Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI.
Vorschriftsmäßig

Zu Hause lag ein Telegramm von Utes Direktor; in der Nacht mußte sie reisen.

Sie war auf einmal in Erregung, lief in Hut und Jackett ziemlich planlos zwischen den großen Koffern umher, schlug Kursbücher auf, suchte nach überflüssigen Dingen, stellte kopflose und angstvolle Fragen. Sie war sich klar über alle ihre Lebensziele und über die Mittel, sie zu erreichen; aber sie war noch niemals allein auf der Eisenbahn gefahren.

Claude zeigte sich guten Muts, brachte sie sogar zum Lachen. Am Bahnhof, während man ihr Gepäck einschrieb, sagte er ihr, wie schick ihr Reisekostüm sei. Und das wiederkehrende Bewußtsein, gut angezogen zu sein, gab Ute ihr Selbstvertrauen zurück.

Er hatte ihr Blumen und Bücher in den Wagen gelegt; sie fand sich vorläufig in Sicherheit und atmete auf. Den Fuß auf der Treppe, sagte Claude:

»Wenn ich nun einfach einstiege und mitführe. Famos, was?«

»Ohne alles?«

»In Berlin kauf ich mir ein paar Hemden, den Rest laß ich mir nachkommen. Schließlich darf ich doch die Sommerfrische dort im Walde, wo du Komödie spielst, grad so gut genießen wie die Bürger aus Ritzebüttel oder Ülzen.«

Sie verzog befremdet den Mund.

»Du weißt ja, ich will mich dir erst zeigen, wenn ich was Ordentliches kann.«

»Archibald war schon sehr zufrieden zuletzt.«

»Das ist ganz was anderes. Auf der Bühne, im Ensemble ...«

»Also gegen Ende der Saison, wie? Du schreibst mir, wenn ich kommen soll?«

»Und überhaupt, diese Schmiere ist ja für mich nur eine Schule, da zeig ich mich bloß den Leuten aus Ülzen, die's nicht weitersagen.«

»Erlaube, ich stell mir das riesig amüsant vor, du in großer Toilette mit dem ersten Liebhaber, der mir und mich verwechselt, und mit der Direktorsgattin, die sich einen Ballmantel aus einer Tischdecke gemacht hat.«

Aber Ute ward ungeduldig.

»Genug, diese Saison wird mich kein Mensch zu sehen kriegen. Bloß den Direktor vom Merseburger Stadttheater, der in der Nähe kurt, den schickt Archibald mir wegen Engagement.«

»Na also«, sagte er hoffnungslos.

»Was willst du denn, das war ja längst abgemacht, daß du mich bis zum Herbst in Ruhe läßt.«

Sie sahen aneinander vorbei, unzufrieden. Sie warteten auf den Schaffner, der dort, ganz vorn, die Türen zuschlug. Er kam näher. Claude dachte fieberhaft, dies könnten unmöglich ihre Abschiedsworte gewesen sein; aber er fand nichts mehr zu sagen, unter den tausend Worten, von denen die Welt voll war, keines, das in dieser äußersten Minute hätte gesprochen werden können.

Im Augenblick des Einsteigens wandte Ute sich plötzlich um, von nervöser Bewegung ergriffen.

»Ich danke dir«, stammelte sie.

Unversehens warf sie die Arme um seinen Hals und küßte ihn grad auf den Mund. Er hielt still, er war sehr bleich und wagte sich nicht zu regen, als sie schon verschwunden war. Sein Taschentuch flatterte nur ganz leise, während ihres noch außerhalb der Halle, in der Nacht, einen großen Flug beschrieb.

Er kehrte in ihre Wohnung zurück. Sie hatte es ihm nicht aufgetragen. Ihre Möbel, ihr Porzellan, das war ihr mal gleichgültig. Es lag alles umher, als sollte sie morgen wiederkommen. Er sagte der Köchin, sie könne bis Ende des Monats dableiben und die Zimmer in Ordnung halten. Er meinte, so würden sie etwas von dem gewohnten Leben bewahren, von ihrem Leben.

Ihr Schlafzimmer war aufgeräumt, das Bett für die Nacht aufgedeckt, glatt und kalt. Er spürte plötzlich den Schauer der tiefen Nacht, in die sie nun hineinfuhr, immer tiefer, wie in einen Tunnel. Jenseits lag ihr neuer Tag, voll vielleicht von Erlebnissen, Enttäuschungen oder Jubel; aber Claude kannte ihn nicht. Das Gefühl, nicht mehr zu leben, ausgestrichen zu sein, drückte ihn auf einmal so hart auf die Schultern, daß er sich setzen mußte.

Vor dem Stehspiegel auf dem Teppich begegnete er einem glitzernden Gegenstand. Er hob eine Hutnadel auf. Ute hatte sie, er erinnerte sich, in der Ratlosigkeit der Abreise viele Male in den Händen herumgedreht, sie schließlich mit einer andern vertauscht und weggeworfen. Claude begegnete ihr da wie einem Kameraden. Der metallene Kopf, den Utes Hände erwärmt hatten, nun war er kalt. Claude riß die Knöpfe seiner Weste und seines Hemdes auf, er drückte die Nadel gegen sein Herz. Solange ihre Kälte ihn durchdrang, kam er sich beglückt vor. Als er sie nicht mehr fühlte, war's ihm, als sei alles aus.

Er hatte geglaubt, er würde täglich in ihre Wohnung pilgern; aber er blieb wochenlang weg. Er war zu keinen Sentimentalitäten mehr versucht, sondern zu Gereiztheiten. In seinem sozialistischen Verein, wo sogar die Privatdozenten ihn mit Rücksicht auf seine künftige geschäftliche Machtstellung immer achtungsvoll behandelt hatten, schlug er einen anmaßenden Ton an und wollte die Herren, die studiert hatten, eines andern belehren. Er ließ sich zum Redner in einer Bauarbeiterversammlung bestimmen und erschien in seinem elegantesten Frack. Der Vorsitzende sagte ihm:

»Wenn Sie hier reden wollen, rate ich Ihnen, ziehen Sie einen fleckigen an, der wo ein paar Falten wirft.«

»Dann lassen Sie den Kellner reden«, erwiderte Claude.

Er wurde dann so ausfallend, daß der Polizeibeamte erstaunt sein Bierglas hinstellte. Auch versicherte er, er werde jetzt überall halbe Stadtteile verschleudern und auf die Preise von Grund und Boden dermaßen drücken, daß der Kapitalist verkrachen und der Arbeiter seine Wohnung sehr bald umsonst haben werde. Dies dünkte einigen nicht sehr klar, wurde aber gern gehört. Es kam selbst in die Neuesten Nachrichten.

In dem gut bürgerlichen Klub, wo er mit Matthacker, Graf Kreuth und mit Künstlern zusammenkam, wiederholte er seine Drohungen. Er sprach sogar von einer allerhöchsten Person als von einem Individuum. Die Künstler freuten sich, Matthacker erklärte: »Ich kauf Ihnen Ihren Leichnam ab«; aber ein Student aus Breslau, der ein goldenes Armband trug, bemerkte durch die Nase:

»Se sind ja 'n janz dummer Junge sind Se ja.«

Claude starrte ihn an.

»Ja, Sie mein' ich«, sagte der Student.

Wie war das möglich. Claude fühlte: ›Wenn ein anderer so ähnlich handelt, ist er ein dummer Junge. Aber ich, Claude Marehn – das ist eine Sache für sich.‹ Plötzlich schnellte seine Hand auf die weiße, breite Wange des Studenten. Als man die Herren getrennt hatte, begriff Claude erst vollends, was ihm zugestoßen war, und geriet vor Wut ins Zittern. Er wollte nochmals losstürzen, man mußte ihn ernsthaft fragen, ob er gar keinen Komment habe.

Am nächsten Morgen um fünf war er draußen in Planegg. Er hatte geschlafen und war mit dem Bewußtsein erwacht, vor ihm liege ein kaltes, wütendes Vergnügen und vielleicht das Ende vieler Unlust. Die Zeugen des andern hatten ihm den ersten Schuß erschlichen. Claude schritt stramm vor, mit einer Hier-bin-ich-Miene, die den Zuschauern ein stummes »Donnerwetter!« abnötigte. Der Student traf nicht, darauf schoß Claude ihn durch reinen Zufall irgendwo in die Hose, pfiff durch die Zähne und ging seiner Wege.

Wie er vor seiner Haustür aus dem Wagen stieg, kam die noch leere Straße der Briefträger herauf. Claude ging ihm entgegen, er erinnerte sich plötzlich an etwas, das der Mann vielleicht brachte. Da war's: der Brief von Ute.

Claude begab sich, und sein Gang war nicht mehr fest, in ihre Wohnung. ›Gut‹, dachte er, ›daß ich ihn noch lesen kann.‹ Und der Gedanke an den Tod, dem er entgangen war, machte ihn nachträglich kalt vor Angst.

Drinnen war es kühl und roch eingeschlossen und nach Staub. Die Köchin war nicht vorhanden. Er öffnete die Läden, die Sonne des Junimorgens stürzte sich jubelnd auf die Dinge, auf Utes Dinge!

Und sie schrieb jubelnd. Sie habe nicht früher berichten wollen: jetzt, seit der Magda, sei ihr Triumph entschieden. Sie habe alle Herren für sich und alle Damen gegen sich, außer einem jungen Mädchen in Weiß, das nicht bekurt werde; das sei heimlich zu ihr gekommen mit Tränen der Begeisterung und habe um ihre Freundschaft gebeten. Eine Verlobung sei ihretwegen zurückgegangen. Ein alter Herr sei von seiner Frau nach Hause geschickt. Diese Kleinstädter seien überhaupt aus dem Häuschen, man merke, wie lange sie gefastet hätten. Was sie gewöhnlich aber auch vorgesetzt kriegten! Die Kolleginnen seien alle zu haben und zum Teil für fünf Mark. Natürlich stürben sie vor Neid und Haß. Ah! sie fühle sich leben. Nächsten Dienstag komme nun ihr Benefiz ...

Sie fühlte sich leben! Einen Schrei davon sandte sie ihm – und fast hätte er ihn nicht mehr gehört. Was hatte er denn getrieben, seit sie fort war? Sich wie ein dummer Junge aufgeführt und von einem, der's ihm gesagt hatte, sich beinahe totschießen lassen. Und mit diesen Nichtigkeiten, gemischt aus Eitelkeit und Verachtung, sollte er alle seine Tage vergeuden? Und schließlich würde es dann sein Leben gewesen sein? Weil sie es nicht wollte, sein Leben? Weil er es ihr nicht darbringen durfte?

Er weinte, mit den Lippen auf ihrer Namensunterschrift, und seine Tränen gruben Lachen in den Staub der Tischplatte.

Am Nachmittag besuchte ihn von Eisenmann. Er wolle Claude darauf aufmerksam machen, sagte er, daß er sich durchaus nicht vorschriftsmäßig benehme. Seiner Mutter mache man doch wenigstens eine Aufwartung, bevor man sich schieße.

»War sie betrübt?« fragte Claude, ohne nachzudenken.

»Betrübt ist nicht das Wort«, sagte von Eisenmann. »Unangenehm berührt.«

»Ja so.«

»Überhaupt, was Sie tun und lassen ist nicht so belanglos, wie Sie zu glauben scheinen. Wenn die Baracke noch zusammenhalten soll, dann muß bei uns jeder einzelne von der ›vaterlandslosen Rotte‹ überzeugt sein wie von der Seligkeit, jeder einzelne. Das ist Vorschrift!« behauptete von Eisenmann, aufgereckt im eng geschlossenen Gehrock und den Zeigefinger gegen den Boden gerichtet.

»Erstens schädigen Sie durch solche Reden Ihr eigenes Geschäft.«

»Ist das so schlimm?« fragte Claude, freundlich lächelnd.

»Den Gaunern Geld hinzuwerfen!« schrie von Eisenmann, am ganzen Leibe zitternd. »Das soll nicht schlimm sein?«

Er mußte sich erst erholen.

»Den Panier, den alten Marder, brauchen Sie zum Stehlen wahrhaftig nicht aufzufordern. Der verkauft schon ohnedies Ihre Terrains für 'n Schwefelholz und läßt sich von den Käufern Provision zahlen.«

»Oh, oh«, machte Claude. »Wie können Sie von dem alten Mann so schlecht reden.«

»Oller Lomp!« rief von Eisenmann.

»Ich will ihn mal fragen.«

»Immer bloß mit Lompen und Gaunern zu tun zu haben! Für 'n anständigen Menschen ist es gar nicht auszuhalten!«

Von Eisenmann schnaubte, sein hängender Schnurrbart stieg auf und nieder.

Plötzlich kehrte er zu Claude zurück.

»Und wie Sie sonst leben, das gereicht Ihnen auch nicht zur Ehre, guter Freund. Es ist was durchgesickert, mit Ihrer Freundin Fräulein Ende sollen Sie ja geradezu wie Bruder und Schwester gelebt haben. Das ist doch 'n Skandal!«

»Ich bitte, davon sehen wir ab«, sagte Claude bestimmt.

»Ich muß Ihnen mal ganz anders kommen!« erklärte von Eisenmann, die Zähne aufeinander. »So 'n junger Hund, was wissen denn Sie vom Leben. Machen Sie doch keine Geschichten, ich zeig Ihnen, wie Sie die Sache vorschriftsmäßig anzufassen haben. Das bin ich ganz einfach Ihrer Mutter schuldig.«

Dabei legte von Eisenmann seinen Hut und seine Handschuhe weg, als gehörte er nun dazu.

Claude bewunderte ihn. Er wußte durch Panier so ziemlich Bescheid über von Eisenmann, der jetzt kein Taschengeld mehr hatte. Frau Marehn kam selbst nicht aus. Vielleicht war das Paar übereingekommen, auf diese Weise von Claude Besitz zu ergreifen. Claude wußte dagegen keinen Einwand. Dummheiten hatte er auch alleine genug gemacht; was lag daran, wenn er nun unter von Eisenmanns Anleitung welche machte. Und dieser von Eisenmann, der sich so gar nicht begriff, über seine Beweggründe so rührend im unklaren war, immer in Empörung gegen jeden Widerstand, immer heilig überzeugt von seinem Recht zu leben, zu vergewaltigen, in Reiterstiefeln aufzustampfen, wie seine seligen Väter es gewohnt waren!

Zunächst hatte Claude, nach von Eisenmanns Auffassung, den guten Ruf seiner Männlichkeit wiederherzustellen, denn der hatte durch das brüderliche Verhältnis zu Ute gelitten. Die Schransky vom Gärtnertheater war gerade frei, weil der alte Huber gestorben war. »Die Person mit den Pferdezähnen!« wandte Claude ein. Aber es war vergebens. Die Schransky war bekannt; ein Verkehr mit ihr würde das böse Gerücht ersticken.

Claude zuckte die Achseln. Er nahm sich vor, die Schransky ein paar Abende lang öffentlich umherzuführen, ohne daß der Umgang sich auf Vertraulichkeiten erstreckte. Die Frau hatte einfach so zu tun, als ob er seine Pflichten erfüllt hätte; dafür bezahlte er sie.

Im übrigen ließ er von Eisenmann kommandieren. Killich mußte für Claude ein Automobil kaufen, und die vier, Killich und von Eisenmann vorn, Claude mit der Schransky auf den Rückplätzen, fuhren umher und zeigten sich. Von Eisenmann wurde von der Sucht gepackt, die Welt zu durchrasen. Wenn er lenkte, saß er den Hals vorgestreckt, gelb und wild unter der barbarischen Ledermütze, ein Fresser von blauen Fernen. So hasteten sie, außerhalb des Weichbildes der Stadt, über sommerliche Landstraßen. Die Pappeln raschelten hoch im Licht, still glänzten Weiden an Wegrainen, ein süßer Himmel floß blau zwischen Wolkenbergen. Aber die Vögel flüchteten, Gänse und barfüßige Buben retteten sich mit Gekreisch, und alte Frauen setzten sich hart in den Graben, wenn das Automobil, niedrig, blechern, giftig lackiert, eine dicke Bremse, vorn mit zwei stumpfen Augen, drohend und besinnungslos herbeiprustete in einem Schweif von Gestank und Staub.

Mehrmals verursachten sie Panik unter Soldaten, die zuversichtlich singend dahermarschierten. Die Pferde der Offiziere wollten durchgehen. Die Herren mußten absitzen; sie konnten die Tiere nicht halten, zwei Leute halfen ihnen. Und das Automobil rasselte im Triumph vorbei über den ohnmächtigen Zorn der Reiter hinweg.

»Die Kerls meinen auch, sie seien die Herren der Welt«, sagte von Eisenmann ingrimmig. Er hatte selbst im Sattel gesessen, er wußte die Demütigung seiner Standesgenossen zu schätzen.

Aber wenn sie am Ziel waren und friedlich im Dorfwirtshaus saßen, hatte der Ausflug auf einmal keinen Zweck gehabt. Unterwegs hatte man den Mund fest, die Augen halb geschlossen gehalten und sich auf einen Unglücksfall vorbereitet. Jetzt langweilte man sich. Von Eisenmann fand keine Rast. Er stürzte zwei Flaschen Wein hinunter und sauste alleine weiter. Claude sah gelassen zu, wie Killich die Schransky eroberte. Einmal unterbrach er ihn, weil ihm einfiel, daß von Eisenmann auch Killich einen Gauner genannt habe.

»Sie sollen ja von dem Automobilmenschen Prozente gekriegt haben?«

»Sagen Sie das im eigenen Namen?« fragte Killich interessiert.

»Beiläufig. Auch das Geld, das ich Ihnen gegeben habe für Ihre Maschine – Setzmaschine glaub ich mit dem bewußten Metallstreifen –, das sollen Sie für Ihre Weiber verwenden. Sogar mit Matthacker und den Brillenschlangen, wofür er nun schon mehrere Tausend Mark gekriegt hat, soll es nicht richtig sein.«

»Sie Kind«, sagte Killich voll Mitleid. »Das haben Sie natürlich von dem Eisenmann?«

Claude gestand es.

»Es ist mir ja gleich«, setzte er hinzu.

»Nein, es ist Ihnen nicht gleich«, entgegnete Killich. »Sondern es würde Ihnen Freude machen. Aber die Genugtuung erleben Sie nicht – von mir nicht. Wenn ich mal Geld brauche und es mir etwa von Ihrem genommen habe, dann sage ich's Ihnen einfach. Was wollen Sie machen, Sie werden es mir wohl lassen.«

Claude hob die Achseln.

»Na sehen Sie.«

Killich strich sich durch den wildblonden Bart, nickte ein paarmal und erklärte:

»Ich bin nämlich ein Mensch ohne Voraussetzungen. Ich wurzele nicht in dieser Kultur.«

Seine muskulöse Hand bewegte sich im Bogen über dem Biertisch. Er deklamierte:

»Ich bin als Goldwäscher tätig gewesen, ich habe zeitweilig die Fütterung von Krokodilen besorgt. Auch war ich bereits Sekretär eines nationalliberalen Vereins. Wie Sie mich sehen, bin ich auf den Rücken alter Kamele zu Hause und auf den Diwans noch älterer Pariserinnen, die schändlich viel kosten, aber nicht mich. Ich kann sagen, ich kenne Menschheit und Gesellschaft. Ich bin mit beiden fertig geworden, ich habe mich über sie hinweggeludert –«

Die Schransky kreischte leise auf.

»Geh mal hinaus, Mädel«, sagte Killich über die Achsel, »dies ist nichts für dich.«

Sie gehorchte verstört und voll Bewunderung.

»– und habe gefunden«, so erzählte Killich weiter, »daß nach Abzug aller Fiktionen ein Paar muskulöse Arme das einzige ist, was übrigbleibt.«

»Sie Geistesmensch«, sagte Claude.

»Warum man das Geistige als Hauptsport betreiben soll, werde ich nie begreifen. Ich habe Geologie vorgetragen und als Zirkusclown fungiert. Sowohl im Hörsaal wie auf der Bühne des Varieté könnte ich sechs oder acht Spezialitäten versehen. Aber daß mein Vater mich, weil ich niemals nach Prima versetzt ward, in eine Schmiede gab als Lehrjungen, das ist die Vorbedingung aller meiner Siege.«

»Haben Sie sie in den böhmischen Wäldern errungen?«

»Nein, bei Weibern. Und da geht es gefährlicher zu, ich versichere Sie. Aber ich habe noch jede meinen Träumen unterworfen, fast jede ... Ich knete nämlich jedes neue Weib zu einem Traume um und gebrauche dazu meine Muskeln.«

»Die Gräfin Zank«, fragte Claude, »ist auch sie vor Ihren Muskeln in die Knie gebrochen?«

Killich sah weg.

»Nein, die nicht. Bei der ist gar nichts zu machen. Ich hatte meine Theorie. Sie, die deklassierte Aristokratin voll gewiegter Kitzel, sollte auf einer Felseninsel der Südsee verwildern, eine raffinierte Amazone, die unter guten Naturmenschen perverse Verheerungen anrichtet.«

»Fein gedacht«, sagte Claude.

»Welch seltsamer Fürst hätt ich selbst dabei werden müssen.«

»Das will ich meinen.«

»Ich kann nicht einmal sagen, sie habe mich enttäuscht. Das Schlimme ist, bei ihr gibt's weder Enttäuschungen noch Genugtuungen. Sie geisterte als ein schmaler Schatten auf dem tobenden Blau jenes Himmels – nicht zu fassen, nichts daraus zu formen.«

Killichs Hand schnappte mit hungriger Kraft durch die Luft.

»Man wird bei ihr selbst zum Schatten.«

»Ist sie noch in Paris mit dem Insulaner, den sie lieber mochte?«

»Lieber mochte. Sie mag nichts lieber. Lassen wir das«, verlangte Killich unbehaglich. Aber Claude war neugierig.

»Ist sie noch in Paris?«

»Wollen Sie's lassen oder nicht?« fragte Killich ... »Um auf das andere zurückzukommen: ich weiß einen, der Sie einmal viehisch ausrauben wird, und das ist Ihr Freund Eisenmann.«

»Aber, wer alle Welt für Gauner hält –«

»Grade der. Er wird es endlich nicht mehr aushalten, der einzige zu sein, der sich enthält. Aus Entrüstung, mein Lieber, aus Entrüstung wird er stehlen!«

»Na, mit Gott«, meinte Claude. »Ich habe ja auch das Gefühl, es muß noch irgendwie schiefgehn mit von Eisenmann.«

Von Eisenmann machte ihn neugierig, Killich fand er wohl geraten, und die Zank, irgendwo in einer Landschaft, die es gar nicht gab, zog ihn an wie ein Märchen.

Mit den Weibern sei es nicht getan, erklärte von Eisenmann zwei Tage darauf. Er habe schon ein paar Gäule in Sicht, Claude müsse rennen lassen. Zunächst würden sie nach Ostende fahren.

Dies geschah. Sie fuhren auch nach Trouville und überallhin, wo Pferde liefen. Von Eisenmann mischte seinen Zögling unter die Leute in Londoner Anzügen, Leute, die näselten und, die schlenkernden Hände nach außen, gebeugt einhertrollten; und unter Leute mit klebrigen Schnurrbärten und mit O-Beinen, mit starken Gerüchen, dicken Brillantnadeln und einem Jargon, den Claude in Todesverachtung nachsprach.

Ihre Frauen, Blonde, die wild rochen, oder Schwarze von erschreckender Grazie, kamen ihm alle vor wie Verbrecherinnen. Ihre gefärbten Haare schienen bestimmt, Hälse zuzuschnüren, ihre gemalten Lippen waren ein wahrer Lustmord. Claude lernte den Todesschwindel kennen, mit dem man sein Gesicht diesen weißen, bösen Gesichtern näherte. Er fühlte sich feucht werden, wenn diese Hände, die weder Knochen noch Bedenken hatten, am Rande eines Spieltisches gegen seine streiften. Sie waren schneidig, diese Frauen, und vergingen doch in Schwüle. Mehrere begehrte er heftig; nur war ihm seine Gesundheit zu lieb.

Eines Abends in Spa setzten sich zwei an den Tisch, wo er Gefrorenes aß. Die eine hatte Utes Haar, wenn es auch gefälscht war. Sie versicherte ihrer Freundin, Claude sei ein Eisberg. Die andere erklärte ihn für einen guten Jungen. Claude hörte erst zu Ende, was sie von ihm hielten, dann schloß er sich der Roten an. Sie hatte eine Brust aus zwei metallenen Kuppeln. Er machte sich auf eine unerhörte Nacht gefaßt. Als sie auf dem Bidet saß, behauptete sie, ihn einen Augenblick verlassen zu müssen. Sie ging, Claude wartete erregt, sie kam nicht wieder. Er stand auf, wanderte im Nebenzimmer umher, wo seine Kleider ordentlich über einem Stuhl lagen. Schließlich zog er sie an und begab sich in sein Hotel; es wurde ja schon Tag. Erst gegen Abend bemerkte er, daß sein Portefeuille leer war. Die Tasche war peinlich zugeknöpft. Überhaupt, wer hätte das vermutet. Er hatte sich darauf vorbereitet, zwischen den Gliedern dieser Frau zum Krüppel zu werden. Statt dessen büßte er ein paar Tausend Francs ein. Dennoch fand er nicht, daß die Frau an Wert verloren habe. Nur er selbst war befremdlich; er schien sich ja wieder benommen zu haben wie ein dummer Junge.

Er nahm sich andere, aber ohne jemals den grausigen Taumel zu erleben, den sie versprochen hatten. Dafür fühlte er sich täglich müder und hatte fast immer einen Magenkatarrh. ›Die häufigen Anzahlungen auf eine Leidenschaft, die niemals kommt‹, dachte er, ›erschöpfen mein Kapital.‹ Er sprach seinem Mentor die Vermutung aus, dies sei nicht die ihm angemessene Art von Badereisen.

»Sie müssen bedenken, erzeugt bin ich von einem angehenden Fünfziger, der zuckerkrank war.«

»Was geht das mich an«, sagte von Eisenmann abweisend.

»Allerdings, allerdings.«

»Wenn die Nerven nicht mehr wollen, läßt man sich 'n paar Pillen geben, bis et wieder jeht. Gelebt muß doch werden. Schreiben Sie an Matthacker.«

»Matthacker«, sagte Claude, »der hat mir ja gerade prophezeit, ich würde unfehlbar in jugendlichem Marasmus enden ... Allerdings war er damals nach der ersten Konsultation sehr ärgerlich auf mich, weil ich das Bild eines Neurasthenikers bot, der syphilitisch sein mußte. Und dabei war ich es nicht, das störte ihn natürlich.«

»Also Schluß. Wenn Sie die Weiber nicht vertragen, dann lassen Sie sie in Ruh.«

»Das geht nämlich auch nicht. Dann kriege ich einen gewissen nervösen Kopfschmerz, den möcht ich Ihnen nicht wünschen. Für mich sind die Weiber das einzige Heilmittel, sagt Matthacker.«

»Unglücksmensch, was wollen Sie denn?« so schnaubte von Eisenmann und rannte davon.

Claude glaubte zu wissen, wessen er bedurfte: Utes. Nur einen Tag in ihrer Luft, das hätte ihn unsäglich auffrischen müssen, meinte er. ›Wenn ich jetzt plötzlich sie lachen hörte, ihre Hand drücken könnte‹, dachte er lechzend, ›ich würde aufspringen und wirklich zwanzig Jahr alt sein; das weiß ich gewiß.‹

Er dachte an sie jeden Morgen beim Aufwachen. Vor den geöffneten Fenstern neigten sich leise Wipfel, durch den Korridor hastete noch kein Kellner. Der Tag war noch neu, noch nicht überladen mit gemeinen Vorgängen. Ute hatte noch Raum darin, sie kam ganz allein diese Morgenstunde entlang. Claude erkannte alle ihre oft erlebten Bewegungen, alle ihre täglich gefühlten Schönheiten. Seine geschlossenen Augen waren ganz voll von ihr.

Des Abends in Gesellschaft ward es ihm manchmal wie ein Mysterium süß und fast schaurig bewußt, daß sie jetzt, hundert Meilen entfernt, in einem Walde auf einer Bühne stehe, daß sie in diesem selben Augenblick, wo um Claude Geschwätz war, kunstreiche Worte spreche, vielleicht schluchze, wie sie es eines Tages gelernt hatte, vielleicht in Leidenschaft schreie, zu Boden falle ... Er war sich auf einmal ganz fremd an diesem Tisch mit den Sektgläsern, unter diesem Volk; fragte sich, durch welche unglaublich verzwickten Sinnlosigkeiten das Leben es dahin gebracht habe, daß er, Claude, hier war – und dort hinten spielte Ute! Er gab einmal Unwohlsein vor und saß lange im dunklen Zimmer. Er hoffte, sie darin spielen zu sehen. Aber sie zeigte sich nicht. Als es zwölf war, fiel ihm ein, daß in jener deutschen Sommerfrische das Theater wahrscheinlich um zehn aus war. Jetzt erst hatte er richtig allein gesessen, im verlassenen Saal, vor der leeren Bühne. Und er ging betrübt zu Bett.

Alle paar Tage mußte er auf der Eisenbahn fahren. Von Eisenmann litt an einem unzähmbaren Bewegungstrieb. Übrigens sah er schlecht aus, mit dünnen Haaren wirr über der kahlen Stirn. Seine Gefräßigkeit beunruhigte den ganzen Speisesaal. Sein Magen war ein Herd immer neuer Schrecken, die seine Gereiztheit beförderten. Als Claude einmal sein Schlafzimmer betrat, sah er alles Geschirr zerschlagen.

»Das macht nichts«, sagte von Eisenmann. »Es kommt nicht wieder vor.«

Im August waren sie in Baden-Baden zum Rennen. Es ward ihnen ein Pferd angeboten, das niemand gekriegt hätte, wenn nicht der Besitzer durch Spielverluste gezwungen worden wäre, plötzlich seinen Rennstall aufzulösen. Es hieß Witzbold. Es war vorgeblich nur für Nahrennen trainiert, und auch dabei hatte es sich nicht ausdauernd gezeigt. Bei mittleren Rennen hatte man es gar nicht laufen lassen. Wenn es nun beim großen Rennen erschiene, würde niemand darauf setzen, und sein Herr würde außer dem ersten Preis noch alle Wetten kriegen. Denn – was niemand ahnen konnte – es war trainiert, um auf 8000 Meter den ersten Preis zu gewinnen. Das mußte man allerdings dem Trainer aufs Wort glauben. Von Eisenmann rief Killich aus München herbei, die Herren berieten sich, und Claude kaufte Witzbold. In Freudenau bei Wien sollte er laufen.

Als sie eines Nachmittags im Kurgarten um den Rasen herumgingen, bog aus einem Gebüsch heraus, nachlässigen Ganges, in ausgetretenen Schuhen, eine weiße, schmale Frau, lange weiße Schleier am Hut, über dem blonden Haarwulst, der dick und weich war, und schlenkernd mit leeren Händen. Killich machte plötzlich einen Schritt zurück.

»Was haben Sie?« fragte Claude. Da kam ihm eine innere Gewißheit:

»Das ist die Zank!«

Da Killich nicht antwortete, setzte er hinzu:

»Wie die ausschaut. Ruiniert haben Sie sich nicht für sie.«

»Ich habe ihr ein sehr schönes Geschenk gemacht«, behauptete Killich. »Aber bei der ist's gleich, ob sie eine Million hat oder einen Knopf. Sie lebt nicht auf dieser Welt. Da ist nichts zu machen, man muß davon absehen«, erklärte er und schüttelte seine breiten Schultern. Einen Augenblick später war er verschwunden. Claude ging unbeirrt der Gräfin nach. Von Eisenmann blieb wütend stehen.

»Wenn Sie da was wollen, brauchen Sie mich wohl nicht dazu.«

Claude dankte und setzte den Weg fort, den die Zank vorschrieb. Er fühlte sich im Bauch ein wenig zusammengeschnürt. Aber sie suchte jemand, sie sah den Leuten ins Gesicht. Er erblickte dann jedesmal ihr Profil, das mager und doch weich war. Ein großes blaues Kinderauge traf ihn schließlich aus dem Winkel. Er trat vor, lüftete den Hut, bestellte einen Gruß vom Doktor Killich und erhielt die Erlaubnis, mitzugehen.

Sie durchwanderten die Allee mit den Läden. In den Fenstern unansehnlicher Buden glitzerten die Schätze Ali Babas. Die Allee war leer. Ein Kaufmann, vor dessen Tür sie stehenblieben, sagte ihnen:

»Ja, an früher muß man nicht denken, als noch die Russen herkamen. Sehen Sie, mein Herr, solch einen Gegenstand im Werte von zweitausend Mark, den brachte man damals einer Dame anstatt eines Veilchenbuketts.«

Und er öffnete mit zarter Hand einen Rokokofächer aus bemaltem Porzellan und aus alten Spitzen, irr durchflimmert von kleinen Diamanten. Die Zank lachte; Claude kaufte den Fächer.

Zunächst mietete er ihr bessere Zimmer; sie wohnte schlecht. Sie gefielen einander. Die Zank war kinderhaft lieb und sorglos, schien nichts von der Welt zu wissen als das, was sie mit Claude erlebte. Sie kleidete sich nun in echte Spitzenkleider, behielt aber, weil sie und Claude das originell fanden, ihre ausgetretenen Schuhe an.

Eines Abends traf Claude seinen Mentor bei ihr in intimer Haltung. Claude blieb stumm auf der Schwelle stehen; von Eisenmann schrie ihm zu:

»Wollen Sie sich bitte mäßigen, die Dame kann wohl tun, was sie mag.«

Er schritt aufrecht hinaus, die Zank lachte. Ihre großen Kinderaugen blieben ernsthaft dabei.

»Bist du böse? Nein. Das ist recht.«

»Gehen wir soupieren?« fragte Claude. Sie ließ sich ganz aufs Sofa gleiten.

»Ich werde heute nacht vielleicht weniger soupieren als sterben«, sagte sie.

»Wieso sterben?«

»Ich bin schon unanständig krank.«

Er nahm sie in die Arme, erschüttert von der eigenen Zärtlichkeit. In ihm war ein uneingestandenes Bedürfnis, an einer die Güte zu üben, die Ute ihm versagte; eine Art Aberglaube, es könne ihm einmal zurückkommen, das Gute. Aber seine Geste war steif, keusch. Die Zank ahnte etwas von ihm. Sie fragte:

»Wäre es dir angenehm, von mir geliebt zu werden?«

»Welche Frage. Ich bin nicht unhöflich.«

»Wenn es dir unangenehm ist, geh weg. Du bist sonst auf dem Wege.«

Claude ließ Matthacker kommen. Die Zank mußte wieder einmal operiert werden. Sie war dort herum schon bis zum Überdruß aufgeschnitten und wieder zusammengenäht. Sie behauptete, sie sei von der Richtigkeit mancher ihrer Organe nicht überzeugt; man könne ihr welche vertauscht haben, und vielleicht kämen daher ihre Abenteuer. Claude wohnte, um sich seine Nervenkraft zu beweisen, der Operation bei, wie er früher Utes Stunden bei Archibald beigewohnt hatte. Die Zank erwachte vorzeitig aus der Narkose. Bevor man sie wieder betäuben konnte, lächelte sie Claude zu, lächelte nach einem Stück zerfressenen Fleisches, das der Arzt in eine Schale legte, und fragte:

»Liebst du mich – alles inbegriffen?«

Sobald sie aufstehen konnte, packte er sie in einen Wagen und fuhr mit ihr nach Titisee, an der Höllentalbahn. Von Eisenmann war gerade ausgegangen. Es waren die ersten Tage des September, und sie fuhren Kahn in der leichten Luft, über das plänkelnde Wasser des Gebirgssees. Am Ufer spazierten ehrenwerte Sommergäste zu sieben Mark Pension. Die Zank lag auf dem Boden des Bootes, zusammengefaltet, den Kopf versteckt in das leichte weiße Gefieder, das vom Luftzug bebte. Sie war ein wilder Vogel und konnte jeden Augenblick aufflattern, silbern davonziehen durch blaue Luft. Bei jedem Ruderzug beugte Claude sich über sie und betrachtete sie aufmerksam. Sie fragte plötzlich:

»Wollen Sie sich als Krankenpfleger Ihr Geld verdienen, wenn Sie erst ruiniert sind?«

»Wer weiß«, meinte er. »Arbeiten für eine Frau heißt das, um jeden neuen Hut, den sie braucht, bis zum Umfallen arbeiten – vielleicht wäre das das Wahre.«

»Für eine Frau, ja, aber nicht für mich, mein Lieber. Von mir wollen Sie doch gar nichts?«

»Wer sagt Ihnen das?«

»Wir haben nicht mal das Bedürfnis, uns du zu sagen. Wie kommen wir eigentlich zusammen? Aber es ist hübsch, daß Sie mich rudern ... Sie verlangen übrigens doch keinen Dank?«

»Das wäre wohl geschmacklos.«

»Glauben Sie nicht, den Menschen irgendwie wohltun zu können. Wohltun ist etwas gar nicht zu Verwirklichendes. Es ist ein Begriff wie fliegen oder tausend Jahre leben. Wenn ich zurückdenke, das Gute, das man mir zugefügt hat, hat mich niemals glücklicher gemacht; die Gemeinheiten allerdings auch nicht unglücklicher.«

»Das ist wahr«, sagte Claude. »Wir tragen unser Glück und Unglück von vornherein im Blut. Aufeinander übergreifen – ach, das ist nur Selbstbetrug. Wir glauben einen Menschen entdeckt zu haben, der unser Geschick ändern, uns glücklicher machen könnte. Nein, er kann's eben nicht, er fühlt sich gar nicht dazu berufen. Wir sind schauerlich allein, überwältigend allein.«

Die Zank lachte.

»Wenn Sie mich jetzt hätten sterben lassen, wäre es ein Glück gewesen für Herrn von Eisenmann.«

»Wirklich?«

»Ich glaube, ich bekomme ihm schlecht ... Aber ein Unglück wäre es für meine Verwandtschaft gewesen, sogar für den ganzen Adel meiner Provinz. Die Leute verlieren, wenn ich sterbe, den besten Gesprächsstoff ihrer Familientage. Die Damen können nicht mehr beleidigt aussehen bei Nennung meines Namens. Wenn eine Mutter klagt, wie schwer es heute sei, einen Sohn standesgemäß zu verheiraten, kann der witzige Tischnachbar nicht mehr sagen: Gräfin, wie wäre es mit der reizenden Yvonne Zank?«

Mit dem Abendzug kam von Eisenmann an und machte Claude einen furchtbaren Auftritt im Hotelgarten vor allen Gästen. Die Zank ging ins Haus; sie hatte Claude mit den Augen zur Sanftmut ermahnt. Claude bat:

»Hören Sie doch auf, ich muß Sie ja sonst fordern.«

Er wartete noch ein wenig.

»Von Eisenmann, es geht schief mit Ihnen«, sagte er warnend.

Der andere unterbrach unversehens sein Lärmen, er horchte.

»Sie hat gerufen. Hören Sie, schreien tut sie nach mir.«

Claude hörte nichts.

»Das Weib ist ja toll nach mir. Ich weiß übrigens selber gar nicht, was mit mir los ist ... Da sehen Sie, in solchem Aufzug dürfte sie sich doch nicht am Fenster zeigen.«

Claude sah nichts.

Von Eisenmann stürzte ins Haus. In der Nacht klopfte er heftig an die Tür von Claudes Zimmer. Er wollte sofort zweitausend Mark, er ließ keinen Einwand gelten.

»Sehe ich aus wie jemand, der sich narren läßt?«

»Nein, das nicht.«

Claude sah auch ein, daß er seinem Mentor Honorare schulde; aber warum von Eisenmann die Kassenstunde in die Nacht verlege.

Am Morgen waren sie fort, von Eisenmann und die Zank.

Claude fuhr nach München; sie waren nicht dort. Er suchte Panier auf.

»Hallo«, sagte Panier. »Du kannst von Glück sagen, daß du uns noch hier triffst. Wir müssen nämlich nun nach Düren und 'n bischen was arbeiten. Unsere Söhne wollen auch mal Schicht machen ... Wo deine Leute sind? Das kann ich dir sagen. In Wien sind sie, da läuft doch nächstens dein Witzbold.«

Claude hatte nicht mehr daran gedacht.

»Genieß es man ruhig, Jung«, sagte Panier weiter, »und leg dir man 'n Rennstall zu. Wenn du ihn nachher wieder verkaufen mußt, dann tröstest du dich woll.«

»Steh ich so schlecht?« fragte Claude.

»Je nachdem. Die Leute sagen dies und das. Wir, mein Junge, wir sagen besser gar nichts. Genieß du man die guten Zeiten. Heute geben uns die Banken Hypotheken. Vor fünfzehn Monaten ist deinem Vater, meinem seligen Freund, das Café Luitpold überm Kopf weg verauktioniert worden. Das wird immer so hin und her gehn, mein Jung', deiner Sache recht sicher bist du nie.«

»Nein, das bin ich wohl in keiner Weise«, meinte Claude. Es fiel ihm ein:

»Hat denn wenigstens Mama, was sie braucht?«

Panier zwinkerte.

»Jawoll, dafür sorgen wir

Und er dachte: ›Wir kriegen sie woll, die Frau Mama. Sie hat es zwar mächtig mit den jungen Malern, die sich bei ihr satt essen. Aber Eisenmann war doch auch kein Jüngling. Der hatte bloß seine Zappeligkeit. Wir haben noch ganz andere körperliche Talente, dagegen kommt der Jüngste nicht auf.‹

»Immer 's Panier hoch!« äußerte er laut.

In Wien, im Hotel Bristol, warf die Zank sich Claude an die Brust.

»Du bist also doch gekommen. Oder kommst du etwa wegen Witzbold?«

Nein, das Pferd war ihm gründlich gleichgültig; er war wohl in der undeutlichen Hoffnung auf diese Umarmung gekommen. Und er würde wohl immer drauflosfahren, überallhin, wo sich ein wenig berauschter Sinn und eine leichte Belebung des Gefühls erhoffen ließ. Und was ihm zu empfinden beschieden war, würde er alles an hundert Kreuzwegen und in tausend Armen verzetteln, und nie würde die eine ganze Leidenschaft aus seinem Herzen schlagen dürfen, heiß, hoch aufwogend, rot wie Utes Haar!

Von Eisenmann, der von einem Gang zurückkam, rief wild, er werde auf Witzbold nicht wetten, er habe kein Geld dazu.

»Dann werden Sie nichts gewinnen«, meinte Claude. »Ich leihe Ihnen was.«

»Habe ich Ihnen das Recht gegeben, mir Geld anzubieten?« schrie der Mentor. Überhaupt wolle er den Schwindel nicht mitmachen.

»Also ein Schwindel ist es? Dann gehöre diesmal ich zu den Dieben und nicht zu den Begaunerten? Das ist mein Höhepunkt! Von Eisenmann, ich liebe Sie!«

Aber von Eisenmann ward von einer beängstigenden Wut gepackt. Die Tür war nicht geschlossen, er stürzte sich auf einen Kellner, der draußen vorbeiging.

»Was haben Sie Schuft da zu horchen?«

Man hörte ihn mit dem Unglücklichen verschwinden. Nach einer Weile kehrte er zurück und berichtete, er habe ihn zerschmettert. Claude war in Besorgnis; er schickte das Stubenmädchen nach dem Kellner. Als sie ihn nicht fand, ging er selbst mit. Sie durchsuchten das Haus. Unterm Dach entdeckten sie ihn schließlich, an einen Kamin gefesselt mit einer großen rostigen Kette, die am Boden gelegen hatte. Es war ein eleganter Kellner gewesen; nun war er übel zugerichtet und tief erbittert. Claude mußte viel zahlen, um die Leute zum Schweigen zu bewegen.

Tags darauf war Renntag. Sie dinierten bei Hartmann, dann nahmen sie, wie es Vorschrift war, ihren Kaffee beim Hofzuckerbäcker Demel. Killich zeigte sich plötzlich. Er hatte auffallenderweise Bekannte in der crême de la crême. Er küßte einigen Gräfinnen die Hand; die Zank sah er noch gar nicht. Von Eisenmann mischte sich und Claude unter Freunde vom Turf. Als die ersten aufbrachen, überkam ihn wilde Hast. Aber Claude weigerte sich kräftig, in seinen unnumerierten Fiaker zu steigen. Das Rennen, das Witzbold laufe, sei ja das vorletzte.

Die Zank hielt zu ihm, sie blieben zurück und fuhren viel später zum Praterstern.

In der Freudenau beabsichtigte Claude, sich wie ein Zuschauer zu benehmen, aber man erlaubte es ihm nicht. Er gab den Buchmachern Wettaufträge auf Witzbold, die er sich zu merken vergaß; er meinte, es müßten zweitausend Gulden gewesen sein. Das zog übrigens kaum einen Wettenden auf Witzbolds Seite. Niemand sprach von dem Tier. Claude und die Zank mußten es sich gleichwohl anschauen. Es ward umhergeführt mit einer Haube auf dem Kopf. Der Trainer, der zur Stelle war, bemerkte, daß man den Leuten einbilde, Witzbold sei ein Schrecker. Von Eisenmann, Killich, Claude und der Trainer steckten die Köpfe zusammen wie Verschwörer.

Aber die Zank war entzückt von dem Jockei, der Witzbold reiten sollte. Er ließ sich eben wiegen; er war der leichteste von allen und auch der häßlichste. Sie wollte ihm durchaus die Hand schütteln. Auf einmal faßte sie Teilnahme an allem.

Sie stiegen wieder auf ihre Tribüne und ließen sich die Erzherzöge zeigen. Um sie her saßen jene osteuropäischen Aristokratinnen, in deren willkürlichen oder mürben Zügen feindliche Rassen zusammenstießen. Ihre Begleiter waren Soldaten voll brauner Falten und sprachen Dialekt, oder müde Menschen. Dazwischen gab es höhere Schlächtermeister, die wohl Viere jucken ließen. Der Hemdkragen bedrängte ihren Stiernacken, und aus ihren hellen englischen Anzügen sahen Schweinepfoten heraus oder ein flacher, braunroter Ochsenkopf. Claude fühlte sich in Feindesland. Das einzige Gedruckte, was all die Leute vermutlich je in Händen hielten, war dieser Zettel mit Pferdenamen.

Das seinige erschien am Startplatz als das letzte. Dann lief es los, bevor es sollte, und ward zurückgeholt. Lange mußte es warten, mit den übrigen in einer Reihe. Beim Abgang ließ es sich sofort von vier andern überholen und blieb das vorletzte, was seinen Besitzer nicht aufregte. Die Zank flüsterte inbrünstig:

»Er wird es später herausnehmen.«

Ihre Kinderaugen hängten sich voll verzweifelter Hingabe an den Jockei, an diesen Affen in bunter Jacke, der dort hinten geduckt davonhopste. Claude bemerkte es, ihm ward gedrückt zumute.

Auf halber Bahn hatte sich die Reihenfolge verändert. Ein anderes Pferd hatte die Führung übernommen, eines namens Fortinbras, Witzbold war Dritter. Das Publikum geriet darüber in Aufregung: dieses Pferd, um das niemand sich gekümmert hatte. Das schien aber nur eine Kraftleistung des Jockeis gewesen zu sein. Er hatte mehr aus dem Tier herausgezogen, als es hergeben konnte. Gleich darauf fiel Witzbold ab; er war der Allerletzte am Ziel.

Claude fand das ganz natürlich. Er hatte keinen Augenblick genug Selbstvertrauen gehabt, um anzunehmen, sein Rappe werde siegen – er werde siegen gegen all diese tausend Menschen, die nicht an ihn glaubten. Aber die Zank versetzte der unglückliche Ausgang in ein verderbtes Entzücken.

»Bilden Sie sich etwa ein, nicht betrogen zu sein?« fragte sie Claude. »Ein Pferd, das trainiert ist wie Witzbold, insgeheim und mit der Absicht, alle Welt zum besten zu halten. Und dann wird es Letzter und legt niemand hinein als Sie. Man hat den Jockei bestochen! Seien Sie doch überzeugt. Ich würde mich wundern, wenn nicht auch von Eisenmann auf den Fortinbras gewettet hätte ... Aber dieser kleine Eiff!«

Der Jockei kam eben vom Stall her, müde, eingeschrumpft in einem langen, gelben Mantel. Die Zank nahm einfach seinen Arm; sie winkte Claude zu. Er blieb verblüfft stehen.

Von Eisenmann und Killich waren auch verlorengegangen. Claude rettete sich vor einem Pferdehändler, der ihn ansprach. Er kehrte in die Stadt zurück und erholte sich auf eigene Faust.

Auf dem Gang zu seinem Zimmer, spät in der Nacht, hörte er in dem der Zank großen Lärm. Er öffnete; niemand beachtete ihn. Die Zank saß, in Kissen gewälzt, auf der Ottomane, sie umklammerte den Arm des Jockeis, der gegen von Eisenmann und Killich Gebärden vollführte, und sie beschwor ihn:

»Sag mir doch deinen Trick, Liebling, so sag ihn doch.«

»Wer hat dich bestochen, du Schuft?« schrie von Eisenmann.

»Wenn du es sagst, mein Kind«, erklärte Killich sehr gehoben, »mache ich heute nacht noch kein Ragout aus dir.«

»Was?« fragte der Kleine giftig.

»Den Trick«, jammerte die Zank.

»Ach was«, brüllte Killich. »Wenn er uns verrät, wie er den Witzbold hat verlieren lassen, dann ist er ja fertig. Einen Trick hat jeder Jockei bloß, wenn man den weiß, ist er eben fertig.«

»Wer hat dich bestochen, du Schuft?« schrie von Eisenmann unaufhörlich dazwischen, mit geballten Fäusten, das Gesicht ganz zerrissen von Wut.

»Was geht das dich an, du Schweinekerl?« fragte endlich der Jockei mit einer Stimme wie eine Pickelflöte. Er war runzlig, mit zu großem Kopf und dürren, knotigen Gliedmaßen. Aber sie schnellten pünktlich, als stäken Federn unter dieser faltigen gelben Haut, gegen seinen schäumenden Feind.

»Du hast Mut«, sagte die Zank. Sie riß ihn vollends an sich, sie flüsterte:

»Liebling, deinen Trick.«

Und lechzend, versagend, wieder aufflammend vor Gier, wie Delila, als sie den Witz seiner Stärke aus Simson heraussog:

»Deinen Trick, Liebling.«

Von Eisenmann konnte das nicht ansehn. Er bebte schrecklich, er schien sich selbst Furcht zu erregen, und sagte unterdrückt und wankend:

»Und überhaupt, du, wie kommst du denn zu der Dame?«

»Und du?« erwiderte der Bengel frech. Von Eisenmann flehte beinah.

»Hüte dich, Bursche, hüte dich bloß!«

»Wer hat dich bestochen?« schrie Killich.

»Liebling, deinen Trick.«

»Mein Trick?« verkündete gellend der Jockei, »mein Trick, den kannst du wissen, der ist, daß euer Gaul eine Schindmähre ist! Jawohl, eine Schindmähre, und überhaupt nicht trainiert für großes Rennen. Ihr wißt das selber am besten, ihr Viechkerls, ihr habt doch bloß euren Freund hineinlegen wollen, dem das Biest gehört.«

»Was? Was sagst du?« schrie von Eisenmann und schüttelte sich wie vor Frost.

»Tu doch nicht unschuldig, du hast doch auf Fortinbras gewettet!«

Da stürzte von Eisenmann vor. Gleich darauf hatte er einen Fuß des Jockeis vor dem Magen und lag am Boden über der Tischdecke und einer zerbrochenen Vase. Killich hielt ihn von hinten fest. Er schäumte, hatte nichts Menschliches mehr; er warf mit Stücken Fayence nach dem Jockei. Der rang sich von der Zank los, wollte sich über seinen Feind werfen. Killich ergriff das verwilderte Kind, riß es vom Boden und hielt es mit steifem Arm sich weit vom Leibe.

Die Zank kniete auf der Ottomane, sie erhob, weiß gekleidet, die zarten Hände und die blauen, großen Augen zu dem Wesen, das dort in der Luft zeterte, Fratzen schnitt und strampelte:

»Liebling, deinen Trick.«

Aber von Eisenmann wütete im Zimmer, machte alles zu Scherben und ging, unfähig, ein Wort zu formen, unter ungetümen Lauten um Killich herum. Er streckte die Hände wie Krallen aus. Aber er wagte nicht, heranzukommen. Killich, den Jockei noch immer am Ende seines steifen Armes, blickte von Eisenmann fest in die Augen. Er bändigte zwei Tiere auf einmal, er war glücklich.

Inzwischen griffen Leute ein, die man in all dem Lärmen nicht hatte kommen hören. Sie bemächtigten sich von Eisenmanns und führten ihn hinaus.

Killich setzte endlich den Jockei nieder. Die beiden waren auf einmal ganz erschöpft, sie sahen mit stumpfen Augen wortlos einander an.

Die Zank winkte Claude zu sich.

»Du nimmst es doch nicht übel?« fragte sie mit einer Stimme voll verhaltenen Jubels. Da lag sie, zerbrechlich, sterbensblaß, schon oft dem Tode versprochen, zwanzigmal auseinandergeschnitten, zugenäht, immer wieder aufgetrennt – und noch imstande, soviel Unheil anzurichten.

»Siehst du, ich bin ihm schlecht bekommen«, sagte sie. Claude meinte:

»Jaja, nun ist es schiefgegangen mit von Eisenmann.«

Er dachte nach, ob sein Mentor ihn mit Witzbold wohl wirklich betrogen habe. Vielleicht halb. Vielleicht hatte er die Gaunerei des Trainers geahnt, ohne von ihr überzeugt zu sein. Vielleicht war er, wie Killich vorhergesagt hatte, aus Entrüstung über die Gauner schließlich selbst einer geworden. Dieser von Eisenmann, dieser Junker im letzten Stadium, der das Besiegtsein nicht aushielt, der die Sieger nicht verachtete, sondern gegen sie wütete, niemals verzichtete, sondern im Veitstanz vom Leben an sich riß, was er noch kriegen konnte, der war eigentlich Claudes Gegenspieler. »Der ist so ziemlich das gewesen, was ich nicht bin.«

Einen Abgang hatte von Eisenmann sich verschafft, der war der Mühe wert. ›Das heißt‹, so überlegte Claude, ›der Auftritt war möglichenfalls nicht so unbändig grotesk, wie ich ihn gesehen habe. Man kommt nicht umsonst aus Spießls Bude und von einem durch Handlung unbefleckten Nihilismus.‹

Killich war hinausgegangen. Die Zank legte einen Arm um Claude, den andern um den Jockei, zart und innig.

»Liebe Buben seid ihr alle zwei ... Es war hübsch gewesen, wenn du, Schatz, den Trick gehabt hättest, und du, Schatz, wärst hineingelegt.«

›Na ja‹, dachte Claude. ›Irgendwelche Beziehungen mußten zwei Männer, die von derselben Frau geliebt wurden, zueinander haben in der Seele der Frau. Schon Killich hatte das bemerkt.‹

Killich kam eben zurück. Von Eisenmann stak in der Zwangsjacke; er war wohl verloren für die Welt.

»Schade«, sagte Claude. »Oder vielmehr, Gott sei Dank.«

Denn er hatte von Eisenmann satt. Er machte sich aus dem Arm der Zank los. Auch die Zank hatte er satt und auch Witzbold und alles übrige.


 << zurück weiter >>