Stimme einer Geopferten, wovon sie geträumt habe: von dem andern, dem Toten. Aber er war nicht mehr tot, er erwartete sie daheim, in Florenz.

»Ah, er wird sich freuen, wenn ich wiederkomme; denn er, er liebt mich. Er ist ja stark, mutig und kann lieben, er!«

Und sie spähte von der Seite nach Claude, und nach den letzten Qualen, die sie zufügen durfte. Plötzlich streckte sie ihre zu Knochen abgemagerten Arme nach ihm aus, die Liebe strich als heißer Wind über ihr Gesicht, blies alles andere daraus fort.

»Aber auch du hast mich geliebt, auch du. Du tatest, was ich verlangte, nahmst für mich das Geld des Alten. Glaube nur nicht, ich hielte das für gering. Wie mußt du gelitten haben, bis du es tatest. Wie hast du um mich gelitten, du Armer. Du liebtest mich, drum hast du es getan.«

Und Claude, ohne Mut, seinen Kopf ihrer Umarmung hinzugeben, wandte sich weg, schluchzte auf. Er war unwürdig, er log, als Antwort auf ihr letztes Liebesgestammel.

Sie mochte ihn quälen, er verdiente es. Denn an ihrem Tode und an ihrem schlimmen Leben und an ihrer beider Ängste war er schuld, er, der nicht lieben konnte.

Er legte es sich oftmals selbst auf, ihren Phantasien zuzuhören; er fragte sie nach dem andern.

»Oh, ihm folge ich. Ich sterbe mit ihm. Denn du, du wirst dich hüten, mit mir zu kommen ... Ja, sage, warum stirbst du nicht? Du hast mir hundertmal verheißen, wir würden zusammen sterben. Alles Lüge, alles Lüge.«

Sie überwand einen Erstickungsanfall. Dann:

»Aber es gibt andere, die lügen nicht.«

Sie sprach weiter, von dem Delegato und von jenem Burschen, ihrem ersten Geliebten, der sie einmal an einem Feldrain gegen den Haß eines ganzen Dorfes verteidigt hatte. Claude erinnerte sich der Stunde, als sie ihm das zuerst erzählte. Die Gesten ihrer Liebhaber standen ihren kurzen Lebensweg entlang wie Statuen. Zwischen ihnen hindurch waren Claude und Gilda aufeinander losgestürzt mit aufgerissenen Armen. Aber jetzt richteten sich diese Statuen mit Drohungen gegen Claude, und Gilda verlor sich zwischen ihnen, dort ganz hinten ...

Sie lehnte während dieser Reden schwach an den Kissen; ihr im Fieber weggeschmolzenes Fleisch machte darin kaum noch einen Eindruck; und sie sprach immer mit der süßen Kinderstimme der Geopferten. Das schöne Oval ihres Gesichts hatte sich zu einer Maske zugespitzt, welkweiß mit blauen Schatten, schlaffen rosigen Lippen, und der weiten Nacht der Augen, die sich auszudehnen schien, hinwachsend über das ganze Gesicht ... Gilda sah Claude nicht an beim Sprechen, sie fuhr manchmal mit einem schmalen Finger über ihre kalte Stirn. In ihrer Stirn und in ihren Worten bohrte der Drang, sich zu rächen dafür, daß sie starb. Süß, leidend und grausam rannen ihre Worte hervor aus einem fragwürdigen Lächeln ...

Eines Tages unterbrach sie sich und sagte:

»Aber das ist nichts. Daß mich jene geliebt haben und daß ich sie liebte, das stört dich vielleicht nicht? Ach, Silvio, ich weiß es wohl, ist tot. Wenn ich auch am Leben bliebe, ihn hätte ich nicht mehr. Er könnte dir nicht mehr zeigen, wie man liebt, dir, der niemand liebt. Aber ein anderer sollte es dir zeigen. Oh, ich sterbe nicht gern. Ich hätte dich noch betrügen wollen mit irgendeinem andern. Hörst du es wohl? Dich betrügen, dich leiden machen, wie du mich. Ach, mein Gott, warum werd ich ihn nie mehr betrügen können. Geh doch! Willst du dich an meinem Tode weiden?«

Claude nahm sich gewaltsam zusammen, er stürzte hinaus und ins Freie. Er hätte ihr sonst zugerufen: ›Schweig! Die Schlechte bist du und die Verhängnisvolle. Du hast Schlimmeres aus mir gemacht als ich aus dir. Ich habe mehr Recht, ich, dich zu hassen! Ich hätte dich nicht kennen sollen. Du machst nichts gut, wenn du stirbst.‹

Er lief weithin am See, atemlos verbissen in seine Wut. Einmal sah er aufblickend eine kleine Villa in Abendsonne gegen den goldbraunen Berg gestützt. Er war betroffen, stand suchend vor dem Anblick; da entdeckte er darin, und seine Augen wurden ganz still, irgendein Bild aus seiner Kindheit. Er mußte im alten Garten hinter dem Hause seiner Großmutter gesessen haben mit einem Geschichtenbuch, und das lockende Goldbraun des glatten Buntdrucks lange angeträumt haben. Er betrachtete unverwandt und wie bei einem rätselhaften Erwachen die Villa am Berge.

›Bin ich denn kein Kind mehr? Wie kommt das? Wie ist es geschehn, daß ich nicht mehr sorglos und bevormundet bin? Ich begreife nichts. So viele Interessen haben sich seitdem an mich gehängt. So viele Empfindungen haben mich matt gehetzt. Durch Abenteuer, Sehnsüchte, Enttäuschungen, Verderbtheiten, Ängste bin ich hierher gelangt. Warum hierher. Warum halte ich nicht mehr jenes Geschichtenbuch in Händen. Was habe ich getan, daß dort hinten, hinter jenen grauen Mauern auf dem Vorsprung im See, eine Frau liegt und stirbt, eine Frau, die an mir leidet und durch die ich unglücklich bin?

Was hab ich getan! Stirbt sie nicht durch mich? Wenn sie Schlimmes aus mir machte, was machte ich aus ihr? Wenn ich fast zum Dieb ward, warum ward sie fast zur Dirne? Weil wir uns liebten! Wir sollten uns Qual verursachen bis in ein Sterbezimmer. Dafür haben wir geliebt, dafür lieben wir, das alles ist Liebe.‹

Er war zurückgelaufen, er stand tränenüberströmt unter der Gartenmauer und der Tafel mit den lateinischen Versen. Er brach zwischen den Stäben der Pforte einen kleinen Zweig Myrten und einen vom Zitronenbusch, damit trat er zu ihr ein. Auch sie hatte geweint. Er legte ihr die Zweige auf die Brust; sie flüsterte:

»Mit den Tränen junger Menschen ...«

Dann, an seiner Wange, seine Hand an ihr Herz führend:

»Wenn es aus wäre.«

Sie schlummerte unruhig. Claude ging zu Bett, geängstet, er wußte nicht, wodurch. Er erwachte; es stürmte, die Boote im Hafen krachten gegeneinander, die Zypressen knarrten. Das schmale Stück Land mit dem morschen Hause darauf, Claude fühlte es hin und her gerüttelt von dem Wasser, das klatschte, und von zischenden Winden. Er richtete sich auf, er gewahrte einen schwefelgelben Strich zwischen der sausenden Nacht des Himmels und den sich wälzenden Finsternissen im See. In diesem Augenblick durchriß den Lärm ein langer Schrei, gell, frohlockend. Dann redete Gilda, mit fliegender Stimme, unter Lachen und Schluchzen. Ihr Geliebter war da, der andere. Er war wiedergekehrt, sie verlor ihn nie mehr. Sie folgte ihm, sie flohen: gleich.

Die Tür zu Claudes Zimmer ward mühsam zurückgeschoben, Gilda kam herein, schwankend, im schleppenden weißen Hemd. Im Licht der Kerze, die zitterte in ihrer Hand, war zwischen dunkeln Locken ihre Blässe tief ausgehöhlt und ihr flackernder Blick irr von einem letzten Drang nach Glück. Sie tastete auf den Möbeln umher, winkte zurück: »Einen Augenblick! Nur Geld zur Reise!« Und sie griff gierig zu ... Sie wendete die Brieftasche hin und her, sie erkannte sie: die Tasche della Bernardescas. Sie erschrak, die Tasche fiel hin; da sah sie Claude.

Er saß da, mit beschwörenden Händen, bleich aufgerissenem Blick und mit Lippen, die sich bewegten, ohne etwas laut zu machen von allen seinen betäubenden Schmerzen.

Gilda betrachtete ihn, zögerte ... Ihr Gesicht, einen Augenblick von Seligkeiten angezündet, erlosch. Plötzlich zusammengedrückt wie von einer lange getragenen Last, drehte sie sich hin und her zwischen dem andern und Claude.

»Auch er hat mich geliebt«, murmelte sie nach der Tür hin und zeigte auf Claude. »Auch ihn habe ich geliebt.«

Sie tastete am Boden, hob die Tasche auf. Zitternd, unterworfen, zu dem andern:

»Da, sieh, was er für mich tat.«

Und mit einem Schritt auf Claude zu, aufjubelnd:

»Das, das tat er!«

Sie öffnete die Arme, da schwankte sie heftiger. Sie mußte sich am Tisch halten. Aus der Tasche fiel ein Brief neben die Kerze hin. Die Unterschrift della Bernardescas war gerade unter Gildas Augen. Sie hatte schon die wenigen Zeilen gelesen, worin della Bernardesca die Rückgabe von zweitausend Franken bestätigte und sich glücklich schätzte, weil er in der Nacht des dreißigsten Januar Claude habe gefällig sein können und weil alles gut verlaufen sei.

Sie sah fragend hin. Claude erhob wieder die Hand, um Verzeihung flehend. Sturm und Wasser knatterten und brüllten. Eine Fensterscheibe klirrte; gleich würde sie sich dem Sturz des Sees öffnen. Gilda lachte auf:

»Lüge! Auch das war Lüge!«

Sie wandte sich nach dem andern.

»Hörst du's? Er hat mich belogen, er kann nicht lieben. Oh, wozu die Qual. Ich bin nur dein, was geht einer mich an, der nicht lieben kann.«

Sie fiel um. Claude trug sie ins Bett, er hörte ihren Verwünschungen zu; die letzten, ganz schwachen fing er mit dem Ohr von ihren Lippen weg. Als der fahle Schein vom Horizont den Rand des Fensters erreichte, war Gilda tot.

Hinter dem Wagen mit ihrem Sarge ging Claude. Es regnete, sein Gehirn war dumpf, schläfrig, es ward nur von zeitweiligen Schmerzen wachgehalten. Er fragte sich jedesmal auffahrend: ›Woran hab ich denn gedacht? Mir war ja die ganze Zeit, als läge da drinnen Ute und führe vor mir her: Ute. Werd ich denn verrückt? ...‹ Aber er schlief im Gehen schon wieder ein und träumte, Ute habe sich ihm endlich ergeben und ihn geliebt; und dann sei sie gestorben, an ihm, an seiner seelischen Erschöpfung, an seiner Unfähigkeit zu lieben ... Am Grabe streckte er auf einmal, ganz hastig, den Hals vor. Es hatte ihm geschienen, ein Spalt stehe offen im Sarge, und Utes Haar funkele mit violetten Lichtern daraus hervor.

Er legte sich mit Fieber zu Bett. Als er es nach zwei Wochen verließ, schlich er in tiefer Gleichgültigkeit an den Orten vorbei, zwischen denen so viele seiner Tränen geflossen waren. Er verließ sie, ohne an etwas Vergangenes zu denken. Während des Wartens auf den Dampfer stand er unter der Gartenmauer vor der Tafel und übersetzte die Inschrift, ganz gedankenlos.

»Has juvenum lachrymis ...«

Die Dampfpfeife ertönte schon von Garda her; Claude ging. Er suchte, weil ihn immer fror, den Süden von Italien auf, verbrachte den Sommer in Neapel und wollte zum Winter nach Ägypten. Dann fand er doch den Mut nicht dazu. Seine Schwäche ging zuzeiten in teilweise Lähmung über; seine Atmungsorgane neigten fortwährend zu Entzündungen.

Er ließ sich nach Salsomaggiore, nach Casamicciola oder nach Abano schicken und fing die Reihe der Bäder von vorn wieder an, ohne daß ihm einfiel, er sei schon da gewesen. Panier wies ihm tausend Mark im Monat an und erkundigte sich zuweilen, ob Claude mehr wünsche; es sei jetzt alles da. Claude antwortete nicht; sein trockenes Hüsteln beschäftigte ihn gerade. Er war gerade besorgt, weil ihm alle Haare ausfielen.

Im Frühling, an einem Tage, als Garben frisch geöffneter Blüten aus einem ganz leichten Himmel herabhingen, sah Claude in einer Landstadt bei Rom eine große Frau mit einem kupfernen Krug auf dem Kopf in ein dunkles Haustor verschwinden. Ihr breiter Nacken, der an den Krug erhobene Arm, das scharfe, gelbliche Profil schreckten ihn auf zu Bewunderung. Er atmete plötzlich ein wenig voller, wandte sich um und erblickte, die Treppengasse hinab, noch andere Frauen. Er hatte seit einem Jahr keine gesehen. Seit einem Jahre hatte er keine Landschaft gesehn. Dort unten, durch Schleier von Öllaub, mit Pfirsichblüten rosig bestickt, schritt dem blauen Duft der Berge entgegen ein ganzer Reigen köstlicher Frauen ... ›Wie lange bin ich denn schon hier!‹ Er traf sich beim Anblick dieser starken und zu Leidenschaft geborenen Gestalten mitten auf einer langen Reise in einem Lande, worin man ewig fremd bleibt. Er erinnerte sich dumpf an Stürme des Gefühls, die ihn einst betroffen hatten; und es war ihm, als habe er damals versucht, eine fremde Sprache zu sprechen.

Die Nacht darauf erwachte er im Dunkeln und meinte, er habe von Ute geträumt. Er ahnte noch mit berauschter Sehnsucht über seinem Gesicht Utes weißes, starkzügiges Gesicht und die schwarzen Barren ihrer Brauen unter der Welle metallroten Haars. Er streckte noch einmal die Arme aus, schluchzte ihr entgegen und allen ihren Reichtümern: allen Reichtümern des Lebens ... Seine Erregung dauerte bis zum Morgen.

Darauf vermochte er sein Frühstück nicht zu schlucken, kämpfte mit Atemnot und fühlte das Fieber, das ihn nie ganz verließ, heftig zunehmen. Indes er seine Temperatur maß und sich im Spiegel die Zunge zeigte, verwünschte er Ute. Sie habe ihm sein ganzes Leben zerstört; jetzt sei er allmählich bei einem Zustande angelangt, in dem er an Besseres zu denken habe als an sie.

Ihr Bild verbannte er aus seinen Nächten. Er gedachte ihrer im Wachen kaum noch. Nach weiteren neun Monaten bekam er einen Brief von Theodora Gigereit. Ihr Mann hatte schlecht verdient und Schulden gemacht; sie hatten ein drittes Kind. Claude erinnerte sich beschwerlich, wer diese Theodora gewesen sei. Er legte den Bettelbrief verächtlich weg. ›Müssen mir die Leute mit ihren Scherereien kommen; als ob ich nicht selbst genug hätte.‹ Und er griff wieder nach seinem Puls.

Der Brief geriet ihm nochmals zwischen die Finger zu einer günstigem Stunde; er hatte sich gerade Äther eingespritzt. Er beschloß, Theodora etwas geben zu lassen; aber dann vergaß er es wieder.

Er war bald drei Jahre von München fort, da fand Pömmerl, der für eine Berliner Zeitung eine Automobilfahrt durch Italien machte, eines Augusttages seinen ehemaligen Verleger und Direktor in den Cascine zu Florenz, in Decken gewickelt, in einem Rollstuhl. Es war ganz am Ende der Laubgänge, wo der Fluß sich im Kies ausbreitete und die Büsche zurücktraten; vor dem Geländer, von wo einst Claude und Gilda unter den lauen Stößen ihres ersten Liebessturms Seele an Seele hinausgeflogen waren in einen brennenden Abendhimmel.

Claudes verfallenes Bild und seine Stumpfheit machten Pömmerl solchen Eindruck, daß er darüber an Matthacker berichtete. Acht Tage später stellte Matthacker, im Auftrage Paniers, sich ein und holte seinen Patienten heim. Er legte ihn zu Bett, in seinem alten Schlafzimmer. Der Arzt benachrichtigte auch die Mutter.

Frau Marehn ließ erschreckt einen schwarzen Malschüler im Stich. Sie geriet ganz aus der Fassung beim Anblick ihres Sohnes, der kein Zeichen gab, als erkennte er sie.

»Mein Gott, ich begreife gar nicht, dir hat doch nie was gefehlt«, äußerte sie; und in dem Bedürfnis, sich außerhalb der Verantwortlichkeiten zu fühlen:

»Von mir hast du es nicht.«

Um so weniger konnte sie helfen, und ging darum wieder.

Killich, Spießl, Köhmbold, auch Theodora und die Schransky, machten an Claudes Bett einen Besuch, den sie nicht wiederholten. Aber Panier kam häufig. Er ließ sich die Treppen hinaufstützen, rutschte im Zimmer umher, untersuchte im Winkel Claudes Rollstuhl.

»Unserer is aber neuerer Konstruktion. Was du für den Schund woll wieder bezahlt hast, Jung' ... Tja, nu können wir zwei beiden uns hinternanderher die Leopoldstraße langschieben lassen, das hatt'st du dir woll nich gedacht. Aber wir, Panier, haben es doch wenigstens alles gehörig genossen – aber gehörig, das woll'n wir uns woll ausgebeten haben. Und überhaupt, fertig sind wir noch lange nicht. Nöh.«

Claude schwieg.

»Wo wärst du woll ohne uns, mein Jung'. Daß du jetzt wieder dein gutes Auskommen hast, das kommt auch nicht bloß davon, daß die Terrains wieder gestiegen sind und daß sie in Neufreimann auf deinem Grund 'n Bahnhof anlegen wollen. Das kommt auch von dem feinen Coup, den wir in der Äußeren Prinzregentenstraße machen. Da bieten wir die Grundstücke aus, und anzahlen lassen wir 'n Pappenstiel. Aber die Verpflichtung ist dabei, daß der Käufer sich das Haus von unserm Architekten bauen läßt. Natürlich kann der Kerl dann nicht zahlen, wir steigern den Bau ein, und fertig is die Kiste ... Ja, mein Jung', aus nix bist du nu schon wieder zu 'n paar Millionen angeschwollen und merkst es gar nicht ...«

Claude blieb teilnahmslos.

»Kannst du uns überhaupt verstehn? Deubel, da sind wir 'n anderer Kerl. Solche Geschichten wie du, die machen wir nich. Könnt uns passen. Was, Mariechen?«

Er holte Bella herein.

»Nu sag mal selbst, ob du nich 'n ganz ordentlichen Kerl geheiratet hast. Man bloß die Füße, die wollen nich. Aber Kopp un Magen un denn das andere, was zu 'n guten Ehemann gehört, das ist bei uns alles in Ordnung. Immer 's Panier hoch!«

»Du bist ganz talentvoll, Alter«, sagte Bella und kraute ihm den Bart, mit einem Blick nach Claude, schief über die hochgezogene Schulter weg. Sie schob ihren Mann fort. Claude sah ihnen nach, mit verschleierten Augen. Er saß ohne eine Bewegung im Bett.

Auch der junge Ende fand ihn so. Darauf schrieb er an seine Tochter nach Berlin, mit ihrem Jugendfreund gehe es zu Ende. Wenn sie ihn nochmals sehen wolle, müsse sie gleich kommen. Falls ihr das Geld zur Reise gerade fehle, mache er, ihr Vater, sich ein Vergnügen daraus, es seiner geliebten Ute anzubieten. Er könne es recht gut, denn gerade habe er von der Gräfin Stockwenzel einen Teil der Fresken bezahlt erhalten, mit denen er das neue Gartenhaus Ihrer Exzellenz zu schmücken gütigst beauftragt sei. Ute werde hoffentlich seinen Freundesdienst annehmen und sofort kommen.

»Die Pietät, liebe Ute, gebietet das. Was Ihr eigentlich miteinander gehabt habt, daß der arme Claude sich gar nicht mehr um uns bekümmert hat, kann ich natürlich nicht wissen. Dein Vater ist ja nicht so glücklich, Dein Vertrauen zu genießen. Doch glaube ich, daß Du dem Unglücklichen eine letzte gute Stunde bereiten könntest, sobald Du wolltest. Dazu rate ich Dir, geliebte Tochter, erstens natürlich seinetwegen. Dann aber: wenn wir pietätvoll sind, das schlägt uns selbst immer am besten aus; diese Erfahrung hat Dein Vater oft genug gemacht. Tue es also schon Deiner selbst wegen! Natürlich meine ich vor allem das erhebende Bewußtsein erfüllter Menschenpflicht, das Du daraus schöpfen würdest ...«

Ute überschlug die folgenden Wendungen; sie hatte verstanden. Ihr Vater verlangte, daß sie Claudes letzte Verfügungen überwache. Sie schleuderte den Brief vor den Ofen.

Am Abend hatte sie nicht zu spielen, sie saß allein in ihrem Boudoir und lernte die Monna Vanna. Plötzlich nahm sie den Kopf aus den Händen.

»Dann also gerade. Weil man von mir eine Niedertracht verlangt, dadurch werd ich mich doch nicht abhalten lassen, Claude noch mal zu sehen. Morgen nehm ich mir Urlaub.«

Sie starrte ins Dunkel.

»Die Monna Vanna lern ich umsonst, die kriegt ja doch die Bieratz. Jetzt hat sie wieder den Baron Bretling: gegen so viele Brillanten ist nicht aufzukommen.«

Sie ließ sich ins Sofa zurückfallen, schloß die Augen.

»Ich bin es müde. Nichts hat man für sich als die Kunst.«

Sie hob die Schultern.

»Die Lizzi Laffé ist dreißig Jahre älter als ich. Aber wenn sie durchaus will, und hängt sie die Brillanten von Türkheimer um – eher kriegt noch sie die Monna Vanna.«

Nach einer Weile, auflachend:

»Und ausgerechnet die zwei, den Bretling und den Türkheimer, hätt ich selber haben können. Na, mittlerweile hab ich bald alle abgeschreckt ... Es ist doch ein merkwürdiges Bewußtsein, daß da drunten in München einer sitzt und an mich denkt. Denn natürlich denkt er an mich. Was wird er die drei Jahre anders getan haben – ich kenn ihn doch. Den glücklich machen zu können, bloß dadurch, daß ich komme ...

Warum übrigens nicht. Unser letzter Auftritt damals war wirklich kein Grund, sich fürs Leben zu verfeinden. Ich muß schon sagen, ich hatte ihn ziemlich gereizt. Überhaupt, mein Freund ist er ja doch ...

Es wird ja hoffentlich nicht schlimm sein mit ihm. Und wenn er im Bett liegt und sich nicht viel rühren kann, das ist eigentlich ganz gut für unser Wiedersehn. Verstimmende Zwischenfälle wie der letzte vor drei Jahren sind dann ziemlich ausgeschlossen. Meine Liebhaber dürfen nicht zu mobil sein ...

's ist egal, so viel kämpfen, so viel Haß um sich her haben, immer so allein sein – oh, ich halt's ja aus. Aber ich merke doch, es hat seine Grenze. Einen zu haben, der einen anbetet, auf alle Fälle anbetet, auch wenn man nichts dafür gibt: es ist doch mehr daran, als ich dachte.«

Sie war aufgesprungen, machte ein paar Schritte, blieb vorm Fenster stehn.

»Und was hab ich davon? Allein bleibt man immer.«

Dann, auffahrend:

»Ich mach's hier nicht mehr mit. Ich werd nicht in Berlin sitzenbleiben, während eine der zwei andern die Monna Vanna spielt.«

Sie begann sofort, Sachen auszusuchen für die Reise. Einmal zögerte sie zwischen mehreren Fichus und merkte plötzlich, sie habe das ausgesucht, das Claude gefallen müsse.

Tags darauf machte sie sich beim Theater frei, beendete ihre Vorbereitungen, und abends fuhr sie.

Sie nahm sich in der Früh nur die Zeit, um zu baden; dann ging sie zu Claude. Das goldene Gitter vor der Treppe sprang von selbst auf, wie sie darauf losschritt. Ein Diener, der sie nicht kannte, ließ sie ungern hinaufsteigen und sah ihr verwundert nach, als sie den richtigen Weg einschlug. Sie ging die leere, staubige Galerie des Stiegenhauses zu Ende, gelangte in den zweiten Stock und durch verwahrloste Räume bis vor die Tür von Claudes Schlafzimmer. Leise, ohne zu klopfen, öffnete sie. Die hohen Vorhänge waren fest zugezogen vor den Fenstern, sie hörte hervorgestoßene Atemzüge und meinte, Claude schlafe. Schattenhaft gewahrte sie seinen Kopf. Sie trat vor, da schnarchte jemand laut auf, von einem Stuhl sprang der Wärter, schlecht ausgeschlafen.

»Ja was is. Ah! die Madeln. Fort stecken's da die Köpf herein, ob für sie noch was herausschaut. Aber 's schaut nimmer viel heraus da für die Madeln. Der Herr Doktor hat's g'sagt, mit die san ma ferti.«

»Wollen Sie mich allein lassen mit dem Kranken«, sagte Ute kalt.

»Gelt, das möchten's. Aber der Herr Doktor –«

»Gehn Sie?«

»Ja entschuldigend, wer san denn Sie, Freiln?«

»Und Sie brauchen nicht wiederzukommen. Man wird Sie entschädigen.«

Ute legte, noch ehe der Mann ganz draußen war, ihren Mantel ab, ihre Handschuhe, ihren Hut. Sie schloß behutsam die Tür, setzte sich dem Bett gegenüber, ein Stück entfernt, nahe dem verhängten Fenster; und sie betrachtete den verwischten Fleck dahinten, der Claudes Gesicht zu sein schien und von dem das Geräusch hervorgestoßener Luft ausging. Wenn er erwachte, würde sie ihm Wasser reichen oder Milch oder Medizin, oder was er nötig hatte. Die eingeschlossene Luft roch nach den Ausdünstungen eines Kranken. Ute sagte sich entschlossen: ›Wenn er wirklich so krank ist – ich hab nicht die Reise gemacht, um einfach zuzusehn. Jetzt pfleg ich ihn, und in Berlin mögen sie die Monna Vanna spielen.‹

Einmal meinte sie, er habe sich gerührt, sie konnte seine Augen nicht unterscheiden, und sie mochte ihn nicht stören ... Er sah sie die ganze Zeit an. Vom Rande der Gardine schlich ein wenig graues Licht in ihr Haar. Claude sah es verhalten blitzen. In seinem Herzen, in seinem Blut entstand eine Angst, die unbewußte Erinnerung lange gewohnter Qualen. Aber sein Kopf blieb dumpf. Plötzlich zuckte etwas darin auf, ein Gedanke, der wie ein Schlag durch seinen Körper ging, süß und jäh. Sein Atem ward noch kürzer; er sagte schwach:

»Du bist da, Ute? O setz dich wieder so ins Licht und mit dem Arm über der Lehne, wie gestern abend in Mamas Salon.«

Ute verstand nicht. Er fuhr fort:

»Als ich eintrat – ach, Ute! ... Nicht wahr, Mama hat dich mit deinem Papa im Englischen Garten getroffen, und nun wirst du immer zu uns kommen? Nie werden wir uns trennen?«

Ute trat an das Bett, bewegt und voll Schrecken.

»Wir haben uns schon trennen müssen, Claude. Kinder, wie du meinst, sind wir ja nicht mehr. Weißt du nicht, ich bin ja fortgegangen.«

»Du bist fortgegangen ...«

Er suchte.

»Ich weiß wohl, bei einer Schmiere im Walde solltest du Theater spielen. Darum mußtest du mich verlassen. Ute, deshalb? Tu's nicht! Denk an unsere gemeinsame Zeit. Mein Vater ist krank, und meine Mutter liebt mich nicht. Ich habe niemand je gehabt als dich. Ach, wie viele vergebene Zärtlichkeiten.«

Ute zog die Brauen zusammen. Claude schüttelte auf seinen Kissen langsam den Kopf.

»Du bist dennoch gegangen, ich weiß; und eine letzte gute Zeit haben wir noch gehabt. Wir haben deine Einkäufe zusammengemacht und zusammen in Restaurants gegessen. Und unsere Spaziergänge, Ute. Der Flieder neben den Wiesen. Es war Frühling, wir waren Bruder und Schwester. Zuletzt noch in Nymphenburg – aber da war's aus.«

Er schloß die Augen, seufzte tief auf.

»Was für ein leeres, gehetztes, zielloses Leben hat da angefangen. Nur früh im Bett – in den Korridoren lief noch kein Kellner: da kamst du ganz allein meine Morgenstunde entlang ... In ein dunkles Zimmer hab ich mich einmal des Nachts gesetzt, während die andern lärmten, und wollte dich spielen sehn ...«

Hinter seinen geschlossenen Augen spielten nun so viele von ihren oft erlebten Bewegungen, von ihren täglich gefühlten Schönheiten. Seine geschlossenen Augen waren wieder ganz voll von ihr. Da warf er sich herum.

»Aber dann kehrtest du zurück. Wie schrecklich! Was hattest du nur getan inzwischen, daß ich so leiden mußte! Welche Angst! Es war auf einem Fest, ich weihte mein Haus ein, du bliebst aus. Ich meinte, du liebtest mich und du littest. Da kamst du und oh, ich sah gleich – aus deinem schwarzen Kleid flog ein schwarzer Vogel gegen mein Herz. Wir gingen die Treppen hinauf, bis – bis hierher.«

Er öffnete die Augen, er stieß einen Schrei aus.

»Der Tisch, Ute! du lehnst dich an den Tisch!«

Sie wandte sich hastig um: der Tisch trug nichts als ihre Photographie. Und davor hatte sie selbst gelehnt, geradeso, als sie Claude damals gesagt hatte, Panier habe sie besessen. Sie fühlte sich gepackt, die Vergangenheit fiel auf einmal atemraubend über sie her. Sie stürzte ans Fenster, riß die Vorhänge auseinander und die Scheiben auf. Bittere Herbstluft strömte ins Zimmer und über das Bett. Claude hatte sich aufgestützt. In seinen Augen arbeitete unter Schlacken das Leben. Die Lider hingen nicht mehr herab, die Muskeln bewegten sich wieder in diesem seit vielen Monaten nie gerührten Gesicht. Aber Ute bemerkte nur seine graufahle Farbe, und daß seine Brust abgezehrt war, seine Haare ganz dünn und seine Haut abgeschuppt.

Er streckte die Arme aus; sie ergriff seine Hände, sie legte diese Hände mit den gekrümmten, gelblichen Nägeln sich um den Leib, ohne sie zu sehen; denn ihre Augen waren voll Tränen. Sie setzte sich auf den Bettrand, Claudes Gesicht fiel in ihren Schoß, und über seinem zuckenden Nacken fühlte er Utes Schluchzen – wieder wie damals. Er hob den Kopf, sie sahen jeder die Tränen rinnen auf dem Gesicht des andern. Er wußte wieder, wer sie beide waren. Sein Bewußtsein war auf einmal hoch durchflammt.

»Ute, denkst du noch an den Sommer am Walchensee, auf der Wiese? Wie warm und glücklich! Aber dann wolltest du mich heiraten, ohne mich zu lieben. Du wolltest dich mir auch hingeben, nur aus Wut und Eifersucht, später in Düren. Weißt du noch?«

Ute stammelte, sie wußte nicht was. Sie fragte sich: ›Warum werde ich heiß und kalt unter der Erinnerung an die alten Dinge? Was gehn sie mich noch an?‹

»Was haben wir alles zusammen erlebt«, flüsterte Claude. »Was von einer Frau nur kommen kann, alles was eine Frau uns fühlen lassen kann, Ute, ich hab es von dir bekommen – nur nicht beglückte Liebe.«

»Es ist nicht meine Schuld, Claude.«

»Hättest du mich lieben können, wer weiß, meine große Sehnsucht, durch Liebe stark zu werden, hätte vielleicht nicht Bankerott gemacht ... Warum bist du jetzt so gütig? Du warst so hart. Du hast mir die Besinnung genommen, bis ich mich an dir vergriff. Das war schrecklich ...«

Er sank zurück auf das Kissen, bedeckte die Augen. Sie nahm seine Hände weg.

»Claude, ich bitte dich um Verzeihung.«

»Du, mich?«

»Ich hab mich oftmals an dir versündigt, ich bereue es.«

»Bereuen? Du meinst, ich wollte etwas missen von allem, was du mir zugefügt hast? Oh, Ute! Was ist alles Leiden, da du ja da bist, da mein ganzes Leben voll ist von dir. Weißt du wohl, daß meine Jahre von dir ihre Farbe bekommen haben und daß ich mich an keines erinnern kann, ohne noch die Geste deiner Hände zu sehen, die es geformt haben: schlimm oder glücklich? Weißt du wohl, daß Frühling oder Herbst für mich nur ein paar Stunden bedeuten, wo wir auf einem Rasen ein Lied summten oder in einem Zimmer miteinander weinten? Leiden? Aber es kam ja von dir!«

»Vielleicht bist du also glücklicher als ich« – und Ute starrte, an den Bettpfosten gestützt, gradaus.

»Oh! Du bist unglücklich in Berlin?«

»Ich weiß nicht. Ich hätte vielleicht nicht hingehen sollen; überhaupt nicht aufs Theater. Ich will dir sagen, manchmal, besonders in der letzten Saison, hat es mich nach etwas anderem verlangt –«

»Wonach – Ute?«

»– zurückverlangt nach etwas, das ich hatte bei dir – als wir zusammen waren.«

»Ist das möglich? ... Und der Ruhm? Die Wirkung deiner Persönlichkeit? Der Haß, den du einatmest? Der Rausch, den du erregst?«

»Weißt du noch, wie es in Düren war?« fragte sie, mit einem plötzlichen, tiefen Blick in sein Auge. Claude errötete schwach; er murmelte:

»Dort war die Franchini.«

»Es gibt überall eine Franchini. Aber beschämender noch ist der Wettbewerb mit den Brillantendamen. Einen Liebhaber haben, der der Börse und der Presse nahesteht; nach seinen Angaben spekulieren, und am Abend seine Brillanten tragen; sich schließlich mit seiner Hilfe ein eigenes Theater pachten – höher hinaus geht's doch nicht. Statt dessen wissen ein paar Hundert Zuschauer, daß ich größer bin als jene; und in den Kulissen hasche ich nach Rollen, zettele Verschwörungen an, mache mich niedrig. Hat das einen Sinn? Anfangs glaubte ich es ja.«

»Du, Ute, wirst berühmt und reich werden. Ich glaube an weiter nichts, aber daran glaub ich.«

»Weißt du, wer recht gehabt hat? Mein Vater, der junge Ende. Ich hätte bei ihm bleiben sollen und unter gefälligen Menschen harmlosen Kitsch machen. Meine Illusionen hätt ich gerettet.«

»Du, die große Künstlerin! Du, Ute Ende!«

»Zur Reise nach München hat der junge Ende mir Geld angeboten, und ohne den Vorschuß vom Direktor Abell hätt ich's nehmen müssen. Oh, der junge Ende verdient.«

»Arme Ute, du bist grade überanstrengt, du hast grade eine Enttäuschung zu überwinden. Wie bin ich traurig, daß ich dich so niedergeschlagen sehe.«

»Es sollte dich ja freuen, Claude. Ich kehre zu dir zurück, siehst du. So Großes hätte ich niemals wagen sollen. Was willst du denn: eine Künstlerin, keine Theaterkokotte, kein Instinktwesen, keine Geschäftsfrau; eine wirkliche Künstlerin – na, so geht es nun mal.«

Und auflachend:

»In den Ozean schifft mit tausend Masten die Jungfrau.«

Claude lachte mit, erregt.

»Die Jungfrau – ja, die Jungfrau ist heut tatenlustig. Der Jüngling vermeidet es, auf gerettetem Boot in den Hafen zu treiben; er fährt lieber gar nicht erst hinaus. Wenn ich an die beiden Buden denke, damals. Deine, mit Nathanael: du machtest mich förmlich kleinlaut durch deinen Willen, durch deine Sucht zu kämpfen, dich durchzusetzen, durch dein wildes Vertrauen in dich, in deine Kunst. In der andern Bude, beim Spießl, glaubten wir an nichts, am wenigsten an uns selbst, fanden es überflüssig und unfein, einen Finger zu rühren – und das, bevor wir irgendwas kannten. Nur eines von allem, was ein reicheres Blut geschwinder treibt, nur eines verlockte mich ...«

Er fühlte seine Seele und ihre ganze Zärtlichkeit aufrauschen, fühlte ein kleines dunkles Gehölz, ohne einen Sonnenstrahl und immer feucht von Tränen, aufrauschen von einem letzten Stoß des Abendwindes. Er keuchte von der Anstrengung des Sprechens, des Empfindens. Er tastete nach ihrer Hand. Mit versagender Stimme:

»Willst du nun dableiben, immer?«

Sie sann.

»Keine Pläne machen, Claude. Ich weiß nur, der Entschluß, herzukommen zu dir, war mir eine große Freude, eine Erlösung fast.«

»Ute!«

»Doch noch einen Freund zu haben im Leben.«

»Wie bist du schön – und gut.«

Sie hörte, aus ihren Gedanken heraus, sein Flüstern kaum. Claude fühlte seine Kräfte überspannt, in seinem Kopf entstand eine fliegende Angst, er fürchtete das Bewußtsein zu verlieren, in Stumpfheit zurückzusinken. Er griff hinter sein Kopfkissen, fuhr heimlich mit der Hand unter die Decke, an seine Hüfte. Plötzlich zuckte er zusammen, unter dem Brennen des Äthers in seinem Blut.

Ute merkte nichts; sie dachte: ›Er hat recht, ich habe gerade eine Enttäuschung zu überwinden; darum tut es mir im Augenblick wohl, seine Anbetung zu fühlen. Das hält nicht vor. Ich weiß darum doch, wozu ich lebe und daß ich vom Theater nicht loskomme ... Gleichviel, ich bin liebesbedürftig, ich kann es nicht leugnen, zum erstenmal im Leben. Wie seltsam: hätte ich jetzt noch den Mut wie früher, alles von ihm anzunehmen und nichts dafür zu geben? Ich hab ihm noch immer keinen Pfennig zurückgezahlt ... Ach, ich bin schwach vor Katzenjammer. Ich kann ja aus dem kleinen Menschen alles machen, was ich will, er wird mir immer dankbar sein. Wenn er stirbt –‹

Sie erschrak; ihr selbst unhörbar, dachte sie hinzu:

›– kann ich alles erben. Das ist mir ein leichtes, ich brauche nur zu wollen.‹

Sie atmete rascher, über Claude weg. In diesem Augenblick ward an die Tür geklopft und der Griff niedergedrückt. Sie fuhr auf, stellte mit einem Blick fest, daß der Riegel sicher davorlag.

»Soll ich öffnen?«

»Nein, nein.«

Sie sah ihn sinnend an und fragte sich dabei, ob ihr Gedanke niedrig und schlecht sei. ›Ja! Denn ich fand ihn niedrig, als der junge Ende ihn mir zumutete ... Aber der hat mir keine aufrichtige Empfindung zugetraut. Ich heuchle ja nicht, wenn ich Claude sage, ich sei gern gekommen, ich habe mich nach ihm gesehnt. Das ist wahr! Ich bin seine Freundin, in aller Aufrichtigkeit. Und wenn er mir sein Geld hinterläßt, wie er mir von jeher alles gegeben hat, was ich brauchte, einfach als seiner Freundin – ich nehme es an, werde seine Universalerbin: das sollte eine niedrige Handlung sein? Nein, nein! ...

Seine Universalerbin, ich brauche bloß zu wollen. Dann mögen jene in Berlin sich Brillanten und Lorbeeren schenken lassen: ich bin darüber hinaus. Mit einer großen Anzahl Millionen gilt man mehr unter Menschen als die lärmendste Berühmtheit, mehr als das Genie! Ich habe das mittlerweile erfahren. Ich kann mir dann ein Theater kaufen, meinen Ruhm bezahlen. Endlich werden alle die große Kunst der Ute Ende erkennen, beim Schein ihres Goldes! ... Ich brauche nur zu wollen ...‹

Wieder rüttelte jemand an der Tür; Ute schrak wieder zusammen, wie ertappt. ›Wie er mich ansieht, mit wie zartem, tiefem Verlangen! Oh, an was alles hab ich eben gedacht. Er, er denkt inzwischen, daß ich schön bin und daß er mich liebt ... Ich glaube, genug zu tun, wenn ich Freundschaft empfinde für ihn und mich von ihm beschenken lasse? Aber er will ja viel mehr, hat es immer gewollt: Liebe. Ich habe kein Recht auf ihn, noch auf das Seinige, wenn ich ihn nicht liebe!‹

»Claude«, so stieß sie hervor, »wie mag es dir in den drei Jahren ergangen sein, seit wir uns ganz getrennt haben. Oh, ich hätte früher an dich denken sollen! ...«

Und sie beugte sich über ihn, die Hand in seiner, auf seiner Brust. Sie begriff plötzlich gar nicht, wie hatte sie ihn solange ohne Trost lassen können. Unter dem Einfluß des Äthers, mit hellerem Blick und kräftigerer Stimme, sagte er:

»Jetzt bin ich glücklich.«

»Liebst du mich denn wirklich noch wie früher?«

»Immer, Ute. Ich habe immer nur dich geliebt.«

»Wie ist das möglich. Man ändert sich doch, man vergißt doch.«

Er richtete sich halb auf, kinderhaft feierlich bekannte er:

»Dich, Ute, vergißt man nicht.«

Sie schwieg, ergriffen. Sie bedachte: ›Ich sollte ihn lieben. Niemand wird je würdiger sein.‹

»Aber was habe ich an mir, daß du mich so lange, so lange geliebt hast?« fragte sie und drückte fester seine Hand, beugte sich tiefer über ihn. Ihr Gesicht verschwamm ihm vor den Augen zu einem weißen Fleck, er fühlte sich in ihren Atem gehüllt, in ihren Duft. Ihr Schenkel legte sich durch ihr gerafftes Kleid und seine gespannte Decke hindurch, eng gegen seinen, er spürte ihn von der Hüfte bis zum Knie, er ward von ihm warm: von Utes Schenkel. Er dachte an die mächtige Frau zu Florenz, am Sockel des David, und an die Hügel, die wie diese Frau mit aufgestütztem Schenkel um die Stadt herumlagen; an eine schwarzseidene Hose, statt eines Unterrocks zu tragen, die er einmal für Ute gekauft hatte; an ihre gelassene Haltung, mit der Zigarette, in einem Restaurant, während das schlanke Kleid ihren Schenkel kühn umfaltete; an ihren fleischig zerdrückten Schenkel, da sie sich als Emilia Galotti am Boden gewälzt hatte. Hundert Bilder überstürzten sich in ihm, hundert Sehnsüchte erfüllten sich auf einmal. Es schwindelte ihn, seine Sinne flackerten auf. Er warf sich zur Seite, er griff nach ihr, sein Atem schlug ihr ins Gesicht.

Sie fuhr heftig zurück, mit Ekel und Angst. Sein Atem hatte übel gerochen. Er hing nun aus dem Schatten des Bettes heraus, breitete die dünnen Knochenfinger mit den gelben, gekrümmten Nägeln nach ihr aus. Wie schmutzigbleich dieser halb kahle Kopf war. Er hüstelte trocken, seine Lider röteten sich noch mehr. ›Ich kann nicht‹, flüsterte es starr in Ute. ›Wie soll ich das da lieben.‹

Sie trat ans Fenster, drehte ihm den Rücken.

›Er war anders‹, hielt sie sich vor. ›Da hab ich nicht gewollt. Geliebt hat er mich immer, nichts hat sich geändert. Nur ist er jetzt krank. Dafür bin ich enttäuscht, unberühmt, ohne viel Erfolg. Wir sind heute beide weniger wert ... Nein! Eine Liebe wie seine ist das kostbarste. Versäume ich sie, ich finde sie nie wieder. Er stirbt, dann sind in der Welt nur noch Fremde. Flüchtige Begierden, widerliche Berechnungen, zu nichts weiter werden sie mich wollen. Dieser will mich sein Leben lang, nur mich. Er stirbt, dann hab ich nie ein menschliches Herz schlagen fühlen.‹

Sie erschrak heftig.

›Ich bin dann kaum Mensch gewesen ... Ich hab Herz und Sinne, alles an meine Kunst verschwendet: sie hat mir's wenig gelohnt. Dahinten keucht einer, der mir alles gibt, und fragt nicht, wieviel ich dafür zurückgebe ...

Ich will ihn lieben. Ich will! Ich sollte nicht können, weil sein Körper abgezehrt ist? Als ob ich mich nicht mit einem Totenschädel in Liebesszenen geübt hätte! Als ob ich nicht täglich auf der Bühne meine besten Gefühle, mein vollstes Leben an ausgepolsterte Brüste richtete, an gemalte Fratzen, die mir einen schmutzigen Witz zuraunen. Und die Brust dahinten ist übervoll von mir, von mir; und dieses arme Gesicht wird mir Liebesworte zuflüstern, die noch keine gehört hat. Aber ich will sie ihm erwidern! Er soll glücklich sein, ich will ihn, bevor er stirbt, für all das Leben entschädigen, das wir versäumt haben. Wir sollen glücklich sein: ich will es! ... Ist denn das Verlangen zu fassen, das mich dort erwartet? Solch eine Liebe, solch eine Liebe – oh, ich bin ganz überflutet davon: ich glaube, ich liebe!‹

Sie warf sich herum, breitete die Arme aus, schritt langsam vorwärts. Der Spiegel am Kopfende des Bettes zeigte ihr, daß sie gerötet sei, daß ihre Augen glänzten und daß sie überzeugt und wahr sei wie in ihrer besten Rolle. ›Ich liebe!‹ rief sie sich heimlich zu.

Sie schmiegte sich an ihn, stützte ihre Brust an seine.

»Sag, warum liebst du mich?«

»Du bist schön! Wie sehr!«

»Von meiner Schönheit siehst du mehr, als da ist.«

»Und du bist eine Künstlerin – oh, eine wie große! Du hast mich ahnen lassen, was Leidenschaft ist. Wie kannst du sie spielen!«

Sie sagte mit einem tiefen Blick:

»Meinst du, daß ich sie im Spiel nicht auch empfinde

»Sooft ich dich spielen sah, hab ich mich ganz klein gefühlt. Die starke Empfindung, die in einem Augenblick Jahre aufzehrt, Ute, das ist das einzige, was zählt.«

»Ja. Liebe mich.«

»Aber du – kannst du mich lieben?«

»Ich sag dir noch, ob ich's kann!«

»Ich möchte wissen, wozu das kleine vorsichtige, zweiflerische Hinsiechen uns dient, das wir Leben nennen. Eine große Wallung, die Hingerissenheit eines Spiels, so, Ute, hätte ich unser Leben gewünscht.«

»Du hast viele solcher Wallungen gehabt!« rief sie, aufzuckend vor Eifersucht. »Du hast viele Frauen gehabt!«

»Ich habe dich gesucht in allen. Ich habe zuweilen bei einer Frau eine hohe, bewegte Stunde genossen, die dir galt, Ute.«

»Ich bin nun bei dir, Claude.«

Sie umarmte ihn, suchte seinen Mund. Er zitterte, rang nach Luft.

»Bist du mein, wirklich mein?«

»Du sollst sehen, wie ich dein bin. Werde gesund – oh, warum bist du nicht gesund!«

Sie preßte ihn an sich, in einer Angst, die ihr die Kehle zuschnürte.

»Und wenn ich gesund werde, jetzt würdest du wollen? Ute?«

Sie, stürmisch:

»Ich hab nur dich, ich will dich behalten.«

Er, erstickt flüsternd:

»Liebst du mich? Sag, daß du mich liebst.«

Und Ute:

»Oh, komm!«

Da sank Claude zurück, er murmelte, entsetzt in ihre Augen starrend:

»Ich glaube, ich muß sterben.«

»Nein! Nein!«

»Oder, nicht sterben, aber noch schlimmer zugrunde gehen.«

Und er tastete über seinen Hinterkopf. Sein trostloser Blick irrte auf ihrer Gestalt umher, hängte sich an ihr metallenes Haar, an einen Zweig mit Blättern auf der schillernden Seide an ihrer linken Achsel, an ihre Lippen, an ihre zurückgedrängten reifenden Schultern, an die Linie der Büste, frei gewölbt, jung, geschmeidig. Das alles würde er zurücklassen. Das alles lebte, während er verschwunden war, verschwendete seinen Anblick an tausend Gleichgültige – und den einen Claude hätte es groß und selig machen können, ihn, dessen Glieder vermoderten oder dessen Gehirn tot war! ... Er wand sich vor Qual.

»Erst sag mir, daß du mich liebst. Ich hab es nie gehört, soll ich's nicht mehr hören, eh alles aus ist?«

Ute, mit aufgeregtem Schmeicheln:

»Ich sag dir's in der Stunde, wo wir glücklich sind.«

»Die muß bald kommen, sonst ist es zu spät ... Ute, ich will, daß nach meinem Tode alles, was ich hatte, dir gehört.«

Ute schrie auf.

»Du willst mich bezahlen!«

»Ich möchte, daß von unserem Glück – es dauert vielleicht keine Stunde – für dich etwas übrigbleibt. Ist das nicht natürlich? Wenn du mich liebst!«

Sie richtete sich auf. ›Lieb ich ihn denn nicht? ... Ich darf jetzt alles, jetzt hab ich das Recht auf ihn.‹

»Ich nehme an«, sagte sie.

»Gleich. Schicke gleich zum Notar. Ich bin nicht eher ruhig.«

Sie legte rasch und zart ihre Wange an seine.

»Und dann – oh, du weißt ja nicht ...«

»Dann kommst du und sagst mir – du wirst es mir dann sagen?«

»Das, was du nie gehört hast. Und fühlen sollst du's! Du weißt nicht, wie ich lieben kann. Was für Leidenschaft ich mir erspielt habe! Nun gehört alles dir, dir, dem einen, meine ganze gepflegte, erarbeitete Persönlichkeit, die ich jedem mißgönnte, meine Sinne, mein Herz und all meine Kunst: dir!«

Sie flüsterte ihm die Verheißung ihrer Kostbarkeiten heiß in die Lippen, mit ihrem geübten Flüstern, das das ganze Zimmer erfüllte, mit ihrem gerollten R, ihrem geschulten, kunstvoll wogenden Atem.

»Ich hab zu lang gesäumt, verzeih! Jetzt bin ich dein!«

Sie küßte ihm die Hände, die welke Brust, fing seinen verdorbenen Atem mit den Lippen auf, sie hielt seine wankenden Schultern in ihren reichen Armen. Ihre prunkenden Gebärden berauschten und ängstigten ihn. Er schloß die Augen. Es war ihm, mit Schwindeln, als jagte sie zu Pferd in rote Weiten. Er blieb zurück, die heiße Luft erstickte ihn. Welche Ohnmacht!

Sie ließ ihn, sie ging, den Blick rückwärts immer auf ihm, zur Tür. Er wühlte sich aus den Kissen hervor, sah ihr nach, streckte die Arme aus; aber sie sanken schlaff hin. Er fühlte sich auf einmal mit grauenhafter Deutlichkeit auf dem Wege zum Grabe Gildas, der an seiner matten Seele Gestorbenen – hinter ihrem Sarge, an einem Regentage, als seine Gedanken das erste Mal eingeschlafen waren und als er in seinem trüben Bewußtsein Ute begraben hatte, Ute selbst, und alle Hoffnung, lieben zu können wie ein Starker. Nun schritt dort vor ihm her, der Tür und dem ewigen Schweigen zu, das Phantom Utes, das nichts in ihm, in seinem Blut, in seinem Herzen mehr würde rühren können, nach dem er nicht greifen durfte, der dem seelischen Tod Verfallene ... Er umfaßte seinen Kopf. Es ward ihm schwindlig, das Bewußtsein verging ihm ... Ute schloß eben hinter sich die Tür.

»Na nu wird's hell«, rief ihr aus dem zweitnächsten Zimmer Panier entgegen. »Süh mal, was macht denn die junge Dame den ganzen Tag da drinnen. Darf man da nichts von wissen, weil Sie die Tür abgeschlossen haben? Sie spielen woll barmherzige Schwester?«

Ute ging weiter, an Killich, Kreuth, Pömmerl vorbei. Ihr Vater lief ihr entgegen, er küßte ihr die Hand.

»Mein geliebtes, gutes Kind! Verzeih deinem Vater. Ich habe geglaubt, ich gestehe es, es fehlte dir an Gemüt. Nein, du hast auch das noch. Was du an deinem kranken Freunde tust, verlaß dich drauf, es wird dir vergolten.«

»Da wird sie woll für sorgen«, meinte Panier.

Ute schellte, zu dem Diener sagte sie:

»Holen Sie sofort den Notar Angerer.«

»Siste!« schrie Panier und schlug auf den Tisch.

»Bringen Sie wenigstens noch 'ne Pulle Rotwein mit herauf«, verlangte Killich. Die Herren frühstückten kalten Braten und Marmelade. Er wandte sich an Ute:

»Ich habe mehrmals am Türgriff gerüttelt, Fräulein. Haben Sie sich nicht gedacht, daß das ich sei? Wir sind, scheint's, beide ziemlich entschlossene Herrschaften. Prost. Aber Sie sind mir zuvorgekommen. Ist wirklich gar nichts mehr zu holen?«

»Ich brauche hundert Mark«, erklärte Kreuth, »die könnten Sie mir wohl übriglassen. Aber ich muß sie gleich haben.«

»Ich habe 'ne Erfindung gemacht«, sagte Killich. »Die wird er doch noch finanzieren können?«

Pömmerl faltete die Hände über dem Knödel in seiner Weste und versetzte mit giftigem Behagen:

»Fräulein Ute hat 'ne bessere Erfindung gemacht. Zugartikel ... Soll jemand den Leuchter halten, bei der Probeanwendung?«

»Der Apparat hat sich längst bewährt«, behauptete Killich und tanzte halb betrunken, mit großen Flügen seines blonden Bartes, vor Utes Füßen umher. Sie blieb stehen. ›Ich werde nicht flüchten‹, beschloß sie.

»Sehn Sie sich bloß vor«, riet Kreuth mit hohler Stimme, »daß Sie nachher nicht wegen fahrlässiger Tötung verknallt werden.« Der junge Ende war erblaßt und streckte anmutig bittende Hände aus.

»Meine Herren, Sie irren sich wohl, ich bin der Vater.«

»Der würdige Vater«, bestätigten die Erbitterten.

Aber hinter dem hohen Lehnstuhl Paniers kam unversehens Bella hervor.

»O Gott, mein Mann, er ist blau, er kann nicht mehr sprechen!«

Man goß ihm Selterswasser über das Gesicht, rieb ihm die Stirn mit Kognak. Sein Kopf hing nach links. Der Blick war zur Seite gedreht; er stammelte immerfort etwas Unverständliches.

»Nun hat er wieder einen Schlaganfall«, jammerte Bella.

»Zweimal die Woche steht doch in Ihrem Ehekontrakt«, meinte Killich.

»Und daran bist du schuld«, kreischte Bella in Utes Gesicht. »Du abscheuliche Person! Du willst uns alles Geld wegnehmen! Erbschleicherei steht überhaupt im Strafgesetzbuch, weißt du das nicht? Was du jetzt vorhast, dafür sind wir alle Zeugen.«

»Und wir werden dem Gesetz auf die Sprünge helfen!« schrie Killich. Ute sah ihn kalt an.

»Wie wollen Sie das machen, bitte? Werden Sie, während Claude seine Verfügungen zu Papier gibt, Gong schlagen, damit der Notar ihn nicht versteht?«

Der junge Ende arbeitete sich ab vor Entsetzen.

»Aber Kind, Kind! Was tust du? Solch ein Vermögen, eine beliebige Anzahl Millionen, das steckt man doch nicht einfach ein?«

»Nicht wahr?« fragte Ute. »Als du mir schriebst, hast du nur an ein paar Tausend Mark gedacht?«

Bella hing an Paniers Lippen. Er war mittlerweile zu verstehen:

»Daß er uns man wenigstens seine 500 000 Mark im Geschäft stehenläßt! Sonst soll ihn doch der Deubel!«

Pömmerl hetzte.

»Der Junge enterbt Sie.«

Bella richtete sich zischend auf gegen Ute.

»Und das ist 'ne große Künstlerin. Die hat's bloß mit der Kunst machen wollen, und alles übrige war ihr zuwenig, und verachtet hat sie alle, denen die Kunst Wurscht ist und die lieber heiraten. Ich glaub gar, mich verachtet sie auch.«

»Ja«, sagte Ute.

»Und wo bleibt jetzt die Kunst? Damit war doch wohl nichts anzufangen. Jetzt verlegen wir uns auf Schliche und verführen einen Halbtoten. Für 'nen ordentlichen Mann bist du ja viel zu krankhaft; bei dir ist überhaupt alles in Unordnung! Oh, schlecht bist du, schlecht!«

Utes weite, graue Augen musterten neugierig das fassungslose, weiche Gesicht der andern. Sie hob die Schultern; nein, kein Wort lohnte sich. Wie hätte dieses Weibchen da verstehn können, daß Ute niemals eine größere Künstlerin gewesen war als in diesem Augenblick, da sie Claude liebte. Wer würde ihr von allen Gewöhnlichen das glauben: Liebe zu diesem Sterbenden! Aber sie, Ute, trug sie in sich, sie bebte davon! Sie hatte ihm sein Geld nicht abgeschlichen; sie empfing es, kraft ihrer Liebe. Niemand würde das erfahren, es blieb unerkannt wie ihre höchste Kunst. Sie atmete tief auf, in ihrer einsamen Vollkommenheit. Den Kopf sehr hoch, ging sie durch das Vorzimmer zurück, öffnete die Tür zum Schlafgemach, verschloß sie, zog den Vorhang vor. Zwischen Tür und Vorhang streifte sie ihre Kleider ab, rasch, mit festen Griffen. Die Seide raschelte, in tiefer Stille. Ute zeigte sich, nackt, einen Arm erhoben an der Gardine.

»Claude! ...«

Da erblickte sie ihn. Er saß vornüberhängend, die kahle Stirn ganz in schmutzigen Falten, und mit Augen, stier und ausgelöscht, wie unter Häuten. Seine Lippen waren von dem abgezehrten Zahnfleisch zurückgezogen zu einem Grinsen. Die Finger krallten sich in die Decke.

Ute machte zwei Schritte, nach vorn geworfen vom Entsetzen. Sie ging durch Sonne; die Sonne vergoldete ihren Nacken, entzauberte ihre Hüften, entlockte ihrem Leibe Blütenfarben und ihren Brüsten den Schmelz von Früchten. Ihre Schenkel zitterten beim Gehen, der Flaum küßte ihre Glieder, ihr Haar flammte auf. Die Sonne machte Utes Fleisch aufjauchzen vor den toten Sinnen dessen, der lallte und kicherte.

»Claude! Nun sag ich dir's ja, das, was du nie gehört hast. Claude, ich!–«

 


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