Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

X.
Der Kupferstecher

Im überheizten Eisenbahnwagen schrak Claudes Gehirn wie aus einem Krampf auf, sooft es schläfrig ward. Sein Blut schien dabei jedesmal ins Zittern zu geraten. Sein Mund war ausgetrocknet, der Magen schmerzte ihn, und ihm war übel. ›Alle die andern Weiber haben mich mit vereinten Kräften nicht so zurichten können wie eine einzige Nacht mit der Franchini ... Das waren nicht unsere Körper, die einander zu zerstören trachteten, nein, unsere Seelen. Wie verläuft Leidenschaft? Der heftiger Empfindende geht zugrunde ... Da war nun die Leidenschaft, die ich mir immer gewünscht habe – ohne ihr gewachsen zu sein. Es ist wohl meine Rettung, daß Ute mich weggeschickt hat.

Aber sie ist erzürnt. Sie will nicht dulden, daß ich die Hingerissenheit fühle, die mir doch nur von ihr kommt. Keine Franchini könnte mich in ihr heißes Land entführen, wenn ich mich nicht nach Ute sehnte. Aber sie verbietet es mir, weil sie ganz kaltbleiben und Glut nicht einmal von ferne spüren will ... Wie ich ihre Kunst hasse. Die wird nun bald ihre Seele ganz geregelt, ihren Schoß auf immer verschlossen, aus Ute etwas Unmenschliches gemacht haben. Und ich, der ich schmachte nach Leben, werde mit ein wenig Schein abgespeist.

Glücklich werde ich niemals werden. Vergnügen wir uns!‹

Er suchte in München Frau Blum auf, die er seit Anfang des Sommers nicht gesehen hatte. Er war, ohne Aussprache mit ihr, darüber im klaren, daß er sie verloren habe, kraft Kreuths Grafentitel. Er versuchte, wie sie ihm entgegenkam, durch ein inniges Wort sich in Erinnerung zu bringen: »Fanny, du bist reizend.« Aber er gab es gleich wieder auf. Außerdem war sie in ihrem Salon new style, an den sie sich noch nicht gewöhnt hatte. In Schlinggewächsen von Linien, die von Wänden und Möbeln bis auf ihr Kleid übergriffen, fühlte die dicke Dame sich verstrickt; sie sah manchmal hilflos an sich nieder.

Sie ging übrigens mit Kreuth ein Zimmer weiter. Claude empfing einen schmerzhaften Händedruck und eine schnodderige Bemerkung von Grethe von Boos. Die Baronesse Thekla Görgen machte sich über Titel lustig. Das einzige sei doch Geld. »Was ist denn ein Gen–?« Sie starrte die Tochter des Generals von Boos an. »Was ist denn ein – na, mein Papa ist Staatsrat, was ist denn das? Wenn man Geld hat ...« Claude merkte, wie das Mädchen auf feine Weise nach seinem Gelde zielte. »Fanny will mich adlig verheiraten, jetzt, da sie selbst einen Grafen hat. Sie ist gar zu ehrgeizig.« Er war verstimmt.

Da kam zum Glück Herr Blum mit einer Unbekannten: Frau Mary Lebell aus Frankfurt.

»Ach Gott, süße Mary, du kommst gewiß, dir meinen Salon anzuschaun.«

»Tatsächlich. Nur auf einen Tag. Mein Mann ist verreist.«

Frau Blum war schon wieder bei Kreuth. Blum lief umher und rief: »Baronin! Baronin!« bald in diesem, bald in jenem Winkel, als wollte er ihn einweihen. Claude fand sich mit Frau Lebell allein. Sie mußte morgen zurück und die Ramasada sehen, die indische Tänzerin.

»Kann man das nicht auch telefonisch haben?«

»Die Tänzerin? Nanu?« Sie merkte, es kam eine Schmeichelei; und es gefiel ihm, daß sie es merkte.

»Da man die seltensten Frankfurter Schönheiten, ohne sich zu rühren, in einem Münchener Salon – genießen darf.«

»Aber sehr ohne sich zu rühren«, sagte sie.

Sie war klein, puppenhaft, hatte einen schwarzen, fein gemalten Blick von unten und ein jungfräuliches Lächeln. Es verstand sich für Claude von selbst, daß er sie haben würde – weil er reich war. Das allerdings verlangte der Anstand. Sie hätte sich erst dann gegen ihren Mann vergangen, wenn sie einen armen Liebhaber genommen hätte. Sie empfand darin wie Frau Blum und die andern.

»Ich lade Sie also in meine Loge ein, wenn Sie die Ramasada sehen möchten«, sagte sie zum Abschied ganz laut.

Er holte sie am Morgen vom Hotel ab. Bei der Ankunft in Frankfurt nannte er sie Mary und hatte sie an mehreren Stellen geküßt; aber nur im Stehen und auf dem Wandelgange, weil im Kompartiment Leute saßen. Sie dinierten bei ihr und fuhren ins Theater. Frau Lebell war in Weiß, das Corsage mit Pfauenaugen bemalt. Claude hielt die Lippen meistens auf ihrem Nacken. Der Saal war verdunkelt, Ramasada erging sich in Farbenspielen. Frau Lebell erklärte, es blende, und Claude schloß den Vorhang der Loge. Wie er sich umwandte, stellte er vollends fest, daß die Blendung nur ein Vorwand gewesen war.

Sie bemerkten nicht einmal, daß der Türgriff sich bewegte. Es klopfte; sie rafften sich auf.

»Himmel, mein Mann«, flüsterte Frau Lebell. Claude entschloß sich, zu öffnen. Lebell stand draußen, tief bestürzt. Hinter ihm der kommentmäßige Herr mit drohend hinaufgebundenem Schnurrbart schien etwas von Lebell zu erwarten, der das fühlte. Er stotterte: »Abgeschlossen ... Und der Herr ist mir nicht einmal vorgestellt.«

»Das kann man ja nachholen«, sagte Frau Lebell. »Herr Claude Marehn. Mein Mann.«

Sie nannte auch den kommentmäßigen Herrn. »Herr Doktor Leibmeier.«

Lebell trat tatkräftig auf Claude zu und äußerte: »Sie werden von mir was zu hören kriegen.«

»Sehr angenehm«, sagte Claude und ließ sich nieder, hinter Frau Lebell. Der Gatte hatte, im Gefühl erfüllter Pflicht, nichts Besonderes dagegen; er streifte einfach die Gardine zurück, die er für überflüssig hielt; und erst Leibmeier, der ihm etwas zuflüsterte, machte ihn widerspenstig. »Hör mal, Mary, mit dem Herrn da will ich aber nichts zu tun haben. Gar nichts, bitte.«

»Erlaube, Alfred, ich hab ihn doch eingeladen«, sagte sie, unangenehm berührt. Darauf setzte Lebell sich neben Claude und drehte ihm den Rücken. Claude versuchte, ein Gespräch einzuleiten, aber Lebell versteifte sich darauf, ihn nicht zu beachten. Claude sagte daher zu Leibmeier, die Fahrt von München habe die Vorstellung doch nicht gelohnt. Höchstens, daß im hiesigen Theater ein Vorhang da sei, hinter dem man sich von der Blendung erholen könne.

»Und das habt ihr uns nicht bis zu Ende genießen lassen«, meinte Frau Lebell vorwurfsvoll.

Mit Rücksicht auf Lebell, dem das Thema unwillkommen schien, ging man dann zur Börse über. Claude redete viel und mit aller Unbefangenheit, die ihm sein Mangel an Sachkenntnis gab. Lebell rührte sich nicht. Erst als Claude sich darauf einließ, Schuckert-Aktien zu belächeln, sah er den jungen Mann voll und gewinnend an und behauptete: »Sie nehmen sich baldigst wieder auf.«

Claude atmete leichter. Er hatte sich gefragt, was Lebell denn wolle. Mit seinem runden Kopf, dessen Scheitel in den Hemdkragen tauchte, mit seinem gebrechlichen Rücken und seinen weichen Händchen sah Lebell genau aus wie Blum und wie zehn andere, die an der Freundschaft ihrer Frauen für Claude nichts auszusetzen hatten. Wollte Lebell sich individualisieren? Claude hatte schon im Begriff gestanden, ihm zu zürnen. Jetzt war er beruhigt; man trennte sich mit Wohlwollen, nachdem man noch kalten Schinken gegessen hatte.

Um so mehr erstaunte er, als früh um zehn Frau Lebell in seinem Hotelzimmer erschien. »Claude, mein Mann hat was mit dir vor. Er hat selber scheußliche Angst, aber mit Leibmeier ist nicht zu reden.«

»Wirklich nicht?« fragte Claude, kalt vor Schreck. Er sah sich hingestreckt, mit Blut an der Schläfe. ›Die Ängste vom Walchensee! Bei meinem ersten Duell mit dem Studenten aus Breslau kannte ich das noch nicht. Damals ward die Furcht überschrien von der Wut. Welche schlimmen Fortschritte haben meine Nerven gemacht ... Und der Mut, nein zu sagen zu einer verachteten Handlung? Auch der fehlt ...‹ Dann sammelte er sich. ›Sterbe ich nun einen dunkeln, wirren Tod von einer geringgeschätzten Hand, wird auch das für sie geschehen!‹

»Claude«, flüsterte Frau Lebell sehr angeregt, »mir ist, als sähe ich Blut. Oh, liebe mich!«

Da vernahmen sie den Kellner vor der Tür. Doktor Leibmeier war da. Claude schloß Frau Lebell ins Schlafzimmer ein; dann empfing er den Kartellträger ihres Mannes.

Leibmeier erklärte, daß jedes Ableugnen des Tatbestandes lächerlich wäre. Claude bewegte matt die Hand. Darauf stellte Leibmeier seine Bedingungen auf. Er selbst und Claudes Zeuge sollten eine Partie Piquet spielen, und der Auftraggeber des Verlierenden hatte Europa zu verlassen. Claude stutzte; dann faßte er Wohlgefallen an diesem Witz auf das Schicksal. Es war mal der Mühe wert, aus Europa ausgestoßen zu werden, wenn eine, die man begehrte, einen aus ihrer Welt verwies. Er fragte nur, warum er denn nicht selbst mit Lebell spielen solle.

»Herr Lebell will durchaus gar nichts mit Ihnen zu tun haben«, erwiderte Leibmeier streng.

So versicherte denn Claude, sein Zeuge werde bis morgen früh zur Stelle sein. Er würde telefonieren nach Kreuth, mit dem er geradesoviel Ehre einlegen könnte wie Lebell mit seinem Kommentmäßigen. Claude und Leibmeier trennten sich achtungsvoll.

Nur Frau Lebell, die gehorcht hatte, war mit nichts einverstanden. »Auf so 'nen Unfug gehst du ein? Seid ihr feige! Ihr mögt euch nicht schießen, und darum muß ich auswandern! Was hab ich denn getan, daß ich mich in Amerika mopsen soll, in einem Käfig mit sechsundzwanzig Stockwerken. Und in den Restaurants soll es bloß noch chemische Pastillen geben von furchtbarem Nährwert.«

»Liebes Kind, das kann doch ebensogut mir blühen«, meinte Claude; aber er mußte einseben, daß sich ihre Interessen getrennt hatten.

»Bin ich etwa nicht gut genug dazu, daß man sich um mich schießt?« fragte sie zum Abschied erbittert.

»Das schon, aber dein Mann will ja nichts mit mir zu tun haben.«

Vierundzwanzig Stunden später fuhren die vier Herren in ein Restaurant, dessen Name Claude in der Aufregung entging. In einem Separatzimmer tranken sie ein Glas Kognak zu fünf Mark, indes Kreuth Karten bestellte. Lebell behielt die Flasche da, aber er zitterte und warf sie um, gleich zu Beginn der Partie. Leibmeier sagte gereizt, die Herren störten ihn, sie müßten hinaus. Claude, der bleich und reglos hinter seinem Sekundanten stand, ward genötigt, Lebell zu folgen. Draußen gingen sie um das Haus herum, jeder für sich, und sahen weg, sooft sie einander begegneten. Lebell versuchte dabei jedesmal zu pfeifen.

Endlich erschien in der Tür der Oberkellner und rief Claude, der näher war, laut zu:

»Der Herr haben gewonnen, lassen die Herren sagen. Sie trinken nur noch einen Kognak.«

Lebell ging verstört hinein, um sich sein Elend bestätigen zu lassen. Claude fuhr ins Hotel und gab Auftrag, seinen Koffer zu packen. Zehn Minuten vergingen, dann erschien Kreuth, beglückwünschte Claude, sah zögernd auf den Diener. Claude schickte ihn hinaus, darauf erklärte Kreuth mit einer Stimme wie aus altem Gemäuer hervor: »Die Karten waren nämlich gestochen.«

»So?« machte Claude. »Na, meinetwegen ... Fünftausend.«

»Aber ich muß sie gleich haben«, sagte Kreuth.

»Meinetwegen.« Er überlegte: ›Und wenn sie auch nicht gestochen waren, er hat es verdient.‹

Kreuth war kaum fort, da meldete man Leibmeier. Claude ward blaß. »Er weiß es.« Leibmeier trat ein, drohend vor Korrektheit. »Die Karten waren gestochen«, sagte er. Und nach einer Pause, in der Claude nicht atmete: »Ich habe keinen Lärm schlagen wollen, in Anbetracht der Verhältnisse ...«

›Welcher Verhältnisse?‹ dachte Claude. ›Ach so, weil ich noch mehr Geld habe als Lebell.‹ Er schrieb einen Scheck über zehntausend und berechnete, daß er immer noch viel von der Summe spare, die ihm eine Reise um die Welt gekostet haben würde. Er wollte eben zur Bahn, da fiel ihm Frau Lebell ein. ›Daß ich die vergessen konnte.‹

In ihrem Hause war alles in Aufruhr, Claude gelangte, ohne daß sich jemand um ihn bekümmerte, bis in ihr Schlafzimmer, wo sie vor großen Koffern und zwischen Haufen von Unterröcken ihre Arme preßte. Ohne sich wegen der Anwesenheit des Mädchens Gedanken zu machen, rief sie: »Du bist 'n netter Liebling, du willst dich wohl an unserem Pech noch weiden!«

Und sie stürzte vor, mit erhobener Hand. Claude fing sie ab. »Das nicht«, so erläuterte er. »Sondern weil ich finde, daß ihr nicht nötig habt, schon mit dem nächsten Zug zu fahren. Bei der Forderung hieß es, der Besiegte solle Europa verlassen. Aber wann, das wurde nicht gesagt. Und daß er nicht wiederkommen darf, davon weiß ich auch kein Wort. Ich meine so: im Sommer würdet ihr wohl nach Ostende gehn; statt dessen besucht ihr ein amerikanisches Seebad, die sollen ohnehin viel schicker sein. Damit ist es dann erledigt.«

»So. Und Leibmeier? Hast du 'ne Ahnung, was Komment ist und was die Männer für Angst voreinander haben!«

»Weiß ich. Aber ich weiß auch, Leibmeier hört auf Zureden. Und schließlich, wem zuliebe wollt ihr denn in die Verbannung ziehen? Meinetwegen doch, wie? Weil ich gesiegt habe im Duell.«

»Prahl noch!«

»Und wenn ich euch die Strafe nachseh, wer hat da hineinzureden? Duelliert haben wir uns, wie? Und das ist doch die Hauptsache.«

»Schließlich ...«

»Na also. Und ich, um dessentwillen du das bittere Brot der Verbannung essen wolltest, ich bitte dich, Mary, bleib da.«

»Wie du bitten kannst.«

Frau Lebell seufzte. In diesem Augenblick huschte die Zofe hinaus.

»Darf ich die Tür abschließen?« bat Claude.

»Dumme Frage«, sagte zärtlich Frau Lebell.

Aber nach zwei Tagen hatten sie das Vergnügen satt, und Claude verabschiedete sich.

Der erste Bekannte, dem er in München begegnete, war Killich.

»Das trifft sich«, sagte Killich. »Ich geb Ihnen jetzt Ihr Geld zurück.«

»Wieso.«

»Nun, was Sie mir nach und nach geliehen haben, für die Setzmaschine.«

»Ich denke, das haben Sie ausgegeben.«

»Hab ich auch. Aber der Rauber ersetzt es mir, und 'ne Prämie zahlt er obendrein. Sie wissen doch, die große Maschinenfabrik.«

»Ja, wie ist denn das?«

»Trinken wir da drüben ein Glas Wein? ... Mit dem Stahl-Argonstreifen war nichts zu machen; das wußte ich früher als der Rauber, der den Gedanken auch gehabt hatte. Drum habe ich, solange er noch dran glaubte, ihn wissen lassen, ich machte gerade dieselbe Erfindung; hab auch zu arbeiten begonnen, mittels Ihres Geldes. Er wollte mir die Sache abkaufen, ich hab mich geweigert. Ich hab meine Erfindung einfach fallenlassen, das war mein einziges Zugeständnis. Dafür hat er viel Geld zahlen müssen. Hier ist das Ihrige zurück.«

»Warum haben Sie mich denn immer angelogen und getan, als sei es Ihnen Ernst mit der Maschine?«

»Wie's gemeint war, konnte ich Ihnen nicht sagen. Sie hätten das doch nicht verstanden, mein Lieber. Womöglich hätten Sie kein Geld mehr hergegeben.«

Claude entfernte sich in kalter Wut. Weil er Geld hergab, ward er als dummer Kerl behandelt. Behandelte ihn nicht so im Grunde auch Ute?

Er ging zu Matthacker, ließ ihn herausrufen. Matthacker war gerade für eine Operation gerüstet, in Schürze, hinaufgeschobenen Hemdsärmeln und mit einem unheimlichen Instrument in der Hand.

»Nun?«

»Sagen Sie, wie steht es eigentlich mit den Brillenschlangen, der Verbrecherkolonie und den Frettchen?«

Matthacker fuhr ihn an:

»Und dazu holen Sie mich von einer Operation weg?«

»Es fiel mir gerade ein.«

»Haben Sie sonst noch Einfälle?«

»Bitte, die Sache hat schon mehrere Tausend Mark gekostet.«

»Und Sie haben wirklich nicht gemerkt, daß das ein Witz war?«

Matthacker drehte ihm den Rücken. Unter der Tür, eilig und geringschätzig:

»Ihr Geld können Sie sich abholen.«

»Danke. Kaufen Sie sich dafür Manieren.«

Darauf empfand Claude das Bedürfnis, sich sein Glück bei Frauen bestätigen zu lassen.

Im Künstlerhaus, auf dem Cesare-Borgia-Fest, stellte Kreuth ihn der Frau von Traxi vor. Ihr Mann war Sportsmann und in zerrütteten Verhältnissen. Sie hatte sich bis zu ihrem fünfunddreißigsten Jahre zwei Liebhaber gehalten, den Hofschauspieler Huber-Stolzeneck und den Prinzen Stephan. Jetzt wußte man keinen. Durch ihr kaltes hübsches Gesicht brach, an der Grenze der Jugend, eine kleinliche Seele hindurch. Das Profil weggewendet, so daß eine üppige Falte in ihrem Hals entstand, mit der eisigen Verführung ihres Seitenblicks fragte sie Claude, wen er vorstelle.

»Niccolo Macchiavelli.«

»Ah! Dann sollten Sie mich malen.«

»Ich werde umlernen ... Werden gnädige Frau morgen drei Uhr für mich zu Hause sein?«

Das war schon in Ordnung. Claude hatte keinen Grund, sich länger dabei aufzuhalten. Er wühlte sich geduldig durch den Kreis von Bewunderern um die Frau des Kommerzienrats Bürger. In Damast, weiß und gold, und rötliche Locken um das Gesicht mit geschminktem Perlmutterglanz, saß sie unter den Gobelins mit der Legende vom Einhorn. Die späte Pracht des Barocksaales schwang sich, schwer von erblindetem Gold, um die mürben, letzten Verderbtheiten der Frau mit dem fiebrig blinkenden Lächeln im Auge, mit dem langen, schmalen Mund, ohne jede Biegung, von hellem, unheimlichem Rot, wie blutlose Laster ... Claude konnte sie endlich hinausführen, in das Treppenhaus.

»Eine päpstliche Kurtisane – gnädige Frau erwecken Tote. Klopfen Sie nur an die Sarkophage der Greise, die Sie damals aufweckten, als sie auch schon halbtot waren.«

»Fallt mir net ein. Da war mir schon lieber ein ...«

»Nun?«

Sie waren drunten im Bibliothekszimmer und für den Augenblick allein.

»Nicht wahr, da war ich Ihnen lieber«, bemerkte Claude und umhalste Frau Bürger. Sie stieß ihn rauh zurück und erklärte:

»Sehen Sie wohl, so weit wollte ich Sie kommen lassen. Sie hatten mal eine Lektion nötig, mein Lieber. Weil Sie bei Ihrer Jugend schon Erfahrungen mit pflichtvergessenen Frauen gemacht haben, glauben Sie gar, das geht bei allen so. Na ja, Sie müssen schließlich ganz falsche Vorstellungen bekommen von der Welt«, sagte Frau Bürger eindringlich, gehoben von der Sendung, die sie erfüllte; und ihre sittliche Entrüstung entströmte feierlich der Maske einer verflossenen Unkeuschen.

»Ein Mann, der nicht an Frauentugend glaubt, beschimpft Mutter und Schwester. Denken Sie nur immer daran, daß Sie heute einer anständigen Frau begegnet sind, und lassen Sie sich das zur Lehre dienen.«

»Bedaure«, erwiderte Claude. »Denn das zeigt mir nur, daß es Ihnen, gnädige Frau, mehr Vergnügen macht, mich zu blamieren als mich zu lieben.«

Er verbeugte sich und entkam, bevor Frau Bürger mit seiner neuen Frechheit fertig geworden war.

Aber er fühlte sich im Unglück seit seinem Zwist mit Ute. Alles mißlang, man hielt ihn zum Narren. »Ich habe vielleicht wirklich falsche Vorstellungen vom Leben? Wie komm ich zu der Einbildung, ich würde morgen um drei die Traxi kriegen, sobald ich ins Zimmer trete – sie einfach kriegen. Das ist blöd oder größenwahnsinnig. Die hat ja nur einen Hofschauspieler und einen königlichen Prinzen gehabt. Was bin denn ich.«

Am nächsten Abend im Klub bot Kreuth ihm einen Tarock an; er mußte gerade seine Quartalsrenten in der Tasche haben. Claude meinte, wenn alles übrige schief gehe, werde er im Spiel wohl gewinnen. Er sagte alle Einser an, sah den Talon an und entnahm ihm vierzehn. Die Figuren im Talon zählten zehn.

Kreuth entschloß sich.

»Ich kontriere die Einser.«

»Rekontra und elf Tarock mit Pagat Ultimo.«

»Sub.«

Pömmerl, mit Kreuth verbündet, blühte rosig auf. Mit Claude spielte Köhmbold, und sein Gesicht war von Angst und Mißtrauen ganz zerknittert. Kreuth zog jeden Augenblick sein Taschentuch, warf einen Blick hinein, drückte die Lippen darauf.

Im letzten Stich wurde das Pagat mit Tarock zwei aufgehalten, Claude hatte verloren. Er überließ die Rechnung Köhmbold und zahlte was verlangt ward: 1080 Mark achtzig Pfennig.

»Noch einmal mit zehn Pfennig.«

Claude und Köhmbold verloren wieder. Zum Schluß der dritten Partie schnellte Köhmbold vom Stuhl und tat einen wilden Griff in das Taschentuch, das Kreuth eben wieder an den Mund führte. Er zog ein Bildchen heraus, nur so groß wie der Nagel eines Daumens und in einem ovalen Rähmchen.

»Soso«, äußerte er und roch vorsichtig daran.

»Da schau«, sagte Pömmerl.

Claude, darüber gebeugt, vermutete plötzlich:

»Hat Ihnen das am End Glück gebracht?«

Kreuth bejahte schamhaft, mit einem Zittern des wasserhellen Barttröpfchens an seiner hängenden Unterlippe. Andere Spieler traten an den Tisch. Claude hob das Miniaturbildnis eines Prälaten aus dem siebzehnten Jahrhundert hoch in die Luft und rief:

»Also darum schont sich der Graf Kreuth so. Er gibt es für Hygiene aus, aber es ist Heiligkeit.«

Matthacker verlangte:

»Er muß uns taufen, aber in Sekt.«

Jemand ließ einen Pack Karten zu einem runden Fächer auseinandergleiten und hielt ihn Kreuth hinter den hohen bleichen Schädel.

»Da hat er seinen Schein.«

»Meine Herren, das dient ja nur zum Gewinnen«, erklärte Kreuth immer wieder; aber Claude bestand auf seinem Einfall:

»Wir müssen ihn wirklich heilig kriegen. Nein, im Ernst: das muß doch gehn.«

Ein Gefälliger bemerkte: »Mit Geld geht überhaupt alles.«

»Es ist 'ne Spekulation«, sagte Claude. »Ich möchte wieder mal was Gescheites unternehmen. Meinen Sie, daß ein Heiliger nichts einträgt? Es kommen doch die Wallfahrer zum Kreuth, da geht das Geld, das er mich gekostet hat, reichlich wieder herein.«

Und er lachte Kreuth ins Gesicht. Wofür der ihn Geld gekostet hatte! Für Gisela und manche andere ... Pömmerl lenkte ab.

»Da handelt's sich doch gar nicht um den Kreuth, sondern um seinen Uronkel. Gelt, Kreuth, das muß ein Uronkel sein von Ihnen?«

Allerdings. Aber mit einer Stimme, die über den Schutt eines Ahnenschlosses und durch verfallene Korridore herbeirollte, verbat Kreuth sich den Spott über sein Geschlecht. Sein Skelett wankte.

»Im Gegenteil«, so belehrte ihn Claude. »Ich habe die allerehrlichsten Absichten. Ein Heiliger würde sich in Ihrer Familie ja sehr gut ausnehmen. Haben Sie schon einen? Nein? Na also.«

Von Traxi äußerte:

»So eine Heiligsprechung ist zu machen. Aber kosten tut's schon ein schweinisches Geld. Mein Onkel ist ja Bischof, da kann ich's wissen.«

Der Gefällige von vorhin ließ sich hören.

»Sonst wär auch für den Herrn Marehn gar kein Vergnügen dabei, wenn's nicht Geld kosten würd.«

Kreuth ward überredet.

»Was? Sie haben nicht den Glauben?« fragte Claude gekränkt.

»Doch. Zeitweilig.«

»Also heute grad? ... Na heute hat er ihn sicher – da ihm der Uronkel im Tarock beigestanden ist ... Und, sagen Sie, wo hat denn der Herr Uronkel bei seinen Lebzeiten sein frommes Geschäft gehabt? ... Ah, Abt von Neusiedel ist er gewesen, bei Brixen?«

Von Traxi griff ein.

»Ich setze Sie mit einem Erzpriester in Verbindung, Marehn, der bringt dann die Sache an den Nuntius.«

»Prost, dem Heiligen und seinem ganzen Hause.«

Über Matthackers hohe Wangen rollten Freudentränen. Er schüttelte Kreuth und Claude die Hände.

»Ich kauf Ihnen Ihre beiden Leichname ab.«

Claude ging fort; im Vorzimmer holte Kreuth ihn ein.

»Da lassen Sie sich wahrhaftig auf eine überflüssige Ausgabe ein, Marehn. Anstatt für meinen Uronkel viele viele Tausende, geben Sie mir nur ganz paar Hunderter, ich verzinse sie Ihnen. Mein Uronkel, wissen Sie, zahlt keine Zinsen ... Übrigens schulden Sie mir Dank für die Nachricht, die ich Ihnen bring. Ja, von der Frau von Traxi soll ich Ihnen sagen, daß sie heut um drei gewartet hat.«

»Ach Gott, das Billett für den Basar.«

»Sonst nichts?« fragte Kreuth und drohte mit einem steilen, bleichen Zeigefinger.

»Wann haben Sie die Dame denn gesehn?«

»Grad komm ich von ihr, eben vor unserer Partie. Ganz allein hab ich sie gelassen, mit einem Mops.«

Claude begab sich hin. Er mußte lange draußen im Märzsturm stehen, bis das Mädchen herunterkam und ihm öffnete. Droben saß Frau von Traxi auf dem weißen Fell der Ottomane und legte eine Modenzeitung weg.

»Also Sie? Und Sie haben die Kühnheit, zu solcher Stunde –?«

Das Lampenlicht erwärmte ihre Züge. Die Tapete hinter ihr, grün mit goldnen Kränzen, schmückte sie. Claude sagte mit einer Wallung:

»Um drei Uhr hab ich mich vor Ihnen gefürchtet. Es war ein Schicksalsgang.«

»Jetzt war's das nicht?«

»Jetzt hab ich das Geschick für gnädiger gehalten. Ich hatte die Eingebung, Sie würden mir erlauben, Sie zu lieben. Ah! solche Eingebung kann nicht trügen.«

Er senkte sich auf das Knie, bemächtigte sich ihres Arms, spürte ihn lau unter den Spitzen des Hauskleides. Er tastete weiter; sie hatte kein Korsett an. Schon fühlte er sich im Vertrauen ihres Körpers. Sie legte den Kopf zurück in das Kissen, schloß halb die Augen, ließ ihn kommen. Plötzlich, aufschreckend, mit einer Stimme, als erwachte sie eben:

»Nein, o nein, mein lieber Freund ... Wenn Sie wüßten – ich brauche sofort dreitausend Mark.«

Er ließ sie los, raffte sich auf, mit der heftigen Versuchung, sie zu prügeln.

»Ich werde mich dankbar zeigen, mein Freund.«

»Wollen Sie sagen, daß Sie mich – lieben wollen?«

»Ich werde es sogar können.«

»Aber so viel kann ich nicht verlangen für die Summe. Ich schlage Ihnen was anderes vor. Sie soupieren morgen bei mir.«

»Weiter nichts?«

»Aber in Gesellschaft – einer einzigen Person.«

»Sie wollen mich kompromittieren, oh, Sie benehmen sich unedel. Gehen Sie!«

»Wie Sie wünschen. Immerhin überlegen Sie erst. Die Person kennt Sie nicht, wird Sie wahrscheinlich nie wiedersehn.«

»Es ist niemand aus der Gesellschaft?«

»Die Person verläßt sogar München. Ich bürge Ihnen für die Geheimhaltung der Sache.«

Sie schwankte, schüttelte den Kopf, entschloß sich.

»Also erwarten Sie mich.«

»Ich selbst werde von acht bis neun hinter meiner Gartenpforte stehn.«

Sie kam erst um neun, Claude hatte kalte Füße und war noch tiefer erbittert als gestern. Er führte sie bis in den zweiten Stock, ohne daß jemand von der Dienerschaft sich zeigte. In dem kleinen Salon neben seinem Schlafzimmer flackerte helles Kaminfeuer. Der Tisch war für drei Gäste einladend hergerichtet. Claude stellte vor:

»Frau Nelly Grabizammer, Frau von Traxi ... Setzen wir uns gleich? Es steht schon alles da, keine Störung mehr nötig. Den Sekt hab ich dabei ... Die Nelly singt nämlich im Gärtnertheater.«

»Sie sind Künstlerin«, bemerkte Frau von Traxi.

»Wenn die gnä Frau erlaubt.«

»Das heißt, nur im Chor«, fügte Claude hinzu. »Und vorher war die Dame bereits Straßendirne.«

Frau von Traxi zuckte zurück.

»Gnädige Frau befinden sich schlecht. Ich darf die gnädige Frau vielleicht an die Luft führen? Sie wissen, die Tür bleibt Ihnen jeden Augenblick offen.«

Nelly, rosig angehaucht, erklärte:

»Da is ja nix dabei, gnä Frau. Er is allweil so g'spaßig. Wann's ihm erst besser kennen werden –«

»Meinst du damit etwa, wenn die gnädige Frau und ich erst ein Verhältnis haben werden? Das darfst du nicht sagen, das ist eine Beleidigung für ... für, na, für die gnädige Frau natürlich.«

Er schenkte ein. Frau von Traxi sagte ihm kalt in die Augen:

»Sie haben sich da einen geistlosen Scherz ausgedacht.«

»Bitte, das ist kein Scherz, es ist ein Exempel der Gerechtigkeit, die in der Welt herrschen sollte. Schau, Nelly, die gnädige Frau bekommt von mir dreitausend Mark. Beiläufig gradsoviel hast du mich auch gekostet ... Trinken die Damen?«

»Aber die Eroberung der Frau Grabizammer hat Ihnen gewiß nicht viel Mühe gemacht. Oder war das auch ein Schicksalsgang?«

»Jeder Gang zu einer Frau ist ein Schicksalsgang ... Und der zu Nelly ist besser ausgefallen.«

»Wie der dumm daherredet, gelt, gnä Frau?«

»Sie muß man komisch nehmen, mein Lieber.«

»Sehen die Damen wohl, da treffen Sie sich schon wieder in einer Meinung. Ich hab's ja vorausgesehn, Sie würden sich ganz gut verständigen.«

»Mögen's die Pasteten noch, gnä Frau? ... Dann erlauben's schon, daß ich's mir nehm.«

»Also die Nelly nimmt von den Herren Geld, weil sie sonst nichts zu essen hätte. Gelt, Nelly, sonst müßte das Mäderl verhungern. Und die gnädige Frau müßte sonst in Münchner Kleidern gehn, statt in Pariser.«

»Sie übersehen die feineren Unterschiede. Ihr Umgang mit diesen Damen hat Sie verdorben.«

»Für so viel Feinheit, vielleicht.«

»Man gibt vielen Leuten Geld, das macht sie nicht gleich. Ich zahle meinen Bankier ebensogut wie meinen – Hühneraugenoperateur. Verzeihen Sie das Wort, die Gesellschaft färbt schon ab. Aber an meinem Tisch sitzt nur der Bankier und nicht der – andere.«

»Ah was, dafür sind das Männer. Bei euch Frauen verwischen sich ja die Standesunterschiede viel leichter. Bei mir nun schon gar, und in dem Zimmer –«

Er wies in das geöffnete Schlafgemach. Das Licht, rot beschirmt, brannte neben dem breiten, niedrigen Bett.

»Sobald ich will, wie, hört's auf mit den Pariser Kleidern, und mit den Kleidern überhaupt. Geht's her, seid's lustig.«

Er küßte Nelly, dann Frau von Traxi. Sie machte eine Gebärde: »Es kommt schon nicht mehr drauf an.«

Nelly war betrunken.

»Er liebt sehr gut, gnä Frau.«

Claude lehnte geschmeichelt am Kamin. Frau von Traxi sah zu ihm auf.

»Er is einer von die Besten, wo ich g'habt hab.«

»Man möchte neidisch werden«, sagte Frau von Traxi, aber Claude beobachtete sie. Sie war nicht mehr ruhig.

»Es kommt drauf an«, erklärte er. »Bei der Nelly taug ich vielleicht was, die hat aber auch einen hübschen Körper. Wollen Sie sehen?«

Nelly war schon beim Öffnen des Korsetts. Claude sah die Neugier in die entnüchterten Augen der Traxi steigen. Nelly schwang sich mit einem Satz aus ihren Röcken. Sie setzte eine Hand auf die Hüfte.

»Die Beine hab ich länger als wie die gnä Frau.«

»Das fragt sich. Darf ich helfen, gnädige Frau?«

Frau von Traxi sträubte sich, lockte, widerstand noch, half schon. Die kalte Spekulantin, mit ihrem Hofschauspieler und ihrem Prinzen – ah, sie war nicht mehr wegen der dreitausend Mark da.

»Die Hüften sind am End ein bissel stärker«, entschied Claude. »Aber die Brust – oh, da ist gar kein Vergleich.«

»Wenn die gnä Frau selbst genährt hätt –«

Claude drückte ihnen Sektkelche in die Hände, schob ihre rechten Arme ineinander, ließ sie kreuzweise trinken.

»Ob das jetzt nicht liebe Mäderln sind, eine wie die andere.«

Sie ließen nach dem Trinken die Köpfe auf die Schultern fallen, jede auf die der andern, und die Arme herunterhängen. Claude nahm ihnen die Gläser ab. Jede umfaßte die andere, glitt mit ihrer Haut, die erschauerte, über die der anderen, bot den Spitzen der anderen Brust die eigenen. Die Schenkel fest aufeinander, ohne sich zu biegen, fielen sie seitwärts auf einen Haufen von Kissen.

Claude stand von fern, rauchte, sah sie heißer zucken und lässiger sich dehnen. Schließlich lagen sie regungslos übereinander. Er ging hin und weckte Nelly. Er mußte lange rütteln.

»Ja, was ist denn?«

»Mach, daß du heim kommst.«

Sie reckte sich, lehnte sich warm an ihn, den Arm über den Augen.

»Darf ich nicht bei dir bleiben?«

»Nein«, bestimmte er kalt. »Rasch ziehst du dich an.«

»Die da ist dir lieber? Ja, weil's eine Gnädige ist, versteh schon ... Hilfst mir nicht mal in die Schuh nein?«

Er schob sie hinaus.

»Die Gartentür ist offen, das Licht brennt. Gute Nacht.«

Er ging in sein Schlafzimmer, zog die Tür zu, horchte über ein Buch hinweg. Eine Stunde später begannen nebenan Geräusche. Er wartete, bis er Stiefel klappern hörte; dann trat er ein. Er konnte Frau von Traxi gerade noch in den Mantel helfen.

»Gnädige Frau wollen wirklich schon gehn? Ich werde mir gestatten, Sie heimzubegleiten. Diese Nachtstunde, nicht wahr –?«

Und er schob in das Täschchen an ihrem Handgelenk drei Banknoten.

Sie stiegen hinunter, ohne ein Wort zu wechseln. An der Pforte wendete Frau von Traxi den Hals. Über die Schulter weg, hochmütig:

»Wollen Sie dort von der Ecke den Wagen holen.«

Die Droschke, in der sie gekommen war, wartete. Claude öffnete den Schlag. Er behielt ihn noch in der Hand, als sie drinsaß:

»Gnädige Frau haben vielleicht bezweifelt, daß es anständige Männer gibt? Ihre Erfahrungen werden Sie gelehrt haben, daß jeder gleich zu haben ist und noch draufzahlt. Da muß eine Frau ja falsche Vorstellungen kriegen von der Welt. Lassen Sie sich bitte Ihre heutige Begegnung mit einem ziemlich anständigen Menschen zur Lehre dienen.«

Dann schloß er den Schlag, mit einer Verbeugung. Er bedauerte nur, in der Dunkelheit nicht gesehen zu haben, was sie für ein Gesicht machte. Sonst war er zufrieden.

Aber kaum ins Schlafzimmer zurückgekehrt, stutzte er, führte die Hand an die Augen – und das erhöhte Lebensgefühl von eben sank auf einmal zu Boden wie ein Papierdrache, weil plötzlich der Wind schweigt.

Wie dieser Raum dicht verhängt war und schweigsam. Am Wege hierher lagen Zimmer, Gänge, Säle, Treppen, wo Licht brannte und kein Atem ging. Weit und kahl, ein ungeheures Vorzimmer, dehnte sich die Welt bis an die Tür jenes Saales, wo Ute spielte. Sie spielte, einsam wie Claude. Sein Spiel bestand aus nichtigen Kämpfen und albernen Genugtuungen gleich der eben durchkosteten, aus Liebesgeschichten, die auf Eitelkeit oder Geldnot zurückführten, aus Selbstgesprächen seiner Feigheit und aus Frechheit nach außen, aus flüchtigen Reizen und langen Ernüchterungen. Nie wieder würde Ute diesen Vorhang zurückschlagen, in diesen Sessel sinken und, die Hände auf Claudes Nacken, mit ihm weinen. Sie zürnte ihm, und darüber verging das Leben, ward nutzlos verschüttet ... Claude lauschte, angstvoll. Die Minuten fielen hörbar zur Erde wie dicke Tränen.

Er lag noch immer angekleidet auf der Ottomane, es war spät, man brachte ihm einen Brief von Ute. Darin stand dasselbe, ganz dasselbe, was er die Stunden eben durchlitten hatte. Sie war einsam, voll Verachtung, und erfolglos; denn ihre Erfolge zählten nicht, weil die der Franchini sie entlarvten.

›Ich habe ihren Brief kommen fühlen. Je mehr er sich näherte, desto schwerer ward er. Wir sind nicht getrennt, sie hat sich auch heute in diesen Sessel gesetzt.‹

Er stützte die Stirn darauf, als legte er sie wieder auf Utes Knie.

»Vorgestern war dein Benefiz. Du hast Kränze bekommen, von wem? Du meinst, von den Männern, die die Franchini verschmäht hat, von den Frauen, die sie gekränkt hat. Du bist an Einsamkeit gewöhnt, und eigentlich, sagst du, hast du von jeher einen ziemlichen Menschenhaß gehabt. Es wundert dich nicht, daß die Bestie von deiner Kunst nichts weiß; du hast sie nur mit deiner geübten, erarbeiteten Schönheit berauschen, auf die Knie zwingen wollen, mit der Schönheit, die ganz zu Kunst geworden ist, nur noch als Kunst sich ausdrückt. Du kannst es nicht; denn die Bestie ist schon betrunken von der Luft, die die Franchini aus ihrem Schlafzimmer mitbringt.

Du fühlst die Nutzlosigkeit aller Anstrengungen. Lasse sie! Komm her, denke nur noch daran, daß du geliebt wirst, daß es einen gibt, der auf den Biegungen deiner Stimme und von jedem deiner Schritte zu neuen Sehnsüchten getragen wird, und aus dessen Herzen die Melodien deiner Glieder überquellen. Sei wieder meine Freundin, ich will nichts weiter, nur wie vorigen Sommer am See, und wie damals im Frühling.«

Er schrieb. Sie antwortete nach einer Pause: die Kritiken nach ihrer Benefizvorstellung waren wirklich recht günstig und sogar verständnisvoll gewesen. Inzwischen war die Franchini mächtig hineingefallen. Zu ihrem Benefizabend hatte sie, plötzlich von literarischem Ehrgeiz gepackt – das passierte grade den Dümmsten –, ein neues französisches Konversationsstück von ganz unmöglicher Feinheit gewählt. Kein Mensch hatte ein Wort begriffen. Die Franchini puppenhaft. Furchtbar flauer Ausgang. Ute wurde seitdem sehr gefeiert.

»Ich war, als ich meinen vorigen Brief abschickte, nervös herunter, überarbeitet, weißt Du. Den ganzen Winter hindurch überbürdet mit großen Rollen und gehetzt von dieser Rivalin ... Na, man muß nur wissen, wer man ist. Daß ich von hier nach Berlin komme – ich will es –, das ist in der Welt das einzige, was feststeht.«

Und Claude faßte sich wieder für ein Leben mit Erfolgen, die dem, nach Berlin zu gelangen, etwa gleichkamen.

›Da sie sich stark fühlt –. Ich habe meine Kraft von ihr. In der Sehnsucht nach ihr liegt alle meine Kraft.‹

»Nun beginnt die Nachsaison«, schrieb sie, »es werden neue Kontrakte gemacht, man spielt auf Teilung. Darauf laß ich mich aber nicht mehr ein. Ich habe gut abgeschlossen und reise am zehnten.«

Claude ließ ihre Wohnung säubern. Am letzten Tage meldete sie, Abgesandte der Direktion hätten ihr Zimmer gestürmt. Trotz gepackter Koffer hatte sie schließlich dableiben müssen. Übrigens blieb auch die Franchini. Die hatte für den Sommer einen Haufen Gastspiele vor. Das war ja zu dumm, Ute zog es vor, sich für den Winter gut auszuruhen. Sie sprach schon von Walchensee.

Die Wochen vergingen, Claude wartete wieder; da schrieb sie aus Dortmund. Sie hatte sich doch zu einem Gastspiel verstanden, nur ein paar Tage, und zwar nach der Franchini.

Es wurde Mai, nun war sie in Merseburg. »Ich habe Erfolg, obwohl gerade vorher die Franchini da war.« ... Und dann ein wütendes Schreiben: die Franchini war nach Berlin engagiert, ans Reichstheater. Der Direktor, Doktor Abell, hatte sie in Merseburg spielen gesehn. Er war nach Unterzeichnung des Vertrages gleich wieder abgereist. Ute wäre ihm nachgefahren, aber es war unnütz: er hatte nur eine muntere Liebhaberin gebraucht. Außerdem war sie ja auf ein drittes Jahr in Düren verpflichtet. »Da habe ich eine fürchterliche Dummheit gemacht ... Ich versichere Dich, als ich die Nachricht kriegte von dem Engagement der Franchini – ich wohne im dritten Stock, das Fenster stand offen. Ich hab mir die Knöchel der geballten Hand ganz wund gehämmert auf einem steinernen Schnörkel an der Hausfassade unter meinem Fenster. Wie tief unter meinem Fenster der Schnörkel war, und beim Herausbeugen eigentlich gar nicht zu erreichen – das hat mich später gewundert.«

Claude beschwor sie, er bot ihr an, in Düren die Konventionalstrafe zu zahlen, um sie frei zu machen. Sie antwortete nicht, er wollte hinfahren, da schrieb sie aus Ems. Die Franchini hatte dort ein Sommerengagement angenommen – nur um einem Menschen aus Merseburg nachlaufen zu können, der in Ems kurte. Er hatte kein Geld, und sie betrog ihn daher mit allen Badegästen. Eine saubere Liebe. Der Direktor hatte Ute mit Freuden aufgenommen, obwohl sein Personal vollzählig war. Sie hatte Erfolg, aber die Leute gingen ja nicht viel ins Theater. Man mußte schon jedem einzeln seine Künste zeigen, unter vier Augen, wie die Franchini ...

Claude biß in diesen Brief vor Schmerz, und die Tränen sprengten ihm die zugedrückten Lider. Nun reiste Ute von Theater zu Theater der andern nach, deren Dasein ihr Alp war; konnte über den Berg des eigenen Ehrgeizes nicht hinweg, stürmte ihn fortwährend, mit wunden Füßen!

Wozu alle Willenskraft, wenn sie höchstens das Schluchzen niederzwang, das herauf wollte, während man auf der Bühne stand und einem Haufen Fremder vorspielte. Claude fühlte sich selber erschlaffen, zusammensinken, je länger der Sommer dauerte. Er fand niemals den Mut, aufs Land zu gehen, mit Weibern abzuschließen, die ihn bedrückten, sich welche zu versagen, die ihn kitzelten, sein Gewissen zu verbessern.

Denn es war schlecht, und Matthacker verschlechterte es; er kündigte den Marasmus schon aus großer Nähe an.

»Daß Sie in der Früh müde sind wie ein Greis und nicht mehr an Darwin glauben, abends spät dagegen aufleben, Witze machen und sich verlieben: faul, faul. Und immer geneigt, sich durch Speis und Trank wiederherzustellen, worauf es Ihnen dann noch mal so schlecht geht. Lassen Sie mal Ihren Atem riechen ... Atemnot fängt auch schon an? Ich will Sie nun elektrisch rankriegen.«

Nach Verlauf eines Monats hatte sich der Magen gebessert, und damit auch das übrige. Während dieses Monats wunderte sich Claude bei jedem Erwachen über den Tag, den er, nur halb am Leben, gerade so bestehen sollte wie ein anderer – mit Vergnügungen, Mahlzeiten, skeptischen Gesprächen und in strammer Haltung. »Desgleichen wundere ich mich schon längst, daß das Volk nicht Ernst macht mit seinen Vorsätzen und die Stücke Erdoberfläche, die vorgeblich mir gehören, einfach zurückholt ... Ja, schwach begründet fühl ich mich, in meiner Haut wie draußen.«

Aber die Saison in Ems ging zu Ende, und Claude hörte von Ute, daß die Franchini kontraktbrüchig geworden sei, durchgegangen hinter ihrem Geliebten her. Man konnte nicht erfahren, wohin; sonst wäre Ute nachgereist, Claude wußte es ... Er schickte ihr Geld zur Lösung ihres Engagements; sie solle sich endlich Ruhe gönnen. Wozu? antwortete sie; es sei gleich aus.

Endlich konnte er sie abholen. Sie machte »uff!« und ließ sich in eine Kupee-Ecke fallen. Er beobachtete, während sie die Augen geschlossen hielt, wie der Mund verdrossen herunterhing, welch fahle Kreise das untere Lid umgaben. Sie fuhren ohne viel zu reden bis Walchensee.

Es ward schon September. An einigen warmen Tagen lagen sie noch auf der Wiese wie im vorigen Jahr. Ute nahm kein Buch mit, ruhte schweigend im Schatten unter dem Wogen des blauen Himmels ihren Körper aus, der sich den aufgeregten Schicksalen so vieler Kämpferinnen und Liebenden geliehen hatte, und ihren Willen, der auf den Wettstreit mit einer einzigen versessen war. Sie war durchsichtig blaß, und Claude meinte, wenn er sie betrachtete, hinter ihrer bläulichweißen Stirn, unter den violettbeschatteten Lidern ihre nach Wirkung gierigen Gedanken noch manchmal sich aufrichten zu sehn, wie schläfrige Hunde, denen ihr Hunger wieder einfällt.

»Du studierst ja niemals?«

»Wozu.«

Und mit verächtlichem Gemurmel:

»Für das bißchen Düren?«

Natürlich: da nächstes Jahr die Franchini fehlte ... Er zeigte sich lebhafter, je stiller sie war.

»Weißt du auch, daß ich mir immer die Blätter gehalten habe aus all den Orten, wo du letzthin aufgetreten bist? Die Berichte waren aber über Erwarten glänzend. Die Rezensenten wurden ja sogar erbost über deinen Lorbeer. ›Fräulein Ende ist talentvoll, aber für solch Ruhmesgemüse ist sie doch noch zu jung.‹«

»Ja, nicht wahr? Und dann der Benefizabend der Franchini. Im halben Hause eisiges Schweigen – an solchem Abend, wo man doch zum Lärmmachen aufgelegt Ist. Sie kam ganz betreten wieder. Übrigens klappte es auch nicht mit dem Vorhang. Wenn drei Mann geklatscht hatten und sie rauswollte, dann ging der Vorhang rasch wieder hinunter. Der Vorhangzieher war nämlich in mich verliebt.«

»Das ist ja großartig.«

»Nicht wahr?«

Und Ute richtete sich auf, stützte sich auf die flachen Hände ins Gras. Sie belebte sich.

»Da ist ihr der Direktor entgegengelaufen, vor Wut schäumend, und hat geschrien: ›Da ham Sie's, Sie Roß! Mehr Flöhe ham's als wie Talent!‹ Alle haben natürlich losgebrüllt, und die Franchini ist auf ein Versatzstück gefallen und hat geheult.«

Und da Claude erschrocken vor sich hinsah:

»Ich fasse nicht, woher man so viel Tränenwasser nimmt. Wie ein fünfjähriges Kind, sag ich dir.«

Wieder nach einer Pause:

»Darum ist sie ja auch mit dem Kerl durchgegangen. Es war das Gescheiteste, was sie nach dem Reinfall tun konnte.«

»Oh, glaubst du, deshalb?« meinte Claude gepreßt.

Von den heißen Tränen jenes Geschöpfes ward ihm selber schwül. Sie stürzte, sinnlos, ihrer Leidenschaft nach; und Claude machte ihren Sturz mit, er konnte seine Seele nicht aufhalten ... Ute fragte spöttisch:

»Macht sie dir am Ende noch zu schaffen?«

»Nein. Aber aus Liebe hat die's wirklich getan, da sei nur sicher.«

»Nun, du mußt's wissen.«

Ute legte sich wieder hin; sie schwiegen.

»Also auf Düren freust du dich nicht?«

»Das kannst du dir denken.«

»Schon längst hab ich's gedacht. Ich hab sogar mit dem Pömmerl gesprochen, wie's wär, wenn wir in München ein kleines Theater bauten – weißt du, etwas vom letzten Schick. Ein Saal wie ein Stall – aber Linien! Und die Ausstattung der Stücke mit Möbeln von Van de Velde, Riemerschmied und solchen Leuten ... Aber wenn's dir nicht recht ist –«

»Wieso mir?«

Ute kam wieder aus dem Grase hervor.

»Nun, dort spielst du dann alles, was du willst.«

Sie sah ihm in die Augen.

»Du bist wirklich ein feiner Kerl ... Aber du weißt, ich will nach Berlin. Nur dort ist man auf der Höhe als Schauspielerin.«

Ja, dort war die Franchini.

»Ich bitte dich, acht Tage früher in Merseburg, und Abell hätte dich genommen.«

»Das glaubst du doch auch, nicht? Oh, wenn ich das nicht glaubte!«

»Also unser Theater?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Das Theater in Deutschland braucht gerade eine Anregung«, erklärte er mit Nachdruck. »Über den Naturalismus, der zu nichts mehr führt, kommt man sichtlich nicht hinweg. Wenn wir nun eine Romantische Bühne errichteten. Mit ›Leben und Tod der heiligen Genoveva‹ von Tieck oder mit ›Die Liebe der drei Orangen‹ von Gozzi fängt's an, und dann sammelt sich das herum, was es heute von Romantik wieder gibt. Denn ich glaube, es gibt was. Anstatt der Trübsal auf den andern gebildeten Bühnen muß bei uns eitel Übermut herrschen. Gut ausgehn muß es immer, das ist erste Bedingung. Ich bitte dich, wir sind doch wahrhaftig Leute, denen es an nichts fehlt; warum sollen wir zum Leben nicht ja sagen. Na?«

Ute lachte.

»Also, sag mal ja!«

»Da hab ich denn mit dem Pömmerl gesprochen. Er ist auch der Meinung. Er denkt sich unser Theater am Habsburger Platz, bei uns draußen in Schwabing. Nebenan, Franz-Joseph-Straße, und in der ganzen Gegend wohnen lauter reiche Leute. Da kann so was Frohsinniges am Ende gedeihn.«

»Das Terrain?«

»Gehört ja mir. Panier nimmt gefälligst Hypotheken auf das Musenhaus, bis sich die Balken biegen.«

»Also alles in Ordnung. Aber ich muß nach Berlin.«

»Hör erst. Der Pömmerl schreibt dir ein Stück. Ja, dir! Es heißt wahrscheinlich: Die rosaseidenen Höschen.«

»Findest du, daß die mir stehn?«

»Müßtest sie halt probieren. Es sind zwar Kokottenhöschen. Ich hab den Stoff dem Dichter nahegelegt. Also, aus einer Waldhütte, dahinten vor der Lichtung – du erinnerst?«

»Ach ja.«

»– tritt bei Mondschein ein kleines Mädchen. Es ist ein Spielmann pfeifend vorbeigezogen.«

»Nein, wirklich?«

»Sie hat rosaseidene Höschen an.«

»Bitte, die hatte ich in meinem Traum nicht an. Außerdem ist es unwahrscheinlich.«

»Ja, deine Vorstellungen von Wahrscheinlichkeit mußt du ablegen ... Sie hängt sich unter den Reisewagen, worauf auch der Spielmann sitzt. Der ist natürlich nur mitgenommen, weil er gefühlvoll blasen kann. Geld hat er keins. Daher kriegt sie dann der alte Bankier, gleich daneben.«

»Ja, so macht's die Franchini, wenn der, den sie liebt, kein Geld hat.«

»Sie liebt den Spielmann ja gar nicht ... Er geht aber mit zum Bankier als Kassenbote und bewahrt die rosaseidenen Höschen auf, die das Mädel achtlos ablegt. Die sind nämlich ein Talisman.«

»Soso.«

»Und solange sie da sind, geben alle Leute ihr Vermögen dem Bankier in Depot, womit er dann spekuliert. Er wird ungeheuer reich. Da trägt der Spielmann die rosaseidenen Höschen zum König, und das Mädel, ohne zu wissen warum, muß auch mit und den König lieben.«

»Warum liebt sie nicht überhaupt den Spielmann?«

»Das weiß kein Mensch.«

»Und warum ist es gerade ein Spielmann. Wenn das Blasen doch nichts nützt, sondern nur die Höschen.«

»Ja, aber du hast es so geträumt. Einen gewissen Anhalt muß man in dem Meer von Unsinn haben, sei's auch nur die Insel eines Traums ... Genug, der König wird nun zum Erschrecken mächtig. Das Volk entsagt freiwillig allen seinen Rechten und baut ihm so viel Panzerschiffe, daß ihm die Augen übergehn. Aber er entzweit sich mit dem Bankier, da geht es schief mit ihm.«

»Die Rosaseidenen helfen ihm nicht?«

»Der Spielmann ist vielleicht gerade mit ihnen verreist. Das muß noch irgendwie gemacht werden ... Nun wird der König leider umgebracht. In dem Augenblick, wo es auch dem Mädel an den Kragen gehn soll, ist der Spielmann mit den Höschen wieder da. Sie wird also selber Königin und herrscht, bis sie so unvorsichtig ist, den Spielmann aus der Stadt zu verbannen.«

»Da gibt's Umsturz?«

»Da brennt alles, und sie muß fliehen, vollständig nackt. Eine Trikotszene für dich.«

»Danke, das wagte ich gar nicht zu hoffen.«

»Natürlich rettet er sie ... Na siehst du, sie hat ja keinen richtig geliebt, weder Bankier noch König, weder Geld noch Ruhm; und wer das Beste von ihr hatte, war noch der unbeachtete Anbeter mit den rosaseidenen Höschen. Was der mit ihr zwischen den Ereignissen für schöne, entsagungsreiche Szenen hat: das läßt sich mit Romantik durchtränken, sag ich dir.«

»Immerfort blaugrüne Gelatineplättchen vor dem Licht, um Stimmung zu schinden.«

»Ja, da gibt ihr denn der gute Jüngling die rosaseidenen Höschen zurück, die ihn bei alledem so glücklich gemacht haben, und sie kann ihre Laufbahn nochmals beginnen.«

»Wenn sie noch Lust hat.«

»Ich bitte dich, in dem Stück lebt ja ein unverwüstlicher Optimismus und kokettiert mit Blödsinn.«

» Ist zum Teil schon Blödsinn.«

»Aber harmlosen Leuten, die gut gespeist haben, muß so was doch gefallen?«

»Kann sein, kann auch nicht sein.«

»Und dann wirst du, Ute, den ärgsten Unsinn herausreißen.«

»Du mußt dich nicht zu sehr auf mich verlassen.«

»Bedenke, wie das Theater dich einrahmen wird. Die Wandflächen, die Galerien im Saal stimmen zu deinen Farben; alles auf der Bühne ist deinen Formen hingehalten, begleitet deine Gebärden. Deine Stimme ist der einzige Klang, auf den das Haus angelegt erscheint. Man muß dir einfach jedes Wort glauben.«

Ute lächelte spöttisch und befriedigt. Claude dachte an sein eigenes Haus, wo er das alles schon einmal versucht hatte.

»Ich habe immer die Manie gehabt, die ganze Welt auf dich, Ute, zuzuschneiden ...«

»Ich weiß; du bist brav ...«

In seinem Hause, das nur ihr erdacht war, hatte sie nicht verweilen, auf seine Zärtlichkeit in einem geschlossenen Zimmer, seinem Herzen, sich niemals lange betten wollen. Aber trug er nun seine Liebe, den Traum mit ihr vom vorigen Sommer, und Jahreszeiten und Leben, wie Ute sie ihm beschied, auf eine offene Bühne und ließ sie's aller Welt vorspielen – dann vielleicht, dachte sie seiner, war näher bei ihm?

»Es hat was Verlockendes«, entschied sie. »Aber doch nur im Sommer. Was Ernsthaftes ist das ja nicht.«

»Gewiß nicht ... Also in neun Monaten ist die Kiste fertig, wie Panier sagt, dafür steh ich ein ... Du nimmst nächsten Sommer kein anderes Engagement an?«

»N–ein.«

Kaum war sie abgereist, stürzte Claude sich auf das Unternehmen, das sie erfolgreich und glücklich machen sollte. Er ging in Begleitung seines Kassiers Ringsum zur Bank und reichte ein Gesuch um Belehnung ein. Ringsum wußte über den Gang der Sache Nachrichten zu beschaffen. Einer der Direktoren der Bank war dafür, ein anderer dagegen. Schließlich bewilligte der Aufsichtsrat die Hälfte des Wertes von Grundstück und Gebäude, nach Fertigstellung des Baues auszubezahlen.

»Nun, zweifeln Sie noch?« sagte Claude zu Panier, dessen Rollstuhl Bella selten aus dem Zimmer ließ.

»Weil dir die Bank 'ne halbe Million gibt? Wie weit die woll reichen soll. Nöh, mein Jung, du fliegst rein, das laß man gut sein ... Überhaupt, das Projekt von deinem Baumeister, das bewilligen sie auch nicht. Es ist im Kunstverein ausgestellt, was? Ich weiß es aus der Zeitung, da schreiben sie ja dagegen. Es sei feuergefährlich, es käme 'n zweiter Ringtheaterbrand bei raus und was weiß ich.«

»Das ist natürlich von den Leitern der anderen Theater hineingebracht, die ihre Kundschaft nicht gerne hergeben. Wenn's sonst nichts ist ...«

»Tja, die sind aber mächtig, wie willst du dagegen anstänkern. Archibald –«

»Keine Sorge. Ich hab Archibald auf meiner Seite. Morgen kommt ein Interview mit ihm in die ›Neuesten‹.«

»Wenn man Archibald auf seiner Seite hat, ist es erst recht gefährlich ... Und denn überhaupt: mit was für Geld willst du bauen? Jetzt bei der Terrainkrise! Und wenn die Bank doch nichts losläßt, bis alles fertig ist.«

Darauf wußte Claude nichts.

»Nöh«, schloß Panier, »die Geschäfte, wo du auf verfällst, mein Jung, da lassen wir unsere Finger lieber raus. Du hast 'ne unglückliche Hand.«

Claude meinte für sich, daß er dem Alten ja keine Beteiligung angetragen habe.

Bevor er aus der Verlegenheit herausgefunden hatte, erschien bei ihm mit einer Empfehlung Archibalds der Geldmann Ehglücksfurtner. Er wies, zutunlich plaudernd, seine Befähigung nach. Er war Claudes Vater beim Bau des Café Luitpold beigesprungen. Mit dem alten Marehn und mit Archibald hatte er zu tun gehabt gelegentlich der Errichtung des königlichen Konservatoriums für dramatische Kunst. Er kam mit Claude auf ein Darlehen von 700 000 Mark überein, verzinsbar mit zwölf Prozent. Darauf pruschte er Claude ins Gesicht.

Ringsum hatte mit dumpfer Stimme zu allem ja gesagt. Aber wie Ehglücksfurtner hinaus war, erhob er die Hände und verkündete Unheil. Der Herr Marehn habe sich bewuchern lassen.

»Warum haben Sie's nicht verhindert?«

»Verzeihen, Herr Marehn, aber ich hätte Ihnen nur raten können, von dem ganzen Unternehmen abzustehen. Das würde der Herr Marehn wohl nicht gewollt haben.«

»Allerdings nicht.«

»Alsdann –«

Ringsum wählte peinlich seine Worte.

»Die wirtschaftliche Lage in München ist eine schlechte, und fand ich in dem verlangten, obschon hohen Zinsfuß die einzige Auskunftei.«

»Nun also.«

»Aber wir werden das Geld nicht zurückzahlen können. Das Bankgeld deckt diese Schuld um so weniger, als auch die fünfzigtausend Mark davon abgängig sind, die, wo als Forderung auf dem Bauplatze liegen. Überdies dürfte der Voranschlag des Architekten auf eine Million Gesamtkosten, wie üblich, zu niedrig sein. Und besteht demnach die Gefahr, daß dieser gewisse Ehglücksfurtner schließlich das ganze Unternehmen an sich bringt ...«

Diese Zweifel störten Claude nicht. Knapp drei Monate nach Einleitung seines Gedankens, zu Ende November, waren die bau- und gewerbepolizeilichen Bewilligungen errungen, das Baukapital zur Stelle, der Grundstein gelegt. Claude berichtete voll Zuversicht an Ute, erkundigte sich nach ihrer Lage in Düren.

Die war nicht schlecht. Ute war so beliebt und geschätzt wie im ersten Jahr ihres dortigen Engagements. Aber zwischen dem ersten und dritten war die Franchini vorübergegangen. Ute, ernüchtert und ohne Freudigkeit, zog von ihrem Erfolg all die erhobenen Hände ab, die vorigen Winter der andern zugeklatscht hatten.

»Jetzt da ich den Erfolg wiederhabe, darf ich mir wirklich herausnehmen, ihn zu verachten! ... Er beschämt; denn er führt in die Phantasie dieser Leute wie in ein schlechtes Haus, das auch die Franchini besuchte. Er gilt immer nur dem Beiläufigen und Minderwertigen von uns selbst, aber keineswegs uns selbst. Er ist eigentlich ein Mißverständnis! ... Bau mir nur mein Theater! Die Leute werden sich für ihre Wohnungen die Möbel bestellen, die auf mich und die rosaseidenen Höschen gestimmt sind. Sie werden meinen Mantel aus chiffon plissé nachahmen (vielleicht trage ich gerade einen) und keine Ahnung haben, daß aus demselben leicht raschelnden Stoff auch die Verse sind, die ich eben sprach.«

Und das entmutigte Claude, zu wissen, daß nun auch Ute zweifelte an Erfolg und Ruhm. ›Ich selbst habe sie bezweifelt, ehe ich sie aus der Nähe gesehen hatte, gleich mit allem übrigen zusammen, schon in Spießls Bude. Aber in der andern Bude, bei den Mädeln, da glaubte man noch und hatte Ziele. Utes Stärke war ein Trost und ein Stoff zu Sehnsucht. Ist das auch dahin?‹

Er arbeitete trotzdem weiter, mit den Architekten und den Geschäftsleuten; aber er sagte sich, daß es umsonst sei. Dieser Theaterbau war nur noch ein täglicher Gedanke an Ute; Claudes Zärtlichkeiten für sie häuften sich, stiegen auf mit den Steinen. Aber der Erfolg, den sie nicht mehr achtete? ... Sie wollte ihn dennoch, oh, das hörte er wohl heraus. Sie atmete ihn ein, lebte davon. Sie verlangte zehrend nach Anerkennung von all denen, die sie als Richter selber nicht anerkannte.

Was das für eine seltsame Verirrung war! Claude dachte an jemand, der sich seinem Ehrgeiz entrissen hatte, dem Wahnsinn des Künstlertums entronnen war und als unscheinbarer Bürger lebte. Er nahm den Verkehr mit seinem alten Freunde Spießl wieder auf.

»Bist du eigentlich glücklich?«

»Was heißt glücklich. Von Neujahr ab zahlt mir die Versicherungsgesellschaft bereits zweihundertundfünfzig Mark; und mit sechzig hab ich angefangen.«

»Und wieviel gibt Ringsum seiner Tochter? ... Hundert? Da könnt ihr ja leben ... Wie ist eigentlich deine Frau?«

»Die Miezerl ist ein lieber Kerl. Man kömmt überhaupt dahinter, es steckt im bürgerlichen Menschen so viel Gemüt ... Lache nur nicht, du Kalb, ich hab mich selbst genug drüber lustig gemacht. Aber es gibt einen Moment, wo man das, was früher Phrase schien, zu fühlen anfängt.«

›Wenn man Philister wird‹, dachte Claude.

»Soviel ist gewiß«, erklärte Spießl, »unsere Bude und die reine Geistigkeit mit ihrer Verachtung der Handlung – die muß man hinter sich haben; dann erst kann man mit Genuß ein Bürgersmann werden. Du verstehst, es liegt 'n stimmungsvoller Dunst von Wissen und Verzicht darüber ...«

Claude dachte: ›Der hebt sich auch noch.‹ ... Aber er hatte dennoch Lust, einmal hinter die Worte zu kommen, die ein anderer uns, immer ganz von fern, zuruft und die vor seiner Seele wie Schleier hängen; sich die Erlebnisse eines andern von innen anzusehen. Abdanken zugunsten einer Frau, für sie keine perversen Gedichte mehr machen, sondern Policen ausstellen, wie dieser Spießl es schließlich fertiggebracht hatte, wäre es nicht die Vollendung aller Zärtlichkeit gewesen, die Claude einer darzubringen sich sehnte?

Er unterhielt sich öfter mit Spießl, tastete nach seinen Empfindungen, ging mit ihm zu Ringsums. Spießl erklärte ihm:

»Die Miezerl, die jetzt schon wirklich ein bissel faul und vergnügungssüchtig geworden ist, war früher die allerbravste. Aber seither ist es die Sepherl.«

Die Sepherl trug ihre braunen Flechten um den Kopf gelegt und waltete still im Hause. Die Mutter, eine dicke Frau, schrie immer hinter ihr her. Alles mußte die Sepherl tun. Die Jüngste ging noch in die Schule.

Claude kam nur in Abwesenheit des Vaters, weil der stramm unterwürfige Ton seines alten Kassiers ihn in Verlegenheit setzte. Selten konnte er mit der Sepherl ein paar Worte wechseln, auf der Schwelle von Küche oder Wohnzimmer. Dann kommandierte die Mutter schon wieder.

»Gradso ging's früher mit der Miezerl«, sagte Spießl. »Drum hat's mir Eindruck gemacht.«

Und Claude faßte ein sanftes Mitgefühl mit dem stillen Geschöpf, das eine kurze kleine Nase, so reine Augen hatte und womöglich nicht einmal genug zu essen bekam. Er war angeheimelt von dem kleinbürgerlichen Frieden, den die Sepherl mit ausgoß, wenn sie Bier in sein Glas füllte. Eine Versuchung, ganz aussichtslos, da er ja Ute gehörte, berührte ihn, wenn die kleine Hand mit etwas staubigen Grübchen die seinige streifte.

Er bereute es, sich in diese Stimmung verliebt zu haben und immer wiederzukommen. Es war klar, daß er Hoffnungen erregt hatte. Weihnacht war nahe. Die Mutter sagte, sooft er an der halbgeöffneten Tür des Eßzimmers vorbeikam:

»Dort dürfen's net nein, da sitzt d' Sepherl und stickt was für Ihnen zum heiligen Christfest.«

Aber eines Tages war die Mutter ausgegangen. Das Schulmädel ließ Claude herein, machte errötend einen Knicks und verschwand. Er schlich sich an die Tür des Eßzimmers, sie stand leise offen wie immer; und er sah die Sepherl im verlorenen Profil ihre Sticknadel bewegen. Wie still das Licht an Haar und Wange formte. Die Uhr tickte und Claudes Herz klopfte. Er machte einen unhörbaren Schritt. Wußte sie, daß er da war? Er kam langsam näher. Wenn sie nun merkte, daß er hinter ihr stand – er ahnte selbst nicht, was er vorhatte ... Da stutzte er, beugte sich nochmals über die Schulter des Mädchens, kehrte plötzlich um. Die Sepherl hielt gar nichts in der linken Hand; sie hatte, da sie ihn die Wohnung betreten hörte, rasch auf ihre Finger losgestickt.

Er entkam geräuschlos, zog aufatmend die Flurtür ins Schloß. Auf der Treppe sagte er laut:

»Pfui Teufel.«

Auf der Straße sagte er leise:

»Die armen Leute.«

Und zu Hause bemerkte er, daß kein Grund sei, weder zu Verachtung noch zu Mitleid. Er war hier, dort waren jene.

Für Weihnachtsabend erbat er, um sich von seinem Ausflug ins Gutbürgerliche zu erholen, eine Einladung von Gisela Gigereit.

Er erschien um zehn Uhr. Der Christbaum brannte; Theodora saß darunter und hatte neben sich den Kinderwagen.

»Aber das hab ich ja gar nicht gewußt. Schon eine kleine Theodora?«

»Nein, aber ein kleiner Maxl«, sagte sie stolz.

Gisela ging hinaus und holte den Punsch.

Was diese Theodora für Bewegungen hatte, noch immer, als ob sie einen beschlich. Und dabei glättete sie bloß eine Decke im Kinderwagen. Claude betrachtete ihre Hand, so voll, dabei wie aus Wachs, und mit zurückgebogenen, schmalen Spitzen. Er sagte plötzlich in frechem Ton:

»Also, wann wird denn nun wieder was mit uns zwei?«

Er bekam einen halb verdeckten Seitenblick, schwarz und gleitend.

»Ich bin ja glücklich verheiratet.«

»Ach geh. Ja, tausend Mark hat er kürzlich gekriegt für ein Bild, dein Mann, was?«

»Tausend Mark, bei mir dauern die lange.«

»Eine gute Hausfrau bist du auch? Es ist fast zuviel ... Und du liebst ihn wohl gar?«

»Meinen Mann? Wozu.«

Sie murmelte und schob dazu den Wagen.

»Das ist gar nicht mal gut.«

Dieses Weib mit seinen fallenden Schultern, seinem Katzenschritt, mit der mattspiegelnden Haut und dem Widerschein tausendjähriger Lüste darauf, von alten Bildern her, über die ihr Vater gebückt gesessen hatte! Sie behauptete, nicht an Liebe zu glauben, nicht von ihr zu leben! ... Claude fragte schroff:

»Und mich hast du etwa nicht gewollt? ... Sag, hast du mich damals geliebt oder nicht?«

Sie zuckte die Achseln, tauchte in den Maßkrug am Boden einen Lappen und gab ihn dem Kinde zum Saugen.

Er warf sich seine Voreiligkeit vor. Wäre er ihr bittend entgegengekommen und wehmütig, vielleicht hätte sie ihm endlich die Wahrheit gesagt. Jetzt log sie wieder, um ihm Reue beizubringen.

»Geh, sag's«, bat er sanft.

»Wenn ich's nicht weiß?«

»Du weißt nicht mehr, ob du mich geliebt hast?«

»Nein.«

Also gut. Es gab niemand mehr auf der Welt, der noch gewußt hätte, ob Claude einmal geliebt worden war. Er begriff Theodoras Vergeßlichkeit; denn wie erging es ihm selber mit der Franchini. Vor der einzigen Nacht mit ihr war längst eine bläuliche Ferne zusammengeschlagen. So viel mit Vergnügen betäubter Schmerz um Ute, so viel Sorge um sie, die Enttäuschte, hatte jenes kleine Mädchen in die weite Welt zurückgedrängt, von wo sie gekommen war. Sie war durchgegangen, niemand wußte, wohin; und in Claudes Gedächtnis entstand kaum noch ein wenig Unruhe, etwas Leises, worauf man nicht achtzugeben brauchte, ein gedämpfter Schreck, wenn ihr Name fiel. Man vergaß ...

Während Claude seufzte, kehrte Gisela zurück. Theodoras Gatte kam und holte Frau und Kind. Die Eltern trugen gemeinsam den Wagen über die Schwelle. Breite Schultern hatte der Mann, aber, und das tröstete Claude, auch X-Beine. Er würde Theodora immer zufrieden erhalten, ohne daß sie jemals in ihm aufgehn würde ... Claude ging ihm nach, schlug eine Zusammenkunft vor. Für das Theater wurden Zeichnungen zu Spiegeln gebraucht, zu Türen ... Der Maler war beglückt, Theodora schob dem Kinde, das schrie, die Biernuddel fester in den Mund.

Claude saß allein mit Gisela beim Christbaum. Er stellte sein Punschglas weg.

»Hat die Theodora mich eigentlich mal geliebt?«

Gisela lachte still und mütterlich.

»Wie soll ich das wissen.«

»Hat sie nie was Besonderes gesagt über mich?«

Und Claude sah angstvoll zu, wie das schöne Haar, von Utes Rot und ohne Utes Seele, sich im warmen Kerzenlicht gelassen wiegte.

»Daß du lieber dein Geld verlieren solltest, hat sie mal gesagt. Dann würde dich keine mehr wollen, und dann würdest du vielleicht glücklich werden.«

»Glücklich, ja wie denn.«

Giselas Hände, fleischig und gutmütig, öffneten sich im Schoß, und fielen wieder zusammen.

»Das hat sie nicht gesagt.«

Claude gab es auf.

»Na ja, Liebe kriegt man nicht. Dein Mann zum Beispiel, hast ihn geliebt?«

»Auf meine Weise schon ... Ich hab ihm seine Kupferstiche verkauft.«

»Aber hoffentlich nicht – auf die Art wie jetzt?«

»Doch.«

»Na dann –«

»Bitte«, sagte Gisela lebhafter, »ich hab's gut gemeint mit ihm. Er war zwanzig Jahre älter als ich. Er hat mich geheiratet, weil ich die einzige Frau seiner Bekanntschaft war, die nicht aus Siena und nicht seit sechshundert Jahren tot war. Die andern hängen alle in langen leeren Galerien. Die byzantinische Schule schaut ja kein Mensch an; und kein Mensch kaufte seine Stiche. Er hatte sich mit fünfundzwanzig Jahren daran gemacht, alle Byzantiner der Galerie von Siena in Kupfer zu stechen. Inzwischen hat man ja Verfahren erfunden, die ein Zehntel kosten und den Leuten besser gefallen; er aber stach ruhig weiter.«

»Er war wohl ein wirklicher Künstler«, meinte Claude.

»Ich hatte Achtung vor ihm. Solange ich allein hungerte, ging es ja. Aber endlich konnte ich auch für ihn nicht mehr das Nötigste herbeischaffen. Und dann ward Theodora groß und entbehrte schwer. Wir lebten zurückgezogen, man sah uns zwei Frauen manchmal aus unserm alten Hause huschen. An der Tür war eine Glocke, die lärmte, wenn man öffnete, und man blickte nach uns um. Ein Herr, der umgeblickt hatte, kam tags darauf und kaufte einen Stich für fünfhundert Mark.«

»Den Preis hast du beibehalten.«

»Ja, Gigereit wollte lieber selten etwas verkaufen, aber nie unter fünfhundert ... Der Herr kam wieder, wir waren nicht da, und er kaufte nichts ... Das ging öfter so. Gigereit fragte, als einmal nur Brot zum Essen da war, ob er denn ein schlechter Verkäufer sei. Sein pergamentfarbenes Gesicht ward ganz rosig dabei; er strich hastig sein dünnes weißes Haar zurück. Er gab zu, die Verhandlungen hielten ihn auf; ich durfte die Abzüge alle in mein Wohnzimmer hinübernehmen.«

»Da hast du dann gut verkauft.«

»Ja, es kamen aber auch welche, die sich ein Blatt von der Theodora verkaufen lassen wollten. Sollten wir uns weigern? Ich mußte doch an die Zukunft denken von der Theodora.«

»'s ist dir ja geglückt.«

»Gelt? Eine Ausstattung hat's und einen braven Mann: auch ein Künstler.«

»'s ist alles sehr gut ausgeschlagen, da gibt's keinen Zweifel ... Darf ich mir einen Stich aussuchen?«

»Aber gern.«

Und Gisela öffnete die Truhe. Claude fragte aus den Bildern hervor:

»Und dein Mann, was mag er gedacht haben?«

»Das – war ihm nicht anzumerken. Er hat nie nach einem Geldstück die Hand ausgestreckt, und wenn ich ins Zimmer trat und eine Zahl nannte, sah er mich nur kurz an, über seine Brille weg, und mit Augen, worin gleichsam noch das Spiegelbild von einer byzantinischen Figur war. Er war ja ganz woanders.«

Auch Claude sah flüchtig auf und kehrte zurück zu der bleichen, gezierten, kranken und kostbaren Frau, in schmalem Weiß, unter den Sternen eines steilen Thronhimmels. Wie sie, in der Künstelei ihrer Schönheit, auf einmal Ute glich!

Nie nach heißen Armen um seinen Hals verlangen, nie nach Liebe jagen. Der Bitternisse seiner unverbrüchlichen Einsamkeit nie gedenken. Im Traum von Ute hängen und das unzulängliche Leben sich beflecken lassen. So tat der alte Kupferstecher, in dessen Augen das Spiegelbild dieser Frau stand und der nicht fragte, woher das Geld kam. War er sehr hoch, war er sehr niedrig? ... Er war ganz woanders.


 << zurück weiter >>