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Der Gläubiger

Zuerst erschienen in »Abrechnungen«, Propyläen-Verlag, Berlin, 1924

Textquelle: Aufbau-Verlag, Berlin, 1953. Heinrich Mann, Novellen, II. Band

 

Emmy Blasius konnte ihren einzig Geliebten nicht heiraten, denn Assessor Liban hatte nicht genug. Die jungen Leute blieben einig gegen die Eltern, aber wo waren die Stärkeren? Die ganze, stark befestigte Ordnung der Dinge in jenen friedlichen Zeiten sprach für die Eltern. Die Jungen konnten nur machtlos protestieren. Sie konnten das Geschick nur zu erweichen suchen, der Assessor durch besondere Strebsamkeit und dadurch, daß er der Mutter den Hof machte, Emmy noch am besten, wenn sie sich leidend stellte. Übrigens kam man herunter mit den Nerven, heimlich verlobt seit Jahren und immer umhergeworfen zwischen Hoffnungen und ihrer Vernichtung. Vor der großen Abendgesellschaft bei Geheimrat Blasius, gegen Ende der Saison, traf Liban den jungen Bruder Emmys auf der Straße, hielt ihn an und drang in ihn: »Wen werde ich zu Tisch führen?« Der Gymnasiast lächelte wichtig. Er wisse es. »Sag es mir! Du bekommst etwas geschenkt.« – »Was denn?« Ausführlicher Handel. Endlich: »Wen führe ich also?« – »Die Musiklehrerin.« Worauf Liban schroff wegging. Emmy aber saß am Abend neben Doktor Schatz, einem alternden Afrikaner, der Geld hatte. Jammervolle Blicke über die lange Festtafel, zwischen den weit getrennten Liebenden. Dabei fächelte Emmy sich, um ihrem Tischherrn ihre nette runde Hand zu zeigen, und Assessor Liban dort unten brachte die Klavierlehrerin zum Lachen. Umsonst die lange Geduld, die vielen Kunstgriffe, alle ihre Träume, die ganze Pein. Wozu hatten schon Backfisch und Schüler einander gern gehabt. Wozu beim Eislauf jene mit gestohlenem Taschengeld bezahlten Pfannkuchen, der Schwur ewiger Treue, bevor er auf die Universität ging. Bis zu seiner Rückkehr fiel beiderseitig manches vor, aber das erwähnten sie nicht. Kleine Treubrüche des Gefühls, oder selbst andere, zählten nicht für ein Liebespaar, das die Aufgabe hatte, Widerständen zu trotzen und das Ideal zu verkörpern.

Die Tafel ward aufgehoben, und in der ersten Verwirrung der Gesellschaft, die andere Räume aufsuchte, konnten die Unglücklichen sich hinter einer Tür zusammenfinden. Emmy kam mit einem Gesicht, das alles eingestand, die volle Katastrophe und ihre eigene Ohnmacht. Ob die Eltern schon mit ihr gesprochen hätten, wollte er wissen. »Sie haben mir gesagt, ich sei nun zweiundzwanzig, Zeit sei nicht mehr zu verlieren.« – »Und Doktor Schatz?« fragte er. Sie gestand: »Papa hatte ausdrücklich verboten, daß ich ihn glatt abfallen lasse.« – »Ja dann«, sagte der junge Mann. Endlich gestand sie alles: die Verlobung werde gleich heute abend sein. »Er kann nicht lange warten«, sagte sie verzweifelt. »Er hält sich nicht.« Herren, die Zigarren rauchten, hätten das Paar beinahe aufgestört. Die Gefahr ging vorbei, sie konnten Abschied nehmen. Als anständige Bürgerkinder nahmen sie Abschied von ihrer Liebe, dem Gefühl ihrer ganzen Jugend – hinter der Tür. Heirat Emmys mit Doktor Schatz und ein vornehmes Haus mehr, Gesellschaften, die Klang hatten. Dazwischen ein Kind, Sohn Wölfchen, vom Vater dem Konsulatsdienst bestimmt. Sein bester Freund, Landgerichtsrat Liban, war sogar der Meinung, Wölfchen sollte Reichskanzler werden. »Bis dahin ist unsere Entwicklung ins Industrielle soweit. Der nächste Kaiser beruft Bürgerliche.« Liban hatte die herrschende Vorschrift, Geld zu haben, befolgt und reich geheiratet. Seine Frau war schon vorher mit Emmy befreundet, sie wurden es um so enger. Die beiden kleinen Töchter Libans und Wölfchen verbanden die Häuser überdies, jedes wichtigere Erlebnis des einen rief das gesamte Mitgefühl des anderen in Person herbei.

Schatz erkrankte, alle Libans kamen. Es ward schlimmer mit ihm, da blieb nur sein Freund. »Wir sind zu viele, aber du bleibst«, hatte Frau Liban gesagt. So saß Liban mehrere Stunden am Bett und tröstete Schatz, der ihm nicht zuhörte in seinem Fieber. Emmy machte ihm die Injektion, er konnte endlich einschlafen. Seine Frau und sein Freund atmeten auf. Sie saßen an beiden Seiten des Bettes, zum erstenmal fanden sie Zeit, sich zueinander zu wenden. Ihre Mienen waren überanstrengt und mißvergnügt. Einen Augenblick dachte jeder vom andern: ›Fühlt er sich nicht am richtigen Platz?‹ Sogleich aber sprachen sie sachlich über die Aussichten für die Nacht. Ob die Hoffnung, den Kranken durchzubringen, abnehme. Was der Arzt wohl sagen werde. Sie erwarteten ihn peinlich: nicht nur Schatzens wegen, auch um nicht länger allein hier zu sitzen und etwas sagen zu müssen. Denn Schweigen wäre noch peinlicher gewesen. Wie so etwas entsteht! Sie waren doch nicht das erstemal allein, in all den Jahren. Da bemerkten sie, daß jeder den andern im Auge hatte wie einen Schuldner, dem man mißtraut. Befangen sagte Emmy: »Wer das geahnt hätte!« – »Der hätte manches anders gemacht«, sagte Liban. Plötzlich überkam ihn ungeheure Erregung. Er verließ seinen Platz und sagte: »Wenn er stirbt, lasse ich mich scheiden. Es muß von vorn wieder anfangen.« – »Geht denn das?« fragte Emmy. »Wir sind schon bald ältere Leute.« – »Ich werfe alles hin. Die Nutznießung des Vermögens meiner Kinder bis zu ihrer Großjährigkeit soll mir genügen.« – »Und was Schatz hinterläßt!« sagte sie nicht ohne Stolz. Er hatte auf einmal die Augen voll Tränen. »O Emmy! Wir hätten mehr Mut, mehr goldene Rücksichtslosigkeit beweisen sollen. Wenn wir nun deinen Eltern einfach nicht gehorcht hätten? Durchgehn soll auch vorkommen. Ach, alles stände anders!« Sie dachte, es würde vor allem nicht so stehen, daß jeder sein Schäfchen im trockenen hatte. Aber das sagte sie nicht, sie achtete seinen Idealismus und bemühte sich, ihn zu erreichen. »Unsere Kinder sollen anders werden«, äußerte sie. »Unsere Kinder sollen uns rächen.« Er dachte, daß sie um Gottes willen keine mehr haben dürften. Was würde aus der Versorgung der schon vorhandenen. Die Ehe ist eine soziale Einrichtung. Um so heftiger und unbeschwerter riß er die begehrte Frau an sich. »Wie je!« stöhnte er. Auch hinter ihnen stöhnte jemand. Sie warfen auf den unruhig schlummernden Schatz einen entrüsteten Blick. Dieses Menschen wegen ein ganzes Leben der Entsagung! Nebenan war es dunkel. Sie wankten und fielen, umschlungen, dort hinein.

»Mama! Onkel Liban! Wie reimt sich das? Leur haine pour Hector n'est pas encore éteinte. Ils redoutent son fils.

Ich soll auf deutsch einen Reim suchen.« Dies hören, auffahren und schlottern im Dunkeln. Jener Vorhang, dahinter der Junge! Wölfchen bei seiner Schularbeit im Eßzimmer, und zwischen seiner und ihrer Arbeit nur ein Vorhang! Es lähmte, wie die letzten Dinge. Beide Verbrecher an der bürgerlichen Sittenordnung wurden sich jäh ihrer Lage bewußt. Sie war grauenerregend, Atriden selbst konnten nicht mehr Grauen erregen! Der Mann war es, der sich faßte und festen Schrittes hinging. »Erstens sprichst du es schauderhaft aus. Und dann ist es doch klar: Ihr Haß auf Hektor währt noch immer, denn auch sein Sohn war mit im Zimmer.« Worauf Wölfchen ihm bewundernd in das Gesicht sah, das nach der eigenen Empfindung des Schuldigen rot angeschwollen war infolge der Lage und weil er sie durch seine anzügliche Übersetzung noch verschlimmert sah. War das Lächeln des Jungen wirklich harmlos? »Ich habe frei übersetzt«, sagte Liban schnell. »Es ist wegen des dummen Reimes. Sagen wir etwas genauer: Sie hassen Hektor auch noch, nun er tot, denn jetzt sind sie von seinem Sohn bedroht.«

Kaum ausgesprochen, schienen ihm diese Verse genauso verräterisch. Er begann daher auf den verrückten Lehrer zu schelten, der Schuljungen im Dichten abrichtete. Er wollte die Mutter des Jungen zur Zeugin des Unfugs nehmen, er rief. Aber es kam keine Antwort.

Das endlich vereinte Paar mietete in einem entlegenen Stadtteil zwei Zimmer, um heimlich zusammenzukommen. Denn Doktor Schatz starb nicht, er ward gesund. Sie trafen sich nach Anruf. Kam Schatz ans Telefon, sagte Liban ihm scheinbar etwas ganz anderes, das aber, weitergegeben, von Emmy doch richtig verstanden ward. Schatz war nicht ihre Sorge. Die ganze Sorge der beiden Schuldigen war der Junge. Hatte Wölfchen damals gehört? Kinder hören so viel. Und war er mit dreizehn Jahren noch ein Kind? Ja, sagte die Mutter. Er sei in dieser Hinsicht zurück hinter seinem Alter. Der Landgerichtsrat bezweifelte es. Vielleicht war Wölfchen ein Duckmäuser. Er beobachtete den Jungen. Er ging auf dem Weg aus der Schule hinter ihm her; er fing die Blicke ab, die Wölfchen den entkleideten Wachspuppen der Korsettgeschäfte zuwarf. Dann begrüßte Liban ihn mit einem Scherz. Ob er das in Natur nicht lieber sähe? Sie würden einmal ins Metropoltheater gehn. Um Wölfchen vertraulich zu stimmen, verdarb ihn der Landgerichtsrat. Aber er erreichte nichts. Die Mutter im Gegenteil hielt ihr Kind sogar vom Tanzkurs fern, der schon begonnen hatte. Sie nahm ihm illustrierte Blätter aus der Hand, wenn die Überschrift der Geschichte ein weiblicher Name war. Sie prüfte, ob ihr Kind ihr, wie jemals, groß und rein ins Auge sah. Aber es strengte sie selbst zu sehr an, so bewies es nichts und brachte nur Scham. Auch Liban schämte sich. Einem Jungen nachstellen, vor ihm zittern und nichts erreichen: war es würdig eines Mannes von Stellung und gesetztem Alter? Wenn der Bursche nun redete! Katastrophe im Hause Schatz, aber auch bei Liban. Ein ganzer Lebensaufbau eingestürzt – und nicht auch die Stellung des Richters? Dies alles im Belieben eines Knaben. Auf seinen Wink Liban entweder vollgültig oder letzten Endes verurteilt zum eigenen Revolver. Dies überschritt denn doch das Maß der Forderungen, die selbst das Kind einer verführten Frau stellen durfte. Der Richter fand, daß die Dinge, vom sogenannten Schuldigen erlebt, nicht so sehr ihn ins Unrecht setzten, als die Gesellschaft. Die wollte fordern? Im Namen der Ruine Schatz? Nie hätte ihr Geld der Ruine das Recht geben dürfen, zwei Menschen zuerst liebesarm, dann schuldig werden zu lassen. Nur der Sohn! Unleugbar, er hatte Forderungen. Kannte er sie? Wußte er? – Dasselbe von vorn, Liban fing an, den Jungen zu hassen.

»Er sitzt zu viel«, sagte der Freund des Hauses. »Er wird noch intellektuell. Man muß ihn ertüchtigen.« Und Wölfchen ward Wandervogel, Turner, Mitglied des Gauverbandes Wotan. Das beschäftigte ihn, die undurchdringliche Gefahr war abgelenkt. Daneben gedieh er zur allgemeinen Freude. Auch die Töchter des Hauses Liban blühten heran. Inge als Älteste war für Wölfchen bestimmt, einst nach Vollendung seines Studiums, nach erlangter Anstellung und Bewährung jeder Art. Diese Aussicht beruhigte vor allem Emmy. Die schuldige Mutter glaubte so den Sohn entschädigen zu können für alles, was sie selbst ihm entwendet hatte zugunsten eines andern, an Liebe und häuslichem Herd. Aber auch die bürgerliche Ordnung, die sie ihm schuldete und leider selbst erschüttern mußte, schien ihr voll wiederhergestellt, wenn ihr Sohn die Tochter ihres Geliebten bekam.

Schatz kränkelte, auch Frau Liban litt viel. Beide waren meist auf das Haus beschränkt, dem reifen Liebespaar standen die Wege frei. Sie trafen sich wöchentlich mehrmals in ihrem zweiten Heim. Sie hatten es vergrößert und verschönt, sie liebten es mehr als jeder von ihnen seine beglaubigte Häuslichkeit. Hier genossen sie alle Abende, an denen irgend Gesellschaften oder Sitzungen vorgeschützt werden konnten. Wie oft sogar am hellen Mittag: schnell hin, er aus dem Amt, sie noch vor dem langweiligen Familienmahl. »Alterchen«, sagte sie, was Schatz nie hörte; und voll Stolz: »Aber gar nicht alt!« Sie wollte ihre ergrauenden Haare färben, aber er verbot es. »Dies ist dein schönstes Alter, denn jetzt haben wir uns.« Und er rühmte ihre Fülle, ihre fertige Entwicklung, den Hochgenuß der ganz vertrauten Freundschaft. »Das hätten wir früher nicht gehabt, die Erfahrung nicht, auch nicht die wahre Genußfähigkeit. Vielleicht hätten wir einander betrogen. Wir haben recht getan, so lange zu warten. Jetzt sind wir glücklich.«

Sie waren vollkommen glücklich. Da kam der Krieg. Schatz starb daran. Er sagte, gewitzt durch Auslandserfahrungen und Kränklichkeit, das schlimmste Ende voraus. Gleich nach dem ersten Mißgeschick starb er. »Dem Vaterland sein letzter Gedanke«, rühmte der Nachruf. »Aus bleicher Angst um sein Geld«, sagte der Sohn Wolf. Erschwerte Lage. Schatz behielt zu sehr recht, schwere Zeiten kamen für das mittlere Kapital. Der Krieg verminderte es nur, aber der Friede, wie dann die Herren der Zeit ihn verstanden, war erst sein Krieg. Liban, geschäftskundig, aber nicht schnell genug angepaßt, erhielt nur mühselig die Substanz, seine und die seiner Freundin. Von einem gewissen Punkt der Ereignisse ab verlor er die Führung, ward endgültig unzeitgemäß und tastete sich, belastet mit all dem Anhang, wie ein Blinder durch die Schrecken. Bald blieb ihm nur noch sein entwertetes Gehalt. Ein Staat, der sogar seinen Richtern nicht mehr die Treue hielt, gab sich auf; wer in ihm fußte, verlor den Halt. Liban mußte sehen, daß Emmy zeitweilig besser dastand als er, nur weil sie in letzter Stunde nicht ihm gefolgt war, sondern ihrem Sohn. Dieser Wolf machte Geschäfte! Unmündige, die nichts wußten und nichts hatten, tummelten sich im Unsinn dieser Tage, wie der Fisch im Wasser. Sie und die Zeit waren einander wert! Wolf, zu jung noch, um »hinaus« zu gehen, erreichte dennoch schon während des Krieges einen bemerkenswerten Grad der Ertüchtigung. Nachher aber war nicht mehr abzusehen, wie weit sie gehen sollte. Ohne die Reifeprüfung der Schule bestanden zu haben, fuhr er im selbstverdienten Automobil. Dazu ward er »Führer« in Verbänden, die mit äußerstem Nachdruck die bürgerliche Ordnung verteidigten. War es eine Ordnung? Gleichviel, sie schuf noch Kräfte, wenn auch zügellose. Den Kräften konnte man Anerkennung, ja Achtung nicht ganz versagen.

Liban machte einen letzten Versuch, mit Autorität aufzutreten. Es war, bevor der Junge das Haus der Mutter verließ. Ihr Haus entsprach freilich weder seinen Verhältnissen noch seiner Art zu leben. Ob er wisse, daß der Vormund ihn in Zwangserziehung geben könne? »Ich?« antwortete der Junge. »Mit meinen Verbindungen? Keine vierundzwanzig Stunden bliebe ich dort. Das Unglück träfe höchstens die, die ich ein paar Tage lang nicht ernähren könnte. Denn du, Onkel Liban, kannst es überhaupt nicht.« Worauf Liban, so steif er sich hielt, rot ward; er wußte, was gemeint war. Rückzug des Älteren mit vorgeschützter Strenge und mit Warnungen, die keinen Sinn hatten im Munde des Erfolglosen. Erfolg! Der einzige Maßstab schon immer, und ihn hatten jetzt die Unregelmäßigen, die Nichtbeglaubigten. Liban war Präsident geworden. Vor seinem erhöhten Stuhl zogen Entgleiste dieser Art vorbei. Kaum wieder draußen waren aber gerade sie im Gleis. Der es verloren hatte: der Richter. Nein, er konnte niemand mehr ernähren – besonders eine Jugend nicht, die lebte, wie das Rad rollt. Nur Dampf, nur dahin! Seine erwachsene Inge hätte wissen können, was sie ihrem Vater schuldete. Sparsam und bescheiden auf das verarmte Haus beschränkt, hätte sie nach außen das Gesicht wahren sollen. So war es in der guten Zeit des Bürgertums gehalten worden. Statt dessen? Inge trat trotz väterlichem Verbot in eine jener fragwürdigen neuen Erwerbsgesellschaften ein. Sie verdiente schon mehr als ihr Vater, reichte aber auch damit nicht. Ihr Luxus ward von anderer Seite bezahlt, es war kein Rätsel, von welcher.

Die Eltern hatten ihre großen Kinder an unpassender Vertraulichkeit so wenig hindern können, wie an jeder anderen falschen Auffassung des Lebens. Das schloß freie Kameradschaft und ließ sich nicht dreinreden. Das ging zusammen »groß aus«, und keine vornehme Gasterei von ehedem hatte das Geld gekostet. Das bummelte wie es Geschäfte machte, ohne Maß und Gewissen. Das Mädchen, gewarnt vor Folgen für ihren Ruf, erklärte, den trage man nicht mehr; und vor Folgen persönlichster Art: die kämen nicht in Frage, sie stehe anders mit Wölfchen, sie kenne alle seine Geliebten. Dies im Beisein ihrer leidenden Mutter, die nicht wußte, wie ihr geschah, und lieber nichts hörte. Konnte Liban dreinfahren und vor der Kranken die Katastrophe entfesseln? Hatte er überhaupt noch das Selbstbestimmungsrecht des ehrlichen Mannes?

O Scham und Verfall, wenn man dies bedachte! Das schlimmste war, daß man es keineswegs ständig bedachte, sondern aufgab, was nicht zu halten war. Ja, man nahm zuletzt nicht ungern die Erleichterung an, die eine verwahrloste Nachkommenschaft den Eltern verschaffte, wenn sie alles forderte, nur nicht Geld. Liban gelangte dahin, nach dem Beispiel der Kranken sich taub zu stellen, sooft er Neues über seine Lage erfuhr. Seine Jüngere, Effie, verfehlte nie, ihn zu unterrichten. »Pst, nimm Rücksicht auf den leidenden Zustand deiner Mutter!« sagte Liban, mit bangem Blick durch die Wand. Nicht einmal Effie wagte er schroff in ihre Schranken zu weisen. Dabei traute er auch seiner Jüngeren nicht. Er hatte erleben müssen, daß sie Zeichen aus dem Fenster gab – an vorübergehende Schüler. Er hatte sich schützend vor seine Tür stellen müssen! Natürlich waren dies Kindereien Unreifer. Nichts Ernstes drohte. Nur keine abwegigen Einbildungen! Eines Morgens aber kam Effie allein zum Frühstück. Inge? »Noch nicht nach Haus gekommen«, sagte sie. »Ein Unglück«, sagte der Vater wachsbleich. Effie frühstückte gelassen. Da schlug er auf den Tisch. »Wirst du reden?« – »Gott, Papa«, gestand Effie mit Achselzucken, »Inge hat mir gesagt, daß sie Urlaub nimmt. Wohin sie ist und mit wem, weiß ich nicht. Du willst immer, ich soll nichts wissen.« Er mußte flehen, bis er die Wahrheit hörte. Wozu hörte er sie noch, da er sie doch kannte? Er rief die Freundin an. Mittags trafen sie sich in ihrem Nest. Liban ging hin, gewiß, Trost zu finden sogar für diesen Schlag. Dort war immer noch Trost, der einzige sichere im Leben. »Wir beiden Alten haben uns doch. Sie können nichts ersinnen, was uns trennt!« Er dachte sich in geöffnete Arme zu stürzen, aber die Freundin schien verlegen, worauf augenblicklich auch sein Mut sank. »Wir müssen mit ihnen Schluß machen«, sagte er noch, weil er sich vorgenommen hatte, es zu sagen. Aber die Mutter des jungen Mannes dachte anders als der Vater des Mädchens. »Wir haben schon so vieles vertuscht, warum gerade diesmal ein Skandal?« fragte sie. Der Freund trat ans Fenster, er drehte einen steifen Rücken her. Noch ein Entschluß. »Die Ehre meiner Tochter –«, sagte er stark, und brach ab. Mehr lohnte sich nicht, der Mutter des Verführers fehlte zu sichtbar das Verständnis. Dem alten Freund schwankte der Boden. Als er nun dasaß und sich die Stirn hielt, ward die Freundin mild und gütig. Es sei natürlich ein Schlag. Man könne nichts weiter tun, als schweren Herzens sich fügen. Er möge nicht hart sein mit der armen Kleinen. Was hatte denn heute die Jugend! So war sie nun. Sie selbst würde ihrem Jungen recht innig ins Gewissen reden. Wobei Liban immer wartete, daß sie sage: heiraten, die beiden müssen heiraten. Dies kam nicht; und er begriff es. Inge hatte nichts mehr. Er wollte glauben, daß seine Freundin die Wiedergutmachung dennoch gewünscht hätte. Was konnte sie aber gegen diese Art von Sohn! Er ward weich, aus Mitleid mit sich und ihr. Beim Abschied hatte sie ein gewisses, nicht einwandfreies Lächeln – indes er ganz ernst blieb. Dann erst nahm sie ihn in die Arme, weich gestimmt wie er. Sie sagte gefühlvoll: »Und sind wir denn selbst ohne Schuld und Fehl? Auch wir haben uns geliebt der Welt zum Trotz. Sie wissen nicht, die armen Kinder, daß sie nur zwitschern, wie wir Alten sungen.« Der Freund wollte zweifeln, ob sie wirklich nicht wüßten. Aber sie war ihrer Sache gewiß: ihr Sohn hatte sie nie beargwöhnt.

Einige Tage, Inge kam frisch und munter nach Haus. »Guten Tag, Papa, ich war mit Wölfchen in Wien.« – »Ein guter Einfall«, sagte der Vater und faßte sich an den Hals. »So weißt du es gleich«, ergänzte die Tochter. »Zu anderen werde ich nicht darüber reden. Deinetwegen, lieber Papa.« – »Soviel Rücksicht«, brachte er hervor. »Ich weiß. Ihr habt eine andere Einstellung als wir sie hatten.« – »Ihr habt lieber geheuchelt«, ergänzte die Tochter. Der Vater fragte mühsam verhalten: »Wenn ich aber dennoch als Vater auftreten wollte?« – »Dann würden unsere Wege, so leid es mir täte, sich trennen«, sagte Inge nachsichtig, obwohl bestimmt. Den Präsidenten ergriff Schwindel, als sähe er aus einem Flugzeug nieder. Er fragte noch: »An Heirat mit deinem Geliebten denkst du nicht?« Sie sagte schlicht: »Schon mit Rücksicht auf Effie nicht. Das nächste Mal geht Effie mit.« Da schrie er auf. »Jetzt ist alles eins!« Es klang wie Wahnsinn und klang erlöst. Sogar die Tochter ward aufmerksam. »Was gibt's denn, Papachen?« – »Was es gibt?« Er keuchte Triumph. »Daß ich gerächt bin! Es soll noch ärger kommen! Was könnt ihr noch mehr? Rächt mich!« Er wußte nicht, wofür und an wem. Für seine ungenützte Jugend? An allen Urhebern seines schlimmen Verfalls? Er jauchzte, den Kopf umrauscht vom Sturm der sittlichen Auflösung: »Küsse mich, Kind!« Aber die Tochter wich rückwärts. So war sie denn doch nicht. Einen Augenblick fühlte der Präsident sich einfach zu allem fähig. Darauf flaute er jäh ab, fürchtete, schwer krank zu werden, und ging zu Bett. Alle Katastrophen blieben wahrscheinlich, er erwartete sie. Wirklich, noch am Abend rief Emmy an. Die Freundin bat ihn, ungesäumt in das Nest zu kommen. Sie war in Not, sie konnte kaum sprechen. Er nannte sich einen kranken Mann und ließ sie bitten, wie das vorige Mal sie ihn hatte bitten lassen. Dann trat jeder den Weg an.

Um Mitternacht fanden sie einander in dem entfernten Viertel, drückten sich an Mauern und in Türen, schlichen durch ein Haus, das sie in dieser verbrecherischen Stille nicht wiedererkannten. Droben gingen ihre beiden Schatten vor ihnen her in die Wohnung. Dies sehen und umkehren wollen! »Lassen wir uns nicht ins Bockshorn jagen«, sagte der Präsident. Sie irrten gleichwohl durch beide Zimmer und sahen, unter dem Vorwand, etwas Liegengebliebenes zu suchen, in alle Winkel. »Was ist eigentlich vorgefallen?« fragte er sie dabei mehrmals, blieb aber ohne Antwort. Schließlich sah er sie dastehen wie erstarrt, mit dem Gesicht der Tragödie. »Um Gottes willen, liebe Freundin!« Seiner ehrlichen Besorgnis wich endlich ihr Krampf, aufweinend stammelte sie: »Er will mein Geld.« Lange mußte der alte Freund zureden, bis mehr kam. Es kam, unterbrochen von Verzweiflungsschreien. Ihr Sohn wollte ihr Geld! Er hatte schlechte Geschäfte gemacht. Wien war nicht allein Vergnügen gewesen. Ach, wenn er sich, Jugend hat keine Tugend, nur ausgetobt hätte mit der Tochter des Freundes! Aber nein, schlechte Geschäfte, und herhalten sollte das Geld der Mutter, ihr Geld! Faßte man dies Übermaß von Entsetzen? Sie fiel auf ein Möbel, dann auf ein anderes, die Haare gingen ihr auf, sie schrie. Mit Einwänden verschlimmerte der Freund nur den Zustand. Sie sei Herrin über ihr Geld? Ja, aber die tägliche Entwertung, sie konnte es nicht verwalten ohne Wolf. Er wollte Vollmacht oder er zog die Hand von ihr. Morgen früh stellte er sie vor die Entscheidung. Keine Gegenwehr möglich! Und er war im Verlieren. Auf dem Abrutsch. Vor dem Ende. Das Ende drohte! Glatte Verarmung! Not! Der Freund begleitete den Zustand der Freundin mit seinen Gefühlen. ›Mir kann dies nicht mehr zustoßen‹, fühlte er, ›darüber bin ich hinaus. Ich habe kein Geld mehr, aber ich verstehe dich, Ärmste. Du freilich hast mich in meinem Vaterschmerz nicht verstehen wollen … Ich gebe mir Mühe‹, fühlte er, als es lange genug gedauert hatte. ›Aber Verzweiflung und kein Ende nur gerade wegen Geld: es ist schwer, mitzuempfinden, wenn man selbst keins mehr hat.‹ Er spürte, daß ihm Lächeln kam, das gleiche nicht einwandfreie Lächeln, das voriges Mal die Freundin erfaßt hatte. Er erschrak; aber er trennte sich auch räumlich von ihr, er ging ins Nebenzimmer.

Da fuhr ein Auto vor. Gleich darauf Öffnen der Haustür. Sofort waren sie wieder beieinander, auf der Schwelle zwischen beiden Zimmern. Der Nahende hatte noch weit, aber sie wußten, daß er nahte. Er verbarg sich nicht, er dämpfte den Schritt nicht, von ganz unten her hörten sie ihn heraufsteigen in dem nächtlichen Haus. Sie sahen in den Augen des anderen, daß jeder gern geflohen wäre und sich versteckt hätte. Darum hielten sie sich an den Händen. Jetzt lärmendes Aufschließen, er war in der Wohnung. Seine jungen raschen Füße waren schon angelangt, auf flog die Zimmertür. Aber er zähmte seine schnelle Bewegung, denn er sah sie. Er sah seine Mutter mit aufgelöstem grauem Haar, den alten Mann, der sie an der Hand hielt, und beide sterbensbleich. Flüchtige Bezähmung, dann sagte er: »Nun also, da sind wir! Guten Abend, Onkel Liban. Habt ihr euch fertig beraten? Mama, bekomme ich Vollmacht?« Er ließ den Alten Zeit, inzwischen erklärte er sein Hiersein. »Ich dachte mir natürlich, ihr würdet euch noch heute nacht aussprechen wollen am gewohnten Ort. Die Schlüssel habe ich mir nach deinen machen lassen, Mama. Ich stelle sie dir zur Verfügung.« Die Mutter bewegte die Lippen, sie tastete schwach in die Luft, nach irgendeiner Ausrede. Aber der Präsident straffte sich, er sagte: »Du bist kein Sohn. Bist du ein Gläubiger? Nicht einmal ein Gläubiger hat das Recht, das du dir anmaßest.« Der Junge lachte auf. »Gut. Ich bin kein Sohn. Ich bin ein Gläubiger. Und was für einer! Ein Gläubiger wie ich darf alles!« – »Hinaus! Unglücksmensch! Oder du bittest ab!« rief der Präsident wie Donnerhall. Der Junge lachte nur lauter. »Nicht übel«, sagte er. »Ich soll abbitten, was ihr verschuldet habt. Wo sind wir denn hier?« fragte er mit Blick ringsum. Die Alten erbebten. Er nutzte alsbald seinen Vorteil. »Ich stehe hier als Geschäftsmann. Belastung des Geschäftes mit Sentimentalitäten ist nicht tragbar. Abgeschlossen wird zwangsläufig wie ich will. Rede Mama lieber gleich zu, Onkel Liban!« Hier ging nochmals der Alte los. »Ich gedenke vielmehr gegen dich einzuschreiten mit meiner ganzen Autorität.« Was aber nicht wirkte. »Autorität – hast du damit Geschäfte gemacht? Ich mache meine anders.« – »Ich weiß, wie«, sagte der Präsident, in Verwirrung gebracht. Darauf griff er an. »Glattes Gesicht! Posiert auf Jüngling, hat aber eine Seele wie ein tausendjähriger Sklavenhändler. Verkauft Mutter, verkauft Kindheitsgespielin. Schändet zynisch die eigene Wiege. Legt um sich her alles in Trümmer und dampft voll Kraftgefühl ab im Kraftwagen, immer mit demselben leeren Gesicht!« – Beredsamkeit des Hasses; vergebens zog die Mutter ihren Freund am Arm, er möge nichts verschlimmern. Ihre andere Hand wollte dem Jungen schmeicheln. Zu spät, der Junge legte den Kopf zurück, er nahm Rednerhaltung ein, forsch und doch zart, die Jugend selbst. »Darauf hab ich gewartet. Du sprichst von Trümmern? Von wem sind die Trümmer, in die ihr mich hinausgeschickt habt? Wer hat meinem Geschlecht Trümmer hinterlassen als Welt? Ihr!«

»Verallgemeinerungen beweisen Unreife«, sagte der Präsident, die Lippe gerümpft, aber bleich und bleicher. »Ich kenne mich!« rief die helle Stimme. »Ihr habt mich nur Zerstören gelehrt. Hätte ich nicht mein leichtes Herz, wo bliebe ich. Mit meinem leichten Herzen mach ich jede Sache, sogar eure Rettung vom restlosen, endgültigen Untergang. An euch liegt es nicht. Ihr habt das Menschenmögliche besorgt, um von der Geschichte weggefegt zu werden. Dann verliert ihr die Nerven. Nur wir! Wir glatten Gesichter mit unserem Kraftgetue. Wir sind von Gott gesandt, eure Feinde umzulegen und zu erledigen. Nur wir halten eure sogenannte Ordnung noch aufrecht. Ihr wart schon zu neunzig Prozent mit ihr fertig. Und dann wollt ihr euch noch entrüsten über unsere Einstellung zum Geschäft?« – »Schweig!« flehte die Mutter. Denn sie fühlte ihren alten Freund wanken. Er fand keinen Laut. Der Junge wartete, Leiden in den Mienen. Er litt, so bleich wie die beiden Alten. Seine starken Worte machten ihm selbst Herzklopfen, sie füllten seine Augen mit Angst. Aber er mußte weiter, die starken Worte drängten. »Wir heucheln weniger als ihr. Wir nennen, was wir tun, beim richtigen Namen, und manches tun wir nicht. Nach Geld heiraten. Einander betrügen. Verbotenen Lebenswandel führen: wir haben das alles nicht nötig. Wir sind sowieso fertig, dank eurem Wirken. Unsere Mentalität ist gradliniger als eure, daher restlos ablehnende Einstellung zu eurem Treiben.« Er sah die flehende Hand der Mutter nicht mehr. Sie versuchte zu stammeln: »Hast du denn keine Ideale?« Er aber weiter wie gehetzt: »In diesem Zimmer hier zehn Jahre lang sich vor der bürgerlichen Moral zu verkriechen! Genau neundreiviertel und fünf Tage. Der Tag hat mir Eindruck gemacht. Man war damals noch leicht beeindruckbar.«

Aufschrei. Fortstürzen. Nebenan brach sie in die Knie, sie versteckte den grauen Kopf unter das Bettkissen. Der Junge in seinem Rausch fand vor sich einen Greis, der, furchtbar gerötet, zitternde Fäuste gegen ihn erhob. Er stieß sie fort, er sagte klar und einfach: »Alter Wüstling, hat sich vergreifen wollen an Inge!« – worauf der Greis wegtauchte und verschwand. Der Junge fand ihn am Boden wieder, da lag er auf der Nase. Sofort kam Wolf zu sich, körperliche Katastrophen waren ihm geläufig. Als seine Mutter sich über den gestürzten Körper warf, war der Körper schon umgewendet und behorcht. »Er lebt«, sagte Wolf knapp. »Laß mich machen, Mama, ich trage ihn aufs Bett. Nur gut, daß er nicht dazu gekommen ist, sich an mir zu vergreifen. Ich hätte ihn niedergeschlagen. Deinetwegen sehe ich es lieber vermieden.«


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