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Szene

Zuerst erschienen in: »Abrechnungen« Propyläen-Verlag, Berlin 1924

Textquelle: Heinrich Mann, Meistererzählungen, Diogenes Verlag, 1990

 

I.

Sobald Lea von der Verlobung ihres Geliebten erfuhr, eilte sie zu ihm. Viktor war nicht zu Hause, sie ging in seinem Zimmer auf und ab. Es ward Abend. ›Ich habe zu spielen – Premiere, und ich bin nicht entschuldigt‹, dachte sie, und dann gleich wieder an seinen Verrat. ›Ich verliere ihn und ich liebe ihn!‹ Ihr Herz setzte aus, sie sah sich im Spiegel todbleich. Dann maß sie, durchdringend und trostlos, die ganze Gestalt. ›Elegant und schön, eine Schauspielerin, die in Mode ist, so würden die Leute sagen, wenn ich jetzt stürbe. Hat einem Mann alles zu bieten, Liebe, Glanz, befriedigte Eitelkeit, und wird verlassen und nimmt sich das Leben.‹

Sie suchte hastig in der Handtasche, ließ es, irrte weiter durch das Zimmer. Plötzlich fühlte sie ihn hinter sich. »Ich habe dich erschreckt«, sagte Viktor. Sie fühlte Angst vor dem Kommenden, sagte aber zornig: »Ich nehme an, daß alles Geschwätz ist.«

Er zuckte die Achseln. »Das nimmst du nicht an. Du wußtest von der Sache. Ich hatte sie dir angedeutet.«

»Ich glaubte dir nicht!«

»Schließlich konnte ich nicht bei dir um meine Braut anhalten.«

In ganz verändertem Ton: »Was habe ich dir getan?« Und sie sank hin. Er trat an ihren Sessel, streichelte ihr das helle Haar, seine Hand war verführerisch wie je. »Ich liebe nur dich, Lea. Darum fehlte mir der Mut, offen mit dir zu sprechen. Ich habe den peinlichen Schritt tun müssen, weil ich abhängig und ehrgeizig bin. Nur darum. Ich wollte, ich könnte noch zurück.«

Sie sahen einander im Spiegel. Er sah ihr Gesicht aufleuchten. »Komm zurück!« sagte sie mit ihrer schönsten Stimme, hingelehnt, damit er sie küsse. Er küßte sie und sagte: »Wir haben uns schon mehrmals getrennt und wiedergenommen. Jetzt ist eine Heirat notwendig. Sie bedeutet nichts, wir bleiben die Alten.« Da riß sie sich los und sprang auf.

Sie starrte ihm wie blind ins Gesicht. »Was wolltest du? Heiraten und mich behalten?« Er sah Unheil kommen, er streckte die Hand aus, aber sie floh bis in den Winkel; schon hatte sie aus ihrer Handtasche einen Gegenstand gezogen und ihn an die Lippen gesetzt. Gerade fing Viktor noch ihre Hand auf. »Laß das!« sagte er rauh.

»Es könnte dir schaden!« Sie lachte schrill auf, bevor sie weinte. Sie weinte, am Boden zusammengebrochen. Er war es jetzt, der hin und her ging, die Stirn in Falten, tief aufgewühlt. Unvermutet hörte er sie sprechen, eine Stimme wie ein Kind. »Ich will dein Unglück nicht«, sagte sie, ach, so demütig, vom Boden her. »Wenn denn ich dein Unglück war. Ich willige in alles, du bist frei.« Das verlassene Kind, das dort lag, weinte.

›Aufgepaßt!‹ sagte der Mann sich. ›Die Tränenszene, dritter Akt. Wer sich fangen läßt, verliert.‹ Er verschränkte die Arme.

Als nichts von ihm kam, stand sie geduldig auf. Indes sie sich glatt strich: »Ich sehe ein, es war ein Fehler, daß ich hier bei dir das Gift nehmen wollte. Eine bekannte Schauspielerin, auf deinem Teppich tot; es hätte dir geschadet. Verzeih!« Ironie, trotz leise lockendem Blick. Er ward noch unzufriedener anzusehen.

»Es wäre mir nirgend angenehm, meine Liebe. Weder auf dem Teppich noch sonstwo.«

»Das kann ich verstehen«, sagte sie. Die Ironie erklärte sich, hoch dramatisch. »Aber ich weiß doch nicht, ob du um den Polizeibericht herumkommen wirst.« Sie war zum Gehen fertig.

Er stürzte ihr nach, er hielt sie an beiden Handgelenken fest. »Du spielst heute abend? Versprich mir, daß du spielst!«

»Bist du um die Direktion so sehr besorgt?« fragte sie.

»Es wird dich auf andere Gedanken bringen«, verriet er. »Jedenfalls ist Zeit gewonnen. Versprich es!«

»Ich habe schon versprochen, folgsam zu sein«, sagte sie vollkommen sanft und ergeben. Aber ihr Blick wich ihm aus, verloren und arm. Seine Unruhe wuchs ins Unerträgliche, er brach aus: »Auf dich war niemals Verlaß!«

»Ich dachte, heute könnte ich es von dir sagen«, erwiderte sie sanft und undurchdringlich.

»Liebst du mich nicht mehr?« rief er in seiner Verzweiflung.

»Wenn du mir nur erlaubtest, es dir zu beweisen!« Tragischer Blick.

»Ich begleite dich«, bestimmte Viktor. »Ich gehe bis in die Garderobe mit dir. Ich lasse kein Auge von dir.«

»Dann könnte es nur noch auf der Bühne geschehen«, murmelte Lea.

 

II.

Er gelangte verspätet auf seinen Parkettplatz. Bis zu ihrem Auftreten hatte er sie nicht allein gelassen. Er überlegte unaufhörlich: ›Wird sie heute abend jubeln können?‹ Denn sie hatte zu jubeln in dem Stück, soviel wußte er. »Ihr glaubt doch nicht, es ginge ohne mich?« Den Aufschrei hatte sie ihm letzthin mehrmals vorgemacht. Ein heiteres Stück also wahrscheinlich. Wie würde sie das machen heute abend?

Das Stück erwies sich eher als frivol. Leider schon wieder ein Dirnenstück. Frivol und etwas melancholisch war der Auftakt, und sogleich hatte die Heldin ihren stürmischen Abschied von dem Liebhaber Nummer eins. Er hatte sie geliebt, gequält, betrogen und wieder von vorn. Sie hatte gelitten, sich gerächt, ihn zurückgeholt und mehrmals abgestoßen. Nun war es zu Ende. Sie blieb allein, zerbrochen, verzweifelt, mit Bitternis getränkt bis in den Tod. Schritte. Sie wollte fort; ihr winkte nur der Tod.

Statt seiner erschien der Liebhaber zwei, ein sanfter, junger Kavalier, der sie zu lieben gedachte. Er kam mit Seelentiefen und suchte etwas Besonderes an diesem Treffpunkt der Lebewelt. Nach einigen begreiflichen Nieten fand er es nun. Sie war immerhin bereit, noch ein wenig sich aufhalten zu lassen vor ihrem letzten Gang: bereit aus Müdigkeit und weil es eins war, so sah der ungetreue Geliebte im Parkett.

Wie begegnete sie denn aber der Werbung des zweiten, das abgebrühte, schwerelose Geschöpf? Am Rande des Diwans sagte er ihr, indes hinten die Kameraden soupierten, seine Seelenwünsche, und sie lag. Geschwungene Linie, lang und schmal im buntschillernden Futteral der Robe, leicht erhöht die Knie, den Kopf über das Polster hinweggesenkt, sie war ganz Liegen, das ungenützte Daliegen. Die nackte Schulter glänzte ins Leere, vergebens hing der nackte, starke Arm herab. Warum nicht? Sie konnte durchaus eingehen auf die Marotte des Herrn, der Treue suchte und Sanftmut versprach.

Entschluß, sie küßte. Das allzu goldene Lockengebäude an ihrem rückwärts gesenkten Kopf ward erschüttert, die Reiherfedern wippten, zu seinen Lippen hob sie das Gesicht. Allzu weiß, mit groben Bühnenzügen und dem schwarzen Strich der geschlossenen Wimpern malte es den Kuß. Diese Lippen wollten Verlobung vortäuschen? Versprechungen des Lebens küssen? Eine Totenmaske sog sich wild an, knapp vor dem Sterben.

Feiern den Eintritt in die neue Liebe! Dahinten brachen sie auf. Vom Diwan geschnellt – und der große, bewegte Körper wollte mit vorangestreckten Armen über alles fortfliegen, die Zuversicht selbst. »Ihr glaubt doch nicht, es ginge ohne mich?« Es gellte, und der Vorhang fiel.

Dies, das Jauchzen? Es hatte gegellt; lag die große Frau jetzt nicht, zusammengebrochen und alleingelassen, über dem verwüsteten Tisch, dort hinter dem Vorhang? Er ging wieder hinauf, sie und ihr Mitspieler verneigten sich.

Der ungetreue Liebhaber auf seinem Parkettplatz sprach zu ihr durch den Vorhang: ›Nun, nun, mein Kind, wir sind älter geworden, das ist das Ganze. Als ich dich kennenlernte, hattest du den naiven Reiz der Anfängerschaft. Ach, unsere Jugend! Jetzt bist du reif, auch ich bin es, und man geht auseinander. Obwohl man sich erst jetzt recht verstünde und das Leben einander erleichtern könnte. In der Jugend erschwert man es sich. Es ist uns ergangen wie dir in dem Stück mit dem Herrn Nummer eins: geliebt, gequält, betrogen und von vorn. Jetzt aber uns verlassen? Nun, deine Schönheit, dein Talent die Höhe erreichen?‹

Er seufzte, und in seine Gefühle vertieft, hatte er vergessen, daß er seine Geliebte beaufsichtigen mußte, damit sie nicht Selbstmord beging. Das Haus ward dunkel, da fiel ihm alles wieder ein. Furchtbare Panik durchjagte ihn. Kam sie lebend auf die Bühne? Oder lag sie schon da, wenn der Vorhang aufging? Fiel er gleich wieder, und jemand trat heraus, um dem Publikum von einer vorübergehenden Schwäche zu erzählen?

Vorhang. Gottlob, sie lebte! Er zitterte noch immer.

Sie spielte Glück. Selbst Viktor hatte sie nie so glücklich gesehen wie heute abend mit dem Liebhaber zwei. Er hatte das beste Leben, nur sie selbst war ihrer Sache nicht sicher. Auch dies konnte enden, so aufreibend schrecklich wie das vorige – wenn sie auch hier wieder liebte. Sie fürchtete zu lieben und dann verlassen zu werden. Sie eilte, daß sie ihm zuvorkomme; nur darum betrog sie ihn mit dem Liebhaber eins – und ließ sich erwischen. Die Szene. Zwei merkt erst jetzt, er liebe sie, und hat seinen Ausbruch. Eins hat ihm Genugtuung angeboten und ist gegangen. Sie selbst besteht darauf, sie liebe noch immer jenen, nie habe sie diesen geliebt; wird kalt und stumm. Dieser glaubt ihr nicht, zu gut weiß er das Gegenteil, weiß es durch sich selbst. Für ihn ward es ernst, auch sie soll endlich gestehen.

So gesteht sie denn: nein, sie liebt keinen; auch den nicht, mit dem sie ihn zielbewußt betrogen hat. Auch der hat nur wissen sollen, daß sie nun kalt sei – nun kalt sei und bleibe! »Der eine kann mich zu haben glauben, der zweite, sogar ein dritter: Wer aber hat mich noch? Das war einmal!« Schaudert es ihn? Es ergreift ihn, er möchte verzeihen. »Damit du mich später um so sicherer davonjagst? Später, wenn ich wehrlos bin.« Da er leugnet: »Doch. Der, den ich liebe, jagt mich davon!«

Frech und schrankenlos agiert sie vor dem Menschen, hat die Selbstachtung abgetan, möchte nacktes Grauen sein, alles, damit es ihr erspart bleibe, noch einmal leiden zu müssen. Er will ihr nichts ersparen, sie entreißt sich ihm, flieht nach hinten und steht, wie gefangen, in einem Vorhang.

Dort nun zeigt sie, wie man leidet, was sie schon erlitten hat, was sie noch erleiden würde – zeigt, was je Leiden war. Ihre schlaffen Arme tasten aufwärts, um zu flehen, aber was hilft Flehen, sie sinken wieder. Das Gesicht sieht niemanden, einsam plant es, verzückt. Die ganze Frau aber, dieser kostbare Körper im reichen Kleid wird arm, wird offen jedem Blick, ja durchscheinend, ihr seht die Flamme. Ihr hört nicht, welche Sätze sie klagt, seht nur in ihr die Flamme zehren: zehren und sie durchleuchten. »Alle Wetter!« sagte der Ungetreue. »Mit ihr geht es vorwärts – und mit mir? Ich werde herunterkommen durch meine bürgerliche Heirat. Keine andere Frau als diese kann mir Glück bringen. Die Laufbahn! Um als Mensch zu versinken? Indes sie dort oben leuchtet. Indes sie mit anderen Männern ihre Seelenkräfte übt und davon leuchtet! Das darf nicht sein.«

Die Schauspielerin inzwischen bereitete ihren Abgang vor. Der Mann war fertig, sie hatte ihn endlich niedergerungen. Er saß, war ganz krank vom ungewohnten Erleben und wünschte sie innerlich zu allen Teufeln. Sie aber hatte Hoheit bekommen; Abschied in Hoheit und müden Nachwehen ihrer großen Szene. Ein letzter Händedruck? Er schlug ihn aus, rückte verwundet die Schultern. Da hatte sie, über ihn fort, ein Nicken, eine Wendung: ›Dann nicht.‹ All ihr Wissen in dem Nicken, das ganze Ende in der Wendung. Sie hatte nicht glaubwürdig gejauchzt heute, aber ihr stummes »Dann nicht« war restlos gekommen.

Geklatscht wurde mit vereinzelter Heftigkeit, im ganzen aber mäßig. Diesen letzten Enthüllungen widerstrebte der gesunde Sinn. Was für das Herz war, schien vorüber; der erste Akt hatte beinahe im Freudenhaus gespielt. Die Damen fühlten sich tief getroffen von den Toiletten der Heldin.

 

III.

Der Liebende war vor allen anderen draußen. Schon vor der Schauspielerin, die sich noch verneigte, war er in ihrer Garderobe. Sie fiel erschöpft auf den Stuhl und sagte: »Du hattest recht, es tut gut.«

Er schluckte hinunter. »Lea«, sagte er, »ich heirate nicht mehr.«

»Das ist mein größter Erfolg«, rief sie. »Aber du mußt heiraten, Lieber. Denn jetzt bin ich mit dir fertig. Wie froh bin ich!« sagte sie traurig, aber nur wie Erinnerung der Schmerzen. Ihm ward es kalt.

»Was ist das? Ich sagte doch, daß ich dir alles opfere!«

»Genug!« sagte sie stark. »Und das nächste Mal? Soll ich, wenn du mich das nächste Mal verrätst, wieder spielen müssen wie heute – und dich vielleicht auch damit nicht mehr halten können? Und mich nicht mehr von dir befreien können? Heute habe ich mich befreit. Bin fein heraus. Ah! Lieber! Jetzt leide du!«

Während er wankte und mit mutlosen Händen noch flehen wollte, rief sie: »Umzug, dritter Akt! Sie müssen hinausgehen.«

*


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