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IV.
Die andere Bude

Die Tischgenossen waren schweigsam. Frau Marehn sah geringschätzig über die Gerichte weg. In langen Pausen steckte sie, wie aus Zerstreutheit, einen Bissen in den Mund. Von Eisenmann versuchte es ebenso zu machen. Aber er geriet ins Schlingen, er wußte nicht wie. Manchmal hielt er inne und nahm sich zusammen. Panier aß kräftig und ohne falsche Scham. Er machte eine Bemerkung, weil keine Salzkartoffeln da waren. Und während er sich den Mund füllte, fraßen seine Augen von Ute, soviel sie fassen konnten.

Ute und Claude sprachen von Dingen, die nur sie angingen. Von Eisenmann runzelte schon längst die Stirn. Schließlich sagte er zu Frau Marehn, er habe nicht die Absicht, sich in die Erziehung ihres Sohnes zu mischen; aber der junge Mensch lasse eine gewisse würdige Männlichkeit schon den ganzen Tag vermissen. Claude sah seine Mutter erröten und stellte fest, es tröste sie, daß man ihn noch als Buben behandelte. Aber Ute bemerkte unschuldig, im gleichförmigen Backfischton:

»Die würdige Männlichkeit kann unmöglich viel kosten, nicht, Herr Hauptmann? Sonst hätten Sie sie doch nicht.«

Wie war sie entschlossen! »Wenn ich ihm ins Gesicht sagte, daß er ein ausgehaltener Mann ist, mir scheint, ich müßte mich mehr dabei schämen als er.«

Von Eisenmann drehte Ute einfach den Rücken zu. Er verständigte Panier von seiner Überzeugung, daß Kassierer Ringsum ein Gauner sei. Der Preis von zwei oder drei unlängst während der Krankheit Marehns verkauften Terrains sei so niedrig, daß Ringsum unbedingt Provision vom Käufer erhalten habe. Panier meinte, ein Glas Sherry an der Nase:

»Na lassen Sie man, Ringsum ist noch 'n harmloses Huhn gegen die meisten. Und überhaupt, wenn einer stirbt, dann können Sie nicht verlangen, daß alles sauber zugeht. Von dem Fall profitiert jeder – aber jeder einzelne, dafür garantieren wir Ihnen.«

»Oho!« rief blitzenden Auges von Eisenmann, »'n paar anständige Menschen gibt's denn doch noch!«

Er schob ein großes Stück Pudding mit erregter Hand weit von sich. Gleich darauf riß er es zurück und begann daran zu würgen, gebückt, den Schnurrbart triefend von Saft.

Er sagte noch einiges Geschäftliche, richtete es aber ausschließlich an Frau Marehn. »Sie als Universalerbin –« kehrte mehrmals wieder.

Panier wiegte lange den Kopf, zwinkerte flüchtig nach Claude. Als niemand mehr daran dachte, äußerte er:

»Wer weiß.«

Nach Tisch nahm er Claude beiseite.

»Mein Junge, brauchst du Geld?«

»Ja«, sagte Claude. Panier nickte.

»Wir wissen woll, wofür.«

Und er zwinkerte nach Ute.

»Das soll ja 'n sogenanntes ide–a–les Verhältnis sein.«

Und er zwinkerte so lange, bis Claude verstanden hatte, er, Panier, glaube nicht an das ideale Verhältnis.

»Ja«, sagte Claude. Panier faßte ihn am Knopf.

»Mein Jung, du bist nu in den Jahren, du sollst man anfangen, dich 'n bischen zu amüsieren.«

»Ich, Herr Panier? Ich hör schon bald wieder auf.«

»Chotts – Was ihr heut alle habt, ihr Jungen ... Das sagt nu einer mit zwanzig. Und sieht so mieserig aus, daß jedes ordentliche Weib Angst haben muß, er geht ihr dabei kaputt. Wir – wir sind dreiundsechzig, aber wir werden noch mit jeder fertig. Jedes neue Weib ist 'n Paradies, mein Söhnken. Nöh, blasiert sind wir nicht. Und mit allem in Ordnung: Lunge gut, Verdauung gut, Haarwuchs gut, alle Zähne – und dann das, worauf es am meisten ankommt. Wir haben nichts weiter nötig, als daß uns jede Nacht 'n junges Mädchen ins Fenster steigt.«

»Jede Nacht, Herr Panier?« fragte Claude, die Augen weit geöffnet.

»Jede Nacht!«

»Sie müssen viel Glück bei Frauen gehabt haben, Herr Panier?«

»Gehabt is jut. Willst du mir woll glauben, daß uns, wie wir dastehen, in Düren noch heute die Weiber nachlaufen.«

»Wenn sie's in Düren tun – die werden ja nicht perverser sein als anderswo.«

»Nöh, pervers sind die nicht.«

Claude sah gleichgültig weg. Den weiblichen Geschmack verstehen zu wollen, das hatte er aufgegeben. Er äußerte:

»Was Sie also vorhin meinten ...«

»Richtig. Wir haben es dir gleich mitgebracht. Der Notar Angerer kommt vielleicht noch heut abend mit dem Testament, aber versprechen konnte er's uns nicht; das Ableben deines Vaters macht ihm ja enorm viel zu tun. Und wieviel du gleich in die Hand kriegst, ist auch nicht sicher. Na, da hast du erst mal fünftausend. Laß man, das Schriftliche gibst du uns morgen. Nöh, wir kennen dich doch. Und denn stehn ja eure fünfmalhunderttausend bei uns im Geschäft, die wirst du da auch woll lassen.«

»Soviel an mir liegt, Herr Panier. Meine Mutter als Universalerbin ...«

»Ach ja, Universalerbin. Na, ich wart hier nu auf Angerer mit dem Testament. Aber du, mein Söhnken, amüsier dich nu man 'n bischen. Dein Vater ist heute gestorben, alles was recht ist; aber versauern darfst du doch nicht, was?«

»Meinem Vater wird daran gar nichts liegen.«

»Siehst du woll. Denn geh nu man 'n bischen zu Gisela Gigereit. Ich hab ihr schon gesagt, daß wir auch kommen.«

»Auf Wiedersehn, Herr Panier.«

»Aber erst packst du dein Idea–al in den Wagen. Immer höflich mit die Damen.«

Draußen sagte Claude zu Ute:

»Du, deine Kostüme habe ich in der Tasche.«

»Die Wohnung auch?«

»Es langt für alles.«

»Ist recht. Laß nur dem jungen Ende nichts merken, sonst wird er begehrlich.«

»Darf ich jetzt noch ein Stündchen mit dir kommen?«

»Bitte nicht, ich muß arbeiten. Dein Vater kostet mich heute schon zwei und eine halbe Stunde. Wenn du meinst, das geht so weiter. Vor halb drei komme ich nicht zu Bett. Fedora, meine erste moderne Rolle!«

»Also gute Arbeit!«

Er schloß den Schlag. Sie besann sich, streckte den Arm heraus.

»Übrigens vielen Dank ... Und auf Wiedersehn. Wohin gehst du?«

»Zum Spießl.«

Aber bei der Universität überholte er Matthacker und Killich. Er grüßte. Matthacker rief ihm nach:

»Warum waren Sie denn nicht dabei, Marehn?«

»Wobei?«

»Ach ja. Ihr Herr Vater ...«

»Tiefes Beileid«, sagte auch Killich. »Kommen Sie her.«

Sie nahmen ihn in die Mitte, sie waren beide halb betrunken.

»Dieser Pömmerl ist zum Schreien«, erklärte Matthacker in seiner vorsichtigen Sprechweise. Er war groß, schwer, sehr schick; und weil seine dicken dunkelroten Wangen eine gewisse Schiebung bis unter die braunen Augen erlitten, sah Matthacker, abgefeimt wie er war, immer ganz erstaunt und hilflos aus.

»So, Pömmerl«, sagte Claude. »Ich wäre sonst auch gekommen. Ist er seine Frau los?«

»Er fährt sie und ihren Liebhaber eben zur Bahn. Er hat ihnen zuletzt noch Hotels in Italien empfohlen. Das Scheidungsmahl war heiter. Von so reiner Heiterkeit. Pömmerl hat geredet: das Zusammenleben mit seiner Frau werde ihm unvergeßlich bleiben, und in seinem nächsten Gedichtbuch solle sie sicher den meisten Raum einnehmen. Er trinke auf das Glück der beiden jungen Leute. Er ist sehr fein, der Pömmerl, ich werd ihm seinen Leichnam abkaufen.«

Matthacker sah in die Sterne. Killich erklärte, und ein Windstoß drückte ihm den großen wildblonden Bart gegen die linke Schulter:

»Es kommt auf das Temperament an. Die Zank kann mir nicht nachsagen, daß ich sie an den Bahnhof begleitet habe. Allerdings gab es auf unserer Südseeinsel keinen Bahnhof. Und der Kerl, den sie mir vorgezogen hat, mit dem kann man auch in keiner Droschke fahren; den setzt man in einen vergitterten Wagen.«

»Wo hält sich die Gräfin jetzt auf?« fragte Claude.

»Sie hat ihn nach Paris gebracht. Er produziert sich irgendwie, besonders bei Damen, und sie lebt davon. Sie hat mich ausdrücklich gefragt, warum eigentlich immer die Frau sich prostituieren müsse. Ich konnte ihr das auch nicht sagen ... Basta! Was mich bei diesen Liebesgemeinheiten reizt, ist das neue Licht, womit sie einen bewerfen. Sie zeigen einem auf haarsträubende Weise, wer man ist; wenigstens wer man für die Weiber ist. Ich und das Südseetier, in der Seele der Zank müssen wir verwandt sein.«

Killichs starke und gewandte Hand holte seinen Bart von der Schulter herunter. Auch befestigte sie seinen Burenhut. Im übrigen war seine Kleidung peinlich englisch. Aber er säbelte mit den Armen, zu dem Lärm seiner Rednerstimme.

»Also lassen wir gefälligst die Dummheiten. Eine Verschiebung des Papierstreifens um den zwanzigsten Teil einer Linie ruft, wie gesagt, bedeutende Verschiebungen des Buchstabens im Druck hervor.«

»Er meint seine elektrische Setzmaschine«, erläuterte Matthacker.

»Elektrisch?« fragte Claude ängstlich. »Maschine?«

»Beleidigt Sie das?«

»Alles, was Maschine heißt, erfüllt mich mit Mißtrauen. Es ist wohl der Haß des Schwachen. Aber tun Sie, als wäre ich nicht da.«

»Präzisionswerk«, sagte Killich. »Wird gefingert wie 'ne Schreibmaschine ...«

»Er will keine Maschinen«, sagte Matthacker sanft.

»Stößt Löcher ins Papier. Durch den Stoß werden elektrische Kontakte ausgelöst. Der Strom bringt die Buchdruckerlegierung zum Schmelzen ...«

»Er will es doch nicht.«

»Ein anmutiges Werkchen«, sagte Claude.

»Gestehen Sie«, bat Matthacker, »daß eine Kolonie von Frettchen, in Indien, gegen das Schlangengift, noch herziger wäre. Es ist ein graubraunes Wiesel, müssen Sie wissen, läuft wie 'n Wiesel, frißt ein gewisses Kraut, wird immun. Nun passen Sie auf: das Kraut nützt dem Menschen nichts, wegen Verschiedenheit des Magensaftes. Aber ein Serum aus dem Frettchen ...«

»Frettchen? Ist das ein Tier?« fragte Claude.

»Ach Gott, Sie haben nicht aufgepaßt.«

»Unsinn!« schrie Killich gegen den Wind. »Bisher war alles schon bekannt. Und die Verschiebung des Papierstreifens machte es praktisch bedeutungslos. Nun komme ich.«

»Das Frettchen ...«

» Nun komme ich! Statt des Papiers verwende ich einen fest eingebetteten Stahl-Argonstreifen. Argon legiere ich hinzu wegen besserer Konsistenz und der Seltenheit halber, weil bisher nur Spuren davon gefunden sind, in den Dämpfen des Mont Pelée.«

Matthacker rang sich durch.

»Sie müssen das bloß verstehen. Das Alkaligift der Schlange zersetzt die Blutkörperchen; das Gegengift muß neutral sein. Aus dem Darm des Frettchens geht das neutrale Element des Krautes ins Blut über. Beim Menschen müßte man es subkutan injizieren, in der Nähe des Bisses, aber näher dem Herzen zu. Wo wird man's zum Beispiel bei einem injizieren, der am Kopf gebissen ist?«

»Am Kopf?« wiederholte Claude mit Grauen.

»In der Klavikulargegend«, antwortete Matthacker mitleidig. »Zu den Versuchen brauche ich eine Kolonie von Brillenschlangen, eine Kolonie von Frettchen und einige Verbrecher.«

»Eine Verbrecherkolonie?«

»Also eine tropische Regierung, die mir zum Tode verurteilte Verbrecher überläßt.«

»Ich«, rief Killich, »brauche eine große Fabrik, die die Tragweite meines Gedankens erkennt.«

»Was Sie alles brauchen«, meinte Claude geringschätzig. »Man muß nicht so viele Bedürfnisse haben.«

»Meine Maschine bietet einen besonderen Reiz dadurch, daß sie viele tausend Setzer brotlos machen wird. Welche ungeheuerliche Beschleunigung der sozialen Veränderungen!«

»Und dazu haben Sie den Mut?« fragte Claude. »Nun, Sie kommen aus der Südsee.«

»Und von der Zank, junger Mann.«

»Meine Entdeckung«, sagte Matthacker, »kann aller Welt ganz gleichgültig sein, weil Brillenschlangen doch hier nur in vergitterten Käfigen vorkommen. Gerade darum erwarte ich, daß sich ein Unternehmer findet, mit Phantasie und mit Mitteln.«

»Niemand kann ihn hindern, sich zu finden«, sagte Claude. »Aber ich muß die Herren jetzt verlassen.«

»Sie kommen mit!« sagte Killich drohend. »Wozu nähre ich Sie zwanzig Minuten lang mit meinem Geist, wenn Sie nicht mal 'n Kognak drauf trinken wollen.«

»So fett war Ihr Geist nicht.«

»Wozu wir ihm das erzählen?« fragte Matthacker, den Fuß auf der Schwelle des Café Luitpold. »Er hat doch jetzt Millionen.«

»Donnerwetter!« sagte Killich und blieb stehen.

Die beiden starken Herren sahen von rechts und links auf Claude hernieder. Er fühlte sich auf einmal umgewendet, durchsucht, zu einem Gegenstand von Berechnungen geworden. Gedemütigt und angewidert murmelte er:

»Es ist nicht so schlimm.«

Aber seine Begleiter nickten mit gefalteten Stirnen auf ihn ein, als sagten sie: »Versuchen Sie nur nicht zu leugnen.«

›Es scheint, meine Funktion als Millionär fängt an‹, dachte er, während sie zwischen den spiegelnden Säulen in den Qualm von Menschen drangen. ›Ich erinnere mich, Papa sagte einmal ohne ersichtlichen Grund: »Ich möchte dir's wohl ersparen.« Jetzt weiß ich ungefähr, was er meinte. Na, was die Mitmenschen anlangt, da weiß man ohnehin Bescheid; dazu brauche ich weder Killich noch Matthacker ... Und er wird es mir erspart haben. Es wäre blödsinnig, wenn mir das viele Geld über den Hals käme, und Ute, für die es auszugeben Sinn hätte, käme nicht ... Außerdem‹, dachte er noch rasch hinzu, während er schon vor Freunden den Hut abnahm, ›ist Papas Geld recht gefährlich und unbequem angelegt. Vielleicht existiert es nur zeitweilig und wenn man guten Willen hat. Eine kleine, sichere Rente wäre mir lieber.‹

»Grüß Gott, Pömmerl.«

Pömmerl saß ganz hinten und an seinem Tisch allein; aber die andern Stühle hatte er alle umgekippt. Er winkte bloß mit seinem Patschhändchen, ohne aufzustehen. Er hielt eines seiner fetten Beinchen in prallen Höschen so kunstreich gebogen, daß der winzige dicke Lackschuh auf dem andern Knie lag. Sein Gesicht, mit klugen schwarzen Äuglein, glänzte rosig und breit unter der hohen, weißen Stirn.

»So sieht das Glück aus«, sagte Matthacker. »Ich habe gerade die Ansicht verteidigt, daß Sie etwas sehr Feines sind. Doktor Killich wollte es anders wissen.«

»Ich meine, Sie sind höchstens ein Meerschweinchen«, erklärte Killich.

»Jaja«, sagte Pömmerl und faltete die Hände über dem Knödel in seiner weißen Weste. »Da sitzt man im Café und hat wieder etwas erlebt.«

»War es der Mühe wert?« fragte Claude.

»Das kann ich Ihnen erst sagen, wenn die Gedichte fertig sind.«

»Ich wäre sonst auch gekommen. Übrigens meinen Glückwunsch.«

»Übrigens mein Beileid«, erwiderte Pömmerl.

»Grund genug«, sagte Killich verächtlich. »Er ist jetzt tropische Regierung und einsichtige Fabriksleitung in einer Person. So was greift an.«

»Wir haben unsern Unternehmer gefunden«, setzte Matthacker hinzu. »Er hat selbst gesagt, niemand könne ihn hindern, sich zu finden. Nun hat er sich selbst nicht hindern können.«

»Ich versichere Sie, daß Sie mich nicht zu Ihrem Affen machen werden!« sagte Claude plötzlich sehr fest. Er sah die drei, auch den armen Pömmerl, der Reihe nach an, blaß vor Gereiztheit, und wandte ihnen den Rücken.

Ein Stück weiter saß Köhmbold von der Zuckerfabrik in Altona und trank Tee. Claude reichte ihm stumm die Hand wie einem Leidensgefährten.

»Beileid«, murmelte Köhmbold.

Die Kellnerin kam; Claude zeigte auf den Tee.

»Mir auch«, sagte er.

Sie wollte eine menschliche Annäherung einleiten; aber die beiden jungen Millionäre hatten etwas Abstoßendes. Sie verzog das Gesicht und lief weiter.

»Setzen Sie sich doch bloß nicht zu den Viechern«, äußerte Köhmbold säuselnd und zog ein stark duftendes Taschentuch. »Das sind ja Viecher.«

Claude bedauerte schon, daß seine Duldsamkeit ihm einen Augenblick lang entschlüpft war.

»Es sind auch nur Menschen«, meinte er. Köhmbold entgegnete:

»Das leugne ich ja nicht. Um so schlimmer.«

Claude sah ihn sich an, den hagern, grobknochigen Gesellen, in dessen Gesicht die Nase, mit eingesunkenem Sattel, nur ein Knopf war. Die Stirn zerknitterte sich, voller Sorgen, nach den Augen hin, zwei blassen Wassern. Köhmbold hatte seinen langen Handgerippen und ihren viereckigen Nägeln soviel Vornehmheit abgewonnen, wie immer in seiner Macht stand. Seine Brust ward vollkommen gepolstert von einer langen, breiten und hohen Krawatte aus Gelb, Pfauenblau, Apfelgrün, Schwarz und Silber. Dieser verlorengegangene Kaufmann ließ seinen Bruder bei der Fabrik und tat nichts, als Maler in ihren Ateliers belästigen, Stücke beurteilen, die ihn nichts angingen, unanständige Verfeinerungen sich anmaßen. Claude fragte ihn:

»Wie kommen Sie eigentlich dazu, die Menschen zu hassen? Es tut Ihnen ja keiner was.«

»So? Sie werden schon merken, was sie einem tun. Haben Sie nicht geerbt? ... Sehen Sie, es gibt bekanntlich bloß Gauner und Dumme. Aber ich will keins von beiden sein – durchaus keins von beiden«, wiederholte er schwach und verbissen.

»Was ist denn Ihr Bruder, der die Fabrik leitet?«

»Der ist Gauner.«

»Sie Ihrerseits haben wahrscheinlich nicht mehr das Zeug zum Gauner. Aber zum Dummen langt es auch nicht mehr? Das ist schlimm.«

»Ich will überhaupt nur die Schönheit«, erklärte Köhmbold. »Das andere ist doch faul.«

Und eine dünne Sehnsucht tauchte, gleich einer dürftigen Fee, aus den Wassern seiner Augen.

»Was halten Sie von Killich?« forschte Claude.

»Der? Lebt der nicht von Weibern? Ich will nichts gesagt haben. Aber sicher bezahlt er die eine mit dem Gelde der andern. Und dann: ist er überhaupt Doktor? Und wenn schon, wovon ist er denn Doktor. Er pfuscht ja in alle Wissenschaften, ist auch noch Athlet und Politiker, und 'n großer Damengünstling. Das ist das einzig Sichere.«

»Nehmen Sie ihm das übel?«

»Die Weiber schenk ich ihm, die wollen doch immer bloß Geld. Aber etwas Bestimmtes muß der Mensch sein. Kaufmann oder Jurist oder Arzt!« rief er mit verzerrtem Gesicht; und Claude wunderte sich, wie genau der verwilderte Bürger es nahm mit den Forderungen seiner angestammten Klasse.

»Dann wird Ihnen Matthacker lieber sein. Er ist wenigstens Arzt.«

»Und was für einer. Er sorgt dafür, daß seine Klienten nicht an Kontinenz zugrunde gehen. Ach Sie! Mir hat er eine Photographie gezeigt! Ich bin daraufhin mit ihm in seine Klinik gegangen. Es war eine exotische Prinzessin.«

»Eine von denen, die durchaus Kinder kriegen wollen?«

»Wieso Kinder kriegen?«

»Das wissen Sie nicht? Matthacker hat doch eine große Kundschaft von reichen Damen aus der Fremde, von denen, die ein Professor dem andern zuschickt mit verschlossenen Billetten, worin geschrieben steht: Anbei eine goldene Gans, rupfen Sie sie ... Matthacker seine wollen sämtlich Kinder. Er tut auch, als läge es an ihnen; in Wirklichkeit liegt es natürlich am Mann. Er behandelt sie lange und kostspielig, und dann läßt er den Toni auf sie los.«

»Toni?«

»Den Toni aus Partenkirchen. Er sagt den Damen, es wäre schade, wenn sie die weite Heimreise machten und nachher stelle sich heraus, daß die Kur noch nicht gelungen sei. Besser sei's, man nehme einen Versuch vor. Der Toni nimmt ihn vor. Er gelingt immer. Und die Aristokratie der entlegensten Reiche fährt fort zu blühen, dank dem Toni aus Partenkirchen.«

»Und die Damen lassen ihn sich alle bieten?«

»Alle«, behauptete Claude mit Nachdruck. Aber Köhmbold entrüstete sich.

»Sehen Sie, woher wissen Sie das? Wenn meine Prinzessin damals den Toni genehmigt hätte, dann wäre ja ich nicht nötig gewesen.«

»Er hatte vielleicht Ferien«, meinte Claude. Köhmbold seufzte.

»Ach Gott, jetzt verstehe ich erst, was ich sollte. Ein Kind wollte sie haben, das niedrige Geschöpf. Und ich habe ihr gleich gesagt, daß die gemeine Sinnlichkeit nicht meine Sache sei. Ich wollte nur in nackter Schönheit eine Stunde mit der Dame verbringen. Dafür bezahlte ich Matthacker. Die Dame hatte auch scheinbar nichts dagegen.«

»Dagegen kann man doch nichts haben?«

»Nicht wahr? Aber nachher standen statt 380 Mark, die ausgemacht waren, 450 Mark auf der Rechnung. Vorgeblich, weil ich sie gelangweilt hatte.«

»Das ist kein Grund«, sagte Claude.

»Immer Gaunerei. Ich verlange bloß Schönheit, das ist ja das einzige, womit 'n anständiger Mensch sich noch befassen kann. Aber meinen Sie, daß ich je so viel kriege, als ich bezahle? Da hat mir der Hugendubel, unser großer Kunstgewerbler, der sticken kann und Servietten auf 'ne ganz neue Art zusammenfalten – der hat mir die Zigarettentasche da gemacht. Ist sie nicht riesig intim? ... Ich hatte auch extra dafür bezahlt, daß dies das einzige Exemplar sein sollte. Was glauben Sie, heut abend nach seinem unverschämten Scheidungsfest zieht der Pömmerl, der Schlucker, ganz dieselbe Zigarettentasche!«

»Wie schimpflich!« meinte Claude.

»Und er hat sie umsonst gekriegt – natürlich, der Schlucker. Daraufhin werd ich nicht mal klagen können. Diese Leute, die einem die Schönheit verkaufen, stecken alle zusammen. Was der Pömmerl für ein geschnitztes Doppelbett hat, gelb lackiert, die Schnitzereien schwer versilbert. Und einen Ofen haben sie ihm bemalt wie Delfter Kacheln. Natürlich, dazwischen stehen die Sachen, die er hat bezahlen müssen, und die sind denn auch danach. Und glauben Sie, daß das Lebewesen mich nach Tisch angebettelt hat? Er wollte seiner Frau noch ein Bukett kaufen.«

»Aber so eine Verletzung des Gastrechts!«

»Ich hab ihm gesagt, er solle sich das Bukett schenken lassen wie die Zigarettentasche.«

»Da war er geschlagen.«

»Ach Sie, Marehn, jetzt laß ich mir etwas machen, damit können sie mich nicht so leicht hineinlegen. Sie raten es doch nicht. Persönliche Zahnstocher! Was? Darauf ist noch keiner verfallen. Zahnstocher, die in Mädchenleiber übergehen, drei Sorten, und sie passen genau für meine Zahnlücken, da und da und da. Nun müßte einer schon ganz dasselbe Gebiß haben ...«

»Gott, die Zahnlücken können schließlich mal stimmen. Wissen Sie, das ist wie mit den Weibern; die passen auch mal einem andern.«

»Das sag ich ja. Drum genieß ich sie auch bloß in Schönheit. Was? dazu muß man schon 'ne verfeinerte Individualität sein.«

»Mindestens impotent«, sagte Claude und sah Köhmbold ruhig in die Augen. Köhmbold hob die Achseln, er lächelte groß.

»Was darauf noch ankäme, wenn man einmal bei der reinen Schönheit angelangt ist ... Gehen Sie schon? Nein, ich warte auf Ruschka.«

»Ihren schönen Jüngling? Dann rasch adieu! Wozu starren Sie immerfort in den Spiegel?«

»Ich werde ihn, wenn er kommt, zuerst dort im Spiegel sehen. Sie wissen doch, im Spiegel sind alle Dinge ferner und seltsamer, wie in Ahnungen, unter Wasser sozusagen, versunken, verzaubert und so weiter.«

»Und so weiter«, sagte Claude und ging. Ruschka kam eben an, träumerischen Ganges. Seine schwarzen Haare fielen glatt über seine Ohren. Er hatte das blasse, weiche Profil eines südlichen Mädchens und ein üppiges Auge.

Claude ging stramm an den Tisch der andern. Er sagte:

»Über Ihre Pläne, meine Herren, sprechen wir noch.«

Killich sah ihn kalt an.

»Natürlich sprechen wir. Wußten Sie das nicht? Und zahlen werden Sie.«

»Sie sind fein«, sagte Matthacker zart. »Ich kauf Ihnen Ihren Leichnam ab.«

Er heftete sich an den Strohhalm in seinem Getränk und äugte erstaunt und ängstlich über seine hohen Wangen hinüber.

»Grüß Gott, Pömmerl.«

Pömmerl rief Claude zurück.

»Es war der Mühe wert«, berichtete er selig und skandierte auf dem Tisch.

›Sie mögen mich hineinlegen‹, dachte Claude beim Weggehen. ›Ich durchschaue sie zum voraus und bin schon gerächt. Und ich werde dennoch gehandelt haben – anstatt in Spiegel zu blicken.‹

Im vorderen Raume des Cafés wankte ihm Kreuths langes Gerippe entgegen, wie immer abgewendeten Hauptes über die Welt hingeisternd. Sein beängstigend hohes und schmales Gesicht hatte er mit etwas Rot dem eines Lebendigen ähnlich gemacht; seine knorplig ausgreifende Nase hatte er gepudert; und von der weit und hölzern vorstehenden Unterlippe hing das Bärtchen blaß wie ein Tautropfen.

Ohne Claude angesehen zu haben, sagte er mit einer Stimme, die hohl wie aus altem Gemäuer kam:

»Von ganzem Herzen Beileid. Jetzt müssen Sie ja Geld haben?«

»Jawohl«, erwiderte Claude gemessen. »Geld habe ich, Graf Kreuth.«

»Dann können Sie mir was geben. Aber ich brauche es gleich.«

»Ich auch, Graf Kreuth.«

Claude schüttelte Kreuth die kalte Hand und entfernte sich.

Bei der Peterskirche, vor Spießls Tür, sammelte er rasch in sich den ausgelassenen Zynismus, der im Verkehr der Freunde Gesetz war. Er trat ein und sagte:

»Na, du würdiger alter Lustmörder, was bedichtest du denn da für 'ne Affenschande?«

Spießl blieb stumm in seiner Rauchwolke; nur sein Korblehnstuhl knarrte, miterfaßt von der Qual dieses Körpers, der dachte; und der schwärzliche Schreibtisch mit den abgebrochenen Ecken krachte. Das Büchergestell, den Waschtisch, das Bett, alles konnte Spießl mit der ausgestreckten Hand berühren. Er antwortete endlich, die Zähne auf dem Federhalter.

»Messalina bei den Soldaten, auf dem Marsfeld. Du weißt ja. Ich lasse sie gerade reden.«

»So, bloß reden.«

»O nein, schon sonst noch was.«

»Das ist hübsch. Sag mal, wozu machst du immer solchen Mist.«

»Wozu, wozu?«

Spießl hieb die Feder hin, warf sich herum.

»Nun – um den Bürger zu ärgern!«

»Er erfährt ja doch nichts davon.«

»Man ist halt Künstler. Wenn du das nicht fühlst, bist du keiner.«

»Muß wohl so sein. Im Grunde seid ihr eitel, nicht wahr? Wollt, daß die Leute sich ärgern oder sich begeistern, und auf jeden Fall euch anstaunen.«

»Ja, so ist der Künstler«, sagte Spießl stolz.

»Nein, mir ist das Wurscht«, entschied Claude. »Ich bitte dich, was ist denn der Ruhm? Ein Mißverständnis. Von jedem Bessern nimmt man nur das Minderwertige. Sein Genie, sein starkes Empfinden sieht man ihm nach, weil er auch Talent und etlichen Witz hat.«

»Ja, das Beste an meiner Messalina werden sie niemals würdigen«, meinte Spießl.

»Und dann«, sagte Claude, »kommt für den Ruhm zu viel darauf an, ob man sich beim Geborenwerden nicht verspätet oder es vorweggenommen hat. Bei den Fanatikern der Enge heut und guten Volkstümlern, da soll mal der Goethe hergehen und soll wieder von seinem Ideal einer Weltliteratur anfangen. Der Reinfall!«

Spießl bestätigte:

»Meine Messalina sind sie heut nicht wert.«

»Na, und überhaupt – damit der Ruhm Wert bekommt, muß man doch Achtung haben vor seinen Zeitgenossen. Nein, mir ist er Wurscht«, wiederholte Claude, und er dachte an Ute, die Erfolggierige. Vor sie hinstürzen zu können, wie er es einmal im Traum vermocht hatte; hingerissen und hinreißend, sie, die eine. Das war alles, was es zu begehren gab.

»Du siehst auf das Schwarze da?« fragte er. »Mein Alter ist nämlich tot.«

»So. Muß ich kondolieren?«

»Laß nur.«

»Wir wissen wohl, wie wir über die Familie denken«, sagte Spießl aus der Höhe; und Claude wunderte sich, daß der andere nicht fühlte, wenn ein Vater sterbe, vergesse man die nihilistischen Grundsätze und sei traurig. Er stimmte indes bei.

»Allerdings, die Familie. Wenn du als erwachsener Sohn deine Mutter älter machen würdest, als sie sich fühlt – da hört's eben auf.«

Aber Spießl verwahrte sich gegen die Hineinziehung seiner persönlichen Verhältnisse.

»Bitte schön, meine Mutter ist so schon alt.«

»Aber meine nicht ... Oder begehe einmal eine der Heldentaten, die du immer bedichtest – nur einen bescheidenen Inzest. Wie deine Mama sich da wohl benimmt.«

»Erlaube, meine Mama ist eine sehr anständige Witwe.«

»Meine nicht ... Das heißt, Witwe ist sie ja nun.«

Spießl stellte nochmals fest:

»Über die Familie wissen wir Bescheid.«

»Und über das andere«, meinte Claude, angewidert. Spießl war ganz freudig.

»Wenn ich hier so sitze, fehlt mir nur die Zeitung, wo ich sagen könnte, was eigentlich das Ganze für 'n ekliger Zauber ist.«

»Gründen wir sie!«

»Wirklich? Ist das dein Ernst? Keine faulen Scherze, bitte.«

Claude lachte feindselig.

»Natürlich. Im Café Luitpold bin ich eben schon an zwei Unternehmungen beteiligt worden; nun kommst du.«

»Tu vornehm, nicht wahr? Ich werde dich niemals um etwas bitten, daß du's weißt. Niemals!«

»Ich weiß ja. Ich kenne dich doch«, sagte Claude weich. Daß Spießl richtig beleidigt sein wollte! Sie forderten sich immerfort heraus, ja; aber sie taten es, weil sie sonst keinen Menschen genügend hochachteten, um ihn herauszufordern. Spießl mißverstand das. Man verstand nichts voneinander, nicht einmal unter zwei Freunden, für die Zynismus Gesetz war.

»Es ist gleich«, äußerte er. »Eine große nihilistische Tageszeitung wäre doch 'ne feine Blüte. Man ist enorm stark, wenn man gar keine Illusionen mehr hat.«

»Das weiß Gott. Hast du keine Zigaretten mehr?«

»Doch. Laß nur. Deine Pfeifen vertrag ich nicht.«

»Wir werden Tag für Tag – Tag für Tag«, wiederholte Spießl und klopfte mit den Knöcheln auf die Tischkante, »in allem, was vorfällt, den nackten Egoismus des Individuums vorzeigen. Der sogenannte Altruist ist natürlich der schlimmste. Wenn der sich um andere bekümmert, das braucht er ja zu seinem Wohlbefinden. Ah! Alles wird niedergerissen, was ihn verhängt, den Egoismus. Alle Redensarten von Patriotismus, Volkswohl, Menschlichkeit. Und das nackte Gerippe!« schrie Spießl begeistert – »das nackte Gerippe des eigennützigen Individuums wird unerbittlich durch alle unsere Spalten laufen.«

»Wir brauchen nur die Wahrheit zu sagen«, meinte Claude, »und es läuft schon. Ich möchte wissen, was Panier und Söhne, Holz und Kohlen en gros, sich aus dem Deutschen Reich noch machen würden, wenn es ihnen nicht hier und da eine Kohlennot bescherte.«

»Natürlich. Dazu ist doch das Deutsche Reich gegründet.«

»Es gibt kein Vaterland«, erklärte Claude hart.

»Es gibt keine Familie«, versicherte Spießl noch härter. Und Claude:

»Es gibt keine Freundschaft.«

»Natürlich nicht!« rief Spießl in großer Angst, der andere könnte ihn überholen. »Wozu hat man denn einen Freund? Damit er einem zuweilen das Stichwort gibt zu einem Selbstgespräch. Man redet überhaupt nur umeinander herum, und keiner versteht das geringste vom andern; wenn du das nur wüßtest, du Esel!«

»Gut, daß du's mir sagst. Was weißt du von mir! Einsichtslos bis dahinaus.«

Dies wollte Spießl eingeschränkt wissen.

»Oh, ich, doch immerhin ... Aber du! Was du von mir weißt! Gar nichts!«

»Du armer Kerl!«

»Bazi du!«

»Du folgst ja nur deinen viehischen Instinkten«, sagte Claude, »wenn du dir einen Freund suchst. Wir haben das mal in uns, die Geister müssen sich aneinander reiben. Wir müssen trachten, zusammenzukommen, so gut wir auch wissen: wir bleiben allein.«

Er zuckte die Achseln: konnte man sich denn mitteilen?

»Immer allein. Da gibt's nichts«, bestätigte Spießl erbarmungslos.

Sie maßen einander durch den Qualm hindurch, die Zwanzigjährigen, beide voll von dem Wort »allein«: der schlankere, korrekt gekleidete, mit matten Schatten im Gesicht, und der andere mit derberen Knochen, dessen weißliche Stirn voll gelber Punkte war. In dem Qualm, den sie aus ihren Mündern stießen und der in der engen Stube grau von der Decke bis auf den Boden hing, begannen sie umeinander herumzulaufen, bebend vor Selbstgefühl, jeder ganz gehoben durch die Erkenntnis des eigenen Elends, ganz feierlich gestimmt durch das Gefühl der weiten Kälte rings um sein einsames Hirn.

Claude erlahmte zuerst.

»Wir wollen das lieber in keiner Zeitung sagen«, meinte er und setzte sich auf das Bett. »Es ist trostlos.«

»So? Ich finde es großartig!« behauptete Spießl.

»Kann sein. Aber wenn man das alles erkannt hat, gründet man eben keine Zeitungen mehr. Das ist ja auch wieder eine Handlung, so unanständig wie alle andern.«

»Ach, so meinst du's? Natürlich; haben wir längst heraus«, erklärte Spießl, auf jedem Standpunkt zu Hause. »Die einzige anständige Handlung ist: die Achseln zucken.«

»Es gibt nur eine Art, nicht niedrig zu handeln: gar nicht handeln.«

»Stimmt. Meinst du, ich gedenke je was anderes zu tun als hier im Winkel sitzen und höhnische, ungebundene Sachen dichten? ... Bloß keine Ziele.«

»Um Gottes willen«, bat Claude, »wovon sprichst du, keine Ziele. Niemals Ziele ... Was nur heutzutage die Mädel haben.«

Er kicherte.

»Die andere Bude.«

»Welche Bude?«

»Ich meine nur, bei den Mädeln, dort sind sie jetzt so kühn.«

»Harmlose Neulinge«, erklärte Spießl.

»Und doch«, sagte Claude nach einer Weile, zweifelnd, ob er das äußern dürfe – »ich möchte nicht werden wie Köhmbold.«

»Köhmbold? Kenne ich nicht.«

Spießl kannte niemand.

»Das ist ein Individuum«, erklärte Claude, »das nur noch auf ästhetischem Wege sein Dasein fristet.«

»Das ist ja recht. Ist man einmal da angelangt, wo wir stehen, da gibt's nur noch Betrachtung: den Quietismus der Schönheit.«

»Hm«, machte Claude. »Wenn es eine Schönheit gegeben hat, woher kam sie? Ich vermute: aus starken Empfindungen, unter der Faust von Leidenschaften hervor, und durch Menschen, die zum Handeln noch das gute Gewissen hatten ... Aber die Schönheit der Schwachen? Der Ästhetizismus der gänzlich Untauglichen? Der Aufputz des verödeten Lebens? Persönliche Zahnstocher? Danke, ich passe.«

»O bitte sehr«, entgegnete Spießl gekränkt. »Schwäche ist vornehm.«

»Gestehe doch, daß es eine reichere Art zu leben gibt als unsere.«

Spießl hob die Arme.

»Ja, wenn man unanständig sein will, darf man stark sein. Du hast bloß die Wahl.«

»Hätte ich sie!« sagte Claude.

»Nun?«

»Es gibt eines, das ich wohl mal so erleben möchte wie einer mit reicherem Blut. Die Liebe.«

Er stand auf. Aber Spießl fuhr los.

»Die Liebe? Die haben wir wohl in unserm nihilistischen Organ noch gar nicht behandelt? Die Liebe! Dieser Weichselzopf von Selbstbetrug, Einsamkeitsflucht, niedrigen Interessen, Herrschsucht, Suggestion, gemeiner Sinnlichkeit. Die fehlet mir!«

»Trotzdem –«, begann Claude wieder.

»Ach was! Du gibst dich ja heut recht schön zu erkennen.«

Claude hörte Spießl gar nicht. Die Ereignisse des Tages hatten ihn umgeschüttelt, er stand wie unter Utes Atem, ganz heiß, und voll der Sucht, sich zu bekennen.

»Ich möchte einmal vor Liebe – na, sagen wir, in Verzückung geraten, toll werden.«

»Macht dich der Stuhlgang toll? Na siehst du? Das ist doch ganz dasselbe!« rief Spießl frohlockend. Claude winkte gequält.

»Das Blech weiß ich selber ... Ach, um sich als höherer Mensch ansehen zu können, muß man gar zu kalt sein. Wer tiefer steht, glaubt manchmal in ein anderes Wesen hineinzukönnen –«

»Aber sehr tief muß er stehen«, meinte Spießl.

»– vergißt sich manchmal, lebt woanders, hingerissen, unter Stürmen, und im Gefühl, selbst ein Sturm zu sein, denk ich mir. Ich wollte, ich wäre einer, der das könnte.«

»Hat dich das traurige Ereignis in deiner Familie schwach gemacht? Willst du Geibelsche Lyrik treiben? Dann trennen wir uns lieber.«

Claude erbitterte sich.

»Ich brauch doch nicht immer Spießlsche zu treiben!«

»Nein. Aber dann trennen wir uns. Ich, das merke dir, habe keine Lust, jemals mein modernes Bewußtsein – jawohl, mein modernes Bewußtsein einem sogenannten Gefühl zu opfern. Du, mein Lieber, hast es in dir: du hängst an einer Frau! Oh, versuche mir nicht weiszumachen, daß das ein für dich schmeichelhaftes Verhältnis ist.«

»Ich hab dir ja selbst erzählt, daß Ute nur meine Freundin ist.«

»Um so schlimmer. Du möchtest zu ihr hinab, du möchtest dich aus der Kälte des wissenden Nihilisten flüchten zu einem von diesen Halbmenschen. Du möchtest Gefühle haben, möchtest niedrig und dumm sein. Ich kenne dich, ich habe dich schon analysiert.«

»So?« fragte Claude neugierig.

»Schon längst«, bestätigte Spießl stolz. »Was meinst du denn. Du läufst einem Literaten täglich vor die Klinge und bildest dir ein, du seist noch nicht analysiert? ... Also dein Vater war eigentlich 'n Typus.«

»Das sagt Archibald auch. Ein denkender Punkt.«

»So was Ähnliches. So ein Spekulant hat etwas vom Phantasten. Weißt du, wie groß sein Vermögen ist?«

»Das kannst du nicht verlangen.«

»Nein, denn er wußte es wohl selber nicht. Das alles steht in der Luft. Ob er im Isartal Villenkolonien oder Schlösser in Spanien gebaut hat, er konnte sie ja nicht sehen von seinem Rollstuhl aus. Es waren Phantasien, aus Drang ins Weite, in hohe Ziffern hinein; aus Spielen mit zweifelhaften Möglichkeiten.«

»Was willst du eigentlich. Von der Vererbung kommt man ja zum Teil schon wieder zurück.«

»Du wirst aus Zartsinn noch katholisch werden ... Von deiner Frau Mutter, das ist leicht zu merken, hast du das Talent zur Liebe. Deine Frau Mutter hat, glaub ich, Verhältnisse.«

»Meinetwegen. Ich finde nichts dabei.«

»Meinst du, ich? Ich sage es ja bloß, weil es zu meiner Analyse gehört. Wenn es sich auch nur um eine Zeile Literatur handelt, du, dann sag ich den Leuten noch ganz andere Dinge.«

Und Spießl warf sich in die Brust.

»Also deine Mama hat Verhältnisse. Ob dein Papa es wußte?«

»Ist mir unbekannt und läßt mich kalt. Kommen wir zur Sache.«

»Ich bin bei der Sache. Es kommt doch darauf an, wie sich die sinnliche Frau und der reine Denker gestanden haben.«

»Gar nicht.«

»Na siehst du, so steht's auch in dir! Du bist nämlich für die Liebe auf der Welt wie deine Frau Mutter; aber du möchtest sie in der großartig spekulativen Art betreiben, wie dein Vater Geld verdiente.«

Claude beugte sich erschreckt über seine Knie und sah zu Boden.

»Es ist was Wahres dran«, murmelte er.

»Also wirklich was Wahres? Du Schaf, das ist die Wahrheit über dich!« rief Spießl und rieb sich die Hände.

»Du bist ein Phantast. Du träumst, nein, in deinem Blute träumt es von den alten jähen Vergewaltigungen durch Gefühle. Es jagt etwas in dir, das du mit dem ganzen Bewußtsein eines modernen Menschen durchschaust und verachtest – aber es jagt.«

»Was jagt, wer jagt?«

»Der Urmensch, mein Lieber. Das, was von dem tollen Vieh noch in uns ist.«

»Und wonach jagt er?«

»Dumme Frage. Nach Liebe ... Es versteht sich, daß er sich ganz umsonst abhetzt. Du möchtest schon; du möchtest dich fahren lassen, dich hingeben können, mitjagen. Es wird aber nie was draus werden, weil du ein viel zu hochstehendes Individuum bist. So wirst du immerfort nach Erlebnissen und Zuständen gieren, die dir dein gebildeter Geschmack verbietet – und bist im Grunde, weil Vater und Mutter so schlecht assortiert waren, 'ne ganz verfehlte Existenz ... Nun, wie findest du meine Analyse.«

»Sinnreich«, sagte Claude, sehr bleich und nachdem er hinuntergeschluckt hatte.

Er nahm »Jenseits von Gut und Böse« in die Hand, stützte sich auf seine Knie und las. Plötzlich richtete er sich auf.

»Ach so. Wir sollen ja zu Gisela Gigereit. Mach dich schön, du bist eingeladen.«

Spießl hatte auf einmal seine ganze Überlegenheit eingebüßt.

»Gisela?« fragte er mißtrauisch. »Ist das nicht eine von deinen Damen, die man auf der Straße nicht von Damen unterscheiden kann?«

»Was liegt daran.«

»Das heißt, ich weiß doch lieber, woran ich bin. Und dann, entschuldige, aber ich muß mit der Messalina fertig werden.«

»Gisela kann dir als Vorstufe dienen. Oder besser noch ihre Tochter, das Fräulein Theodora; der liegt die Messalina näher, glaub ich.«

»Eine Tochter hat sie auch noch? Du, ich bin heute wirklich nicht aufgelegt.«

»Schlaucherl, wann bist denn das. Aber ich kann Panier nicht sitzenlassen. Nun komm nur.«

»Panier, ist das der Mensch mit den Brennmaterialien?«

»Die Angst! Er ist ganz friedlich. 'n Greis aus kräftigeren Zeiten, überaus entschlossen und unbewußt. Du kannst Studien machen.«

»Wenn ich Studien machen kann –«, sagte Spießl pflichtbereit und zog seinen Arbeitsrock aus.

In der Amalienstraße, nahe der Akademie, schellte Claude an einer Parterrewohnung. Ein Fensterladen bewegte sich, eine tiefe Frauenstimme sagte:

»Ah! Herr Claude.«

»Grüß Gott, Theodora«, sagte Claude.

»Warum heißt sie so dumm?« fragte Spießl, die Zähne zusammengebissen.

»Nach der byzantinischen Kaiserin, gelt, Theodora? Da, Frau Gisela, das ist mein Freund Spießl, ein sehr kritischer Herr, vor dem man sich keine Blößen geben darf.«

»Bitte, wegen der Blößen komm ich her«, sagte Spießl, tollkühn wie ein Feigling.

Claude bat mit den Augen Gisela um Nachsicht, und sie gewährte sie.

»Wir haben uns seit zwei Wochen nicht gesehn, Claude«, bemerkte sie und führte ihn abseits. Spießl, den Theodora musterte, sah ihnen verzweifelnd nach.

»Läßt du uns auch im Stich?« flüsterte Gisela. Claude fragte:

»Wie geht's euch? Seid ihr nicht zufrieden?«

»Seit der junge Fastenspeis nach Berlin ist, fehlt uns was. Wenn sich nicht bald ein anderer findet, wird der Sommer fad. Wir werden dann in Bäder reisen müssen. Und ich hätt doch keinen größeren Wunsch, als am Land sitzen und Romane lesen.«

Sie sah ihm besorgt in die Augen. Der Rest eines lockenden Lächelns verharrte aus Gewohnheit in ihrem Gesicht. Es war gepudert und bemalt, und es war das einer guten Matrone. Claude weilte gern bei ihr; schon wegen ihres Haares, das beiläufig von Utes Rot war. Das heißt, rein äußerlich, meinte er. Alles Psychische war anders: Utes Seele fehlte hier, ihr Wille, ihre Kraft, ihre Kälte und ihr Feuer, die alle unter violetten Lichtern in ihrem Haar brannten!

»Ach ja«, versetzte Gisela und faßte Claudes beide Hände. »Ich habe es in der Zeitung gelesen von deinem Vater, es tut mir so leid ... Aber daß du heute zu uns kommen konntest«, meinte sie verwundert.

»Warum nicht. Panier kommt auch, nicht?«

»Ja, die Alten, die sind schon die Rechten. Aber daß der einmal ein übriges täte – brauchst keine Angst zu haben. Wenn der gezahlt hat, will er immer noch einen von meines Mannes Kupferstichen als Prämie haben.«

Claude besann sich.

»Schau, Gisela, ich will trachten, dir einen zu finden. Du weißt, ich selbst hab Verpflichtungen.«

»Ich weiß.«

»Da ist ein gewisser Köhmbold, dem würde die Theodora vielleicht gefallen. Er will immer nur Modelle, aber malen tut er nicht und sonst auch nichts.«

»Der muß narrisch sein. Aber 's ist schon recht; das ruht so ein Mädel aus«, entschied die Mutter und legte die Hände ineinander.

»Jetzt erlaubst du schon, daß ich den Tisch herrichte. Der Alte ist so genau. Und ihr werdet auch hungrig sein, gelt, ihr Buben?«

Sie ging hinaus. Spießl und Theodora hatten nichts miteinander anzufangen gewußt. Sobald Claude sich ihnen näherte, gestattete Spießl sich eine Zutunlichkeit. Theodora schüttelte ihn ab. Sie stützte sich im Stehen weich auf einen Lehnstuhl Louis seize, richtete ihre großen, schwarzen Augen kühn auf Claudes Gesicht und fragte:

»Nicht wahr, Ihre Freundin hat jetzt bald ausstudiert?«

»Erst zum Sommer.«

»Und dann kommt sie zum Theater in – ach lassen Sie, ich weiß; irgendwo im Walde liegt's.«

»Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Mir? Ein junger Mann. Ich hab sogar gedacht: ob Sie nicht selber mitgehn in den Wald?«

»Ich? Warum.«

»Nun –«

Sie schnellte sich mit der Hand von der Lehne ab, machte zwei gleitende, lange Schritte, führte drei gespitzte Finger an den Haarknoten. Ihr Haar trug sie à la Mérode, ihre langen Gliedmaßen saßen locker in den Gelenken, und Theodora war gewandt in schlanken, flach gewellten Posen und in schmalen Madonnenmienen auf der Höhe eines steil und dunkel eingeschnürten Halses.

»Nun«, wiederholte sie, »weil ich meine, Sie trennen sich nicht gern. Und eine andere kann Ihnen Ihre Freundin doch nicht ersetzen.«

»Nein«, antwortete er bestimmt. Sie sagte:

»Wie dumm Sie sind.«

Gisela ging hausfraulich umher mit Schüsseln und Flaschen. Spießl stürzte sich blind auf ihren Weg, stotterte seine Hilfsbereitschaft, warf ihr einen Salat aus der Hand und sammelte ihn wieder auf.

»Wie Sie galant sind«, versetzte Gisela.

»Der Tisch ist fertig ... Ja, wenn nur der Alte da wär.«

»Wir fangen ohne ihn an«, verlangte Theodora. »Ich möchte einen Rausch haben.«

»Einen Kognak im Stehen«, bat Claude. »Ich hab kalt.«

»Himmel, ist das eine Jugend«, sagte Gisela.

»Nein, Mama, es ist nicht warm hier.«

Und Theodora hockte sich selbst vor den Ofen.

»Warum hilfst du ihr denn nicht?« fragte Claude. Aber Spießl ließ von Gisela in sein Glas, das zitterte, Kognak gießen. Claude trat hinter Theodoras schmale, fallende Schultern; er äußerte:

»Was Sie für spitze Finger haben, vorn umgebogen wie Widerhaken. Wer die einmal im Fleisch hätte –«

Sie sagte unter dem Rasseln der Kohlen:

»Sie sind wie an den Byzantinerinnen, die Papa immer in Kupfer stach.«

»Sie können mir von Ihres Vaters Stichen einen heraussuchen, worauf Ihre Hände sind. Ich kaufe ihn.«

»Gern«, sagte sie gleichgültig und stand auf.

»Ich denke, es ist alles da«, rief Gisela. »Ihr Buben, seid's zufrieden? Auch auf dem Alten seine Salzkartoffeln hab ich nicht vergessen.«

»Hier denkt man an alles«, sagte Claude.

»Nein«, stieß Spießl hervor und zog die Brauen zusammen. »Es ist zuwenig Fleisch da.«

»Was?« stammelte Gisela. »All der kalte Aufschnitt! Ja, zum Wärmen ist's zu spät.«

»Ich will Warmes!« entschied Spießl unerbittlich und starrte finster auf Theodoras Brust. Claude überwand eine Pein.

»Er ist so unanständig, wißt's. Er ist in Orgien groß geworden.«

Gisela lächelte gütig.

»Auch der Alte wird sich wundern, warum du so gar nicht festlich bist«, sagte sie zu ihrer Tochter.

»Was meinen Sie, Claude?« fragte Theodora. »Lohnt's noch die Mühe?«

»So etwas sieht man immer gern«, erwiderte Claude höflich.

Da ging sie gleitenden Schrittes aus der Tür.

Spießl biß sich die Lippe, senkte den Kopf. Plötzlich sah er Gisela frech ins Gesicht.

»Ich hab aber Sie gemeint.«

»Wie!« rief Claude. »Wozu starrst du denn da auf die Theodora.«

»Das versteh ich auch nicht«, versetzte Gisela.

Spießl vermochte es nicht zu deuten. Gisela streifte mit ihrer sanften Hand sein Kinn; er war rot und feucht.

»Bubi«, sagte sie und verließ gemächlich das Zimmer.

Spießl lief, den Hals eingezogen, wild von einem Winkel in den andern. Er antwortete nicht auf Claudes Frage, wie ihm die Damen gefielen. Claude sah ihm lange zu; schließlich äußerte er:

»Weißt du, woran du mich erinnerst?«

Spießl blieb stehen.

»Nun, du Depp?« fragte er, mit einem kräftigen Versuch, seine Überlegenheit zurückzuerobern.

»An unsere Matura.«

»Bei der bist schließlich du durchgefallen, mein Lieber, nicht ich.«

Aber Gisela trat ein, und Spießl verstummte. Er schob ihr einen Stuhl hin, machte sich voll finsteren Eifers um sie her zu schaffen. Sie sah zu ihm auf; in ihrem Corsage bewegten sich helle, freundliche Fleischmassen.

Theodora kam; sie hatte nur um den Magen ein wenig schwarze Gaze gewunden, worauf Spitzen gestickt waren. Ihre Arme raschelten von den Handgelenken bis zu den Ellenbogen in seidenen Falten. Oben waren sie frei zu allen gelenkigen Würfen, die den engen Schatten unter den Achseln blitzschnell auf- und zudeckten. Claude bemerkte, über ihren Nacken gebeugt:

»Sie hätten wirklich nicht nötig, sich da hinten zu pudern.«

»Weil Sie dumm sind«, erwiderte Theodora. »Da muß man sich pudern.«

Sie hob heftig die Schultern. Ihr Nacken stieß gegen Claudes Lippen, die ihn nicht gesucht hatten. Er schnappte nach Luft.

»Schauens, nun muß ich niesen! ... Man bekommt ja das Zeug in die Nase.«

»Essen Sie von dem Salat, der hat schon am Boden gelegen.«

»Wollen Sie denn keinen Tee?«

»Erst Sekt. Erst will ich meinen Rausch«, befahl Theodora.

»Ihr dürft Sekt und Tee durcheinander trinken, Kinder«, riet Gisela. »Wir sind doch en famille.«

»Das finde ich auch«, sagte Spießl verbissen und fuhr fort, sich zu betrinken. Schließlich sprach er. Er erklärte, die Damen psychologisch analysieren zu wollen. Theodora sei glatt und kalt wie eine Schlange; nein, das sei banal: wie eine tote Schlange.

»Erlauben Sie«, bat Gisela und ließ einen Löffel fallen.

»Aber die gnädige Frau«, so fuhr Spießl fort und sah weg, »die ist zehrend, ja aufzehrend; ein Weib, in deren Händen man den Mantel lassen sollte, um nicht selbst darin entzweizugehen!«

»Jesses«, machte Gisela.

Auch Claude ließ sich auf Allgemeinheiten ein. Er behauptete, man könne jedes Weib haben, aber jedes. Es handele sich nur darum, zur rechten Viertelstunde da zu sein. Das sei natürlich Glückssache; aber ihre Viertelstunde habe jede.

Gisela glaubte das nicht. Theodora sagte:

»Könnt schon sein. Aber so dumm darf einer nicht sein wie Sie.«

»Warum bin ich eigentlich dumm?« fragte er.

Ihr Arm stand vor ihm auf dem Tisch, schmal, rund, duftend. Er bog sich vorsichtig herum, um ihr in die Augen sehen zu können.

»Darum«, erklärte sie verächtlich.

Als Claude sich wieder umwandte, lag Spießl, ganz zusammengefallen, auf Giselas Brust. Gisela befragte Claude mit dem Blick. Er antwortete:

»Ich kaufe zwei von Herrn Gigereits Kupferstichen.«

»Der junge Mensch schläft mir da ja ein«, meinte Gisela mütterlich. »Wie spät ist's denn schon? Herrschaft, halb eins? Wo sich nur der Alte wieder umhertreibt. Wenn er noch kommt, sag ich ihm die Meinung ...«

»Kupferstiche?« lallte Spießl.

»Wollen Sie, daß ich sie Ihnen zeig? Gehens her.«

Gisela hob Spießl auf. Wie sie hinausgingen, sah man ihn zittern.

»Ah! Kupferstiche.«

Die Zähne schlugen ihm aufeinander.

Claude blieb bei Theodora sitzen, die Beine auf einem Stuhl.

»Magst mich heute nicht?« fragte sie schließlich.

»Kind, ich habe schon zwei Kupferstiche gekauft«, erwiderte er.

»Das meine ich nicht.«

»Das andere kann dir doch gleich sein.«

»Nein.«

»Wieso nein. Dann warte, bis Panier da ist.«

Er bedauerte, unhöflich zu sein; er setzte hinzu:

»Ich bin heute innerlich so sehr beschäftigt, weißt du.«

»Aber wir sollten uns kennenlernen«, sagte sie ruhig und mit Würde. Er stutzte.

»Wir – na, mir scheint, wir kennen uns.«

»Oh, das – das macht noch keine Bekanntschaft aus. Ihr überschätzt das ... Und dann verändert man sich. Kannst du dir nicht vorstellen, daß du eine schon sehr gut – kennst, was du ein Weib kennen nennst.«

»Die Bibel nennt es so.«

»Also die Bibel. Und eine Zeitlang später, so im Verkehr, wird dir's erst klar, daß sie dir sympathisch ist? ... Du bist mir nicht unsympathisch, weißt du.«

»Jaja.«

Sie beugte sich rasch über sein Gesicht.

»Woran denkst du eigentlich?«

»Ich?«

»Sage es – gleich!«

»Ich dachte an ein Renaissancekleid, weiß mit Gold, das sie als Porzia tragen soll.«

»Wer? Ach so ... Du, das kannst du mir glauben, das Mädchen ist furchtbar egoistisch.«

»Sind wir alle.«

»Aber nicht so.«

»Bah!«

Er stand auf, zündete eine Zigarette an und ließ die Kerze vor Theodora stehen. Aus ihrem voll beleuchteten Gesicht sahen ihre großen, schwarz umränderten Augen ihm nach.

»Also unsympathisch bist du mir nicht«, wiederholte sie.

»Du mir auch nicht«, sagte er gefällig.

»So meine ich es nicht«, sagte sie wegwerfend.

»Was also?«

Er dachte nach. Und es fiel ihm ein. Sie hielt ihn jetzt für schwer reich – und gleich, am selben Abend machte sie ihm eine Liebeserklärung. Das arme Mädel! Solch eine naive Berechnung mußte einem ja Mitleid einflößen. Er ging auf sie zu. Nein, das arme Mädel! Und er küßte sie wohlwollend auf den Mund.

Sie hielt die Augen halb geschlossen. Es klingelte.

»Nun kommt wahrhaftig der Alte«, sagte sie.

Sie holte ihn herein. Panier war übel gelaunt.

»Ihr seid mir nette Kerle«, so schalt er. »Amüsiert euch mit den Damen. Und wir müssen uns herumschlagen mit dem verfluchten Volk, dem Notar, dem Kassier und dem Eisenmann. Dem Kunden versalzen wir noch die Suppe ... Na, nu tu man bloß nich zipp, Mariechen!« schrie er, wüst rot, »und als ob de nich bis drei zählen könntest. Du sollst uns man 'n bischen aufheitern, dazu kommen wir doch her ... Na, es ist nicht so schlimm gemeint. Wie geht's denn.«

»Gotts«, sagte er dann, und beroch seine zwei Finger. »Die ist aufgeregt. Dafür haben wir 'ne Witterung. Brauchen 'nem Weib bloß mit 'n Finger über den Busen zu streichen ... Na, siste woll mein Junge. Das kriegst du den ganzen Abend nicht fertig, aber wir machen bloß die Tür auf, und sie fällt schon um. Is jut, Kind. Immer's Panier hoch!«

Und, ziemlich aufgeheitert, zog er Theodora aus dem Zimmer. Sie sah Claude nicht mehr an.

Kurz darauf zeigte sich Gisela, gutmütig und spöttisch.

»Claude, du bist so allein. Ich hab dir Kaffee gemacht. Aus dem Hause findest du ja ohne uns.«

Claude trank und rauchte. Eine Weile später ging nochmals die Tür auf, und Panier kehrte zurück. Der Greis war nackt, und seine Lenden gürtete ein Handtuch. Er bewegte sich frei und selbstbewußt wie in einer Badeanstalt.

»Na, nu geht's ja wieder«, äußerte er und seufzte auf. »Du, das hab ich vergessen, dir zu sagen: du bist Universalerbe.«

»Wie?« fragte Claude und erhob sich.

»Ja, es ist ein ernster Moment für dich, mein Jung'. Und ich bin nach der Verfügung meines seligen Freundes dein Vormund ... Na, ein Jahr dauert deine Minderjährigkeit ja noch. Da will ich auch alles tun, was ich kann, schon wegen des Andenkens an meinen Freund.«

Der Vormund kam näher. Seine Füße waren aufgequollen in ihrer Haut, die zu platzen drohte. Der Körper war weich, fett, ohne Runzeln, ganz weiß. Claude stellte fest, daß dies nach dem Sinn der Frauen sei. Der bebrillte, wild gefärbte Kopf des Alten wankte gerührt. Der Vormund faßte Claudes Hand und verhieß:

»Sollst es gut haben, Jung'.«


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