Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Jüngling

Zuerst erschienen in »Der Jüngling«, Paul Zolsnay Verlag, München, 1924

Textquelle: Aufbau-Verlag, Berlin, 1953. Heinrich Mann, Novellen, II. Band

 

I

Der junge Österreicher erwachte in dem bescheidensten Gasthofe Zürichs, die Sonne schien herein, und sein Herz schlug hoch auf. Reisen! Wieder weiter heute! Er riß das Fenster fort von der großen Bläue, in die sein Atem, aus emporgewendetem Mund, sich blühend mischte. Reisen, und wie! Mit der Erträumtesten, und die war sein, sein, wiewohl niemand es wußte, auch sie selbst nicht. Er staunte doch, die Welt überbot sich an Überraschungen. Vom Hause fort engagiert nach Deutschland, an ein richtiges Stadttheater – aber er ist durch die Schweiz gereist, ist gewandert im Sommerregen, der schönen Glut, unter den blitzenden Nachthimmeln. Hat in Zürich ein Mädchen erblickt! War ihr nur begegnet, ihr nur gefolgt, hatte, anstatt sie selbst, die Spiegel angesehen, in denen sie vorbeiging, hatte stumm und geheim an ihrer Tür geharrt. Aber sie würde, träte er vor sie hin und sagte die ganze Gewalt seines Herzens in ihre Augen hinein, mit ihm fliehen von Vater und Mutter, aus dem großen Hotel fort in seine Dürftigkeit, sein Geschick. Flüchtig besann er sich, daß er kein Geld mehr habe. Dann würde einfach auch sie Komödie spielen, die Liebe ihr Spiel und ihr Leben. Aber nicht einmal mehr so viel, um pünktlich anzukommen bei seinem Direktor! Wie denn, heute der erste September? Und im Warten auf sie schon alles versäumt? Da lief er aus dem Haus, zum See nieder, atmete Bläue und hatte vergessen, was nicht fließend und endlos.

Vor dem großen Hotel stand schon das Auto, die Eltern stiegen ein. Nun erschien auch sie, da weitete sich der Raum. Portiers und Hausdiener schienen entrückt, der Bürgersteig ausgestorben, und einsam trat sie auf, inmitten der feierlichen Strenge eines großen Vorgangs. Sie milderte ihn, da sie ihr blondes Haupt rührend zur Seite neigte. Aber ihr Gang war so stolz wie leicht, und ihr Gesicht spiegelte hell den jungen Tag. Der schillernde Schleier ihr im Nacken wiederholte die zärtlichen Farben der Blumen, die sie im Arm trug. Hatte ihr Blick nicht jählings schräg hergestrahlt über den gewohnten Huldigenden? Schon rollte der Wagen, er aber stürzte zur Straßenbahn und dann am Bahnhof den Zug entlang. Sie war nicht zu sehen, von Zweifeln beklommen drang er in seine dritte Klasse. Kaum aber fuhr man, weiteten sich ihm, unter Schwatz und Geruch der Nachbarn, schon wieder das Herz und die Welt. Wohin sie reichten, nur Ruhm, nur Liebe! – und hier, der Hafen am Bodensee, im Flug erreicht, war der erste der Schritte, die alles wahr machten. Dort trat sie hervor, grüßte ihn, diesmal deutlich und als verstehe es sich, mit einem langsamen Blick: er mußte nur stillhalten und dann sich nachziehen lassen. Auf das Schiff – da entschwand sie ihm; und als das Getriebe der Reisenden sich lichtete, saß sie eingeengt zwischen den Leuten, nur ihren Kopf umrahmte der blaue See, nur ihr Schleier flog gegen den Himmel auf. Ihr Vater, der die Handtaschen übereinander ordnete, ließ eine hinunterrollen. Drauflos, sie aufheben! Gleich auch den Namen gemurmelt: Franz Velten – aber der sah ihn kaum an mit seinem fremden Gesicht und packte schon wieder. ›Hat sie es bemerkt? Sie blickt fort, was kümmert es sie. Auch ihre Mutter sieht fremd aus, nicht wie die Leute bei uns. Fremd, vornehm, kalt, und der Vater hat einen Bart wie ein hoher Beamter. Sie sprechen preußisch, die andern hier alle auch.‹ Entmutigt ging Franz beiseite, da fiel es ihm mit der ganzen Schwere der Wirklichkeit in den Sinn, daß er, am andern Ufer angelangt, keinen Heller mehr besitzen werde, laufen müsse und sich um Tage verspäte. Was tun, um Gottes willen! Sollten Liebe und Ruhm zugleich dahin sein?

Wie zur Antwort geschah es, daß der Vater von seiner Tochter den Platz neben der Mutter verlangte, und daß sie aufstand, sich an das Ende der Bank zu setzen, gerade dort, wo am Geländer er selbst lehnte und in das Wasser sah. Sie gab nicht auf ihn acht, er wandte sich nicht nach ihr hin. Nur daß sein Herz in Stößen ging. Nur daß sie reglos saß und auf das dunstige Ufer starrte, wie er in den Dunst der Ferne. Er fühlte, ohne zu sehen, alles: ihr Brauenfalten, und daß es nicht Unzufriedenheit sagte, sondern scheue Erwartung. Auch ihm ward es ernst zumut wie noch nie. Der Wind, der alle Stimmen verwehte, warf ihm ihren Schleier an die Brust und trug nur ihr seine Stimme zu. Bevor er wußte, was geschah, hörte er seine Stimme.

»Oh, sie nur lehrt den Kerzen, hell zu glühn!
Wie in dem Ohr des Mohren ein Rubin,
So hängt der Holden Schönheit an den Wangen
Der Nacht –«

Im Sprechen war es ihm nicht mehr sicher, ob er das nicht selbst erfand. Sie gab es ihm ein, da sie aufstand, sich an seine Wange neigte und in seine Verse hineinsprach: »Lieber!« Er roch Veilchen, sie beide hob es vom Boden, von allen Paradiesen wich der Morgendunst, und man war stark! – Da wußte er auch schon wieder, daß sie stillsitze wie zuvor, und daß er eine Rolle spreche – freilich spreche wie noch nie. Beim letzten Klang dachte er: ›Sie ist wunderbar‹, und tiefer Schmerz befiel ihn. Ihr Name wehte her: Herta! Sie aber sah nicht um; zu ihm, als habe er gerufen, erhob sie das Gesicht, in dem Tränen standen, und inständig durchdrangen sich ihre Blicke.

Die Mutter rief nochmals »Herta!«. Da riß er sich heftig los und schritt davon, mitten durch die Reihen. Mochten sie ahnen, daß hier Großes erlebt ward! Sein Gang, seine Miene beschrieben ihnen, wie sehr er die Einsamkeit suche. Er schritt nach vorn. Eine Haltestelle war erreicht, wo viele ausstiegen, vorn ward es leer. Er legte seinen Mantel um, verschränkte die Arme und senkte darüber die Stirn. Gesammelt besann er das schwere Geschick des Verstoßenen, Fahrenden, den die Schönheit im Bann hält und die Gesellschaft der Tüchtigen meidet. So jung, so arm, so grad erst fort vom Vaterhaus, und für das ganze Leben Kampf, und bis zum Tode Sehnsucht. Statt der Geliebtesten nur in Versen ihr Bild, und dann weiter! Verbannt von allen und von ihr!

»Hier ist der Himmel,
Wo Julia lebt, und jeder Hund und Katze
Und kleine Maus, das schlechteste Geschöpf
Lebt hier im Himmel, darf ihr Antlitz sehen:
Doch Romeo darf nicht. Mehr Würdigkeit,
Mehr Ansehn, mehr gefällige Sitte lebt
In Fliegen als in Romeo.«

Er weinte das Gedicht, schrie es auf und stampfte es; er drückte die Faust in den Mund, er wollte sich hinwerfen. Da erstarrte er: unermeßliche Süßigkeit des Gefühls kündigte ihm an, sie sei da. Stehe hinter ihm, habe gehört, mit ihm geweint, und lächele jetzt: oh, so lächelt der offene Himmel, und nichts bleibt mehr zu wünschen. Er sah es, zitternd, brennend, erstickend. Seine Arme breiteten sich langsam aus, indes er die Wendung machte, dorthin, wo sie und der Himmel waren. O Grauen! Nichts? Leere Sonne auf Brettern? Er brauchte eine furchtbare Anstrengung, den Anlauf zu zügeln, der ihn schon gegen das Ersehnte warf. Dann brach er in Tränen aus, nicht mehr die des Zornes und Begehrens, nur der kindlichen Ohnmacht.

Als er den durchschüttelten Nacken müde vom Geländer aufhob, lag das Schiff am Endpunkt. Er näherte sich und sah, wie ein Unbeteiligter, den Aussteigenden zu. Dabei gewahrte er, ohne daß diesmal sein Herz sich bäumte, das Mädchen und wie es zwischen ihren Eltern das Schiff verließ. Elender Zustand der erlahmten Wünsche, gekrampfte leere Brust! Ihr Vater machte sich erstaunlich viel zu schaffen, hielt offene Papiere in der Hand und suchte umher. Da trafen sich ihre Blicke; der Vater sah ihn sich an, und dann kehrte er um. Er kehrte auf das Verdeck zurück, Franz Velten ging ihm unwillkürlich entgegen. »Junger Mann, Sie versäumen wohl nichts«, sagte der Vater und berührte seine Schulter. »Da sind zwei Telegramme, ich muß zum Zug. Geld liegt bei. Ich kann mich doch verlassen? Na schön.« Der Vater dankte nur mit einer jovialen Handbewegung, es war ein des Befehlens gewöhnter Herr. Jetzt hatte auch das Mädchen, von fern, noch einen Blick für den Verlassenen. Er sah, um alles betrogen, hinterdrein. Darum das Engagement versäumt!

Am Land erst bemerkte er zwischen seinen Fingern die Papiere samt dem Geld. ›Ich habe Geld! Die paar Mark werden mich hinbringen, oder doch fast. Alles ist gerettet.‹ Worauf er seinen Reisesack hinsetzte, versucht, einen Freudentanz aufzuführen. Er unterließ es nur, um die Telegramme zu lesen. Gleich danach fiel er auf eine Bank beim Zollhaus. Sie war verlobt! Verwandte in Köln wurden aufgefordert, von dem Empfang dort abzusehen und nach Frankfurt zu kommen, wo auch der Verlobte eintreffe. Das zweite Telegramm war an diesen … Die Unglückliche! Daher ihre Tränen, die gefaltete Braue, die Erwartung. ›Sie hat erwartet, daß ich sie entführe, sie rette. Ach, ich Träumer!‹

Seine bittere Reue fand einen Ausweg. ›Ist dies nicht Fügung? Warum mußte der Vater die Telegramme unter allen gerade mir geben? Mir, der ich der letzte bin, sie zu befördern? Ich soll sie dennoch retten! Sie ist mir unverloren, ich finde sie wieder, meine Brust ist viel zu voll, als daß sie auf immer dahin sein könnte.‹ Er staunte. Welch ein wunderbarer Zufall! In Köln ward nun vergebens gebraten und gebacken, und in Frankfurt stand an der Bahn kein Bräutigam mit Blumenstrauß. Er selbst aber hatte Geld, ins Engagement zu reisen. ›Alles dies wäre Zufall? Es ist Fügung! Ich stehe unter der Hand des Schicksals.‹

 

II

Er mußte seinen Personenzug bis in die Nacht erwarten, und erst am Zweiten des Monats betrat er das Theater. Es stand frei, »zum Drumherumgehen«, und hatte einen Portier, was ihn schon einschüchterte. Das Treiben des Büros, dem er eine Zeitlang zusah, tat das übrige. Dieses geregelte Geschäftsleben unterbrach ein hergelaufener Anfänger durch Zuspätkommen! Der Direktor mit Kommandogesicht und ehernem Organ eilte diktierend, telefonierend, schurigelnd von einer Schranke in die andere, ganz Verwaltungschef. Plötzlich hielt er vor dem Fremden an, als sähe er ihn erst jetzt. »Welches Fach?« fragte er ohne Besinnen, und gleich weiter: »Liebhaber. Also sprechen Sie!« Und zum Klappern einer Schreibmaschine begann Franz:

»Hier ist der Himmel,
Wo Julia lebt –«

Er hatte begonnen, den Tod im Herzen; zum Schluß aber hörte er kein Klappern mehr, er sah das Antlitz der Geliebten über seiner Stirn schweben. Der Direktor sagte sachlich: »Ich kann Sie nehmen, mein engagiertes Mitglied ist ausgeblieben. Ihr Name?« Da ahnte dem Armen sein Verderben. ›Einen falschen Namen nennen!‹ dachte er – und sprach den wahren schon aus. Die Miene des Direktors veranschaulichte kalte Ungläubigkeit. »Das hat sich bei mir noch keiner erlaubt«, äußerte er. »Sie bringen mich um zwei Tage. Bedaure.« Abgetan blieb Franz beim Türpfosten übrig, indes der Direktor schon wieder andere Menschen behandelte. Eine Wendung, und hinter ihm schloß sich eine Welt.

Das war die Fügung? Darum ein Aufgebot von Begebenheiten und Gefühl? Unfaßbar! Mit der Hölle hatte auch sie, die der Himmel war, sich verschworen zu seinem Untergang. Wo war sie hin, jetzt, da es um ihn leer war? Ohne einen Menschen, ohne einen Heller, viele hundert Meilen von jedem hilfreichen Gesicht, ein Ausgestoßener, im Herzen Gram und das Beißen des Hungers im Gedärm. Einem solchen gebührten Nacht und Graus, Regen und Blitze über einer Heide. Die Stadt lag hinter dem Verbannten, vor ihm eine lange Landstraße. Prächtig ergoß sich die Septembersonne; dennoch sprach er:

»Raßle, Donner, nach Herzenslust! Spei Feuer, ströme Regen;
Euch schelt ich grausam nicht, ihr Elemente;
Nicht Regen, Sturm und Blitz sind meine Töchter.
Euch gab ich Kronen nicht, nannt euch nicht Kinder.«

Er zog den Mantel bis über den Nacken.

»Ein alter Mann, arm, elend, siech, verachtet«

– und wankte, tief gebeugt.

»In solcher Nacht
Mich auszusperr'n! – Gieß fort, ich will's erdulden.
In solcher Nacht wie die! – Oh, Regan, Gonril!«

Hier unterbrach von hinten eine Frau: »Nehmen Sie, alter Mann, Sie haben wohl lange nichts gegessen.« Die brüchige Greisenstimme antwortete ihr grollend: »Nun, dir wäre auch besser in deinem Grabe, als so mit unbedecktem Leibe der Wut der Elemente zu begegnen. Ist der Mensch nicht mehr als das?«

Infolge dieser Worte machte die Frau einen Bogen um ihn her und sah ihm von vorn besorgt unter den Hut. Vor dem jungen, aber entstellten Gesicht, in das sie blickte, prallte sie zurück, sie sagte zweifelnd: »Wollen Sie die Leute erschrecken?« Er erklärte: »Ich übe mich. Ich bin Künstler.« – »Ach, so einer!« sagte sie.

Sie war eine Art Dame und noch nicht alt. Er gab sich Haltung. »Nein, nicht so einer. Ich bin Mitglied des hiesigen Stadttheaters.« Da sie sich abwartend verhielt: »Ich habe Schwierigkeiten mit meinem Direktor, weil ich auf der Reise aufgehalten wurde.« Hierzu nickte sie. »Er hat sie hinausgesetzt.« Sie bekam ein Gesicht wie eine Mutter. »Und nun sind Sie ohne Unterkunft.« Da sah sie Tränen in seinen Augen und nahm ihn beim Arm. »Lassen Sie nur, das können Sie mir später erzählen.«

Sie führte ihn vor ein großes Haus: Bierbrauerei und Gasthof von Johann Wimmer. »Da bin ich die Frau. Sie können in der Mansarde wohnen, bis Sie wieder Geld haben. Sind Sie hungrig, dann bleiben Sie gleich herunten.«

So ließ er sich im »Nebenzimmer«, das leer war, von ihr speisen. Er schlang, und sie lächelte. Als sein Tempo sich verlangsamte, fragte sie: »Was wollen Sie nun tun?« Ohne rechte Überzeugung schlug er vor: »Ihm schreiben?« Sie brachte Papier und sah ihm über die Schulter zu, wie er hinmalte: »Hochzuverehrender Herr Direktor!« Hier stockte er schon und sah auf. Da bemerkte er im Spiegel gegenüber, daß dies eine merkwürdige Frau sei. Er hatte es ganz natürlich gefunden, daß sie ihn von der Landstraße auflas, unter Dach brachte und speiste. Durch Gang und Stimme wirkte sie im Anfang mütterlich und als kräftige Geschäftsfrau. Jetzt stellte sich unvermutet heraus, daß in ihrem Gesicht die Flecke und Erschlaffungen der Haut nach Gram aussahen, und daß ihr Blick zu trübe war, um unbefangen zu sein. Auch seufzte sie viel. Achtung, sie begegneten einander im Spiegel; er dachte kühn: Aha! – indes sie auswich. Dann stellte er noch fest, daß er eigentlich ein reizender Junge sei, mit seiner großen hellen Stirnlocke, seinem fleischigen Mund, den dunkeln Wimpern. Warum waren ihm bei der fernen Geliebten die eigenen Vorzüge nie eingefallen?

Plötzlich wendete er sich auf dem Stuhl um, sah ihr voll und weich in die Augen und begann zu klagen. Er klagte alles heraus, was er fühlte; und als nur der erste innere Widerstand besiegt war, ward ihm wohl dabei, und er beherrschte seine Wirkung. Seufzte sie »Armer Junge«, so lächelte er mit berückender Wehmut. Nun aber in ihren Augen ein wirres Funkeln entstand, verhielt er sich ernst und still. Da kam ihre Hand, die schon längst unruhig wurde, schwach zitternd auf seine Stirn zu. »Dummchen.«, sagte die Frau unter Streicheln, »Sie müssen ihm nicht erst schreiben. Wir gehen hin, und ich sage ihm, was er zu tun hat. Das Bier für das Theaterrestaurant ist meins.« Er küßte ihr die Hand, was ihm erlaubte, sie von seinem Kopf fortzunehmen. ›Auweh‹, dachte er, ›das will bezahlt sein.‹

Die Frau setzte hinzu: »Wir gehen, wenn erst mein Mann zu Hause ist«, und schon kam der Mann, ein armer Alter, bis zur Nase im Halstuch, bei der Wärme. Er erklärte versöhnlich, daß er wisse, auch Schauspieler könnten anständige Leute sein – was Franz für heute bezweifeln mußte.

Bei dem Direktor verlief sein zweites Auftreten wesentlich anders. Der Erwähnung des Bieres bedurfte es nicht, und selbst auf eine Entschuldigung wartete der Herr nur flüchtig, und übrigens umsonst. Dann nahm er Franz auf ohne sie. Beiseite gab er der Fürsprecherin zu, es habe ihm schon leid getan um den talentvollen Menschen. Sie entfernte sich, und das neue Mitglied blieb gleich da, um sich einzuführen. Er begleitete sie aber bis auf die Straße, und draußen ergriff er ihre Hand. »Frau Wimmer!« Da sie ihm gütig zunickte, kam es ihm noch wärmer von Herzen: »Mutter Wimmer!« Womit er, ohne sich nach ihrem Gesicht umzusehen, wieder hineinlief. Wie hatte er zweifeln können an der Fügung! Umwege, ja; zuletzt aber war nur sein Bestes gemeint. ›Mir ist geholfen worden, könnte einst auch ich einem helfen!‹

Kaum öffnete er die Bühnentür, da lief ihm, aus der ersten Gasse, heiß und taumelnd vom Spiel, ein Mädel entgegen und packte ihn an, um nicht zu fallen. Er sagte freundlich: »Ich bin Franz Velten.« – »Geck«, erwiderte sie, aber er begriff, es war ihr Name. Sogleich wollte sie weiter, jetzt war es an ihm, sie zu halten. »Liebhaber«, setzte er hinzu, und sie, in der Aussprache seiner Heimat: »Es eilt nicht«, wobei sie schon lief. Am Ausgang nach der Garderobe besann sie sich anders, bog den Kopf zurück und winkte über die Schulter.

Er begrüßte den stark behaarten Komiker, in dem er beim ersten Blick einen Feind erkannte, und den Helden, der ihm ebenso schnell als zuverlässiger Kamerad galt. Dieser Raspe hatte eine sonnig durchdringende Art, zu sagen: »Ein schneidiges Mädel, die Geck!« – als gebe er dem Kollegen das Mädel samt seinem Segen und ermutigte ihn auch sonst zu jedem Wagnis.

Nach der Vorstellung ging Franz mit ihnen und der Geck zum Essen. Nicht lange, und unter dem Tisch begegnete sein Fuß einem kleineren, während oben die Geck den Komiker anlachte; denn er schnitt Gesichter wie ein gefesseltes wildes Tier. »Lina, der Velten wohnt beim Wimmer draußen«, sagte der Held. »Warum so weit fort?« fragte sie, plötzlich ernsthaft. »Was haben Sie dort?« Zu seinem Ärger ward er rot. Da zog sie den Fuß weg.

Bei Wimmers bewohnte er eine große Mansarde, die Spielraum bot, wenn er lernte. Mitten im Satz tat er wohl einmal einen Sprung nach der Tür und riß sie auf. »Mama Wimmer vergeht sich!« rief er ausgelassen und zog die Ertappte ins Zimmer. Sie durfte, nach halber Überwindung ihrer Verlegenheit, ihm die Stichworte geben, durfte das Publikum vorstellen und den Künstler verehren. Nie gab er sich einfacher und herzlicher, als wenn ihre Verehrung nicht ruhig und frei war. Zeigte sie sich seufzerreich, in lässiger Kleidung? Er beschwichtigte sie mit Schmeichelei, mit guter Laune, und sie verließ ihn dennoch beglückt. Ausziehen? ›Sie hat mir Gutes getan, die Arme.‹ Und ihr Mann, der ihn liebte! Denn der alte Wimmer fand sich durch Franz in dem Glauben bestätigt, daß auch Schauspieler anständige Leute sein können. Dieser spielte und sang nur ihm allein aus Operetten vor, und fast immer war er abends zu Hause. Schade eigentlich, wenn man ihn manchmal beim Knopf nahm und gern etwas gehört hätte, was so Künstler erleben, es kam nichts Rechtes heraus. Franz wußte wohl, daß er von Lina, so harmlos er zu ihr stand, hier besser nicht rede. Die Wirtin erkundigte sich freilich, ob er denn unter seinen Kollegen keine Landsleute habe – und sah ihn gerade dabei nicht an. Er verleugnete seine Landsmännin beherzt; da faßte die Frau ihn mit offenem Mißtrauen ins Auge und sagte: »Man hört so manches.« Aber er entwaffnete sie, wie gewöhnlich.

Gleich von seinem ersten Vorschuß konnte er der Kleinen ein Geschenk machen, denn was brauchte er bei Wimmers; sein Unterhalt ward ihm kaum wie einem Verwandten berechnet. ›Man muß die Menschen recht zu nehmen wissen‹, begriff er, ›dann hat jeder seinen Vorteil.‹ So trat er auch gern seinem Freunde, dem Helden, eine Rolle ab. Dafür versprach dieser ihm den Romeo; es zog sich aber hin bis in den November. Die Schwierigkeiten schien nur der Direktor zu machen, obwohl er doch gerade auf diese Rolle hin ihn dabehalten hatte. Mit seinem Freund Raspe sprach Franz sich deutlich aus über den Tyrannen. Eines Tages fand er im Büro kalte Gesichter, und der Direktor ließ sich verleugnen. Eines andern Tages war alles wieder gut und er hatte den Romeo.

Er spielte ihn bei der ersten Aufführung ungleich und fühlte es selbst. In der Szene mit dem Bruder Lorenzo versagte er, natürlich war es die Schuld seines Feindes, des Komikers, der den Mönch spielte. Die Monologe der Anbetung und Sehnsucht, er wußte es, bevor er noch begann, daß er sie unvergleichlich besser auf dem Schiff gebracht hatte, als der Schleier der einzig Ersehnten ihn anwehte, und als noch der Schmerz um die Verlorene –. Ach nein! Gerade durch den Schmerz blieb sie ihm unverloren. Und er bäumte sich, er tobte ihn aus. Dies war vielleicht schon sein Höhepunkt. Im Auftritt der beglückten Liebe, innige Umarmung, »es war die Nachtigall und nicht die Lerche«, entzückte Fräulein Geck, aber Romeo schien nicht bei der Sache. Er sah auf zerwühlten Kissen, in der Beleuchtung des Morgengrauens, am Anfang noch nicht das wahre Gesicht Julias. Nicht dies kindlich-runde, dennoch schon gewitzte und gar nicht edle in krausem schwarzem Haar hätte hier ruhen sollen. Indes er aber die Augen schloß und wieder öffnete, verzauberte er es unter seinen Lippen, und es war Julia. Über seine selbsterschaffene Julia strömten, aus ihm hervor, alle Herzensgluten Romeos. Fast hätte er vergessen, es sei Spiel, denn Julia weinte mit, ihm. Sie weinten geräuschvoll, wie zwei Kinder. Es war ein echter Abschied und hatte großen Erfolg.

Er war überwältigt von sich und ihr. Das muntere Geschöpf, mit dem man sich neckte oder stritt, und diese Süßigkeit und Wildheit! Nach dem Aktschluß erwartete er sie in dem Gang vor ihrer Garderobe. Erhitzt bog sie um die Ecke, öffnete die Arme und lief in die seinen. Später fragte sie: »Weißt du eigentlich noch immer nicht, wer dir den Romeo wegschnappen wollte? Dein Freund Raspe.« Er war sprachlos; aber da ward geklopft, er mußte auf die Bühne.

Noch bei seinem Auftritt bedachte er, wie dies zusammenhänge. Raspe, sein Freund, hatte ihn also bei dem Alten verpetzt. Wer aber hatte den Direktor wieder umgestimmt? Als er im Grabgewölbe der Capulets den Grafen Paris erstochen hatte, bat er die aufgebahrte Julia um eine Erklärung. »Frage nicht«, erwiderte sie, und war sie bei dem schwachen Licht nicht rot geworden? Sie verharrte im Starrkrampf, bis er seinen großen Satz gesprochen hatte, dann fand sie es nötig, einzuschieben: »Gerade der, den du für deinen Feind hältst, hat dir geholfen. Wir beide waren droben.« Nicht, daß er dem Komiker dafür Dank wußte! Der wollte noch mehr, als ihm eine Rolle wegnehmen. Als er Julia küßte und das Gift trank, flüsterte er: »Dann lag dir an mir?« Wie aber sie nachher seinen Leichnam küßte, sagte sie nicht nur: »Deine Lippen sind warm«, sie hauchte auch: »Wie du dumm bist!«

An diesem Abend saßen sie allein, und wenn sie an einem späteren, soviel bei Franz lag, wieder zu den Kollegen hätten stoßen können, Lina wollte nicht. Zu Hause bei ihr stellte er eine Untersuchung an. Ihre Kälte gegen Raspe war zu auffallend, als daß Franz sie nur für eine Wirkung ihrer Liebe zu ihm selbst ansehen konnte. Sie behauptete dies dennoch, worauf Franz es eigentlich wieder ganz natürlich fand. Etwas in ihm aber ärgerte sich; er begehrte auf und erklärte, so blöd lasse er sich nicht anlügen, er wisse schon. Sie zog einen verachtenden Mund, blieb aber ungewöhnlich ruhig. Erst allmählich ließ sie sich hinreißen, und unter Streiten und Sichversöhnen erfolgten die Geständnisse. »Wirst wenigstens du mir keinen Kummer machen?« fragte sie, erschöpft, wie er: »Ach! Ihr seid alle gleich!« Worin er gerade diesem Raspe gleiche, das wollte sie nicht sagen. Viel später, schon gähnend, fragte sie, ob er an seinem Freund Raspe das unverschämte Armband mit den Brillanten bemerkt habe. Frauen, die jungen Leuten Kostbarkeiten verehren, gebe es nun einmal. »Aber ernst nehmen kann ich sie nicht.« Damit schlief sie ein, indes Franz, aufgestützt, noch unruhig dem Nachhall lauschte.

Erst diese Aussprache gab seinen Beziehungen zu der Geck in seinen Augen etwas Endgültiges, er war entschlossen, für sie einzutreten. Vor dem ersten Schaufenster, wo sie stehenblieb, bot er ihr, ohne nur zu berechnen, das Kleid an, das sie sich wünschte. Da sie zögerte, redete er ihr zu: »Mir macht es nichts, ich brauche so wenig.« – »Das ist es gerade«, sagte sie rätselhaft und ging weiter. Er war gekränkt, sie warf ihm vor, was er ihr auf der Probe verdorben habe, und sie wandten einander den Rücken.

Entzweiung war nur eine Gelegenheit, sich schneller zu vereinigen; aber Geschenke nahm sie nicht, »nun gerade nicht« und »darum«. Als sie sogar auf der Bühne und im Beisein Raspes ein Pfund Pralinés ausschlug, ward er bleich und beschloß, ein Ende zu machen. »Achtung!« rief gerade ein Arbeiter. »Da geht sie hin«, sagte Raspe. Zwischen Arbeitern, die Kulissen trugen, stand Raspe allein ihm noch gegenüber und winkte ihr nach, mit dem Gelenk, woran das Armband blitzte. Sein Blick, sonst sonnig eindringend, bohrte, und dem Metall der Stimme war Hohn zugesetzt; Velten indessen sah das Armband und war seiner Sache gewiß. Ein Schimpfwort, das vernichtete – und die Faust hielt er bereit. Da stieß ein Arbeiter den Helden an, oder der Held den Arbeiter? Es ging zu schnell. »Achtung!« rief der Arbeiter, aber Franz Velten hatte die Kulisse schon auf dem Fuß.

Es war eine Quetschung, er mußte verbunden zu Hause sitzen; nun kam viel Besuch, und unter den ersten der Held. Ihm gebühre der Vortritt zu seinem Freund und Kameraden, denn auch ihn selbst hätte die Kulisse treffen können! Er hatte sogar den Direktor bewogen, dem jungen Mitglied eine freundliche Zeile zu schreiben, was gab es da noch, man schüttelte sich die Hände. Die Kollegen klatschten Beifall, auch die Geck. Sie saßen nachmittags auf dem Bett und am Boden, Kaffee und Grog wurden heraufgebracht, und in dem Rauch unzähliger Zigaretten war nur noch Geschrei, kein klares Gesicht mehr, höchstens, daß, vom beleuchteten Klavier her, der Komiker durchdringlich schmerzlich grimassierte. Einmal aber, als alle schon fort waren, ging unversehens ein Spalt auf, und Lina, weiß vom Schneegestöber, sprang dem Liebsten an den Hals. Sie war wieder da, sie hatte sich von den anderen fortgestohlen, draußen im Dunkeln, und war an der Küche vorbei, auf dem Bauch wie ein Indianer, zurückgelangt. »Die Treppe hat geknarrt; aber der muß schneller sein«, rief sie triumphierend, »der mich fängt«, schloß sie gedämpft – sprang in den Kleiderschrank und zog hinter sich zu. Franz begriff nicht, warum. Schon aber klopfte es, und die Wirtin trat ein.

»Mama Wimmer!« Franz wollte aufspringen, er wäre bald mit dem Stuhl umgefallen. Die Frau schwieg und lehnte an der Tür wie ermattet. »Nur nicht so freudig überrascht«, sagte sie langsam und gramvoll. Sie schwieg und schickte trüb gehässige Blicke hin. Ihm blieb zum erstenmal das begütigende Wort aus. Die Frau sprach in das Zimmer hinein, wie in einen Raum ohne Widerhall. »Jetzt ist er krank, wer weiß, woher. Von einem Stoß sieht niemand so bleich und aufgezehrt aus. Man hat ihn gepflegt und ausgefüttert, hat er hier nicht gearbeitet wie im Himmel? Wer für seine Theaterkunst wohl mehr getan hat, wir hier, oder – so eine, die ihn verführt! Ich – ich hab ihn nicht verführt.« Munter griff Franz ein. »Mama Wimmer, soll ich Ihnen denn ausdrücklich eine Liebeserklärung machen? Wenn ich nur in die Knie sinken könnte, aber der Stuhl fällt um.«

Überraschenderweise schwang sie nun die Arme, sie hielt sich die Ohren zu. »Das ertrag ich nicht. Heuchler! Schuft! Hat mich verrückt gemacht, daß ich nicht weiß, was anstellen, und er höhnt!« Franz streckte die Hände vor; sie aber nahm nichts mehr von ihm, weder Trost noch Reue. »Wenn ich ein Tier wäre«, sagte sie dumpf, »hätte ich auch schon genug. Mehr dürfen Sie gegen mich nicht tun.« Ganz tonlos: »Warum sind Sie hiergeblieben? Haben eine Geliebte und bleiben noch? Ich gehöre zu meinem alten Mann, denken Sie, und haben auch recht, ich will nichts anderes mehr.« Auf einmal ausbrechend: »Wohin gehören dann aber Sie? Auf die Straße, wo ich Sie aufgelesen habe! Wie! So ein Bübchen läßt sich von ehrlichen Leuten freihalten und trägt sein Geld zu einem schlechten Mädel, das überall nimmt. Jetzt soll er merken, wie es tut, jetzt wird nicht länger gefackelt.« Ganz Wirtin, stieß sie die Hände in die Hüften und keifte: »Hinaus aus dem Haus, aber vorher zahlen! Hat sich was mit Punsch und Kaffee«, wobei sie hinstapfte und alles vom Tisch räumte. Zuletzt ergriff sie sogar die Lampe. Franz wickelte in wilder Eile den Verband vom Fuß, er wollte der Megäre entgegentreten. Dabei murmelte er: »Ich habe doch Geld.« Laut wagte er es nicht zu sagen, denn das Geld lag im Schrank. Inzwischen stieß die Frau die Tür auf, klirrend und polternd war sie draußen samt Geschirr und Lampe, wandte sich noch um: »Kein Abendessen gibt es!« und schlug zu. Verblüfft hörte er sie den Schlüssel umdrehn und davongehn.

Zuerst lauschte er nur. Dann flüsternd: »Lina!« Keine Antwort, er zog den Schuh an und wollte hin; da war es ihm, als dränge aus dem Schrank ihr unterdrücktes Schluchzen. Wie er noch ratlos stand, trat sie hervor. Sie ging mit verkrampfter Miene auf den von ihm verlassenen Stuhl zu, als suchte sie nur diesen, und fiel aufwimmernd über die Lehne. Franz blieb ganz still, er fühlte, sie beweine das Leiden der andern, ein noch unerhörtes Leiden, das grob und ungeschminkt an sie rührte, und beweine die frühe Ahnung ihres eigenen Frauengeschickes. Er neigte sich über sie: »Lina!« – und sie gab ihm die Hand, nur die Hand, aber in ihr war zu fühlen, wieviel sie verstanden habe, was alles nun aufgeklärt sei. Sie erhob sich, sie hatte langsame Bewegungen, ihr Gesicht, mattweiß im Dunkeln, schien, nur durch die Bewegungen, veredelt und der Achtung würdiger. Am geöffneten Fenster standen sie Hand in Hand, dann Schulter an Schulter, tief versenkt in irgendein großes Geschehen, das sich ankündete: da ging der Mond auf. Kälte, Mondlicht und weithin zitterndes Land ergriffen die Reglosen wie Klänge nie gewesener Dinge, und feierlich fügte sich in ihnen eine Liebe, die Traum und Gesang war.

Da seine Freundin heftiger erschauerte, schloß er das Fenster. Wie kam es doch, daß es sie fror, hungerte, und daß sie Gefangene waren? Er berührte seine Stirn und machte einige Schritte, die unsicher waren, weil sie von ihr fortführten. Inzwischen stützte Lina ein Knie auf den Klavierstuhl, hauchte über ihre Finger und schlug an, auch dies nur ein Hauch. Dann sang sie hinein, schwach silbern, in die selten fallenden Töne: da hielt er an und vergaß vollends. Er dachte nur zu lauschen und zu fühlen, solange das Leben dauere. Es geschah aber, daß ihr vom Mond beglänztes Gesicht, das noch den Ausdruck eines kaum erloschenen Klanges trug, sich herwendete, stumm rufend. Ihn trug es zu ihr wie einen Schlafwandler, sie empfing ihn, noch kniend – und floß an seiner Hüfte hin, gelenkt von seinen träumenden Händen. Ihr Arm glitt, leicht wie ein Lichtstreif, nach seiner Schulter; weich in ihren Arm gebogen, schmachtete, von seiner Brust her, das süße Schmerzensgesicht der Liebe zu seinem hinan, das zart und ernst war. In diese eine schmale Flamme zusammengeschlagen, standen sie und brannten.

Einmal nahte ihnen ein Schatten, verdichtete sich und rief sie mit seiner Schattenstimme zurück aus ihrer lichten Welt. Sie fühlten und vernahmen ihn, noch bevor sie erfaßt hatten, dies sei Schluchzen. Drüben auf der dunkeln Tür, ein noch dunklerer Umriß gab, in sich selbst verkrochen, dies arme Mißgetön ab. Er öffnete sich, eine Frau war es, demütig ging sie zu jenen beiden und neigte, schlicht lächelnd, sie, die sich getrennt hatten, wieder zueinander.

 

III

Eine Reihe von Tagen verging ihnen, ernst, friedevoll getragen, wenn auch zuweilen ein wenig schleppend; obwohl sie im Theater zusammen arbeiteten. Glücklicherweise glich bald wieder ein Zank ihr Tempo aus. Alles konnte so weitergehen, wenn die Saison so weiterging.

Sie endete aber, alles stob auseinander, ein jeder seinem Stern nach, und Franz fuhr einige Stunden vor Lina. Sie brachte ihn noch zur Bahn. Welch ein Abschied in ihrem kleinen Zimmer, nun wilder Schmerz, nun Glück in Tränen! Wie sie aber hinter seinem Koffer durch die Straßen gingen, waren die Liebenden zum letztenmal als Kollegen verschiedener Meinung. »So etwas von Untalent!« war, halb zankend, halb im Scherz, das letzte Wort Linas, bevor sie ihm, angesichts des Bahnhofes, davonlief. Ihr Röckchen flatterte auf im Frühlingswind, und sie war fort. Bei der Ausfahrt des Zuges stürzte sie dann noch draußen an eine Schranke, winkte und lachte. Plötzlich, er schwenkte den Hut noch, drückte sie das Gesicht in das Taschentuch.

Als sie endgültig verschwunden war, setzte er sich, sah in den blauen Himmel, dachte: aus, und wäre gern traurig gewesen. Aber ihr Bild vor seinem Auge blieb nicht lange traurig, und bald zerging es im Blauen. Da schlug auch schon sein Herz hoch auf. Reisen! Neue Abenteuer, neue Überraschungen der Welt – und endlich auch die Liebe, die unerhörte, einzige! Sie trägt noch die gleichen Züge, und dem, der immer und überall gläubig ihr entgegenfährt, wird sie wieder begegnen, so ist es gefügt. Wird ihn entrücken, erhöhen, über alles Maß und Verdienst beseligen – anders als eine kleine Komödiantin, die einen Winter lang, mit billigen Freuden und unbedeutenden Widrigkeiten, dem Kollegen Kameradschaft hält. Ein schillernder Schleier verheißt das hohe Nahen, schon grüßt dich ein Blick, dessen überirdische Farbe du nie mit Namen genannt hast, und blonder Schein umleuchtet das Glück selbst! Da bliebe wohl keiner zu Haus – und wäre es der Ärmste an Hoffnung. Du aber hast Bürgschaften. Hervor zog er die zwei nie aufgegebenen Telegramme. Du hast Zeichen vom Schicksal – und hast auch den Auftrag, es nun einem andern zu sein, dem vielleicht bedeutsam geholfen werden soll, wie einst dir. Jetzt kannst du es! Franz Velten befühlte seine Brusttasche. Viel war nicht übrig, seitdem Lina sich herbeiließ, sie mit ihm zu leeren. ›Aber ich habe immer noch mehr Geld, als ich brauche. Wo ist nun der Mensch, dem ich als Retter erscheinen soll?‹ Gehoben hielt er Umschau unter seinen Nachbarn; aber es waren gutgenährte Landbewohner.

Dann in den Schnellzug nach München. Da saß vereinzelt eine junge Dame, elegant und von selbständigem Wesen. Freilich verhielt sie sich eher ablehnend, sie dachte wohl nach; jetzt zog sie aus ihrem silbernen Beutel das Portemonnaie und zählte. Sie zählte sogar nochmals. Hierauf sah sie zu Franz Velten hinüber, wie um ihn verantwortlich zu machen. »Es fehlt etwas«, sagte sie bestimmt, »und ich muß durchaus nach Hamburg.« Er nickte, als habe er nichts anderes erwartet. »Ich stehe Ihnen zur Verfügung«, erklärte er ruhig. Sie aber schwieg jetzt und klappte, ohne von ihm wegzusehen, das Portemonnaie zu. Er fürchtete, die gute Gelegenheit zu versäumen. »Überzeugen Sie sich selbst«, und er holte eilends die Brieftasche hervor, »daß ich durchaus in der Lage bin.« – »Sie sind reich«, bemerkte die junge Dame mit einem leisen Lächeln. »Ich hatte es nicht bezweifelt. Leider darf ich nichts annehmen.« Und sie rückte in den Winkel.

Er fühlte, daß er sie schonen müsse; sie hätte sonst glauben können, er suche einen Vorwand, dreist zu werden; und damit jedes Mißverständnis fortfalle, erzählte er einfach. Er sagte ihr, wie er damals zu seinem Reisegeld gekommen war, und daß er jetzt nichts natürlicher finde, als ihr auszuhelfen. Sie mußte es wohl einsehen, sie kam wieder näher, und von den Scheinen, die er hinhielt, nahm sie einen. »Aber werden Sie Ihr Geld auch zurückbekommen?« fragte sie mit ihrer merkwürdig schleierlosen Stimme. »Denken Sie einmal nach, ob Sie dem Herrn aus Köln das seine zurückgegeben haben.« Da er bestürzt dasaß: »Sehen Sie.« Dazu lachte sie, ein unbestimmbares Lachen, ob bitter oder leichtsinnig. »So wird man durch das Leben. Sie haben noch viel vor sich«, sagte sie, in einem Ton, ob spöttisch oder zärtlich. Plötzlich gab sie sich einen Ruck. »Nun muß ich Ihnen meine Adresse lassen. Ich bin Lehrerin.« Ihm gefiel es nicht, so leicht genommen zu werden. »Sind alle Hamburger Lehrerinnen so fesch wie Sie?« fragte er, im Ton des Lebemannes. Sie nahm es nicht übel: »Kommen Sie nachschauen!« und machte es sich bequemer auf der Bank. Er bot ihr eine Zigarette an. Sie rauchte, dabei musterte er sie. Nicht mehr ganz jung, hinter dem kurzen Schleier; der Mund, der freilag, schon ein wenig blaß; aber sie war gut gepflegt, ja geschmeidig, daß es auffiel. Ob sie Turnstunden gab? Eine solche Erscheinung ertrug, ohne den Schick zu verlieren, auch die unfrische Federboa und Schuhe, die schon Sprünge zeigten. Auf ihrem kargen Urlaub gab sie sich wohl dem Zug nach Höherem hin, den solche Frauen in sich tragen mochten. Er betrachtete sie mit wohlwollender Kennerschaft, dankbar, weil er so günstig dastand.

Erst spät bemerkte er, daß sie ihn aus den Augenwinkeln prüfte. »Kaufmann sind Sie nicht«, sagte sie. »Und was sonst –.« Als er sich aber vorgestellt hatte, verstand sie alles. »Dann haben Sie keine Sorgen. Dann können Sie sogar Ihr Geld verschenken.« Was sie sich unter einem Schauspieler denn vorstelle. »Sie fahren durch die Welt und nehmen nichts ernst. – Eigentlich ist es schön«, äußerte sie noch. Begierig fragte er, was. Aufblickend sagte sie: »So viel Ahnungslosigkeit.«

Da hüpfte Franz von seinem Sitz auf. Ob sie denn selbst eine Ahnung habe, was bei ihm alles vorkomme. Er habe eine ältere Frau ausgenutzt, ja der Verzweiflung und dem Selbstmord habe er sie zugetrieben. Sein Gegenüber hörte die stolze Selbstanklage gelassen an. »Ich kann mir denken, wer der Ausgenutzte war«, erwiderte sie. Franz, der errötet war, wollte bekräftigen, aber der Zug hielt an, und Leute stiegen hinzu, ein älteres Ehepaar mit gutem Gepäck. Die junge Dame machte das Netz dafür frei, sie beseitigte die neue gelbe Handtasche ihres bisherigen Nachbarn, um eine genauso gelbe hinzulegen, die den neuen Mitreisenden gehörte. Dann setzte sie sich bescheiden und gab sanft die Auskünfte, um die sie gebeten ward. Den Schauspieler, der mitreden wollte, schien sie nicht mehr zu kennen, dagegen berichtete sie den beiden Alten Beispiele ihrer Fähigkeiten als Reisebegleiterin. Jetzt war sie Reisebegleiterin! Franz Velten verbrachte den Rest der Fahrt stumm staunend. Im Innersten empfand er Reue, er hatte schlecht von Frau Wimmer gesprochen.

In München, als er sich empfahl, würde er seine Worte gern noch berichtigt haben, aber die junge Dame hatte vollauf mit dem Ehepaar zu tun, sie winkte ihm nur obenhin. »Vielleicht begegnen wir uns hier.« Das Hotel, das er aufsuchte, war besetzt, auch das nächste wies ihn ab; München hatte irgendeine Ausstellung. Nach zwei Stunden, es war Abend, irrte er noch immer durch die Straßen, da rief ihn aus einem Wagen eine Frau: sie, die Lehrerin. Die beiden alten Leute hatte sie untergebracht, »mitsamt ihrer gelben Reisetasche«, sagte sie, übertrieben munter, und lachte zugleich über die seine, die er immer noch umhertrug. Sie versprach ihm ein Zimmer in ihrer Familienpension. »Aber die ist weit, und jetzt hat man Hunger.« Er stieg zu ihr ein, stürzte im Dunkeln über ein Gepäckstück und fand die Lage, alles in allem, seiner nicht würdig. Um sie zu verbessern, griff er, kurz entschlossen, nach seiner Begleiterin und küßte sie heftig. Sie hielt still, dann versetzte sie mit ihrem besonderen Lachen: »Ich habe ja nicht gesagt, daß es kein lustiger Abend werden soll. Warum strengen Sie sich so an?«

Als er schon, seine Tasche in der Hand, das »Künstlerhaus« betrat, fiel ihm ein, daß er ihr Gepäckstück nicht habe, es lag noch im Wagen. Der Wagen war noch sichtbar, er wollte ihm nach, aber seine Dame hielt ihn zurück. »Ich habe doch nichts gehabt!« rief sie, geradezu entsetzt. »Sie sind nicht bei Besinnung.« So mußte es wohl sein, aber es kam durch sie. Ihre Überlegenheit und Gewandtheit wirkten verwirrend, ja hinreißend. Sie hatte ihren langen weißen Handschuh ausgezogen, der Kellner stand noch neben ihnen, da glitt Franz schon mit den Lippen über ihren Arm, wobei er sich geschickterweise nach dem Handschuh bückte, der dank ihm drunten lag. Sonst war er doch so schlagfertig nicht. Solche Leichtigkeit des Genusses, ein ganzes Glas Wein, ein Witz, eine heimliche Liebkosung, alles zugleich – ach, das flog ihm zu, aus diesem unbeschwerten Wesen mit den duftenden Händen, den Lippen, die nun kirschrot schwellten, dem Glanzblick. Glücklich prangende Welt, in die er versetzt war, eine runde gemalte Laube, darunter kleine Bilder wunderlicher Masken, der Ausblick aber hinweg über hundert festliche Köpfe in eine lange, von Spiegeln umflirrte Galerie, tafelnd bei vielen Kerzen, vor verhängten hohen Bühnenfenstern und zur Musik der Zigeuner. Da sollte das Leben noch Tücken haben, der Erfolg nicht vor deiner ausgereckten Hand stehen, der Himmel nicht winken? Hell berauscht, verhaltenes Jauchzen in der Stimme, erzählte er von der glänzenden Saison, die hinter ihm liege, den immer reicheren, die erst kämen. Die Frau gegenüber sah ihm, auf ihre verschränkten Finger gestützt, in die Augen, indes er sprach; das beschwingte ihn, er rief: »Wundervoll, daß ich das bin, das kann! Mich binden? Unnütz. Mich erwartet die Welt, ich fühle, sie wird mich einst groß nennen. Groß!« wiederholte er träumend, und eine Gestalt, um die blonder Schein floß, ließ ihm den Schleier entgegenwehen, er spürte das Fächeln.

Die Frau aber, die ihm in die Augen sah, sagte nun: »Bravo! Nur keine Ketten! Was tun Sie mit dem lumpigen Sommerengagement. Der Ruhm ist für den, der das Leben beherrscht. Kommen Sie mit mir nach Paris!« Er fragte: »Gehen Sie als Lehrerin hin?« – worauf sie ihn zuerst nur ansah und dann auflachte. Er lächelte traumhaft zurück. Da packte sie seine Hand und herrschte heiß: »Komm!« Auch er loderte auf, rief nach dem Wagen, und einmal darin, meinte er, sich auf sie zu werfen – merkte aber, als sie anhielten, er war an ihrer Schulter eingeschlafen.

Sie gelangten in eine Wohnung, zu der die Frau den Schlüssel hatte. Er wollte nicht fort von ihr; »nicht, bevor du mein bist!« flehte er. Sie darauf: »Kind! Hüten Sie sich, Sie brächte ich weit.« – »Das will ich gerade.« – »Dann öffnen Sie Ihre Reisetasche!« Sie schob ihm die gelbe Tasche unter die Lampe des leeren Zimmers, »öffnen«, sprach er folgsam nach und suchte. »Hier ist der Schlüssel«, und sie stellte sich ihm gegenüber auf. Er sah sie an, dann wieder in die Tasche, die rot gefüttert war, wie noch nie zuvor. Auch enthielt sie wenig, von Seinem nichts. Ein schwarzer Karton. Papiere darin. Obligationen? Was noch, ein Schmuck? Unsicher sah er auf seine Gefährtin. Sie nickte. »Nun weißt du es, daß du mit mir kommen wirst, wohin ich auch will.« – »Die Tasche ist nicht meine«, sagte er ratlos. Sie begegnete ihm fest. »Du hast sie in deiner Hand getragen, und die Marke des Gasthofes, wo du den ganzen Winter gewohnt hast, klebt darauf.« Er fragte noch: »Wer hat sie auf diese fremde Tasche geklebt, und wo ist meine?« Da stampfte sie auf. »Dummkopf! In dem Wagen, mit dem ich dich mitnahm, ist sie geblieben. Und du gehörst nun mir!«

Ihm stand der Mund offen, aber vor seinen Augen, die an ihr hafteten, klärte es sich. Er sagte suchend: »Sie haben also meine Tasche mit einer anderen vertauscht, die Sie gestohlen hatten. Sie sind eine –.« Dies Wort dachte er nur hinter erweiterten Augen. ›Ist es möglich?‹ dachte er. ›Sie, die dort vor mir steht! – Und ich, der doch fast alles schon erlebt hatte!‹ Er senkte die Stirn, beschämt durch sie und ihretwegen. Plötzlich stieg es heiß auf, bis in seine Kehle, er konnte kaum vorbringen, was ihm eingegeben wurde. »Arme Frau!« – und er reichte beide Hände hin, wie zur Hilfe. Sie wich aber fort, wie gestochen. Da ließ er sich, schwer im Kopf von einer ungeahnten Welt, die ihr Chaos auftat, in den Diwan fallen. Zog die Füße auf das Polster. Machte, starr, ferne Entdeckungen. Wie lange später, sank ein Gewicht auf seine Füße. Mühselig erkannte er die kniende Gestalt, die mit Brust und Armen, heftig durchschüttelt, darüberlag. »Nicht weinen«, murmelte er. »Schlaf, es ist wieder gut.«

Er erwachte bei hellem Tag in einem Zimmer, das fremd und leer war. Er sah umher, kein Gegenstand, der sein wäre. Seine Reisetasche? Plötzlich sprang er vom Diwan, trat unter die Lampe und betrachtete den Fleck am Boden, wo gestern nacht dies Abenteuer geendet hatte. Nichts mehr, die Frau nicht, noch die fremde Tasche mit den Wertpapieren und Edelsteinen. Auch seine eigene blieb verschwunden. Vielleicht war sogar sein Geld fort? Er zog die Brieftasche: es war da – und auch ein Papier, das nicht darin gewesen war, mit Bleistift hastig beschrieben. »Ich hatte es mir anders gedacht. Jetzt hätte ich Lust, zu werden wie Sie. Es ist zu spät. Aber ich werde an Sie denken. Wenn Sie einmal traurig sind und nicht wissen, warum, dann seien Sie gewiß, ich habe gerade an Sie gedacht.«

Er trat zum Fenster, der schöne Tag schien ihm beschattet. Nicht lange, die unsichtbare Wolke zerrann schon; er riß das Fenster fort von der großen Bläue, in die sein Atem, aus emporgewendetem Mund, sich blühend mischte.


 << zurück weiter >>