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VIII.
Matthacker

Wie Claude tags darauf zu Ute ging, erfuhr er, sie sei abgereist.

»Aber das gnädige Fräulein wollte doch erst morgen –«

Es war ein Brief für ihn da. Ute versicherte, er werde einsehen, es sei besser, wenn sie es bei dem lustigen Lebewohl von gestern abend bewenden ließen. Und Claude sah es ein. Er senkte den Kopf, ging heim und bereitete sich innerlich auf den Winter vor. Er dachte an ihre vorige Trennung. Damals hatte sie ihn zurückgelassen in einem mit Sehnsucht nach ihr überhitzten Sommer. Er würde sich nicht mehr sehnen. Es lag ein Zusammenbruch zwischen ihnen, über die Ruinen konnte Claude nicht hinwegblicken. Es würde Schnee darauf fallen. Das Leben würde sich glatt und öde ausdehnen. Keine schmerzlichen Erschütterungen mehr, wenn seine Sehnsucht wieder einmal zu Fall gekommen war. Denn seine Sehnsucht lag verschüttet in den Trümmern von Utes Reinheit. Niemals mehr Empörung gegen das dummgehässige Geschick, das ihn nötigte, hier seine Lebenstage umkommen zu sehen, einen nach dem andern – und dort hinten spielte Ute. Denn es wäre jetzt bitter gewesen, ihr zuzublicken ... Nein, ein dumpfes Vergnügen, losgelassen von seiner erstarrten Leidenschaft. Ein eisgrauer Winter, eingeschlossene Heiterkeiten, Maskenscherze, um die Frostblumen herumstanden.

Er unterhielt sich aufs lebhafteste in diesem Fasching. Es war ihm wärmer als in den anderen Jahren; er wußte keinen Grund, weshalb er nicht lange leben und immer so fröhlich bleiben sollte. Er gab mit Pömmerl eine Monatsschrift, namens »Der Rosenbusch«, heraus, worin sie belanglosen Übermut auf das anspruchsvollste darboten. Auch war er mit Frauen reich gesegnet.

›Warum krieg ich sie eigentlich?‹ fragte er sich manchmal. ›Bei reichen Damen bin ich angelangt, die ungemein stattliche Männer haben. Das blüht doch nicht einem jeden. Der Pömmerl kriegt die nicht.‹

Es machte ihn zwar stolz, aber über diesen Stolz rümpfte er selbst die Nase.

Zu Ostern kam sie wieder. Claude begab sich mit Gelassenheit an den Bahnhof. Wie ihm das vorige Mal angstvoll zumute gewesen war, nach gefährlichen Geschicken, die sie mitbrachte. Jetzt konnte sie ihm nichts mehr antun. Zum erstenmal, seit sie, halbe Kinder, einander begegnet waren, war Claude kein Bittender, und Ute versprach nichts.

Da entstieg sie dem Wagen. Claude ging ihr entgegen, erst langsam – dann aber war's ihm, als liefe er, die Arme ausgebreitet, in ein großes Feuer hinein, selig verlockt durch die Flamme, die ihn hinraffen sollte. Ute lächelte, sie küßte ihn ruhig auf die Wange. Claude wußte wieder, er gehöre ihr, immer würde er ihr gehören!

Er atmete tief, seine Wangen waren gerötet.

»Wie du gut ausschaust«, sagte Ute.

»Du auch.«

Es war ja nichts mit ihr geschehen. Was hatte jener alberne Zwischenfall denn ändern können.

Mit leeren Händen, ohne Freudigkeit war er gekommen. Nun kehrte er um, bepackt mit Glück, fest umhalst von seiner wiedererstandenen Sehnsucht. Die Osterglocken läuteten. Ja, welch eine Auferstehung!

»Du bleibst da, wirklich, den ganzen Sommer?«

»Eigentlich sollte ich wieder zu der Schmiere im Walde. Mein Vertrag gilt noch für dies Jahr ... Ach was, ich mag nicht. Es schaut nichts dabei heraus.«

»Das finde ich auch. Wir sprechen mit Matthacker.«

Matthacker sagte:

»Ein Krankheitsattest? Aber unbesehen. Wenn Sie damit durchkommen bei Ihrem Tyrannen.«

»Oh«, machte Ute. »Er ist nicht im Bühnenverein.«

»Na dann.«

»Und Gewissen haben Sie ja nicht?« fragte Claude den Arzt. Matthacker sah hilflos über seine gesprungenen Backen weg.

»Ich, Gewissen? Wofür halten Sie mich eigentlich? Ich habe hier in meiner Klinik einen Vorrat von Aristokratinnen, die um Nachkommenschaft verlegen sind. Manche glauben, daß sie und nicht der Mann daran schuld hat. Manche tun so, als glaubten sie das. Einige sind offener. Ich aber helfe allen.«

»Wie machen Sie das?«

»Das ist nicht Ihre Sache ... Ich habe einen Grundsatz: immer der Frau zu helfen. Denn die Frau, die stets momentaner Vergewaltigung unterliegt – auf die Dauer behält doch immer sie recht. Sie kann warten, sie ist zuletzt die Stärkere. Das ist die Natur, und ich als Arzt unterstütze sie. Mir kommt es den Teufel auf heilen an. Was sich die Kranken einbilden! Die Natur unterstützen ist alles. Die Natur, das ist die Frau.«

»Das weiß Gott«, sagte Claude.

»Aber Sie? Was wissen Sie davon? ... Da, mein Fräulein, haben Sie Ihr Attest.«

Der Frühling vom vorigen Jahr blühte auf, ganz derselbe. Ute und Claude gingen auf Einkäufe und zum Essen, setzten sich nebeneinander auf die Stühle, von denen sie damals aufgestanden waren. Jeder Schritt, den Claude machte, jeder Gedanke, in den er einlenkte, führte wieder zu ihr. Wieder konnte in ihrem Kopfe kein Bild entstehen, in das nicht seine, Claudes, Gestalt getreten wäre.

Ja, sie gingen nun näher beieinander als früher. Die Bitternis ihres letzten Spazierganges damals in Nymphenburg, als Ute, die einsame Kämpferin, sich innerlich getrennt hatte von Claude, einem angenehmen Fremden, solche Bitternis war nun unmöglich. Denn an einem Festabend vorigen Herbst, in Claudes Schlafzimmer, hatten sie zu einer heißen Musik miteinander geschluchzt. Alles Schlimme jener Stunde war überwunden; aber das Leid, das sie einst im gleichen Takt geschüttelt hatte, verband noch immer wie ein kleiner Dornenzweig ihre beiden Handgelenke.

Durch das helle Grün in den Anlagen am Maximiliansplatz flossen Wellen von Rotdorn wie Frühlingsblut. Rhododendren trugen lächelnde Blumenköpfe auf den starren Halskrausen der Büsche. Die blühenden Kastanien entzündeten ihren rosigen Feuerschein bis ans Ende der langen Lauben. Im Englischen Garten schlossen das weite Goldgelb ungemähter Blumenwiesen die Baumgruppen in Kulissen ein, vorspringend, Lichtkreise eröffnend und endlich zusammenschlagend zu einer blauen Tiefe. Die Fliederbüsche im Schloßrondell zu Nymphenburg trugen auf ihren blassen Trauben die ganze Last des endlos blauenden Lichtes. Die weißen Steinbilder im Garten waren ihrer Bretterhüllen entkleidet, und nur Blätterschatten noch flocht sie ein und Abendrot. An den letzten Spaziergängern vorbei schleppten mit Bonhomie die Lakaien ihre Speisekörbe für den Regenten, der da hinten am See, im gelb und silbernen Salon der Amalienburg soupieren ging. Man sah ihn daherkommen. Wie sympathisch der alte Mann war; denn Ute war schön und mit Claude befreundet.

Claude, der das Leben wieder gütig sah, bedachte, daß es uns immer enttäusche, im Schlimmen wie im Guten. Er hatte sich einmal beinahe für geliebt gehalten von Ute; da erfuhr er, daß er sie schändlich verloren habe. Er hatte geglaubt, jetzt würden die Jahre sich folgen, und keines werde er mehr empfinden. Und da wiegte nun Utes Schritt seinen eigenen, und sein Herz zersprang fast von all dem Leben, das ihre Hände hineinfüllten.

»Aber schmaler bist du geworden im Gesicht. Hast du denn nicht gut zu essen gekriegt in Düren?«

»Es geht. Ich hol's nach.«

Claude geriet in Bewegung.

»Kellner!«

»Aber verdammt schlecht ist die Bedienung!«

Sie saßen auf der Terrasse des Künstlerhauses.

Ute erklärte:

»Und dann der viele schwarze Kaffee, der macht mager – beim Studieren, bis fünf Uhr früh.«

»Bis – aber wie hältst du das aus!«

Sie lachte.

»Das hält man aus, oder man geht drauf, je nachdem.«

»Und du wirst es so weiter treiben?«

»Wenn ich nicht draufgehe.«

»Aber wie lange, wie lange?«

»Nun, später, bei großen Bühnen, hat man ja nicht mehr all die Rollen.«

»Und jetzt halsen sie dir auf, was sie wollen.«

»Aufhalsen! Wie du dir das denkst. Wenn du wüßtest, wie ich intrigieren muß, bis ich was Gutes bekomme. Und das Hauptmittel, die Sektsoupers für den Direktor, kann ich nicht mal erschwingen.«

Claude seufzte ironisch.

»Nein, wir haben's nicht dafür.«

»Ich bitte dich, mit meinen zweihundert Mark. Wenn man noch so stände wie die Herren; die kriegen halbmal soviel – weil sie keine Toiletten zu bezahlen brauchen. Aber ich, ich brauche ja meine ganze Gage für Toiletten, und wenn ich nicht so findig wäre – Du, da hab ich kürzlich einen Möbelstoff entdeckt, einen gewöhnlichen Möbelstoff, aber ordentlich Brokat, für ein Kostüm der Porzia. Du glaubst nicht, wie es schick ist, was es Furore gemacht hat – und kostet fünfzig Mark.«

»Aber Sektsoupers wirken augenblicklich?«

»Das allerdings.«

»Unglaublich kindlich erhält sich so ein Theaterdirektor.«

»Es hält aber nicht vor. Ich mach die andere doch tot, trotz ihres Liebhabers, den sie neulich eigens aus Berlin nach Hause gerufen hat, damit er dem Direktor zu trinken gibt!«

»Und wie machst du das?«

»Mit der Kunst, mein Lieber. Die dringt doch durch.«

»Ich hätte es nicht gedacht.«

»Er läßt die andere die Rautendelein spielen, natürlich. Aber den Morgen drauf kommt er schreiend zu mir hereingestürzt: ›Das war ja scheußlich! Und dann hab ich sie ...‹ Aber ein anderes Mal hab ich jemand hineinlegen müssen, einen bessern Herrn, der mich schon lange durch den Theaterdiener hatte wissen lassen, ich sei sein Geschmack ... Aber magst du das auch?«

Claude lehnte sich zurück, rauchte.

»Ganz gewiß, das hör ich gern.«

Er war sorgenfrei. Keiner war bei Ute wie er, keiner spiegelte sich so vertraut in ihren klaren grauen Augen.

»Also, dem hab ich Hoffnungen machen lassen. Das heißt, natürlich hab ich nicht selbst mit dem Theaterdiener gesprochen, sondern der Heldenvater, der mir wohl will, hat es besorgt. Da hat mir der Herr die Rolle verschafft, und dann hat der Heldenvater erklärt, die Geschichte sei ein Irrtum seinerseits gewesen.«

»So eine Gemeinheit!« rief Claude. »Prost!«

»Prost!«

Und angeregt sagte sie:

»Nun erzähl aber deine Dummheiten.«

»Uijeh, das fängt gleich mit einer Pfarrersfamilie an.«

»Mit der ganzen Familie?«

»Mutter und Tochter.«

»Bitte, schäm dich.«

Claude machte eine Pause.

»Jetzt hab ich mich geschämt. Willst du nun weiter hören?«

Ute nahm eine Zigarette.

»Also.«

»Aber ich bin dort schon wieder fertig, denn die Familie war mir zu raffiniert. Das heißt, die Mutter weniger als das Mädel. So 'ne Pfarrerstochter – wie die schmutzig ist im Gespräch! Und dann hat mich der Alte bekehren wollen. Jawohl, weiter nichts. Er war schon lange so väterlich. ›Betrachten Sie sich ganz als zur Familie gehörig.‹«

Ute, leicht angewidert, aber voll Teilnahme, meinte lächelnd:

»Er wußte wohl nicht, wie sehr du dazu gehörtest.«

»Vielleicht. Vielleicht nicht. Jedenfalls war er Anabaptist und wollte mich taufen. Nun, die Mutter – nicht die Tochter – reizte mich noch; ich dachte, wenn es nicht weh tut. Aber in ihrer Kirche hatten sie im Fußboden ein großes Bassin, es wurde, als ich kam, schon jemand hineingeschubst. Der Pfarrer, Mister Spurgeon, hatte Gummischuhe, Unterhosen und einen Regenmantel an, auch der Patient war wasserdicht. Er wurde erst scheinheilig bespritzt, aber plötzlich, mit einem Ruck im Nacken, schmiß ihn der Pfaffe ganz ins Wasser. Dazu sang die Gemeinde.«

Ute beugte sich über den Tisch. Ihr Gesicht, rosig überzogen, gestützt in die Ranken der blütenfarbenen Finger, lachte über die glühenden Rubine der Weingläser hinweg. Entzündet vom Schein einer Bogenlampe, schmolzen in ihrem Haar die roten und violetten Metalle, kämpften, sprühten, verbanden sich unter der schwarzen Decke des großen flachen Hutes. Claude sah wieder einmal:

»Wie bist du schön!«

»Erzähl weiter von deiner Taufe.«

»Natürlich hab ich gedankt. Lächerlich mach ich mich nicht.«

Ute platzte aus.

»Weißt du das gewiß?«

Claude lachte mit.

»Ich achte den Wunsch des Alten, ein reiches Gemeindemitglied zu haben, das er schröpfen kann. Aber es muß mit mehr Würde geschehen, das Schröpfen. Nicht in Unterhose und Gummischuhen.«

»Das kannst du verlangen ... Sag mal, ich hab gehört, du bist jetzt sehr en vogue, du sollst viele Erfolge haben.«

»Es geht. Aber ich spreche nicht gern darüber.«

»O pfui. Ich erzähle dir doch meine.«

»Ist das dasselbe?«

»Ich hoffe«, sagte sie und lächelte. »Denn im Ernst, mit dem – Herzen –«

»Ja, mit dem Herzen – liegt dir denn daran, daß ich dein sei mit dem Herzen? Achtest du darauf?«

»Ich bin daran gewöhnt.«

»Nur?«

»Und seit dem Herbst – du weißt, seit wann – acht ich darauf.«

»Ich danke dir«, sagte Claude leise. Und sie sahen beide ihren Händen zu, die auf dem Tischtuch zwischen ein paar hingestreuten Maiglöckchen entlangtasteten. Da berührten sie sich. Ute zog ihre zurück.

»Also ist es wahr, du hast die schöne Angerer gehabt? Und die Feilenbach, und –? Und jetzt bist du bei der Blum, der Frau des Bankiers?«

Er verschob den Mund.

»Die wird nicht lange dauern. Kreuth bemüht sich um sie. Für Gisela hat er kein Geld. Na, und die Blum, bei der tut's sein Titel. Ich sag dir, gegen Grafen ist die hilflos. Bei Baronen kämpft sie noch, aber bei Grafen hört von vornherein jeder Widerstand auf.«

»So ein Graf macht dir unlautere Konkurrenz. Da geht's dir gerade wie mir mit dem Sektsouper. Das darf dich nicht kränken, eine Niederlage der Kunst ist das ja nicht.«

»Nein, nein. Erfolge haben wir alle zwei. Ich hab dich um nichts mehr zu beneiden. Prost.«

»Prost, lieber Kollege.«

»Ich wollte ja, es wäre anders, und du, Ute –«

»Macht dich das Trinken wehmütig, dann hör auf.«

»O nein, es geht schon noch.«

»Aber wissen möcht ich, wie kriegst du sie alle.«

»Das ist's ja, was ich mich immer frage. Also erstens glaub ich, weil ich jetzt das Haus habe. Denn die Damen, bei denen ich jetzt angelangt bin, wollen nur solide Liebhaber, von Rang, Stellung, Besitz – kurz, Standesgenossen. Nur selten läßt sich eine die Schneiderrechnung von mir bezahlen. Aber die Schande finge an für sie, wenn ich die Rechnung nicht bezahlen könnte. Das ist ihre Standesehre, weißt du, das schulden sie auch ihren Männern.«

»Die Männer«, meinte Ute, »die müssen dir Spaß machen.«

»Wie du das verstehst. So ein breitschultriger, wohlgelungener Bürgersmann, tüchtig in Geschäften, hat gedient –«

»Das mußt du auch noch.«

»Wollen sehen, was sich tun läßt ... Wenn er mit mir redet, sieht er in seiner unbändigen Lebenstüchtigkeit immer aus, als wollte er mich auf die Schulter klopfen ... Mir hat Matthacker Marasmus prophezeit ... Na, und dabei hab ich die Frau von dem Vollmenschen. Du, das tut wohl!«

»Ich glaub's. Siehst du, das ist der Rausch des Künstlers, unser Rausch. Man steht allein und beleuchtet auf der Bühne und triumphiert über die Gewöhnlichen im Parkett, die sich einbilden, man sei da, sie zu amüsieren.«

»Wahrhaftig, ich komme mir beleuchtet vor, wenn ich vor einer Hecke von Gatten durch einen Salon gehe ... Aber das ist nicht alles. Meine Erfolge hab ich hauptsächlich darum, glaub ich, weil mir nichts daran liegt.«

»Ach!«

»Mir läge nämlich nur an einer.«

»Soso.«

»Und weil ich die nicht haben kann – das ist eine Art Talisman, drum fallen mir alle andern zu. Zwar hab ich mir, weil's ja doch alles eins ist, eine gehörige Frechheit angeeignet, da ist man dann verblüfft und bewilligt alles. Der Pömmerl, wenn er eine will, fängt er an, sie zu verehren.«

»Das ist ganz verkehrt«, entschied Ute.

»Siehgst es. Wie wir Bescheid wissen. Wir zwei, wir sind schon die Rechten. Prost.«

»Prost, Kollege.«

»Allerdings. Kollege von der andern Fakultät, sagt Killich ... Den Winter über ist's mir auch ganz gut ergangen. Aber jetzt ist mir's schon lieber, ich sitz da –«

»Die Saison ist auch aus.«

»– und schau dich an.«

»Ich hab nichts dagegen.«

»Ach, 's gibt zuviel anderes, wogegen du was hast.«

»Gehn wir? ... Wir sind Kameraden, weißt du.«

»Kellner, zahlen!«

»Jeder für sich«, verlangte Ute.

Und unterwegs, in den Laubgängen des Maximiliansplatzes, bleichen Wolken, durchschimmert von elektrischen Monden:

»Erzähl noch mehr. Du bist viel amüsanter geworden als früher.«

»Danke. Aber ich hab dir gesagt, wie ich sie kriege. Nun sag du mir, wie du's machst, daß sie dich nicht kriegen.«

»Ordentlich Witz hat er ... Also ich sage gewöhnlich: ›Sie sind ja wohl verrückt.‹ Das gelingt immer.«

»Eigentlich, wenn man eure durchschnittlichen Sitten in Betracht zieht, ist er ganz normal, und die Verrückte bist du.«

Sie lachte.

»Ja, das seh ich jedesmal dem Gesicht des Theaterdieners an, wenn er mir gesagt hat, das sei der Herr Meyer, der das feine Konfektionsgeschäft habe, und ich lehn ihn trotzdem ab ... Aber einen anständigen Grund hab ich doch zur Solidität.«

Ihre Munterkeit erregte ihm auf einmal Mißtrauen. Er zögerte.

»Nun?«

Sie stieß hervor:

»Panier.«

Und dann, entschuldigend:

»Wir haben ihn noch gar nicht genannt. Wenn wir ihm dort um die Ecke plötzlich begegneten, würd es uns in peinliche Stimmung versetzen, nicht? Wir müssen uns aussprechen, Claude.«

»Du hast recht«, murmelte er. »Also wie war's in Düren? Noch ist er übrigens dort, wie?«

»Ja. Und er war ganz nett, muß ich sagen, weniger eklig als – vorher. Daß er nichts mehr zu erwarten hatte, das hab ich ihm schon klargemacht, das kannst du glauben ... Aber –«

Sie sah weg.

»– ich konnt ihn ja nicht hindern, mit mir zu prahlen ... Laß das Stöhnen, bitte. So was muß uns egal sein. Man hätte mir auf alle Fälle einen nachgesagt – und das wäre dann nicht mal wahr gewesen. So war's zum Teil wahr, und ich konnte mich beruhigen.«

»O schweig.«

»Nein, nein«, sagte sie eindringlich. »Wir müssen uns daran gewöhnen ... Was nun kommt, wird dir Spaß machen. Panier ist jede Nacht vom Biertisch weg mit seinen Freunden meine Straße heruntergekommen. Ein gutes Stück von meinem Hause mußten sie alle umkehren, er ist allein und siegesbewußt vor meine Haustür gestapft, hat sich ein bissel dran zu schaffen gemacht, sich umgeschaut – die Straße war ja ganz einsam – und hat sich mit aller Kraft seiner Gichtbeine nebenan in das Gäßchen geworfen. Da war sein Ruf wieder für einen Tag gerettet.«

»So viel Aufopferung –«, bemerkte Claude.

»Nicht wahr? Der verzeiht man einiges. Und, ebenfalls seines Rufes wegen, hat er allen angst gemacht und mich gegen eine Menge Belästigungen geschützt.«

»Oh, der läßt sich noch heute auf Prügeleien ein, er hat ein griffestes Messer.«

»Das kenne ich ... Aus demselben Grunde hat er, sooft es ging, dem Direktor Krach gemacht. Der hatte einen heiligen Respekt. Gewöhnlich schloß er die Kanzlei ab und nahm Reißaus, wenn Paniers Stock auf dem Pflaster zu hören war.

Ich verdank es aber doch ihm, daß ich wenig in Operetten aufzutreten brauchte.«

»Du?«

»Ja, so ist das. Einen Abend Klärchen, den nächsten in der ›Geisha‹. Oh, die ›Geisha‹! ... Aber nur herumstehn, weißt du. Mitzusingen hab ich mich überhaupt geweigert.«

»Statistin, du! ...«

Claude schüttelte den Kopf.

»Das ist mir das Allerbefremdlichste. Ich seh dich nämlich immer ganz vorn, an erster Stelle ...«

»Ja du ... Aber manchmal hat man Genugtuung davon. Zum Beispiel im ›Lohengrin‹, der Herzog Gottfried. Den kriegt natürlich die, die die schönsten Beine hat.«

»Und die hast du!«

»Was weißt denn du davon.«

»Oh, ein bissel doch ...«

Sie lachten, schüttelten sich die Hände, vor Utes Haustür.

»Schwül wird's, was? Sogar nachts. Wir gehn nun bald aufs Land, ist's recht?«

»Und ob. Bin ich froh, daß ich nicht zu der Schmiere im Walde brauche. Aber der Alte wird sich ärgern!«

»Der Direktor dort?«

»Nun ja, so eine kriegt er nicht sobald wieder. Anfängerin, ganz billig, dabei beliebt, kann was, ist schön ...«

»Ist schön«, wiederholte Claude.

Er wußte, sie sprach das Wort ohne gemeine Eitelkeit. Sie war schön, weil sie kunstreich war. Ihre Schönheit war der Ausdruck ihrer geliebten, gepflegten, täglich geübten Persönlichkeit.

Aber Claude war blaß geworden, und Ute sah genußsüchtig auf seine Blässe wie auf einen Saal, der klatschte.

Einige Tage später fuhren sie nach Walchensee.

Claudes Vater hatte zuweilen das kleine Haus aus runden Hölzern bewohnt, droben am Waldrand. Dahinter, zwischen den Stämmen, dämmerte es zuerst, und in der Tiefe nachtete es. Bequeme Spazierwege gingen über in rauhe Bergpfade.

Vor dem Hause senkte die Wiese sich weit, wellig und blumenbunt bis hinter das Gasthaus »Zur Post«. Die Landstraße trennte die »Post« von dem großen See, mit den Kränzen von Fichten um seine Buchten, hinter denen grüne Berge sich wölbten und blaue in Dunst zergingen.

Aber das »Seehaus«, zum Hotel gehörig, stand ganz vorn an der Straße, schon halb im Wasser; und dort wohnte Ute.

Claude bat noch immer.

»Wenn ich dir doch die ganze Villa gebe und dir verspreche, mich in meinem Zimmer einzuschließen! Traust du mir nicht?«

»Das wäre das wenigste. Deswegen würde ich ganz ruhig bei dir wohnen. Aber es ist deinetwegen.«

»Ich – verstehe nicht.«

Aber er verstand schon.

»Matthacker«, sagte Ute, »wäre nicht damit einverstanden, daß ich im Zimmer – neben dir schliefe.«

»Nein, er würde die Lage vereinfachen wollen.«

»Und da das nicht geht, ist es besser für deine Nerven, wenn ich – Und dann gefällt mir das Seehaus. Erstens bin ich hier unabhängig, jetzt im Juni kommen so gut wie keine Gäste; und das brauche ich. Ferner arbeite ich hier wie selten, kann ich dir sagen. Gestern beim Gewitter – innerhalb zwei Minuten war der See fahlgrau und stieg auf wie ein Pferd mit Schaum am Maul. Das alte Haus wackelte. Ich hatte Angst und war wütend über meine Angst. Ich rannte in meinem engen Kasten herum, das kleine Fenster war mehrere Sekunden lang voll Feuer, dann krachte der ganze Himmel zusammen, und ich schrie dagegen an, die Schlußszene in der ›Roten Robe‹. Dabei lernt man! Ich sah mich im Spiegel, ich hatte ganz verwahrloste Augen. Aber jetzt weiß ich, wie ich den Untersuchungsrichter umbring.«

»Wenn einem alle Elemente zu Hilfe kommen –«

Er dachte an Archibald, der gesagt hatte, eine Aufrüttelung brauche ihr Temperament. Sogar der junge Ende hatte es gewußt.

»Aber heute sind Leute eingezogen. Wenn dich wer stört, komm zu mir auf die Wiese. Da kannst du eine halbe Stunde weit schreien, und niemand hört dich.«

Sie lag dort auf der Brust im Grase, unter einem schmalen Blätterdach, und las. Ein Dickicht von Blumen, von blauen, gelben, rosigen, lila und weißen, verschwendete seine Teppichfarben um sie her, die nichts sah. Claude brachte ihr ein Glas kalte Milch.

»Danke. Sag mal, tust du eigentlich gar nichts?«

»Ich habe dir zugeschaut. Macht es dich nervös?«

»Ich hab nichts gemerkt.«

»Also ... Im Winter, wo es mir – damals wußte ich es nicht, aber jetzt kommt's mir vor, als ob mir's schlecht ging: nun, da machte ich manchmal Verse. Das kann jedem passieren, besonders wenn man einen schlechten Verkehr hat wie den Pömmerl. Aber jetzt –«, und sein Blick ging langsam über ihre ganze Gestalt – »ist das überflüssig geworden.«

»Überflüssig«, murmelte Ute. »In der Kunst ist alles überflüssig oder gar nichts. Für dich aber alles. Denn Geld brauchst du nicht, Ruhm magst du nicht –«

»Und Liebe krieg ich nicht.«

»Die hat damit gar nichts zu tun.«

Sie sprang auf die Füße, sie schlenderten dem Hause zu. Es war mit Holzschober, Pumpe, Veranda sauber hingestellt wie eine Baukastenvilla. Unten war nur der große Eß- und Wohnraum; die Wendeltreppe in der Ecke stieg zu den Schlafzimmern.

Die Bank lief die Täfelung entlang um das Zimmer. Ute und Claude setzten sich darauf und aßen aus blauen Schüsseln, von einem groben Tischtuch mit rotem Rande. Der Diener hätte gegen den Stil verstoßen, er mußte draußen bleiben. Claude trug die Schüsseln herein.

»Hab ich einen Appetit«, sagte Ute befremdet. Schweigend verschlang sie die Portionen.

Am Abend zündete Claude eine Holzpfeife an und ging umher. Ute saß unter der Lampe, den Kopf in den Händen und erinnerte sich laut ihrer Triumphe, zählte ihre Kränze auf, deklamierte die Kritiken, die sie verherrlichten. Sie las auch den Roman in den »Neuesten Nachrichten«, ja, wenn Claude es wünschte, verstand sie sich zum Lautlesen.

Der Regen – denn es regnete viel in dieser ersten Woche – rauschte im Dunkeln, als sei's der Schlag eines riesigen Gefieders. Mit ersticktem Anprall sank es auf den Rasen. Claude öffnete eines der fünf kleinen Fenster. Weite, regendurchstrichene Nacht auf allen Seiten. Ein ganz fernes Hundebellen. Zwei feuchtrote Lichter, drunten am See, verschwimmend hinter triefendem Laub. Claude wandte sich. Ein heller Rauchstreifen von seiner Pfeife hing unter der niedrigen Decke. In den Winkeln verweilten vertraute Schatten – aber dort in der Helle saß Ute. Der milde Lampenschein liebkoste Lichter gleich Veilchen in ihrem besänftigten Haar. Es sah aus wie eingefangen in diesem Heim, in Claudes Heim – ein großes, wildfarbiges Tier, das lange hungrig nach dem Rausch seiner Kraft draußen umhergestrichen war. Aber nun saß es bezähmt.

Claude ging an das alte Tafelklavier, er suchte mit einem Finger und die Stirn in Falten nach einer Melodie, von der eine Erinnerung schwer und süß ihn manchmal anwehte, wie eine Welle von Jasminduft, wie ein Stoß von einem lauen Sturm ... Aber sie war verflogen, ehe sein Finger sie festhalten konnte.

Dann verlangte Ute nach Hause, und unter Regenschirmen, in tiefer Finsternis zwanzigmal vom Wiesenpfad verirrt und durchnäßt vom hohen Grase, lachten sie aus einer Hügelfalte hervor, übermütig, weil um sie her die Nacht keine Grenzen hatte.

Sobald man in der Frühe ohne Schirm gehen konnte, wollte Ute auf die Berge.

»Zur Kräftigung der Stimme und überhaupt.«

Claude lag gar nichts daran. Wäre sie wenigstens auf den Herzogstand gegangen. Aber sie bevorzugte die weniger üblichen, schlecht gepflegten Aufstiege. Hier fuhren einem unerwartete Steine über den Fuß, die der Regen gelockert hatte. Büsche, schwer von Wasser, senkten sich auf den Weg, und man mußte hindurchbrechen. Ute betrachtete Claude aus den Ecken der Lider.

Oben kam ein wenig stechende Sonne hervor. Claude war übertrieben müde. Ute stopfte sich Schokolade in den Mund.

»Das Kleid ist hin, bloß die Tasche voll Schokolade taugt noch was. Magst du nicht?«

Er nahm's, weil es aus ihrer Tasche kam und warm war von ihrem Körper. Aber das Essen verboten ihm seine durch das Steigen empörten Magennerven.

Dafür ruderte er sie. Solange es regnete, blieb der See glatt, beprickelt mit Tropfen und tief angefüllt mit den schwärzlich grünen Spiegelbildern des Waldes. Ute saß unter ihrem Schirm vornübergebeugt, mit den Armen auf den Knien. Claude, in Mantel und Kapuze, regte kaum die Ruder, und das flache Boot rutschte schon und plätscherte. Sie fuhren sorgfältig die kleinen Buchten ab, wo gefällte, schon bearbeitete Stämme sich am Ufer häuften und Laub hineinhing in das ganz schwarze Wasser. Am Ende des Sees, dort wo die Landstraße ihn verließ, stand seit drei Tagen ein grüner Wagen, und die Seiltänzer, bis ans Kinn eingeknöpft in die entfärbten Anzüge arbeitsloser Proletarier, lungerten davor, mit den Händen in den Hosentaschen, und glotzten. Zwei halbwüchsige Mädchen stiegen heraus, einen kleinen, fahlblonden Knoten oben auf dem unbedeckten Haar, mit langen Zügen im Gesicht, und dürr unter gelben, hängenden Mänteln. Claude warf ihnen Geld zu. Sie bückten sich erst spät danach, wie verwundert, und mit einer leichten Verbeugung.

»Es sind keine Bettler.«

»Die?« sagte Ute. »Die sind hier eingeregnet – wie wir. Reichlich schlimm schauen sie aus«, murmelte sie. Und nach einer Pause, auflachend:

»Wenn du nicht wärst, könnt ich auch so ausschauen.«

Er stutzte.

»Wieso?«

Aber sie zuckte die Achseln.

Und dann lichteten sich die Wasserschleier. Ute verlangte hinaus aus dem Zipfel des Sees mit dem Dorfe Walchensee. Da draußen blaute es schon, und im Sonnendunst, der die Ufer entrückte, dehnte der See sich zum Meere.

»Erst das Wasser aus dem Boot schöpfen«, meinte Claude.

»Ach was«, sagte Ute.

Draußen begann es zu wehen. Über das Wasser lief ein breiter Schauer, dann klapperte es unter dem Boot. Ute war unachtsam am Steuer; die Wellen, schon erstarkt, wendeten sich immer wieder die Breitseite des Kahnes zu, er legte sich schief, und Claude durchfuhr es kalt. Ute schien gar nichts zu merken.

›Es muß wohl ungefährlich sein‹, dachte Claude. ›Wie würde man mit diesem kiellosen Kasten sich sonst jemals auf die Mitte des Sees wagen dürfen.‹

Er biß die Zähne zusammen, sah auf seine Knie und ruderte. Aber der Wind kam plötzlich von zwei Seiten, sein Leinwandhut drohte zum Teufel zu gehn, Claude mußte die Ruder aus dem Wasser heben, und inzwischen drehte das Boot sich, schüttelte leise, drehte sich rascher.

»Daß mir nachher die Sonne auf den bloßen Kopf brennt –«, sagte Claude, indes er den Hut rettete. Aber unter seiner stillen Maske durchjagte ihn ein kopfloses Entsetzen, kreuz und quer, wie gescheuchte Hennen. Sein Herz flog, er war heftig besorgt, weil Ute vielleicht das Zittern seiner Arme sehen konnte, während er das Boot sich wieder unterwarf. Sie schaute, vornübergebeugt, ruhig zu, wie die Wellen größer wurden.

›Man kann ruhig zusehen, es ist ja keine Gefahr‹, sagte sich Claude. ›Ja, aber andere Nerven muß man haben als meine ... Ich stehe über meiner Feigheit – Herrgott, ich stehe doch darüber! ... Ich habe mich schon duelliert, und meine gute Haltung wurde anerkannt ... Ja, damals war ich wütend. Es war nur meine Gereiztheit, die meine Angst überschrie.‹

Er wendete. Vom kleinen Kloster Allerheiligen fuhr gerade die Botenfrau hinüber nach Walchensee. Die Wellen nahmen ihr Boot von der Seite, es schwankte hoch. Sie aber ruderte gemächlich und stark mit ihren nackten braunen Armen. Die Sonne flimmerte in dem braunen Haarkranz um ihren Kopf. Claude erfrischte sich durch ihren Anblick. Übrigens schätzte er jetzt die Entfernung vom Lande nicht mehr so groß, daß man sich äußersten Falles nicht hätte retten können. Er lachte, fragte, ob sie nochmals umkehren sollten, und fand sich elegant in Hemdsärmeln und gemusterter Weste.

Nun aber hieß es einlenken zum Ufer und den Wellen die Breitseite bieten. Sie glitten stumm und hinterhältig, tief wie Wiegen, ohne Schaum und finster schillernd heran, und Claude, dessen gesammelte Seelenruhe jäh auseinanderstob, erinnerte sich auf einmal aller Marterln, die um den See herumstanden. An jener Stelle war der ehrengeachtete Alois Zierl ertrunken, und dort hinten der tugendsame Jüngling Benedikt Huber. Der war allerdings durch das Eis gebrochen. Überhaupt hatten die meisten im Februar das Unglück gehabt, oder im November. Im Juni kein einziger. Immerhin –

Und endlich legten sie an.

»Eine feine Fahrt war das«, erklärte Ute.

Bei Einbruch der Dunkelheit wollte sie wieder auf den See, und Claude folgte ihr mit Freuden. Am Abend war nichts zu befürchten, das Wasser war blank, leise, rosig und von Mücken betanzt. Nicht einmal Zierl und Huber wären an solchem Abend umgekommen. Sie setzten über, und am Waldessaum, den Blick am Horizont, der nachtete, auf Walchensee, das von seinem Vorsprung mit altertümlichem Schattenriß in den See schnitt, deklamierte Ute.

»Das muß sich schön von drüben anhören«, sagte Claude. »Erlaube, daß ich zu Fuß zurückgehe. Ein halbes Stündchen, und ich hol dich wieder ab.«

»Laß nur, geh, ich fahr schon allein heim.«

Er umschritt den Zipfel des Sees bis an das Gasthaus »Zur Post«. Die Veranda saß voll von Samstagsgästen aus München; und auch sie hörten hin nach Ute. Claude verstand nicht, was sie sprach, es mußten Verse sein. Er sah sie im Dunkeln als schwarze Schwäne über das Wasser ziehn. Dem, der anlangte, streichelte er das Gefieder. Denn sie kamen zu ihm.

Er blieb seitwärts vom Hause, außerhalb des Lichtkreises, und er gedachte anderer Stunden, in denen er sie sprechen gehört hatte. Er saß in Spa, in einem dunkeln Zimmer, und lauschte zu ihr hinüber, die fern irgendwo auf einer Bühne stand. Dann ward er gewahr, daß es spät und jenes Theater längst aus sei und daß er ganz allein gesessen habe ... In Archibalds Kabinett lehnte er an einer schattigen Wand und sah sie spielen. Sie wuchs; Archibald selbst vergaß sich, läutete Glocken. Die beiden Stimmen wanden sich umeinander wie heiße Glieder. Sie waren beisammen; von Claude wußten sie nichts ... Das erste Mal, als er von ihrer Kunst erfahren hatte – es war ein violetter Sommerabend, er hörte sie schreien, riß ihre Tür auf. Sie zischte vor Rachsucht, wälzte sich vor Gier nach einem. Und in Claude, der weiß geworden war, steif dastand und leise atmete, warf sich einer, ja in seiner Seele warf sich einer zu ihr hin, vor ihre Knie, zuckte und schrie mit ihr – und der spielte nicht. Aber sie sah ihn nicht, dort auf der Schwelle, wo es dämmerte, und er regte sich nicht.

Er würde immer – wie jetzt wieder – im Dunkeln dabeistehen, aus dem Schatten ihr zusehen. Heute war sie gütig. War er nicht glücklich? Sie sandte ihm, nur ihm die Schwäne ihrer Stimme durch das Dunkel, und jedem, der ankam, durfte er das Gefieder streicheln.

»Na, nu prille nor nich, Garlinchen«, sagte jemand in der Veranda. Einer erklärte:

»Det soll ja 'ne Berühmtheit sein, kaiserlich-russische Hofkünstlerin. Wenn se uffstößt, kost et zwanzig Märker.«

»Aber 'n schönes Frauenzimmer«, bemerkte ein anderer. Und darüber war der Tisch einig.

»Da spitzst.«

»Wär jarkeen iebles Jeschäft.«

»Mer sollden er mal uf de Bute riggen?«

Utes Stimme war verhallt, Claude hörte das Plätschern ihrer Ruder, nun glitt sie in den Lichtkreis. Er lief ihr entgegen, half ihr anlegen und aussteigen. Sie eilten lachend an dem erleuchteten Kasten mit Menschen vorbei, betraten die schräge Wiese, wanderten heim.

Kurz nach acht kam Ute zum Frühstück.

»Ich hab einen Brief von Bella, zu Mittag kommt sie.«

»Und ich einen von Spießl«, erklärte Claude. »Übrigens auch Matthacker wollte kommen. Heut ist Sonntag.«

Sie holten ihre Gäste aus Kochel, in ihrem Reisewagen, worin sie selber von München hergefahren waren. Er saß auf hohen blaßgelben Rädern, war offen, fein geflochten und lackiert, und versehen mit Behältern für Koffer und mit Schirmgestellen. Hinten, außerhalb des Korbes, war die Bank für zwei Diener.

Spießl und Matthacker sprangen aus dem Zuge; dann Bella. Aber sie wandte sich rückwärts, hielt die Hände hin – und der Herr Panier kletterte herunter.

»Sie auch dabei, Herr Panier?« fragte Claude.

»Da sollen wir woll dabeisein, wo Fräulein Bella mit is. Nöh, da bleiben wir auch nicht zu Haus, könnt uns passen.«

Er war seit gestern aus Düren zurück, hatte heute früh bei Walgauers einen Besuch gemacht und Bella zur Fahrt nach Walchensee bereit gefunden. Er wich nicht von Bellas Seite. Im Wagen flüsterten sie. Bella sagte manchmal sanft, sich leicht krümmend:

»Das ist wohl besser für Sie, Herr Panier«, oder »das dürfen Sie ja nicht, Herr Panier.«

Er murrte:

»Mariechen, willst du woll!«

Matthacker, der kutschierte, drehte sich um nach Claude und Ute.

»Da schaun Sie Ihren Freund, er ist hin. Da ist endlich das Mädel, das ihn umbringen wird.«

»Bella?« fragte Ute rasch.

»Ja. Das Mädel fühlt sich so weich an, wie? Und ich sag Ihnen, die ist zäh. Daran beißt sich der Alte die Zähne aus – endlich.«

»Können Sie das nicht erwarten?« meinte Claude.

Matthacker versetzte:

»Die Natur muß endlich ihr Recht kriegen. Mit Geld und Brutalität hat der Alte sie bis jetzt vergewaltigt. Was nützt es, zuletzt ist doch die Frau die Stärkere ... Was, Herr Panier, Sie verloben sich da gerade?«

Panier fuhr auf, polterte etwas.

»Ich will nicht gestört haben«, sagte Matthacker ... »Ja, die Frau! In meiner Klinik hab ich eine, die fünffache Witwe ist. Denken Sie mal an die ratlosen Menschenschicksale, die ihretwegen durcheinandergewirbelt sind wie ein Schwarm Mücken über einer heißen Sommerpfütze. Scharenweise fallen sie hinein; ganze Familien gehen kaputt vermittels der Begierden überreizter Jünglinge und instinktschwacher Greise ...«

»Man ruhig Blut, Doktor«, sagte Panier. »Manchmal find't so 'n Weib auch einen, wo sie merkt, da ist nichts zu machen, und frißt ihm aus der Hand. Nöh, wir müßten ja woll was mit 'n Stock haben.«

Matthacker knallte nur mit der Peitsche, daß es durch den Wald schallte.

»Die Frau in meiner Klinik ist nicht böse, ahnt auch gar nichts von der Funktion, die sie ausgeübt hat. Es ist eben eine Naturgewalt, die Frau. Das Alter, das sich lästig macht, totschlagen –«

»Wir wollen ihr woll helfen!« schrie Panier.

»Und was nie lebensfähig war, ausrotten – sie tut es, ohne darum zu wissen. Wir haben sie nicht zu beurteilen, nur hinzunehmen und zu verehren, weil's die Natur ist.«

»Jawohl, zu verehren«, wiederholte Claude leise.

»Die Frau«, sagte Matthacker noch und schnalzte fröhlich, »ist die Probe, der jeder von uns unterworfen ist und bei der er zeigt, ob er Zukunft im Leibe hat. Einer ist ihr gewachsen, der andere geht drauf, ein dritter rettet sich Hals über Kopf im letzten Augenblick. Ja, der knöchernste Philister hat manchmal in seiner Jugend einen Moment gehabt, wo aus der Frau ein Abgrund ihn anschauerte ... Herr Spießl, Sie sagen gar nichts?« fragte Matthacker, hilflos über seine Backen hinweg.

Nein, Spießl schwieg brütend.

»In diesem Sinne die Damen hurra, hurra, hurra!« rief Matthacker.

Ute und Bella sahen sich an und hoben die Schultern.

Da man in das Dorf Walchensee einfuhr, erhoben sich die beiden Diener hinten von ihrer Bank und nahmen zwei lange schmale Posaunen vor den Mund. Jeder wendete die seinige nach außen, der eine über den See hin, der andere den Bergen zu, und sie bliesen mit Kraft, daß es klang, als habe der stolze Wagen mit seinen Insassen einen Überschuß großen Lebensatems in alle Himmelsrichtungen zu schmettern.

Aus der Veranda des Gasthauses beugten sich die Leute, einige mit achtungsvollen Gesichtern, andere schwer gereizt durch so viel Überhebung, mehrere eben vorgeschritten genug, um zu lächeln. Spießl tat plötzlich die Lippen auf.

»Jawohl, meine Herrschaften, da kommt der Jubeljüngling!«

Zum Essen hatte noch niemand Lust, man fuhr weiter, um den Zipfel des Sees herum, auf die Straße nach Mittenwald. Die Tannen errichteten in gemessenem Abstände ihre feierlichen Mauern. Zuweilen öffneten sie sich, auf einer Wiese kreisten in der Sonne sechs sehr große Kühe. Der Wagen hielt, man hörte das Geräusch des abgerissenen Grases und das behagliche Schnaufen der feuchten Nüstern. Ute betrachtete ein kleines Haus, das mit Baumrinde bedeckt, zwischen Tannen wie in einer Nische stand. Ein grünes Türchen hing schief in den Angeln, wilder Wein verhängte die zwei engen Fenster.

»Ich möchte da wohnen und arbeiten«, sagte Ute. »Und die da« – und sie zeigte auf die Kühe – »sollten mein Publikum sein.«

»Schmeichelhaft für uns«, sagte Matthacker.

Sie sprach nur zu Claude.

»Je tiefer mein Publikum steht, desto besser, weißt du, spiele ich. Auf der Schmiere im Walde zum Beispiel. Ich bin dann allein, und ich verachte. In dem Häuschen dort würd ich groß werden! Ach, ich würde am Ende anfangen zu schwärmen, Anfälle zu bekommen. Das Temperament – Archibald hat es doch immer mit dem Temperament –, das kommt vielleicht in der Natur, bei den Kühen?«

»Das Temperament soll woll kommen«, sagte Panier und schmunzelte Bella zu. »Was, Mariechen?«

Ute wollte aussteigen, jeder ging seiner Wege. Claude, an Utes Seite, fühlte deutlich mit, wie ihre eben gesprochenen Worte in ihr nachzitterten. Ihre gehemmte Empfindung schlug aufseufzend gegen diese starren Mauern aus Tannen. Die Sehnsucht, die kein Mann ihr abrang, eine blauumflossene Wolke entlockte sie ihr und der Sprung eines Kalbes. Claude sah all ihre Kälte schmelzen und Ute mit ausgebreiteten Armen die warmen Umarmungen der Natur erdulden. Er, ohnmächtig im Schatten ungeheurer Tannen, hatte mit keiner seiner Zärtlichkeiten auch nur ihre Fingerspitzen erwärmt.

Matthacker trat zu ihnen.

»Was für 'n idyllisches Paar sind Sie doch! Wie lange sind Sie schon da? Acht Tage?«

Er betrachtete Ute, wiegte den Kopf.

»Acht Tage verheiratet und noch ganz unberührt ... Vertrauen wir auf die Natur.«

Aber er horchte auf irgend etwas und schlug sich leise in den Wald.

Panier sagte hinter einer Tanne:

»Warum willst du denn nicht auch nach Düren, dumme Dehrn. Da geben sie doch feine Operetten. Hier singst du bloß bei Kirchenkonzerten, da hast du nichts von. Meinst du vielleicht, wir können dir kein Engagement verschaffen?«

»Oh, Sie sind ja so mächtig, Herr Panier.«

»Na also. Dann wollen wir es dir woll verschaffen – gradsogut wie deiner Freundin Ute.«

»Ja, aber – die Ute hat sich doch bei Ihnen bedankt, nicht, Herr Panier?«

Und Matthacker, der niemand sah, hörte Bella seufzen.

»Dank muß sein«, bestätigte Panier.

Bella gab unterdrückte Bitten von sich.

»Aber ich wüßte wirklich gar nicht, wie – ich Ihnen danken sollte, Herr Panier.«

»Oh, das wissen wir um so besser.«

Da hauchte Bella einen Schrei voll Herzensangst. Matthacker zeigte sich. Bella war schon wieder auf den Beinen, Panier, den Kopf violett überströmt, schwankte noch.

»Das wäre wohl fast schiefgegangen?« meinte Matthacker.

»Ich weiß gar nicht, was der Herr Panier auf einmal wollte«, murmelte Bella und strich an ihrem Kleid herunter. »Wer konnte denn ahnen –«

»Herr Panier, Sie sind wohl schwindlig? Lassen Sie mal Ihren Puls fühlen.«

»Ich verbitt mir Ihre Witze, Doktor.«

»Ich meine es ernst«, erklärte Matthacker, und Panier schrak zusammen.

»Ihr Kollege Heumüller hat mir gesagt, ich kann hundert Jahre alt werden«, sagte er polternd und kläglich.

Und Matthacker, unerbittlich: »Ich bin anderer Meinung.«

»Wie können Sie einem so was sagen! Sie konsultier ich im ganzen Leben nicht.«

Empört schob Panier ab.

»Sie bringen ihn um«, versetzte Matthacker, die Hand geheimnisvoll am Munde.

»Ich? O Gott!«

Und Bella fuhr auf, preßte die Hand auf die Brust. Matthacker lächelte und nickte.

»Es war nur Scherz. Ich meinte bloß, bald fragt er Sie, ob Sie seine liebe kleine Frau werden wollen.«

»Ach nein«, machte Bella. »Wirklich?«

»Aber ein bißchen schlimmer muß er noch werden ... Ja, wir kommen!«

Claude rief zur Rückfahrt.

Im Augenblick des Einsteigens entschloß Spießl sich; er faßte Claude von hinten am Ärmel.

»Du, eine Minute.«

Und als sie abseits einander gegenüberstanden:

»Wenn du mir nicht hilfst, schieß ich mir eine Kugel vor den Kopf.«

»Oh, oh«, machte Claude bloß.

»Ich verbitte mir jeden Zweifel, ich bin zu allem entschlossen.«

»Wegen Nelly?«

»Mit der bin ich fertig ... Ja, ich wäre an ihr zugrunde gegangen, mit Wollust wäre ich – wenn sie das Weib gewesen wäre, zu dem meine ausschweifenden Träume sie machten. Ach, wenn wir dem Weib unsere Träume ausziehen – na, kennen wir ja längst ... Also die Nelly liest unser Familienblatt.«

»Das geht ja ein?«

»Davon abgesehen. Aber ich hatte es doch bloß aus Perversität gegründet, um mit Hilfe der Familien die Kosten aufzubringen für solch – für solch ein Weib. Und dabei liest sie es! Schwärmt sogar dafür! ...«

Spießl starrte düster zu Boden. Dann, mit grausamer Handbewegung:

»Seit ich das weiß, sind wir seelisch geschieden.«

»Wodurch hängt ihr also noch zusammen?«

»Durch unsere Schulden.«

»Ach so.«

»Und wenn ich sie nicht bezahlen kann, bin ich verloren! Ich hab jetzt eine Stelle bei der Versicherung, die verlier ich ja sonst; und ich heirate ein echtes Weib, ein ganz reines. Reinheit ist schließlich das raffinierteste.«

»Du Versicherungsbeamter und deine Frau ganz rein – wenn du das Ziel verfehlst, mußt du dich allerdings totschießen ... Wie heißt sie denn?«

»Ringsum heißt sie. Sie ist eine Tochter von deinem Kassier.«

»Ach was. Das freut mich aber«, sagte Claude und gab Spießl die Hand. »Laß nur, ich zahl dir schon die Schulden ... Da, meine Damen und Herren«, rief er und ließ Spießl einsteigen, »wir sind schon die ganze Zeit mit dem da zusammen und wissen gar nicht, daß das ein Bräutigam ist!«

»Und einer, der Zukunft im Leibe hat«, sagte Matthacker.

Bella bekundete auf einmal große Teilnahme für Spießl.

»Herr Panier«, sagte Matthacker, »ich als Arzt warne Sie vor der ansteckenden Krankheit, die dieser junge Mann in unsern Wagen einschleppt.«

Panier riß den Mund auf.

»Das Verloben, meine ich«, erklärte Matthacker.

Panier schlug sich mit der Faust aufs Knie; darauf brach er in Schmerzgebrüll aus, weil sein Gichtknoten gedrückt worden war.

»Da soll doch gleich – Und überhaupt, 'n Doktor, der einem ins Gesicht sagt, daß man den nächsten Augenblick 'n Schlag kriegen soll!«

»Hat er das gesagt?« fragte Ute angeregt. Bella tröstete den Greis.

»Dafür sagt Ihnen Doktor Heumüller, daß Sie hundert Jahre alt werden, Herr Panier.«

»Das woll'n wir uns auch ausgebeten haben«, bellte Panier.

»Ich kauf Ihnen Ihren Leichnam ab«, beschloß Matthacker. Er schnalzte, knallte und jagte mit verhängtem Zügel den Abhang hinunter. Fast wäre er in den grünen Wagen hineingefahren, der noch immer vor der Spitze des Sees hielt.

Panier, der sich erschrocken hatte, schrie wütend:

»Wollt ihr machen, Volk, daß ihr aus 'm Wege kommt! Wir schicken euch die Polizei auf 'n Hals!«

Die beiden jungen Leute grinsten ihn an, dann zogen sie mit schlaffen Bewegungen den Karren beiseite. Die zwei Mädchen standen gleichgültig dabei, die Hände in den Taschen ihrer langen Mäntel. Claude fragte:

»Warum geben Sie keine Vorstellung im Dorf?«

Die Leute sahen sich an, auch ein dicker Alter mit hängendem Schnauzbart erschien in der Tür des Wagens.

»Der Bürgermeister hat es uns verboten«, sagte einer der Söhne.

»Soso«, meinte Claude. »Und weiterfahren –«

»In dem Regen –«

»Natürlich.«

»Und heute, wo's schön ist, da muß Mama krank werden. Hol der Teufel das Elend.«

Claude antwortete nicht, Matthacker machte »hü!«.

Ute betrachtete unverwandt die beiden Mädchen, die am selben Fleck standen und ihr nachsahen, indes sie kleiner wurden.

Vor dem Gasthaus sagte Claude:

»Herrgott, wir haben ja nicht ans Essen gedacht, Ute!«

Nein, auch Ute hatte nicht vorgesorgt, bei ihnen daheim gab es nichts für die Gäste. Panier, sehr übellaunig, feixte:

»Na ja, die Künstlerin – da haben wir die Künstlerin. Immer den Leuten was vormachen, aber nix Reelles.«

Bella suchte zu schlichten.

»Aber, Herr Panier, ich bin ja auch Künstlerin.«

»Du? Woher denn, Mariechen.«

»Nein«, sagte Ute und sah, die Brauen gefaltet, von ihm zu ihr: »Sie ist wohl keine.«

»Wo ist denn Marehn?« fragte Matthacker. »Weg ... Also kommen Sie mal her, Herr Posthalter, lassen Sie die zwei Tische zusammenrücken. Wir wollen Seeforellen, was?«

Man überlegte die Speisenfolge. Es ward gedeckt. Als die Gesellschaft sich setzte, kam Claude die Straße herunter, an der Seite eines reich aussehenden Bauern. Sie erstiegen zusammen die Veranda, die ganz voll von Gästen war, grüßten sich, und jeder ging zu seinen Freunden.

»Nanu, Claude?«

Da wankte hinter zwei knochigen Gäulen der grüne Wagen um die Ecke. Er hielt seitwärts vom Hause an, die jungen Männer schoben über ein Brett eine große Drehorgel heraus. Der Vater schlug schon die Pfähle ein.

»Nu soll doch –«, murrte Panier, »lassen sie einen denn hier nicht ruhig zu Mittag essen?«

Ute sah Claude an, sie fragte mit den Augen. Er nickte. Sie murmelte:

»Nobel bist du, nobel.«

Die beiden Mädchen halfen dem Alten. Die Söhne, in schmutzig-rosa Trikots und darüber ihre entfärbte Proletarierjacke, suchten nach Hölzern. Sie öffneten den Bootsschuppen; ein zum Hause Gehöriger schlug ihn ihnen vor der Nase zu. Ein kleiner alter Bauer ging, mit mißtrauischen Seitenblicken auf die Seiltänzer, krummbeinig über die Straße und schloß seinen Kuhstall ab. Die beiden Artisten standen faul da, die Schirmmützen über den Augen, die Hände in den Taschen, und lugten schief in die Veranda, von wo die Bauern jede ihrer Bewegungen beobachteten. Sie schienen darauf vorbereitet, daß die beiden Landstreicher ihnen ins Gesicht sprängen. Die Gäste aus München hatten überlegene Mienen angenommen. Die Zirkusmädchen schlichen sich bis unter das Geländer der Veranda und schnupperten nach den Speisengerüchen.

Der Alte rief den jungen Leuten zu. Sie warfen die Jacken ab; im Nu waren aus den unlustigen, verdächtigen Gestalten ein Paar lächelnder, gelenker Spaßmacher mit Barbierköpfen geworden, die sich verbeugten, ihre Armmuskeln spielen ließen, während der Alte heiser die erste Nummer des Programms ausrief. Eine magere alte Frau drehte mit Anstrengung die Leier. Sie beschritten das Seil, schwankten unter japanischen Papierschirmen, wanden sich umeinander herum, erreichten mit anmutigem Triumph das Ziel und grüßten. Der Pfarrer nickte nachsichtig seinen Nachbarn, dem Förster, dem Bürgermeister und dem Lehrer zu. An dem Tisch, den Claude von gestern abend kannte, als Ute jenseits des Sees deklamiert hatte, hieß es:

»Det is ja Mumpitz.«

»Bagage, miserablige.«

»Nee, mei Kudester, dadermit imboniern Se eim nich.«

Dann hatte der ältere der Brüder zu turnen. Er tat es mit vermindertem guten Willen. Unter der schweren Sonne hing er, rosa eingehäutet, am Reck, sein Schweiß troff in den Staub, und er rief, den geschwollenen Kopf nach unten, erbittert seinen Angehörigen zu:

»Euch geht's ja soweit gut dahinten!«

Man lachte. Panier knurrte:

»Wartet mal, verekelt ihr uns noch lange die Forellen, denn kommen wir euch mal anders.«

Inzwischen breitete der Alte einen Teppich auf die Straße. Er schrie etwas, die Orgel setzte brüllend ein, und die beiden jungen Mädchen, die Fingerspitzen an den Schultern, verneigten sich, ehe sie tanzten. Ihre blonden Schöpfe sahen entfärbt aus über der bräunlichen Blässe ihrer Gesichter. Sie lächelten matt, mit fahlrosigen Lippen, ihr Lächeln, das sie von Dorf zu Dorf über die Landstraßen trugen. Von Sturm und Sonne auf den Landstraßen, von Liebe auf den Landstraßen, von Ermattungen auf den Landstraßen waren sie welk gemacht, bevor sie geblüht hatten. Ein wenig Flitter raschelte um ihre engen Hüften, sie wiegten sich darin beim Tanzen tief und ohne daß Fleischfalten entstanden. Ihre Arme warfen magere Verlockungen in die staubige Luft. Straffgezogen über der flachen Brust und den sehnigen Schenkeln glänzten ihre gelben und blauen Trikots schwach wie blinde Spiegel bei den Künsten der Glieder, die sie bedeckten. Und diese mit wässerigem Blut gefüllten Glieder, die nur um einiger wohlgeübten Verrenkungen willen auf Erden waren, sie waren unter dem Rascheln von Flitter die Landstraße entlang und bis auf die schmutzigen Blumen dieses Teppichs getänzelt, ein Schauspiel für stämmige Bauern, die den Bierkrug an den Bart hoben, und durch Sitzen verunstaltete Bürger, grotesk in ihrer Gebirglervermummung, die verdauten.

Aber die Musik brach ab. Die alte Frau sah mit gelbem Fiebergesicht hinter der Orgel hervor; sie konnte nicht mehr drehn.

Die Mädchen wollten ihre Mäntel anziehen, aber einer der Brüder nahm sie ihnen weg und schob sie die Stufen der Veranda hinauf. Ohne Mäntel gelangen ihnen reichere Einnahmen.

Der Pfarrer sah sie mit Mißbilligung kommen; er machte runde strenge Augen hinter seiner Brille. Der Bürgermeister schnupfte verlegen und wies zu seiner Entschuldigung nach Claude hinüber. Die Gäste aus München witzelten, hielten sich, wenn die Mädchen in ihren feuchten Trikots, noch außer Atem, herantraten, die Nase zu, kehrten vornehm einen Nickel heraus. Die Bauern vollführten zum Zeichen der Ablehnung einen Ruck mit dem ganzen Oberkörper.

Als sie ihren Teller dem Herrn Panier hinhielten, fuhr er halb vom Stuhl auf und warf ein Bierglas um.

»Nu soll euch – Wo ist der Gendarm! Was ist das für 'ne Belästigung!«

»Sie haben vielleicht Hunger«, meinte Bella sanft.

»Ach was«, schrie Panier, »arbeiten soll'n sie. Warum arbeit 'r nich, he? Wir haben auch arbeiten müssen ... Nützlich sollt ihr euch machen, verstanden?« grollte er bebenden Bartes der kleineren dicht ins Gesicht und schlug von unten gegen den Teller, den sie nicht losließ. Die Geldstücke tanzten.

»Wenn ihr Geld braucht – Dokter, kaufen Sie sich die doch zum Impfen.«

»Nicht mehr nötig«, erwiderte Matthacker kurz. »Die haben schon genug im Blut ... Sie selber aber auch.«

Panier war auf einmal still.

Claude legte Geld auf den Teller, fragte die Mädchen nach ihrer Herkunft. Als sie weitergingen, sagte Ute plötzlich:

»Glauben Sie selbst, Herr Panier, vielleicht 'ne wertvollere Existenz zu sein als diese beiden? Sie würden sich irren.«

Panier war fassungslos.

»Wir ... wir

»Ich kenne nur eine einzige wertvolle Existenz«, bemerkte Matthacker, aber man achtete auf Ute.

»Ich bin nämlich auch beim Theater«, äußerte sie.

»Das wissen wir woll. Aber was die lausigen Seiltänzer Sie angehen, nöh, das ist uns schleierhaft.«

»Lassen Sie das Brett, worauf ich stehe und Ihnen was vormache, mal immer schmaler werden, immer schmaler: zuletzt ist es nur noch so breit wie ein Seil. Darauf tanz ich dann.«

»Hahaha.«

»Und ich finde, man geht einen vornehmeren Schritt dort oben als hier zu ebener Erde, wo bieder und ungekünstelt mit dem ganzen Fuß aufgetreten wird.«

Claude dachte an Kassier Ringsum.

»Nicht nur die Füße werden vornehmer«, behauptete Ute. »Wir beherrschen alle unsere Glieder, weil wir sonst hinunterfallen würden und ihr lachen würdet. Darum sind wir schöner als ihr. Wir wissen auch, was auf unserem Gesicht steht und daß wir nichts Niedriges fühlen dürfen, damit es nicht, wie bei euch, darauf stehe. Uns sieht man ja zu. Wir selbst sehen uns zu. Darum sind wir besser als ihr.«

»Wenn ihr man zufrieden seid«, sagte Panier.

»Und vor allem leben wir. Ihr seid höchstens am Leben. Ihr spart Seele, wie ihr Geld spart. In euren siebzig Jahren sammelt ihr nicht die Erregungen, die Rauschzustände der Persönlichkeit, die uns ein Abend bringt. Was seid denn ihr? Mit eurer einzigen Funktion; jeder die seine. Wenn der eine sein Bierglas ausgetrunken, der andere die ergaunerten tausend Mark in die Tasche gesteckt und der dritte den Puls gefühlt hat, darf er wieder zu Bett gehen. Zu was anderm seid ihr nicht da. Wer von euch ist denn Mensch ... Himmel! Meint ihr vielleicht, daß die da –«

Und sie wies auf die Mädchen, die sich eben verdrossen einer Zudringlichkeit entzogen.

»Daß die mit euch tauschen würden?«

»Wetten?« schlug Panier vor. Matthacker bemerkte:

»Fräulein, Sie müssen sich schon lange geärgert haben. Schließlich sammeln die bei uns.«

»Was beweist das. Ja, wir behängen uns mit Flitter und gehen sammeln bei euch. Sonst haben wir zu euch keine Beziehung. Was seht ihr denn von uns als den Flitter. Von unsern Nöten, unserm Sturm, den Höhen und Tiefen, wohin uns unsere Kunst trägt, und davon, daß alle unsere Glieder geübt sind zu Harfengriffen auf unserer Seele ... Da, schauen Sie sich das schmierige Mienenspiel an und die täppischen Griffe von all diesem Menschheitspöbel beim Näherkommen der beiden. Wie gemein werden alle neben ihnen. Niemand weiß es, aber das sind heimliche – heimliche –«

»Prinzessinnen«, sagte Claude.

»Aber sehr heimliche«, rief Panier. »O Gott, was für 'n Witz. Sehr heimliche!«

Die Mädchen kamen zurück.

»Wieviel habt ihr denn gekriegt?« fragte Matthacker.

»Zwei achtzig, ohne das was wir gegeben haben ... Fräulein. Ende, dafür würden Sie wohl nicht Seil tanzen?«

»Bedanken wird sie sich«, und Panier brüllte vor Lachen. Ute sprang vom Stuhl, ihr Spitzenärmel flog auf:

»Ich schwöre – wenn ich auf dem Seil gehen könnte ... Tanzt ihr noch?« fragte sie die Mädchen.

»Mutter kann ja nicht mehr drehn.«

»Kommt nur, ich will drehn.«

»Ute, das darfst du doch nicht«, sagte Bella erschrocken.

Ute war schon die Stufen hinab, und Claude war hinter ihr. Sie ließ den Musikkasten umwenden, man konnte ihr zusehen, wie sie zum Tanz der Landstreicherinnen die Leier drehte. Claude, gleich daneben, die Hände in den Hosentaschen, blickte mit einem zweifelmütigen Lächeln von den ratlosen Fratzen, die aus der Veranda heraushingen, zu Ute und ihrem wehenden Ärmel und dem Gefunkel in ihrem Haar.

Sie war fertig, sie kam laufend zurück, riß einem der Mädchen den Teller aus der Hand und trat, den Kopf hoch, an den ersten Tisch. Claude, immer dicht hinter ihr, sah herausfordernd aus.

Der Pfarrer legte betreten und achtungsvoll einen Zwanziger auf den Teller. Der Lehrer stand, während er seinen Fünfer hergab, vom Stuhl auf und machte einen Kratzfuß. Die Bauern suchten mit Räuspern und Ächzen nach Pfennigen. Wie sie zu den ihnen bekannten Touristen kamen, starrte Claude jedem drohend in die Augen. Einer, das sah er, schluckte eine Bemerkung hinunter, nachdem er ihn angeschielt hatte.

»Allzuviel Mut haben sie nicht, diese lebenstüchtigen Männer, Sie können am Ende merken, wie ich gebaut bin und daß ich bloß das bißchen selbst anerzogene Frechheit habe. Aber man sieht ihnen fest in die Augen, und rasch schlucken sie alles hinunter ... Strengen Sie sich nicht an«, sagte er herablassend zu einem breiten Menschen, der ein Fünfzigpfennigstück hervorkehrte und dabei demütig von unten in Utes kaltes Gesicht lugte.

Endlich gelangten sie zu ihrer eigenen Gesellschaft. Der Herr Panier schmunzelte und ließ eine Mark hinklappern, Matthacker drei.

»Wer selbst Künstler ist«, fragte Bella, »zahlt der auch?«

»Künstler, nein. Aber du, zahl du nur.«

»Bitte, ich bin Künstler«, versicherte Spießl.

»Gehns zu«, und Ute rasselte mit dem Gelde.

Claude wollte etwas geben.

»Nein, du nicht. Du gehörst dazu.«

Er verfiel in Nachdenken über diesen Ausspruch.

Ute schüttete das Geld einem der Mädchen in die Hände. Man brach auf, nach Claudes Hause. Matthacker ordnete einen Mittagsschlaf im Freien an. Inzwischen erfand er selbst ein Spiel mit leeren Bierflaschen, die er den Rasen hinunterwarf, eine immer weiter als die andere. Abends setzten sich alle auf den hohen Reisewagen und fuhren nach Kochel. Claude bat sie, wiederzukommen. Bella und Panier versprachen es für nächsten Sonntag.

»Dann können wir unser Mündigwerden feiern«, bemerkte Claude. »Kommende Woche werden wir nämlich beide mündig, Ute und ich.«

»Fühlen Sie sich auch so?« fragte Matthacker. »Geben Sie Ihren Puls.«

Dann waren sie wieder allein.

Die Tage wurden sehr heiß. Ute mochte nicht mehr auf die Berge.

»Rudern?« fragte Claude.

»Auf dem Wasser ist es schlimmer als hier oben. Es geht kein Wind mehr. In meiner Zelle im Seehaus ist eine Bruthitze, ich konnte nicht mehr arbeiten. Hier geht es noch.«

Sie wanderte, ein Heft in der Hand, unter den Eschen auf und ab, neben der Wiese. Claude lag auf dem Bauch und hörte ihr zu. Schließlich ließ auch sie sich ins Gras fallen.

»Uff.«

Sie schwiegen beide. Sie blinzelten mit Augen, worin ein Gefühl von Trockenheit war, über die Wiese hin; darüber flimmerte die Luft. Die Blumen ordneten sich, wie der Blick müde durch sie hinschlich, zu farbigen Streifen, gelb und roten, lila-weißen, die unsicher glühend, als Bäche aus lauter heißen Träumen dahinzogen, wer weiß wie weit. Ute murmelte:

»Der Himmel ist wie aus Veilchen – weiß Gott, er ist wie eine Veilchenschaukel, und wenn man lange hineinschaut, ist's, als hinge man an dem Trapez aus Veilchen und durchschnitte in einem großen Zuge die Luft ... Man muß die Augen schließen.«

Claude erblickte durch den Spalt in seinen Lidern nur sie, die weiß, mit den Armen unter dem Kopf, das Gesicht nach oben und die Augen geschlossen, im Schatten lag. Sie sprach und gähnte zwischen den Worten:

»Die dummen Träume in den heißen Nächten! Vorige Nacht war ein unaufhörliches Wetterleuchten. Ich glaubte draußen zu sein, auf der Waldlichtung, weißt du, wo wir neulich mit den andern anhielten und wo das Häuschen stand. Ich kam aus dem Häuschen, im Hemd und mit bloßen Füßen. Ich war ein kleines Mädel und trug das Haar aufgelöst. Der Mond lag weiß auf dem Rasen, die Kühe lagen hingebaut wie aus Stein. Ich war ganz allein. Aber ich wußte, es war eben ein Spielmann vorbeigegangen, oder ein Tänzer – so was Ähnliches.«

»Eine Erinnerung an die Artisten vom Sonntag«, meinte Claude.

»Kann sein ... Dahinten, bei der Biegung der Straße, wo zwischen den Tannen das letzte Mondlicht hing, zappelten noch seine Tanzbeine, über dem Boden, schien mir's, wie bei einem Erhängten ... Ich mußte hinterher, in Hemd und bloßen Füßen, sehr lange. Schließlich, als wenn ein neues Bild in den Guckkasten gesetzt wird, fuhr unser Reisewagen vor mir her, und wir alle saßen drauf, ich auch, ganz wie ich immer bin. Aber Panier und Matthacker nickten so verwunderlich, und überhaupt, es waren alles nur Masken, ich auch, und du auch. Unter deiner war der Spielmann, das wußte ich ganz genau. Zu dumm, was?«

Claude atmete kaum.

»Und du?« fragte er zögernd. »Was tatst du?«

»Ich, ich legte mich hinten in den Kofferbehälter, zwischen den Dienern, die ja auch wie behext dasaßen, und ich spähte manchmal über den Rand nach dir, nach dem Spielmann heißt das.«

»Und dann?«

Sie dachte nach.

»Tolle Sachen ... tolle Sachen, aber ich weiß sie nicht mehr. Mir scheint, aus deiner Maske kam wirklich der Spielmann heraus, und Abenteuer haben wir dann zusammen erlebt, Abenteuer –. Vor Angst oder vor Glück haben wir immerfort geschrien – aber stimmlos, wie's halt ist im Traum.«

»Und dann?«

»Du willst zu viel wissen. Zuletzt tanzten wieder Beine in der Luft. Ich sah bloß die Beine, wie bei einem Erhängten.«

»Da haben wir gewiß ein übles Ende genommen.«

»Wir?« fragte Ute. Gleich darauf platzte sie aus.

»Wie du das sagst, förmlich schauerlich ... Oh, oh, die Hitze.«

Sie gähnte. Beide schwiegen wieder.

Man meinte die Luft singen zu hören. Wie ein geheimnisvoller Flötenton kam es hinter den ersten Bäumen des Waldes hervor. Müde und bekränzt streckte sich der Sommer ins Gras.

Claude stützte den Nacken in die Hand, er hielt Umschau. Die Wiese war weit und leer. Ein silbernes Sichelklingen kündigte einen noch unsichtbaren Mäher an, hinter jenem Grashügel. Ute lag weiß und hingegeben. Alles, was man zum Glücke brauchte ... Der Himmel war blau. Ein wenig Rauch stieg aus Claudes Haus. Eine Magd pflückte Kirschen von einem Baum. Der Brunnen rann, ein helles Band. Alles, was man zum Glücke brauchte. Ute lag weiß und hingegeben – sie wußte selbst nicht, wie sehr. Sie verstand ihren eigenen Traum nicht.

Vor ihm, in der Luft, ließ sich eine Libelle umspielen von einer andern. Sie stand still, erlitt die bläulichen Umschlingungen der andern; aber plötzlich brach sie aus dem Kreise, den jene enger beschrieb, und entgaukelte.

Claude bedachte: »Wenn ich sie wecke, ist es aus.«

»Und die andere Ute«, fragte er, »die auf dem Wagen saß, was ist aus der geworden?«

»Die? Hier ist sie ja.«

Sie richtete sich auf.

»Und arbeiten wird sie jetzt gefälligst.«

Als er sie abends nach Hause geleitete, war die Wiese so voller Leuchtkäfer, daß eine Lichtwolke vom Grase auf und bis über ihre Hände schwebte, die darin erbleichten. Die Sterne funkelten durch einen blauen Schleier. In den Eschen wogte es verhalten und silbern. Der Wald stand blau. Eine silberne Spur verweilte drunten auf dem See. Tief und rund hing darüber der Mond.

Claude dachte an den Frühling des vorigen Jahres mit seinem still wie bei Bruder und Schwester dahingerauschten Glück. Auf einem Gange in Nymphenburg waren die unterirdischen Zärtlichkeiten plötzlich alle verschüttet ... Nun seufzte ein Sommer, dehnte sich, Schweißperlen auf der Stirn und mit ausgebreiteten Armen. Aus Ute – sie wußte es nicht –, aber aus Ute war für einen Augenblick ein kleines, warmes Mädchen getreten, als träte es aus dem Häuschen auf der Waldlichtung. Mit Claude, der auch verwandelt war, hatte es die großen Leiden erfahren und die starken Wonnen. Sie hatten hoch gelebt, um schlimm zu enden. Ja, durch Verbrechen, Ausgestoßenheit, Armut, Schande waren sie immer wieder einander in die Arme gestürzt.

›Wäre ich in dieser Nacht bei ihr gewesen! Vielleicht hätte sie unter meiner Maske den Spielmann entdeckt? Vielleicht wär ich's geworden? ... Hätte ich wenigstens mit ihr träumen dürfen?‹

Claude bangte danach, seine Arme aufzureißen. Er blieb einen Schritt hinter Ute, er sah sie hineinziehn in überwältigende Weiten aus Nachtblau und Silber. Sie würde verschwinden, auch diesmal, wie damals im Frühling. Kein Wort hielt sie zurück, kein Aufschrei, keine Geste. Die Arme, die er halb erhoben hatte, Claude ließ sie wieder fallen.

Am Sonntag kamen Panier und Bella. Claude hatte ihnen nach Kochel einen Einspänner geschickt. Der Greis stieg heraus mit einem violetten Kopf. Bella, sehr erhitzt, ging neben Ute ins Haus.

»In der Bahn war es wohl heiß?« fragte Ute. Bella fing an zu weinen.

»Es ist nicht mehr zu machen. Er wird zudringlich, sobald wir allein sind.«

»Ja, dann würde ich das vermeiden ... Wie ist er dabei widerlich, nicht?«

»Widerlich?«

Bella sah aus ihren Tränen verwundert auf.

»Nein ... Und wenn ich es nun aufgebe, dann hab ich mich blamiert, dann waren es zu viele vergebliche Anstrengungen. Ich bin ja jetzt schon so weit, daß er mir alles mögliche verspricht, er will für mich sorgen und so weiter.«

»Dann fehlt also nur ein Schritt bis zum Ziel«, sagte Ute mit Verachtung. Bella murmelte im Taschentuch, worin sie sich schneuzte:

»Matthacker sagt, er muß noch etwas schlimmer werden. Was meint er damit?«

»Sein Kopf ist schon –«, begann Ute. Aber da traten Panier und Claude ins Zimmer. Panier knurrte:

»Wo man nu woll weniger erstickt bei euch, drinnen oder draußen.«

Die Luft war still und schwül. Ein paar kleine Wolken lagen dahinten bleiweiß vor Anker.

Man entschied sich für die Veranda. Claude warf, um die Stimmung zu heben, die Teller im Bogen über den Rasen, wie Matthacker neulich die Bierflaschen. Aber er war nicht so geschickt, es zerbrachen mehrere.

»Schmeiß du man dein Hab und Gut kaputt«, sagte Panier giftig. »Wenn du nix mehr hast, dann kannst du die Bella heiraten. Ich laß sie dir: Denn habt ihr beide nix.«

Und ausbrechend, die Faust auf dem Tisch:

»Woll'n wir woll kriegen!«

»Was wollen Sie kriegen, Herr Panier?« fragte Claude sanft. »Vergessen Sie nicht, ich bin jetzt mündig.«

»'ne schöne Mündigkeit«, so höhnte der Greis. »Nöh, wer nicht einsteckt, der wird eingesteckt.«

Und er goß ein Glas Rheinwein mit Gieshübler hinunter, das Bella, die Schulter demütig hochgezogen, ihm darbot. Ihre Hand voller Grübchen streifte dabei den Gichtknoten auf seiner. Etwas erleichtert sagte er:

»Na prost, auf eure Mündigkeit.«

Ute ertrug ihn nicht mehr.

»Wir gehen hinunter.«

»Spazieren?« fragte Panier und betrachtete den Himmel. »Ihr seid wohl nicht bei Trost.«

Die kleinen weißen Wolken breiteten sich aus wie Baumkronen, plastisch beschattet.

»In einer Viertelstunde ist das Gewitter da.«

Er ging trotzdem mit an den See.

»Wir rudern also«, sagte Ute, und sie flüsterte Claude zu:

»Anders werden wir ihn nicht los.«

Panier war mit Bella auf einer Bank geblieben.

»Kommen Sie Kahn fahren?«

Bella schrak auf:

»Ach, ob wir Kahn fahren wollen.«

»Nöh, Mariechen, da wird nichts aus. Unser Leben ist denn doch zu kostbar. Aber geht ihr man hin und ertrinkt.«

»Ich auch?« fragte Bella.

»Entweder oder«, sagte Ute. Claude war schon da mit dem Boot. Ute stieg ein, Bella schüttelte den Kopf.

»Unvernünftig ist es«, sagte Claude nur leichthin. Aber in seinem Innern standen bleich beleuchtet die Marterln der Alois Zierl, Benedikt Huber und der übrigen.

»Ach was, da draußen sind noch mehr Boote«, meinte Ute, und sie stießen ab.

Aber Bella erschien aufschreiend am Ufer.

»Ich will doch mit!«

Sie holten sie. Paniers geschwollenes Gesicht sah mit verzerrtem Munde, der heftig zitterte, hinter dem Busch hervor. Die Hand mit dem Gichtknoten drohte –, aber plötzlich, wie im Schrecken, griff sie in die Zweige hinein ... Bella seufzte, als das Wasser unter dem Kahn plätscherte.

»Ich hab Angst.«

»Wovor?« fragte Ute.

»Vor dem Gewitter auch

»Aber vor Panier noch mehr?«

»Wenn es noch lange dauert – ich kann mir nicht mehr helfen.«

»Oh, wir helfen uns immer noch, wenn wir wollen

Dabei sah Ute sehr hochmütig aus.

»Dann hast du wohl nicht gewollt?« fragte Bella leise, von unten. Ute hielt kalt den Blick aus, sie atmete den Wind ein, der den Sturm verhieß. Sie war stolz darauf, daß trotz allem nie in ihr eine der niedrigen Reizungen entstanden war, von denen das süße Fleisch da vor ihr ganz durchzittert ward.

Claude sah die beiden sich befeinden, aber es ging draußen vor sich, außerhalb der Krise kopfloser Angst, in die die kreisende Luft ihn einengte und die Wellchen, die knisternd einander entgegenstrichen. Der Himmel war schwergrau. Bella bat, man möchte umkehren.

»Es hat noch Zeit«, erklärte Claude. »Wir können ganz gut um die Ecke beim Klösterl fahren.«

»Laß den Sturm doch kommen«, sagte Ute. »Ertrinken geht nicht so rasch. Dahinten sind noch Fischer. Und überhaupt, vor Schlaffheit arbeitet man nicht mehr, ich brauche eine Aufregung.«

»Ich nicht, weiß Gott nicht«, jammerte Bella.

Vom spitzen Ziegeldach des kleinen Klosters troff ein blutiger Widerschein in das finstere Wasser. Wie das Boot darüber wegschwankte, unterlagen Claudes Arme einem nervösen Zucken: ihre Ruderschläge führten über die Grenze des Todes, meinte er.

Dahinter blies der Wind eintönig und stark und trieb sie vor sich her. Claude gebrauchte die Ruder nur noch, um das Boot im Gleichgewicht zu erhalten; die Wellen wuchsen in kurzen Augenblicken zu rollenden Bergen. Er warf einen trostlosen Blick in die Runde. Wo waren nun die Fischer. Bella stellte gerade schmerzlich fest:

»Wir sind ganz allein hier draußen.«

Ihn schauerte es bis in die Knochen. Sein Magen zog sich zusammen, in seinem Nacken entstand ein leises, krampfhaftes Beben. Da faßte eine Welle den Kahn von der Seite und legte ihn um. Claude stürzte sich ans andere Ende der Bank. Es war noch gut gegangen. Die Ruder waren aus dem Wasser geschleudert, das Fahrzeug tanzte. Bellas Aufkreischen ging unter im Lärmen des ersten Gewitterschlages.

Die beiden Mädchen, Claude gegenüber, betrachteten ihn mit bleichen Blicken. In diesem Augenblick gewahrte er zwischen Kloster Allerheiligen und Dorf Walchensee gerade in der Mitte die Botenfrau. Auch sie war in den Sturm geraten, auch ihr Nachen senkte sich tief nach rechts. Sie sah, nach jedem Ruderschlag steif aufgerichtet, streng vor sich hin, das fahle Licht streifte kreidig ihr Hemd über dem schwarzen Mieder, und jeder Zug ihrer braunen Arme war fest und ernst. Mit jedem erarbeitete sie ihr Leben – das Leben, das sie wagte um einiger zu befördernder Briefe willen oder wegen eines Sackes mit Brot.

»Ich denke, wir kehren um«, sagte Claude vollkommen ruhig und wendete. In einem Nu war er verwandelt und wunderte sich kaum. Keine geheime Kopflosigkeit mehr, kein Hinhorchen steuerloser Nerven nach Stürmen, die nur sie selbst anfechten. Jetzt war die Gefahr da, die wirkliche Gefahr, außerhalb seines Blutes, in Wasser und Luft. Mit dem stillen harten Gesicht einer Bäuerin zog sie über den tobenden See.

Und sie war ein Glück, ein unverhofftes, strenges Glück, diese Gefahr, die über das einsame Ich hereinbrach, seine eingeschlossenen Ängste schweigen hieß und sich mit ihm messen wollte. Claude war auf einmal ganz gestählt von der Aufgabe, die sie ihm stellte; denn er rettete Ute.

Er wählte das Ziel: den kiesigen Strand beim Kloster. Er war auch darauf vorbereitet, es zu verfehlen. Wenn sie umschlugen, nahm er Ute in den Arm, schleppte sie, soweit sein Atem reichte ... Aber das würde nicht geschehen; die leidvolle Sehnsucht, mit ihr zu sterben, sie entstieg seiner Brust, eine Sekunde, dann hatte er sie hinuntergeschluckt. Dort lag das Ziel ...

»Hilfe, Hilfe«, flehte Bella in das leere Wetter hinaus. Es blitzte.

»Hast du nun genug Aufregung?«

Ute antwortete nicht. Die Lider gesenkt, die Brauen gefaltet, sah sie an der Bootswand entlang, die aus jeder Welle schräge aufstieg. Ihr rotes Haar war voll schwärzlicher Schlacken unter dem Sturmhimmel.

Dort lag das Ziel. Claude ruderte stumm, ohne Hast, mit Armen, die an kein Erlahmen glaubten. Es war nicht möglich, daß dieser See, ein Loch voll Wasser, stärker sein sollte als diese Arme, die für Ute kämpften wie hundert Rudersklaven für ihre Königin, für ihre aus der Tiefe der Galeere heraus geliebte Königin. Dort lag das Ziel ...

»Himmel!« schrie Bella.

Das Boot hatte sich nochmals umgelegt. Ute, an die Bank geklammert, warf sich in den Schultern zurück, öffnete den Mund. Sie entsandte stumm einen wütenden Blick über all dies sinnlose Wasser, das ihr drohte.

Bella bat mit irrer Stimme:

»Claude, retten Sie uns!«

Er unterbrach seinen nach den Ruderzügen geregelten Atem.

»Beruhigen Sie sich, es ist keine Gefahr.«

»Wirklich nicht? Ganz gewiß nicht?«

Die Worte hatten ihn Anstrengung gekostet, er bezwang sein Keuchen. Dort lag das Ziel.

Bella verlegte sich auf Schmeicheln.

»Er rettet uns, Ute. Wie er tapfer ist. Was er für Kräfte hat. Oh, wir können ihm ja nie genug dankbar sein.«

Sie kreischte wieder.

»Du, Ute, hast allein die Schuld.«

Claude wußte: Hier sah man bei ruhigem See den Bergabhang im Wasser. Sie waren gerettet. Aber er konnte nicht mehr sprechen. Zwei Minuten später warf er das Boot auf den Strand.

»O Gott, ich hab mir weh getan«, schrie Bella nach dem Anprall.

Claude blieb erschöpft sitzen. Bella sah sich über die Schulter nach dem See um, weinerlich und haßerfüllt. Schließlich nickte sie ihm zu, voll Genugtuung:

»Jetzt kann er uns nichts mehr tun.«

»Das sind ja ungeheure Wellen«, sagte plötzlich Ute. »Für so schlimm hab ich's gar nicht gehalten. Es ist ja geradezu wunderbar, daß wir nicht –. Ah, das hätte gefehlt, daß ich, daß ich –«

Sie machte eine Bewegung, bleich vor Wut. Plötzlich ging sie davon, ganz rasch. Bella rief betreten hinterher, Ute hörte nicht auf sie.

Der Regen brach los; Claude flüchtete sich mit Bella in den Wald. Er wußte, warum Ute zornig davongelaufen war. Weil sie fast mit ihm gestorben wäre – sie, die dem Ruhm, der Arbeit, dem starken, berauschten Leben Bestimmte, mit ihm, einem Ungeliebten und einem Schwachen. Die Kluft, die seine Zärtlichkeiten zuweilen mit Blütenzweigen verdeckten, die Kluft zwischen ihnen war wieder einmal aufgerissen.

Bella schielte noch immer zwischen den Stämmen nach dem gebäumten Wasser.

»Sagen Sie bitte, Claude, war die Gefahr sehr groß?«

»Nicht besonders.«

»Aber wir hätten doch ertrinken können?«

Er zuckte die Achseln, besah seine Hand.

»O Gott, die ist ja ganz offen! Claude, geben Sie her!«

»Was wollen Sie dabei tun«, murmelte er.

Sie betrachtete die blutigen Stellen, betupfte sie mit ihrem Taschentuch.

»Sie haben uns gerettet, lieber Herr Claude, das kann ich Ihnen ja niemals danken. Ich niemals«, wiederholte sie, die sanften braunen Augen voller Tränen. Er hielt ihre schmelzende Hand in seiner.

Die war dankbar, die konnte fühlen.

Bella weinte um die erfolglosen Aufregungen mit dem Alten, nach dem sie jagte. Claude und Bella, beide betrauerten sie ihre Enttäuschungen.

Bevor er's selber wußte, fing er mit dem Munde die Tränen auf, die über ihre Wangen liefen. Sie dehnte sich, die Augen geschlossen, in seinen Armen. Es blitzte wieder. Das Gewitter, die tödliche Not, die hinter ihnen lag, und ihre Herzen voll Trostbedürfnis, alles entlud sich aus ihren Nerven.

»Sie haben uns gerettet, Sie sind tapfer ...«

Bellas Stimme versagte. Er hielt ihre Röcke in der Faust, er fiel mit ihr auf die braune Böschung. Sie ließ es geschehen, hastig atmend. Da stieß sie einen Schmerzensschrei aus.

Als sie zu sich kamen, betrachteten sie einander, ohne aufzustehen, mit einer Verwunderung, die immer zunahm. Auf Bellas Gesicht hatte es geregnet, Tränen und Regentropfen vermischten sich darin. Claude trocknete es.

»Komm, steh auf.«

Sie strich ihr Kleid hinunter.

»Du hast mich blutig gemacht.« Und erschrocken über das, was sie gesagt hatte: »Mit den Händen meine ich, o Gott, mit den Händen.«

Er sah sie unzufrieden an. Voll klebriger Erde war sie hinten, bespickt mit Fichtennadeln. Wie der Regen schon heftig hereindrang. Claude säuberte sie oberflächlich.

»Was haben wir nun gemacht«, bemerkte Bella ganz kleinlaut.

Sie gingen weiter, jeder den Kopf halb weggewendet, und gerieten allmählich ins Laufen, vor Eile, einander loszuwerden. Plötzlich blieben sie stehen, jeder hatte sich gefragt: Wohin? ›Wenn Panier mich jetzt sieht‹, dachte Bella, ›ist's aus.‹ Claude dachte: ›Wenn ich Ute jetzt begegne, ich muß doch aufschreien vor Scham. Nach diesen Wochen mit ihr, nach dem Kampf eben, der ihr galt!‹

»Ich will Ihnen nur die Hand verbinden, Claude«, murmelte Bella.

Sie wickelte ihr Tuch herum, dann gingen sie weiter, ganz ohne Eile. Der Weg war weit, sie tauschten nur ein paar Bemerkungen über den Regen. Als sie die Wiese unter Claudes Haus betraten, verriet Bella ihre Furcht.

»Ob wohl der Herr Panier zu Hause ist? ... Wo soll er sonst sein«, setzte sie selbst hinzu.

Claude hatte an Panier noch gar nicht gedacht. Er öffnete den Mund vor Staunen. Wenn der nun die Bella heiratete? Ah! Ah! Dann war er, Claude, dem Gatten zuvorgekommen. Einem Gatten wie Panier, diesem Ungeheuer von Wohlgeratenheit, das ihm, Claude, noch jede weggenommen, erhitzt und beschmutzt hatte – jede, und Ute ... Nun hatte er sich also gerächt. Falls Bellas Reinheit Utes aufwog und Paniers Gier Claudes Sehnsucht ... Claude beugte ein wenig den Rücken unterm Regen, sah vor sich hin, die Hände in den Taschen, verschlossen, müde. Nicht einmal die Glorie des Geopferten blieb ihm.

Drunten der Saal war leer. Sie schlichen hintereinander die Wendeltreppe hinauf, öffneten jeder stumm die Tür eines Schlafzimmers. Ute rief durch den Gang.

»Kommt ihr endlich? Nur rasch!«

Sie hörten nicht, zogen die Türen hinter sich zu. Ute riß sofort beide wieder auf.

»Was habt ihr denn. Ihr wißt ja gar nicht, was geschehn ist. Panier hat den Schlag gekriegt.«

»Was – was denn?«

Die beiden fuhren aus den Zimmern.

»Ja – nun ist es soweit«, erklärte Ute. »Gott sei Dank.«

»Warum Gott sei Dank.«

Und Bella fing an zu weinen.

»Ja so«, machte Ute mit leichter Reue. Claude fragte:

»Wie ist es gekommen?«

»Als ich nach Haus kam, lag er da und konnte kein Glied regen. Drunten auf der Wiese sollen sie ihn aufgesammelt haben ... Oh, jetzt ist es schon besser. Übrigens hab ich gleich nach Matthacker geschickt ... Wenn er den Zug noch erwischt, ist er ja abends da ... Aber sagt mal, was habt ihr eigentlich, was steht ihr so da?«

Sie betrachtete sie abwechselnd.

»Ihr hättet schon längst zurück sein können, wißt ihr ... Und wie ihr ausschaut.«

»Es ist vom Regen«, murmelte Bella. »Wir sind ausgeglitten.«

Claude sah, wie Ute zögerte zu verstehen. Er bejahte mit dem Blick. Sie wandte sich, schloß ein Fenster. »Ach so.« Dann bewegte sie hastig den erhobenen Kopf, sah über die beiden weg ... Was ging das sie an.

»Wollt ihr euch den Alten anschaun?«

»Wozu«, meinte Claude.

»Wozu? Na, ich gestehe – im ersten Moment, als ich mich über ihn beugte, und er konnte Kopf und Augen nicht mehr bewegen, die hingen immer nach rechts: da dachte ich an eine Eisenbahnfahrt, die ich mal mit ihm gemacht habe. Claude, dir hab ich davon erzählt.«

Sie nickte, atmete auf.

»Und mir hat's heute wohlgetan!«

Er bewegte die Schultern, hoffnungslos. Ute sah ihm in die Augen. Plötzlich, als erführe sie nun die Bitterkeit dessen, was er erlebte, hielt sie ihm ihre Hand hin. Er stürzte sich mit den Lippen darauf wie nach einem Zug frischer Luft.

»Nicht tun«, sagte sie.

Er sammelte sich. Sie riefen nach Bella; sie hatte sich ins Zimmer gedrückt und reinigte sich. Sie jammerte über ihren nassen Rock und die seidene Bluse, die hin sei.

»Ich leih dir eine«, sagte Ute.

Zwischen den Zähnen, das Gesicht beim Bürsten unter dem Arm versteckt, sagte Bella:

»Aus ist's für den mit 'm Heiraten.«

Ute lachte auf.

»Ach ja. Das hab ich noch vergessen. Jetzt will er mich heiraten ... Ja, schaut nur. Das war das erste, als er wieder lallen konnte.«

Bella sprang auf.

»Du hast-?«

»Ob ihm sein Unglücksfall sonst noch geschadet habe, hab ich gefragt.«

Und Bella, blaß und eifrig:

»Ich will zu ihm ... Wann kommt denn der Arzt, mein Gott, wann. Und Matthacker, den will er doch nicht!«

»Jawohl, den will er. Frag ihn selbst.«

Sie öffnete ihr die Tür. Claude und Ute blieben davor, sie hörten drinnen:

»Ach Gott, Herr Panier, Sie sind hingefallen? Da muß wohl Doktor Heumüller kommen?«

»Nich in die Hand«, sagte murmelnd eine unkenntliche Stimme.

»Doktor Heumüller ist doch so gut, er sagt, Sie können hundert Jahre alt werden.«

»Zehn Schritt vom Leibe. Matthacker soll kommen.«

»Ach Gott, Matthacker behauptet ja, daß Sie immer schlimmer werden. Der freut sich bloß, das geht doch nicht.«

»Matth – soll ...«

»In Ihrem ganzen Leben haben Sie ihn nicht konsultieren wollen.«

»Ma –«

Der Greis ächzte nur noch vor ohnmächtiger Gereiztheit. Bella beruhigte ihn, sanft summend, wie an einer Wiege.

Claude schloß die Tür; er entschied sich.

»Wenn Panier die Bella nicht mehr heiratet, muß ich es tun.«

»Du mußt – Und das sagst du so ruhig?«

»Nach dem, was geschehen ist, kann ich nicht einfach meiner Wege gehn. Ich nicht.«

»Da hast du was Nettes angestellt!«

Ute ging, die Arme gekreuzt, an das Fenster des Korridors. Ohne sich umzuwenden, fragte sie:

»Wie ist denn das gekommen, zum Teufel.«

»Weiß ich's«, sagte er hinter ihr. »Bei dem gefährlichen Spiel mit dem Alten hat die Bella sich, wie soll ich sagen, zu sehr ins Zeug gelegt. Es mußte einmal mit ihr umwerfen. Bei ihm nicht, da sah sie sich vor. Aber bei mir – weniger.«

»Und du mußt immer zugreifen, auf jeden Fall.«

Wie sie das verächtlich sagte. Claude antwortete leise, mit einem Vorwurf in der Stimme, den er kaum gewollt hatte:

»Wir waren beide etwas – traurig.«

Ute hob die Schultern. Aber plötzlich, sich umwendend:

»Ich weiß ja, Claude – oh, es ist immer dasselbe, weil ich undankbar bin. Ich bin wieder einmal undankbar gewesen, du hast mir ja das Leben gerettet. Denke nicht, ich täuschte mich darüber. Ich bin schuld, daß du dir all die andern nehmen mußt. Seit wir vorigen Herbst – du erinnerst dich.«

Er nickte.

»Also wir haben damals solch ein Leid zusammen durchgemacht, seitdem sollten wir uns wohl verstehn. Seitdem bist du mir lieb – o nicht so, wie du möchtest. Aber hoch stehst du mir, jedenfalls zu hoch, als daß du mit einer Beliebigen hereinfallen darfst.«

»Die Bella ist keine Beliebige mehr.«

»Ich versichere dich, ich als ihre Freundin kenne sie doch. Du könntest gradsogut die Theodora heiraten oder die Pfarrerstochter.«

»Die war nicht neu, als ich sie kriegte.«

»Wenn die Bella noch – neu war, wie du sagst: du verstehst doch, daß das nur eine höhere Spekulation ist, nichts weiter.«

»Ich habe das nicht zu beurteilen. Was ich getan habe, verpflichtet mich.«

»Zu gar nichts!«

»Doch.«

»Unsinn! Nein!«

Er sah ihr in die Augen.

»Sag einmal, wenn du in meiner Lage wärst, – du kannst dich zwar nicht hineinversetzen –«

»Sehr gut kann ich. Und nie im Leben würd ich, was auch vorgefallen wäre, eine Bella heiraten. Das darfst du glauben.«

Er glaubte es, er sah es ihr an.

»Und die Mannesehre? Das ungeschriebene Gesetz in solchem Fall?«

»In welchem Fall. Weil etwas geschehn ist, was vielleicht am Wetter liegt? Kann uns nicht verpflichten, unsere Freiheit und unsere Zukunft abzudanken. Hat mit unserer wahren, inneren Schönheit –«

Und Ute berührte ihre Brust.

»– gar nichts zu tun.«

»Wie du stark bist«, murmelte Claude.

»Pah – es ist so leicht, stark zu sein.«

›Ihr Vater!‹ dachte Claude. Dem ward auch alles so leicht.

»Und darum empört mich das, was du vorhast – empört mich! Jemand, den ich als so nobel kennengelernt hab, sich verheiraten mit einer gewöhnlichen Mannsjägerin und einer, die dich betrügen wird! Paß auf!«

»Woher weißt du das?«

»Woher ich das –. Du hast recht, ich sage zuviel. Vielleicht bin ich eifersüchtig.«

»Ute!«

»Sicher bin ich eifersüchtig; aber – wieder nicht so, wie du meinst. Wir haben uns vielerlei anvertraut, wir haben nahe beisammen gelebt – diese Wochen wieder. Ich kann bald meine Existenz ohne deine nicht mehr denken ...«

Claude hielt den Atem an.

»Wir sind – Bruder und Schwester, wenn du willst. Du bist so ziemlich der einzige Mensch, den ich achte. Meinst du, das sei nichts? Ich brauche dich, ich will nicht, daß du dich verheiratest, nicht einmal mit einer Bessern als diese ist. Ich brauche dich.«

Er streckte die Arme aus, das Herz schlug ihm bis in den Hals.

»Ute!«

Sie wehrte kurz ab.

»Aber du bekommst von mir nichts dafür. Ja, so ist unser Pakt. Du liebst mich, sorgst dich um mich, machst mir das Leben angenehm, soweit ein Mensch das dem andern kann, ermutigst mich, wenn ich's nötig habe, hörst mir zu, wenn ich frohlocke, siehst mich leiden und leidest mit. Das alles nehm ich von dir und gebe dir nichts. Siehst du, so bin ich.«

Sie standen sich gegenüber, am geöffneten Fenster, in der erfrischten Luft. Die großen Bäume draußen filterten ein grünliches Licht auf ihre Gesichter. Bleich und erregt betrachtete einer den andern.

»Jemand«, sagte Ute, »der neben mir lebt, auf meiner Höhe, der ist mir zu schade für – ach für jede andere. Es ginge gegen meinen Stolz. Ich brauche keinen Mann, niemals; ich muß frei sein. Dich aber – oh, warte, willst du noch die Bella heiraten?«

Er biß sich die Lippe, antwortete nicht.

»Dann heirate lieber ich dich. Jawohl! Falls der Panier sie nicht nimmt oder draufgeht und du dich verpflichtet fühlst – Nein, lieber heirate ich dich selbst ... Oder ziehst du die Bella vor?«

Er lehnte sich, fassungslos, gegen die Fensterbrüstung. Plötzlich, die gefalteten Hände bis zur Brust erhoben:

»Das ist ja –«

»Das ändert gar nichts, mußt du wissen. Es bleibt zwischen uns wie's war. Ich brauche keinen Mann. Nur eine Förmlichkeit – aber wir sind dann doch fürs Leben beieinander, und vor solchen Dummheiten, wie du eben eine vorhattest, bist du künftig bewahrt ... Sage, willst du?«

Er stotterte. Sie meinte:

»Du willst gewiß sagen: Ihr Antrag ehrt mich, aber –«

»Wenn Panier gesund würde! Wenn er sie nähme!« flüsterte Claude. »Die Hälfte meines Lebens gäbe ich dafür.«

Und lauter, in Angst:

»Nein! Nicht die Hälfte meines Lebens, dann bliebe sicher nichts übrig. Aber – aber, nimmt er sie?«

»Wenn er sie nimmt«, erklärte Ute, »ist unsere Vernunftheirat nicht mehr nötig.«

»Nicht mehr –?«

»Nein, nur wenn er sie nicht nimmt. Damit du über die Versuchung hinwegkommst.«

»Das geht nicht. Ich werde es nicht können.«

»Claude, du machst mich böse.«

Er schüttelte langsam den Kopf, in die Befehle ergeben, die er in sich trug.

»Ich bin nicht wie du, bin nicht das, was ich liebe und was ich sein möchte. Du machst dir selbst Gesetze, du bist dazu stark genug. Ich unterstehe den ererbten, landläufigen, von mir selbst widerlegten und verachteten. Ein Vorfall wie der heutige, zwischen Bella und mir, hängt vom Wetter ab und von vielem, was nicht unser Wille ist. Was einer heute getan hat, kann den Menschen, der er morgen sein wird, zu keiner Handlung verpflichten. Die Ehrbegriffe, die solchen Handlungen zugrunde liegen, sind plump. Die Ehre eines Mädchens ist etwas Ungreifbares, von einem physiologischen Vorgang nicht Abhängiges; und Bellas Ehre ist durch die Jagd auf den Alten mehr in Frage gestellt als durch unser Erlebnis von heute. Handlungen ändern nichts am Sinn der Dinge, verschieben kein inneres Geschick. Jede Handlung ist verächtlich; ich glaube allmählich, nicht einmal die, die darin besteht, über alles die Achseln zu zucken, ist vollkommen anständig.«

»Und mit den Grundsätzen –«, sagte Ute.

»– Geh ich hin und heirate die Bella, weil ich sie verführt habe.«

»Aber das ist ja –«

Ute durchsuchte mit ihren klaren Augen rücksichtslos seine trüberen. Dann, mit der Gewißheit, es sei nichts zu machen:

»Ja, du bist schwach ... Aber den Mut zu deiner Schwäche hast du auch.«

Er lächelte bitter.

»Nähme er sie nur, dann hätte ich's nicht nötig.«

»Oh, dann ist alles unnötig, wie gesagt – auch unsere Vernunftheirat«, wiederholte Ute, schon halb abgewendet.

Das Wort blieb ihm im Ohr, wie er allein stand. Eine Vernunftheirat, mit ihr, um die es in seinem Blut nach Liebe jagte. ›So viel Sehnsucht, so viel. Nun soll sie mit einer Förmlichkeit abgefunden werden.

Ja, aber ich bleibe bei ihr, reise mit ihr, wohne vielleicht unter einem Dach mit ihr. Ich werde hinter der Kulisse stehn und ihr, wenn sie von draußen kommt, den Mantel umlegen. Ich werde ihr die Kränze bringen, die man ihr widmet. Zuweilen höre ich hinten im Saal ihr zu; und sie weiß dann, daß unter tausend Masken der eine Mensch ist, dem ihr Spiel ernster ist als sein Leben! Wie sollte sie daran nicht denken, wenn sie auf der Bühne steht. Sie braucht mich; sie hat mir's gesagt ... Werden wir nicht immer näher beisammen sein, je lauter ihr Ruhm bläst? Wird sie nicht im Frösteln der Welt, die ihr Ruhm ihr immer weiter und leerer aufschließt, sich immer öfter zu dem flüchten, der vom Gedanken an sie warm ist? Sie wird mich – oh, wenn sie in dieser Ehe, die jetzt nur eine Förmlichkeit sein soll, mich endlich zu lieben vermöchte! Zum starken Gefühl erwachsen, alle beide!‹

Es brach ihm heiß aus der Haut. Er rang die Hände, hielt das Gesicht aus dem Fenster, dem Regen hin.

›Ich tu's, ich werfe alles über den Haufen! Was geht mich die andere an. Jeder hat sein Schicksal, nicht wahr, und ich hab ihres nicht geschaffen, was heute auch geschehen ist – ich nicht.‹

Er schrie sich zu:

»Ich will nicht!«

Er stürzte in sein Zimmer, zog den Regenmantel an, lief die Treppe hinab und ins Freie.

›Herrgott, diese Schwäche muß doch zu besiegen sein. Ein lächerliches Bedenken kann doch nicht recht behalten gegen das Glück, das ruft! Das Glück fürs Leben! Denke an die Tage, die hinter dir liegen, als es warm war, auf der Wiese, und Ute erzählte ihren Traum. Es werden viele, endlos viele solcher Tage kommen, ich brauche es nur zu wollen. Jeder Sonnentag soll ausgekostet werden, sorgsam, bis zur Neige, wie ein Glas hellen Weins ... Es kommen auch Sturmtage, wir werden wieder zusammen weinen. Welch Glück, unter ihren Augen zu leiden! Alles gehört uns gemeinsam, Triumph und Geschlagensein; die Dämmerung, die der Staub einer Großstadt verdüstert, und der Tag, dessen letzter Schritt braungolden die welken Blätter in einer Fontäne streift.‹

Er blieb stehen, mitten im Lauf.

›Ich kann es nicht. Die Bedenken behalten recht. Sie sind zu alt, so viel älter als ich. Und durch seelische Verfeinerung, durch unzulängliche Nerven heißt das, werden sie nicht gerade erstickt ... Wer das gedacht hätte in Spießls Bude, noch vor anderthalb Jahren. Wir waren über alles hinaus, perfekte Nihilisten. Und jetzt erschießt er sich, wenn er nicht Versicherungsbeamter werden und das Fräulein Ringsum heiraten darf. Und ich mache eine Verführung wieder gut, mittels Ehe. Das sieht sympathischer aus, ist aber dieselbe Unzulänglichkeit.

Ich werde Ute sagen müssen, daß es nicht geht.‹

Er horchte noch einmal verzweifelt in sich hinein.

›Nein. Es geht nicht. Ich kann die andere weder sitzenlassen noch ihr einen Mann kaufen, dem sie dann, wegen ihres sogenannten Fleckens, auf Gnade und Ungnade unterworfen wäre. Ich kann nicht. Ich werde Ute, auf die zu hoffen mich mein Leben gekostet hat, sagen müssen, daß es nicht geht. Welch Witz!‹

Er schüttelte sich vor Lachen, ganz allein, hinten auf der Wiese. Es war dunkel geworden.

Wie er zurückkehrte, kam die andere Seite der Wiese ein Wagen herauf. Matthacker stieg vorm Hause aus.

»Nun? Es scheint, man stirbt hier?«

»Ich hoffe nicht. Ich wünschte, er heiratete erst noch.«

»Das wäre nur gerecht.«

Im Saal eilte Bella ihnen entgegen.

»Nun?« fragte Matthacker wieder, »haben Sie ihn umgebracht?«

»Aber Herr Doktor!«

Und Bella troff auf einmal von Tränen.

»Mein liebes Fräulein, Sie können sich kaum darüber täuschen, daß der Verkehr mit Ihnen dem alten Herrn geschadet hat. Und darum fordere ich Sie auf: nur nicht auslassen.«

Er stand groß und schwer da und betrachtete hilflos über seine Wangen weg das hübsche, feuchte Geschöpf.

»Ich sag's Ihnen ganz gewiß, Herr Doktor, daß ich mit ihm gar nichts angefangen habe. Aber er, er wollte immer –. Er bekam immer einen roten Kopf, das ist ja wahr, ward auch so schrecklich wütend. Und Schwindel hat er auch schon gehabt, heut früh in der Bahn. Aber er hat mir ja verboten, daß ich's sagen sollte.«

»Sehen Sie, er hat selbst eingesehn, daß er erst noch schlimmer werden mußte.«

»Wozu, Herr Doktor?«

»Hat er Sie noch nicht um Ihre Hand gebeten?«

»Aber – wie sollte er dazu kommen?«

»Dann müssen wir was dabei tun. Immer die Natur unterstützen.«

»O Gott, Herr Doktor! Sie wollen ihn doch nicht noch schlimmer machen? Das dürfen Sie ja nicht!«

»Was meinen Sie eigentlich?« fragte Matthacker, in seiner Ehre gekränkt.

»Die Eisblase auf die falsche Seite des Kopfes legen, wo keine Blutung gewesen ist – so daß sie nichts nützt; oder einen nicht mehr gebotenen Aderlaß vornehmen: wem könnte das nicht passieren ... Schaun wir uns den Patienten an. Der alte Mensch –«

Matthacker erstieg die Treppe.

»– hat lange genug gegen die Natur gelebt. Die Natur unterstützen! Die Natur – ich hab Ihnen das schon auseinandergesetzt – ist die Frau, sind in diesem Falle Sie, mein Fräulein.«

Claude holte ihn oben ein.

»Herr Doktor –«, er flüsterte hastig. »– ja, sorgen Sie dafür, daß er sie heiratet. Auch mir liegt daran.«

Matthacker sah ihn sich an.

»Na, wenn Ihnen daran liegt –«

Panier saß im Bett, den Kopf steif vorgeschoben, die Hände gekrampft in der Höhe des Magens. Es roch schlecht im Zimmer.

»Erbrochen haben wir uns?« fragte Matthacker. »Ist recht; nur alles heraus. Der Kopf ist schon abgeschwollen. Der Puls noch etwas gespannt und zu langsam. Die Temperatur – hm, hm. Wir müssen halt hoffen.«

Panier blies beim Ausatmen die Backen auf, er fragte angstvoll:

»Ist es schlimm, Doktor?«

»Es wird nur 'ne kleine Mahnung gewesen sein.«

»Nöh, so leicht lassen wir uns nicht unterkriegen. Da ist unser Leben viel zu wertvoll für.«

»Hm. Ich kenne nur ein wahrhaft wertvolles Leben«, bemerkte Matthacker.

Claude trat ein, er schloß vor Bella die Tür.

»Welches eigentlich, Doktor?«

»Sie kennen ihn nicht, er heißt Toni und ist aus Partenkirchen ... Aber um zu unserem Patienten zurückzukehren – Ihre Jugend, Herr Panier, haben Sie nun bald ausgetobt. Im Interesse einer geregelten – Verdauung rat ich Ihnen, heiraten Sie.«

»Daran haben wir auch schon gedacht, Doktor.«

»Na also. Soll sie gleich reinkommen?«

»Will sie denn?«

»Die Bella?«

»Sie liebt Sie sehr, Herr Panier«, erklärte Claude.

»Die Bella, die is uns ganz schnuppe«, sagte der Greis. »Die können wir nicht brauchen. Nöh, könnt uns passen, wir brauchen eine, die wir schon probiert haben.«

»Welche denn?« fragte Matthacker begierig. Claude fiel ein.

»Herr Panier, ich hab Ihnen was zu sagen. Sie sind der ältere Bewerber, und die Bella liebt Sie. Ich laß Ihnen die Vorhand. Sonst aber nehm ich sie.«

»Du, Jung'? Du?«

»Ja, sie gefällt mir. Und ich brauche ja auch Hygiene. Und dann bekomm ich den Schwiegervater dazu, der so sehr viel von Geschäften versteht. Dem könnte ich, nun da ich mündig bin, die meinigen anvertrauen.«

»Und mir sie wegnehmen?«

»Ich denke, er wird meinen Vorteil ganz gut wahren.«

»Er soll dich woll reinlegen, da verlaß dich man auf.«

Aber die Besorgnis des Alten war nicht zu verkennen. Claude zog sich zurück, solange die Wirkung seiner Drohung noch dauerte, und schickte Bella hinein.

Eine Viertelstunde lang wartete er im dunkeln Korridor, am offenen Fenster, beim Geräusch des Regens, fieberhaft und bitter.

Dann ging die Tür rasch auf, Matthacker stand im Licht.

»Was? Sie sind noch da? Kommen Sie, wünschen Sie Glück.«

Das Brautpaar lehnte aneinander, er im Bett, sie auf dem Stuhl daneben. Seine Hand mit dem Gichtknoten tastete auf ihrem runden Arm umher. Es roch im Zimmer noch übler als vorher.

Claude ging gleich wieder hinaus. Er stieg hinab. Im Saal saß Ute unter der Lampe und las. Claude kam leise herbei, setzte sich, ohne zu sprechen, rücklings auf den bäurischen Holzstuhl, in dessen Lehne ein Herz ausgeschnitten war. Er saß jeden Abend so darauf. Es war wieder Abend. Wieder ging ein Tag zu Ende, der weise auszukosten war, weil er sie enthielt, Ute; weil er voll war von ihren Worten und ihren Gebärden, von ihrem Lachen, ihrem gerollten R, ihren an das Haar erhobenen Händen, ihrem Schritt – voll von dem Leiden, das sie zufügte.

»Also?« fragte Ute und sah auf.

»Es ist in Ordnung, sie sind verlobt.«

»Da kannst von Glück sagen.«

»Ja, zu heiraten brauche ich sie nicht mehr.«

»Und unsere Vernunftheirat ist nun auch überflüssig.«

»Sag mal –«

Er beherrschte seine Atmung nicht mehr.

»– wenn wir trotzdem –«

»Hör auf, bitte. Da es jetzt gar keinen Zweck mehr hätte ... Zum Spaß geht man doch nicht aufs Standesamt.«

»Hast recht. Ich war nur noch bei dem, was wir heut wieder zusammen durchgemacht haben. Es scheint wirklich, wir sollen alles zusammen durchmachen, alle Pein, alle Ängste, wovon zwei Liebende geschüttelt werden können. Und dabei sind wir doch keine zwei Liebenden.«

»Aber – einer ist dabei.«

»Du irrst. Ich liebe dich nicht.«

»Das ist das Neuste.«

»Das ist alt. Du bist meine Sehnsucht. Ich sehne mich danach, starke Liebe zu empfinden, die Liebe eines Starken. Oh, wenn ich sie hätte: glaube mir, du widerständest ihr nicht!«

Ute neigte nachdenklich den Kopf.

»Das gibt es ja gar nicht«, meinte sie. Er hob die Schultern.

»Für mich nicht. Dafür tu ich immer so. Da schau her.«

»Was heißt das?«

»Die Reise um dein Herz.«

Und er bestrich mit dem Finger den Umriß des leeren Herzens in der Stuhllehne.

Sie lachte. Dann, ernsthaft:

»Aber, daß von unsern gemeinsamen Erlebnissen nichts übrigbleibt, kannst du nicht behaupten. Ich hab dir schon gesagt, was du mir geworden bist. Soll's bei unserm Pakt bleiben? Ich nehme viel von dir, weißt du, und gebe nichts. Aber ich bin so.«

»Du gibst schon auch, Ute. Wenn ich an den vorigen Frühling denke. Und dann der Sommer jetzt. Ich weiß nicht, was schöner war.«

»Es kommen auch noch Herbst und Winter«, sagte sie und lächelte. »Es bleibt also zwischen uns wie's ist?«

»Du willst sagen, ob ich dir gehöre?«

Er sah sie an, die Schläfe in der Hand.

»Oh! ...«

Er dachte dabei: ›An dem Tage, wo du mich brauchst, und an dem, wo du mich wegschickst. In den Jahreszeiten, die von dir golden sind oder grau. Durch alle Jahre gehör ich dir, bis an das Ziel des Lebens und, wenn es möglich wäre, darüber hinaus.‹


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