John Henry Mackay
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John Henry Mackay

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13 BIS, Rue Charbonnel

Während er sein Dejeuner hinunterschlang schrie er plötzlich:

– Und Marguérite?

Sie war bei der Tante.

So, bei der Tante. Schon wieder bei der Tante. Aber er wollte das nicht länger, daß sie jetzt immer dort war. Diese Tante – sie – sie war zu gut, diese Tante!

Warum kam sie denn plötzlich jetzt alle Tage, wo sie doch früher nie daran gedacht hatte, sich der Grillons zu erinnern? – Und was sollte es heißen, daß sie die Kleine immer mitnahm? – Und beschenkt wieder nach Hause brachte? – Hatte sie wohl jemals in ihrem Leben einem Menschen auch nur eine Stecknadel geschenkt. – he? –

Seine Augen gingen mißtrauisch hin und her, während er die letzten Bissen mit großen Rotweinschlucken niederspülte. Sie funkelten böse und unruhig, aber die Frau blieb gleichmütig wie immer.

Was ging es ihn denn an, wenn die Tante ihnen half? – Sie hatten Hilfe doch gewiß nötig, seitdem er seines alten Leidens wegen nicht mehr arbeiten konnte und nichts mehr nach Hause brachte.

Er aber fuhr fort zu schelten und zu fragen und umherzuschnüffeln, bis er plötzlich das Messer fortwarf und von neuem aufschrie; – Ja, und was war denn das? Ja, wo kam denn das her? – Wie? Er brachte kein Geld nach Hause und sie hatte eine neue Bluse an. Eine neue Bluse! – War die etwa auch ein Geschenk der Tante – sie war ja auf einmal ungeheuer freigebig, diese – Tante!

Und vierzehnmal hintereinander wiederholte er immer wieder dasselbe Wort: »Diese Tante – diese Tante! –« und jedesmal wurde der Ton bitterer, mißtrauischer und gehässiger.

Er stand jetzt vor ihr und betastete mit seinen kurzen, fettigen Fingern den Stoff, als ob er so herausfühlen könnte, woher er stamme.

Erst hielt er ihn zwischen den Händen, aber dann nahm er ihr Fleisch zwischen die Nägel, drückte, kniff und stieß sie, bis er sich endlich vor Zorn nicht mehr auskannte, und sich auf sie warf und mit den Fäusten auf sie losschlug:

– Ach, das war ja alles nicht wahr, das mit dieser Tante! ... Glaubte sie denn, er sei so dumm, nicht zu sehen, was um ihn her, in seinem eigenen Hause, vorging? – Als ob er nicht längst alles wußte, was sie ihm glaubte verschweigen zu können! – Vor vier Wochen war sie wieder einmal gekommen, diese Tante, einmal wie immer im Jahre, aber statt die Wände mit ihren Jammerklagen über ihre eingebildeten Leiden zu füllen, hatte sie diesmal kein Auge von dem Kinde gewandt, sich nur mit ihm abgegeben und einmal über das andere sich nicht genug wundern können, wie sich die kleine Marguérite im letzten Jahre entwickelt habe – »zu einem Fräulein, einem richtigen Fräulein« aus dem Kinde ... Und dann war sie wieder gekommen, und wieder ... hatte das Kind mitgenommen, weil »sie sich so einsam fühlte«, auf Spaziergänge und ins Theater ... immer öfter und öfter ... und dann war das Geld ins Haus gekommen, von dem niemand wußte, und wissen wollte, woher es kam.

Und Marguérite? – Nun, frech war sie ja immer gewesen, die Kröte, aber woher hatte sie denn auf einmal diese zweideutigen Ausdrücke und diese unzweideutigen Gebärden? Was? auch von der Tante? – Und weshalb sah er sie denn jetzt überhaupt fast nicht mehr? – Aber wie sie sich irrten, sie. Madame Grillon, die seine Frau war, und die kleine Marguérite, diese kleine Schlaue, seine einzige Tochter, wenn sie glaubten, ihn, Grillon, betölpeln zu können – ihn, der hier in Paris, der größten und schönsten Stadt des Weltalls, geboren war, der dem Staate lange Jahre gedient und den großen Krieg mitgemacht hatte, und dessen einzige Dummheit, die gewesen war, daß er sie, die dumme Gans aus der Provinz genommen hatte, als sie von dem famosen Monsieur Jumel sitzen gelassen worden war, und mit ganzen fünftausend Franks als Abfindung ...

Er schrie nicht mehr. Er sprach fast leise, aber bei jedem Worte puffte und kniff er sie, und aus seinen Augen leuchtete eine hämische Freude.

Sie wehrte sich nicht. Sie kannte ihn, diesen eitlen und rohen Patron, wie sich selbst. So dumm war er, daß er von allem nichts, aber auch gar nichts gemerkt hatte in diesen zwei Monaten ... Heute morgen hatte ihm irgendeiner dieser neidischen Affen, mit denen er sich den ganzen Tag herumtrieb, um »Arbeit zu suchen«, die Sache ins Ohr gesetzt, und nun wußte er natürlich auf einmal alles, und hatte alles längst gewußt. Nun würde er schreien und fauchen und sie schlagen, bis sie ihm alles gesagt hatte – bah, und dann würde er heulen und fortgehen und sich betrinken, und morgen würde alles in Ordnung sein, und sie würden wieder nebeneinander her leben, und ganz gut, besser als bisher, weil sie ja die kleine Marguérite hatten, so klug und so niedlich, so zärtlich und so selbstbewußt, die nun mit ihren dreizehn Jahren anfing, für sich und ihre Eltern zu sorgen ...

Aber diese Kneiferei mußte ein Ende nehmen. Ach, sie kannte ihren alten Grillon viel zu gut, um nicht zu wissen, daß nun, da er einmal argwöhnisch geworden war, ihn seine kleinliche Neugier, diese schreckliche Neugier, mit der er tagtäglich bis in die letzten Winkel ihres Lebens zu dringen versuchte, nicht ruhen lassen würde, bis er alles wußte.

Darum sagte sie ihm alles – ganz ruhig, ganz gleichgültig und ihre Stimme war so träge wie immer.

Auch die Adresse wollte er wissen, die genaue Adresse. Nun ja, er konnte sie haben. Nur sollte er jetzt endlich aufhören zu schreien. Und sie schrieb sie ihm selbst auf ein schmutziges Stück Papier, da er behauptete, er könne nicht schreiben, so sehr zitterten ihm die Hände vor innerer, seelischer Erregung. Also: rue Charbonnel ... Und die Nummer? – Die Nummer? – 13bis.

Und das Geld? – He? –

Welches Geld? – Ach, er dachte wohl die Hundertfrankscheine flögen nur so bei dem Geschäft, dummes Tier, das er war. So war das heute nicht mehr. Und sie rechnete ihm alles vor ... Geld? Nun, sie hatten eben davon gelebt. Wovon denn sonst?

Aber er schrie und tobte weiter. Er wollte Geld sehen. Und endlich gab sie ihm ein Zehnfrankenstück, das sie noch hatte. Was für ein widerwärtiger Mensch er doch war!

Dann aber, als er noch immer nicht aufhörte zu schreien und in sie zu dringen: sie müsse noch mehr Geld haben, noch viel mehr – da wurde auch sie böse.

Aber ihr Zorn äußerte sich ganz anders als der seine. Sie schrie nicht. Sie wurde nur plötzlich ganz blaß und grünlich um die vollen Lippen herum. Und so ging sie auf ihn zu, schob ihn mit einer Handbewegung wie ein unnützes Stück Möbel beiseite und verschloß sich in das Schlafzimmer.

Er wußte: nun war es genug. Ganz genug. Noch ein Wort mehr vielleicht und sie hätte ihn mit ihren rosigen Metzgerarmen gefaßt und durch das Fenster auf die Straße geworfen. Er kannte sie. Einmal, vor Jahren, als sie ihm noch fremder war und er noch nicht wußte, wie weit er gehen durfte, hatte sie einen Stuhl genommen, wie eine Fliegenklappe, und ihn auf ihn niedergeschmettert, daß er – beim Satan! – nicht mehr lebte, wenn er nicht noch rechtzeitig ausgewichen wäre; und ein anderes Mal hatte sie ihn wie ein Baby ganz einfach in dieses selbe Schlafzimmer getragen, auf dem Bett festgebunden und ihn so bis zum Abend liegen lassen, daß er drei Tage gebraucht hatte, um sich wieder bewußt zu werden, wie sehr er diesem Schwein an Charakter und Geist überlegen war, das sich mit allen Männern, die ihr in den Weg kamen, wenn sie nur stark und groß waren wie sie, einließ, und dabei merkwürdigerweise äußerlich doch immer reinlich und sauber blieb ...

Sein Schreien ging langsam in ein Knurren über, indem er in seinen Rock fuhr. In ihm fand er alsbald seine Würde als Mensch, Soldat und Staatsbürger wieder. Er durchwühlte noch schnell einige Schubladen, fand nichts mehr, befühlte noch einmal das Zehnfrankenstück in seiner Tasche und verließ das Haus. Wenn er es wieder betrat, würde die Ehre seines einzigen Kindes, und seine eigene, gerächt sein!

Obwohl er sich auf seine Kenntnis von Paris viel zugut tat, hatte er keine Ahnung, wo die rue Charbonnel lag. Wahrscheinlich mitten in der Stadt, dort, wo sich alle Laster zusammenhäuften ...

An der Haltestelle des Omnibus traf er den Bürger Ravel, gleich ihm aus Levallois-Perret. Der meinte, die rue Charbonnel läge am Palais Royal. Nein, beim Square Louvois, behauptete ein anderer. Das mußte entschieden werden, und so zogen alle drei in das nächste Café. Grillon bestellte und zahlte – einen Bock, einen kleinen Cassis und einen Absinth. Der Bottin gab den Ausschlag: die rue Charbonnel lag am Square Louvois und Grillon erkletterte die Imperiale des Omnibus. Einerlei, er wollte die schmutzige Gasse und dies infame Haus schon finden!

Unterwegs stieg der Nachbar Lagrange, der Schuhmacher, zu ihm. Verdammt, daß man keinen einzigen Gang mehr machen konnte, ohne auf Schritt und Tritt Bekannte zu treffen! Aber er würde es ihm nicht sagen, wohin er ging, dem neugierigen Schwätzer – o nein, das würde er nicht. Nur einen halben Liter an der Umsteigestelle am Gare St. Lazare kostete ihm dies neue Zusammentreffen und eine halbe Stunde Zeit, so daß er beim Weiterfahren eine große Auseinandersetzung mit dem Kontrolleur hatte, der behauptete, seine Korrespondence sei ungültig geworden, dies dumme Vieh ...

Grillon zog den Kürzeren, mußte ein zweites Mal bezahlen, wieder einen Franken wechseln lassen, und war in höchster Wut, als er endlich dem Square Louvois, durch enge Seitengassen der Avenue de l'Opéra, zusteuerte ...

Der kleine Platz lag da, von eisernen Gittern umzäunt, still und verschlafen in der Glut der Sonne. Auf einer Bank kauerte eine schlafende Gestalt, ineinandergekrümmt wie ein Igel; bei einer anderen spielten ein paar schmutzige Kinder lautlos im Sande. Die Gesträuche waren vertrocknet und gelb, und die dumpfe Luft schwer von Staub und den Dünsten der Gassen, die aus allen Ecken hervorkrochen.

Der Bürger Grillon hätte sich am liebsten auch dort hingelegt und geschlafen, aber es war bereits vier Uhr und er hatte eine Pflicht zu erfüllen, eine ernste Pflicht. Und er lief die Straßen ab, rings um diesen Platz, bis er sie fand, gleich die dritte: Rue Charbonnel.

So, das war sie also, die verfluchte Gasse, in die man sein Liebstes schleppte, um es zu vergiften an Leib und Seele ... Und nun sollte die Welt etwas erleben: wenn er diese Hölle gefunden hatte, natürlich die schmutzigste und versteckteste unter all diesen Lasterwinkeln dieser elenden Gasse, dann würde er, Grillon, auf das nächste Polizeiamt gehen, seine Papiere vorlegen und seine Anklage vorbringen; und mit dem Leutnant und dem Sergeanten würde er zurückkehren, er an ihrer Spitze, und dann würde man es stürmen, dieses Haus, wie die Bastille, ja wie die Bastille! – und sie würden etwas erleben, die Bewohner dieser guten Gasse da! – –

Aber erst wollte er sich diese Nummer 13 bis einmal ansehen. Er betrat die Straße und war sehr erstaunt über den ruhigen und friedlichen Eindruck, den sie machte. Sie unterschied sich in nichts von den übrigen Seitenstraßen, die sich hier um die großen Adern des Verkehrs am Herzen der Stadt hinzogen. Im Gegenteil: diese rue Charbonnel sah vielleicht noch sauberer und wohlhabender aus, wie sie sich dahinstreckte in der hellen Sonne des Nachmittags, mit ihren offenen Läden, ihrem tätigen Leben, das seiner Arbeit nachging.

Aber das Haus, wo war das Haus? – Sollte sie ihn belogen haben, die Canaille? – Nein, er wußte, sie log nie in ihrer schamlosen Frechheit –: sie schwieg oder sie sagte ihm die Wahrheit. – Und der Bürger Grillon suchte die Nummer, die Nummer 13 bis, indem er auf der Seite der ungeraden Nummern hinging, und als er nach ein paar Schritten gegenüberstand, war er ganz verblüfft. Denn diese Nummer 13 bis war wahrhaftig nicht so leicht zu übersehen! – Es war das größte Haus dieser ganzen Straße und überragte mit seinen fünf, sechs Stockwerken alle anderen um ein Beträchtliches. Und es unterschied sich nicht hierin allein von seiner Umgebung: denn während an allen anderen Häusern und in allen Stockwerken die Fenster weit offen standen, waren die langen Reihen der Fenster dieses Hauses – acht in jeder – so dicht mit ihren grauen Holzläden verschlossen, daß man auf den ersten Blick annehmen mußte, das Haus sei überhaupt nicht bewohnt. Nur oben, ganz oben, in der letzten Reihe, stand ein einziger dieser unzähligen Läden ein wenig, kaum halb, offen, als habe man vergessen, ihn zu schließen, überhaupt, das ganze Haus hatte etwas – etwas Unheimliches, fand der Betrachter. Zwar stand die Haustür weit offen und ließ den Eingang in einen kleinen Vorraum frei, von dem eine kurze Treppe zu einer zweiten, fest verschlossenen Tür führte. Aber Grillon konnte weder irgendeinen Namen entdecken, der gesagt hätte, wer denn eigentlich in diesem Hause wohnte, noch eine Klingel. Und was das Merkwürdigste war: rechts und links in diesem Eingang, in Manneshöhe über der Straße, lagen zwei große Fenster, die wie die Zelle eines Zuchthauses mit mächtigen Eisengittern versehen waren, und durch die bunten, durch Übermalung völlig undurchsichtig gemachten, tief zurückliegenden Scheiben dieser Fenster drang schwach, aber doch erkennbar, ein Schimmer von Licht, das dort – am hellen Tage – brannte, und, wie schon die offenstehende Haustür bewies, daß das Haus in Wirklichkeit bewohnt war.

Grillon mußte Atem holen, so sehr beengte ihn der Anblick. Dann stieß er einen halblauten Fluch aus: Donnerwetter, war das ein Haus! – Aber das war ja eigentlich gar kein Haus, das war ein Grab inmitten des Lebens, eine Festung, ein Fort Chabrol! – Was konnte das sein?– – –

Er ging weiter, um nicht aufzufallen, denn er allein starrte nun schon diese ganze Zeit dieses Haus an, an dem' alle anderen Menschen so gleichgültig vorübergingen, als sei es nicht im mindesten auffallend, daß es so dalag, stumm, verschlossen und vergittert am hellen Tage ... Dann drehte er plötzlich um, warf im Vorübergehen noch einmal einen langen, scheuen Blick über die verschlossenen Fensterreihen und befand sich wieder auf dem kleinen Platz, wo die Kinder noch immer ihr lautloses Spiel trieben und auf der Bank der Ouvrier weiterschnarchte.

Er mußte nachdenken über das, was er eben gesehen. Denn es war ihm ganz klar, daß seine ursprüngliche Idee, zur Polizei zu gehen, lächerlich war. Man würde ihn hinauswerfen, nein, man würde ihn überhaupt nicht anhören. Denn wenn dieses Haus auch äußerlich kein einziges Kennzeichen aufwies, eines trug es doch: die kleine, doppelseitige Nummer, wie ein Dreieck aus der Wand herausspringend und abends von innen erleuchtet, die Nummer aller öffentlichen Gebäude in Paris, aller öffentlichen Gebäude und – aller öffentlichen Häuser, die unter dem Schutze des Gesetzes standen! – Er kannte sie, diese Nummern, so unauffällig und doch so vielsagend ...

Allerlei dunkle Geschichten fielen ihm ein, die er irgendwo einmal gehört hatte: wie die Polizei diese Häuser nicht nur tolerierte, sondern geradezu beschützte; wie unmöglich es den Mädchen gemacht würde, die einmal in einem solchen Hause waren, ihm wieder zu entfliehen; wie sie willenlose Sklaven geworden waren, wenn sie es einmal betreten hatten ...

Und seine Kleine, wer sagte ihm denn, daß sie überhaupt jetzt in dem Hause war? – Nein, die kleinen Mädchen, die hielt man nicht dort fest, die kamen dorthin nur zum Besuch, und bevor er sie nicht selbst dort hatte eintreten sehen, er mit eigenen Augen, wie konnte er beweisen, daß seine Marguerite in dem Hause war? – – Jetzt, am hellen Tage, würde sie wohl noch nicht dort sein, sondern bei ihrer Tante, die sie in den Straßen herumführte, um sie zu zeigen – aber am Abend, da würden sie wohl kommen, die beiden! –

Und da kam ihm eine glänzende Idee. Nein, das wollte er nicht: jetzt auf dies stille Haus zugehen, Lärm schlagen und sich als ein Narr einstecken lassen unter dem Gelächter der Zusammengelaufenen. Nein, er wollte warten, bis der Abend kam und sie sein kleines Opfer angeschleppt brächten – dann, dann würde er hervorstürzen aus seinem Versteck, mit den Fäusten an die Tür dieser Hölle donnern und so laut rufen, daß alle es hören müßten, daß er, er der Vater sei. Und auf seinen Armen würde er sie nach Hause tragen, seine kleine Marguérite, und überall, wo er hinkam, würden die Leute um ihn herumstehen und sagen: Ja, so handelt ein Vater, ein rechter Vater ...

Und er ging von dem Platze wieder in die rue Charbonnel zurück. Fast gegenüber der Nummer 13 bis befand sich ein kleines Café, wie sie in jeder Straße zu finden sind. Vor der Tür standen ein paar kleine Tischchen, die kleinen, runden Blechtische mit den niedrigen Rohrsesseln, an die Wand der Häuser gedrückt, um möglichst wenig Platz von dem Trottoir wegzunehmen. Das schien dem Bürger Grillon der rechte Platz für seinen Beobachtungsposten zu sein. Von dort aus konnte man die ganze Straße nach beiden Seiten und das Haus gegenüber genau beobachten und jeden sehen, der sie herunter- oder heraufkam und dort ein- und austrat.

Er setzte sich an den äußersten Platz an den letzten der kleinen Tische, wo er dem Hause gegenüber am nächsten war, und bestellte sich einen Liter, den ihm der Wirt gleichgültig brachte. Grillon schenkte sich ein. Das war so ganz sein Fall: etwas zu tun zu haben, ohne etwas zu tun. Oh, er wollte hier schon warten, und wenn es acht Tage lang dauern sollte! ...

Nichts sollte ihm entgehen von allem, was in dem Hause dort drüben vor sich ging! Vor allem aber wollte er seine Aufmerksamkeit auf die Tür richten. Jeder, der aus- oder einging sollte von seinen unbestechlichen Augen gesehen werden.

Einstweilen aber verging eine halbe, eine ganze Stunde, ohne daß sich in dem Leben der Straße und an dem Hause das geringste verändert hätte. Die Menschen kamen und gingen an ihm vorbei, zuweilen betrat ein Gast den Ausschank, um ein Glas zu trinken, aber die andern Tische blieben leer, und in der Nummer 13 bis lagen die Läden fest vor den Fenstern, brannte das matte Licht hinter den bunten, undurchsichtigen Fensterscheiben und blieb die Tür fest verschlossen, ohne irgendeine Menschenseele hinein- oder hinauszulassen. Um Grillon kümmerte sich kein Mensch. Der, da er sich zu langweilen anfing, ließ seine Gedanken schweifen in die ferne Zeit, da er noch selbst in solchen Häusern verkehrt hatte, damals, als er noch jung und unverheiratet war, am Sonnabend abend, mit dem Lohne der Woche in der Tasche, und allerlei längst vergessene Dinge fielen ihm ein: was sie alles mit den Mädchen gemacht hatten und was die sich gefallen lassen mußten, unsaubere und häßliche Dinge, deren sich dennoch keiner schämte, die sie vergaßen ...

Aber das waren alles erwachsene Mädchen gewesen mit starken Hüften und vollen Busen, je fetter, desto begehrter von ihnen.

Was jedoch ging in dem Hause dort drüben vor? – Wer lebte darin? ... Na, er würde ja dahinterkommen, noch heute. Nur ausharren mußte er hier. Und mit einem schweren Seufzer trank er seinen Liter aus und bestellte gleich noch einen, denn zum Apéritif war es ihm noch zu früh.

Es war fünf, halb sechs geworden. Die Straße belebte sich etwas. Hausfrauen und Dienstmädchen, die die erste Kühle des späten Nachmittags abgewartet hatten, erschienen mit Körben zum Abendeinkauf, Kinder liefen zum Platze, um zu spielen, und das ganze Leben nahm, wie die Arbeit dieses Tages langsam zu Ende ging, ein lebhafteres Tempo an. Die ersten Apéritif-Gäste tranken ihren Absinth oder ihren Amer Picon mit Wasser.

Drüben blieb alles still. Nichts rührte sich hinter den verschlossenen Läden. Und als Grillon nochmals mit scharfem Blick die Reihen der Fenster entlang strich, bemerkte er, daß jetzt, hoch dort oben, auch der eine Laden, der ein wenig offengestanden hatte, angezogen worden war. Alles lag tot und still, ein Grab, ja ganz wie ein Grab.

Grillon langweilte sich entsetzlich, aber er hielt aus. Es wurde sechs, und er glaubte, sich jetzt seinen ersten Absinth leisten zu dürfen. Er bestellte, und neuer Mut zog in sein verwundetes Vaterherz. Die erste Dämmerung des Abends kam. Laternen wurden entzündet, leuchteten aber noch matt in der weißen Helle der noch zu frühen Abendstunde. Die Woge des Lebens floß stärker durch diese Straße. Es kamen Menschen, Männer und Frauen, die die Arbeit des Tages hinter sich hatten, und eilten, nach Hause zu kommen; und keiner kümmerte sich um den andern, nur insoweit, als er ihm auswich, um selbst schneller vorwärtszukommen. – Auch Wagen fanden jetzt ihren Weg durch die rue Charbonnel.

Grillon richtete sich auf, angefeuert durch seinen ersten Absinth. Seine Stunde nahte. Er würde sich ihrer würdig zeigen, wenn sie kam. Er war gefaßt. Er war vorbereitet auf alles ... Er strich seinen Schnurrbart nach jedem Zug aus dem Glase und verwandte das Auge nicht mehr von der Tür dort drüben. Es war keine Zeit mehr, eigenen Gedanken nachzuhängen ..., denn jetzt sollte kommen, was kommen mußte. Er scheuerte seinen Rücken dichter an die Wand und wartete ... Er würde warten! – Er hatte gelernt zu warten.

Er bestellte den zweiten Absinth, gelassen und ruhig. Aber seine Erwartung war gespannt.

Warum begannen sie dort drüben nicht endlich? – Er saß jetzt hier seit zwei und einer halben Stunde und nichts hatte sich ereignet.

Er wandte seine Blicke jetzt nicht mehr von den Menschen, die an dem Hause vorbeigingen. Da er seine Blicke nur auf die eine Stelle dort drüben gerichtet hielt, schien es ihm, als wichen sich die Menschen nur an dieser einen Stelle aus, die dort, von beiden Seiten kommend, zusammentrafen. Es war ein stetig wechselndes Bild: oft blieb die Stelle ganz leer, dann kamen nur einzelne Personen an ihr vorbei, dann wieder schien die Flut anzuschwellen, und Grillon konnte die Einzelnen kaum mehr verfolgen, die sich dort aneinander vorbeischoben. Aber immer noch zogen alle an der Tür vorbei und er hatte noch keinen einzigen hinter ihr verschwinden sehen.

Es lag eine gewisse Regelmäßigkeit in diesem Ebben und Anschwellen: wenn der Strom stärker geworden war, schien er langsam zu versiegen, und eine Weile lag das Trottoir leer, bis dann wieder einer oder der andere erschien, vorbeiging, und mehr und mehr Passanten hinter sich nachzuziehen schien ...

Jetzt war es wieder leer dort drüben. Und langsam kam ein Herr ganz allein die Straße herauf. Grillon betrachtete ihn mit besonderem Interesse. Ein schöner, alter Mann, mit weißem Bart, im Zylinder und Gehrock, den hellen Paletot leicht über dem Arm, das Bändchen der Ehrenlegion im Knopfloch – oh, Grillon, sah es wohl! – Gravitätisch und ernst. Grillon tat einen tiefen Schluck und sah ihm nach ...

Aber was war das? – Der Herr schritt nicht dort weiter die Straße hinunter. Er war auch nicht umgekehrt. Er war einfach verschwunden! – – –

Grillon rieb sich die Augen. Träumte er?! – Er starrte hinüber, er sah die Straße hinauf und hinunter, noch war sie leer, jetzt kamen wieder ein paar Menschen von beiden Seiten, gingen vorbei, aber der Herr im Zylinder war und blieb verschwunden!

Lange saß Grillon auf seinem Platze mit offenem Munde, so verblüfft war er. Er riß die Augen auf, denn jetzt, jetzt wieder: waren da nicht vier Personen eben heraufgekommen und waren es jetzt nicht nur noch zwei, die weitergingen, während die beiden anderen wie vom Erdboden verschlungen waren? – Vier, vier Frauen waren es gewesen, die in einigem Abstand, je zwei und zwei, gekommen waren, und nur zwei, die Vordersten, schritten weiter ...

Es wurde ihm unbehaglich zumute. Er hatte doch Augen im Kopfe, warum konnte er denn nicht sehen? – Und er war doch nicht betrunken, jetzt doch noch nicht! – Er träumte entweder oder die Dämmerung war bereits zu stark geworden, und dieser verfluchte Magistrat tat natürlich wieder nicht seine Pflicht den steuerzahlenden Bürgern gegenüber und zündete die Laternen zur rechten Zeit an! – Aber jetzt würde er schon aufpassen. Nichts sollte ihm mehr entgehen!

Er setzte sich in Positur. Und wieder verfolgte er die Menschen mit seinen Blicken, die dort, bald einzeln, bald in Gruppen vorbeigingen, dort an dem grauen Hause, das stumm und verschlossen dalag, regungslos, ein unheimliches Ungeheuer, und wie auf der Lauer, anzuziehen und zu verschlingen, wer sich ihm nahte, mit den blinden Augenhöhlen seiner verschlossenen Fenster ...

Und wie Grillon spähte und spähte, schien es ihm, als ob dort drüben immer wieder Menschen beim Vorbeigehen an der Tür des Hauses verschwänden, ohne daß er ein einziges Mal erkennen konnte, wie sie eintraten. Jetzt: diese beiden jungen Mädchen, die sich noch eben lachend durch die Menschen geschoben hatten, wo waren sie hin? – Der Herr, der ganz allein, dicht an den Häuserwänden sich hindrängend, die Straße heraufgekommen war, er ging nicht mehr weiter, er war weg, plötzlich weg! – Und diese Droschke, die da leer fortfuhr, hatte sie nicht einen Augenblick, nur einen Augenblick, dort drüben gehalten und war es nicht ganz so gewesen, als hätte er den Schlag klappen gehört? – Aber ihre Insassen – wo waren sie? – Wo konnten sie sein als hinter jener Tür? Denn die Straße war leer.

Da faßte Grillon einen Entschluß. So ging es nicht weiter. Wenn er hier so weiter saß, so entschlüpften sie ihm, die er erwartete. – Er rief laut nach dem Wirt und zahlte: zwei Liter und drei Absinth. Etwas schwankend, aber stolz erhob er sich. – Jetzt wollte er dort hinüber und sich dicht neben die Tür hinstellen, dicht neben die Tür an den Eingang, und keiner, keiner sollte ihm entgehen, der dort eintrat, auch sie nicht, die Bestie, die Tante, und sie nicht, seine kleine Marguérite. – Oh, er wollte! –

Er überschritt die Straße und ging auf das Haus zu. Aber wie er in die Mitte kam und er das Haus näher und näher vor sich sah, packte ihn wieder das Grauen, mit dem er es am Nachmittag zuerst erblickt – seine Schritte wurden langsamer, er starrte auf die Tür in dem Eingang, und plötzlich, noch bevor er das jenseitige Trottoir erreicht, kehrte er um und ging in einem großen Bogen, wie ein geprügelter Hund, über die Straße zurück und setzte sich wieder auf seinen noch warmen Platz an die Ecke des Tischchens an der Wand. Er zitterte förmlich vor Angst. Als er den Wirt sah, rief er nach einem neuen Liter, der ihm mürrisch gebracht wurde.

Von nun an verließ ihn die Angst nicht mehr. Er drückte sich fest an die Wand, trank und starrte mit seinen gläsernen Augen hinüber auf das fürchterliche, stumme Haus und seine Tür, diese Tür, die sich lautlos durch eine geheimnisvolle Macht von selbst beim Nahen der Besucher zu öffnen und sich ebenso lautlos hinter ihnen zu schließen schien.

Es war Abend geworden. Die Laternen brannten durch den Dunst der Straße wie gelbe Kugeln, und über das Hasten und Treiben der Menschen hatte sich ein geheimnisvolles Begehren gebreitet, als verlangten sie alle nun von dem teuer erkauften Tage der Arbeit den Lohn – die Erfüllung irgendeines heimlichen Wunsches ... Und wie Grillon hinüberstarrte und starrte, sah er alles, was diese Tür dort einzog und ausspie: elegante Damen und Herren jeden Alters; blutjunge Bürschchen, die reinen Gassenjungen, und kleine Mädchen; Frauen in Federhüten und einfache Bürgersleute, die aussahen wie brave Ladenbesitzer und Beamte – das alles ging dort aus und ein, kam zu Fuß oder zu Wagen und verschwand dort, und keiner, keiner von allen brauchte zu warten und zu klingeln oder zu klopfen: bei jeder Annäherung ging die Tür ein wenig auf, in magnetischen Angeln ruhend, zurückweichend und sich wieder schließend – wie selbstverständlich.

Die meisten sah Grillon verschwinden, wie vorhin – bei der Annäherung des Hauses wie in den Erdboden verschlungen. Aber andere sah er ganz deutlich die drei Stufen des Einganges emporgehen, ruhig und langsam, und dann plötzlich von der Tür verdeckt, ja manche der Eintretenden erkannte er deutlich wieder, wenn die Straße drüben gerade leer war, wie sie das Haus verließen – alle schnell und ohne sich umzusehen, und nach kürzerem oder längerem Verweilen ... Alle aber, alle, die eintraten und wieder gingen, hatten etwas in ihren Bewegungen, als wollten sie es vermeiden, gesehen zu werden oder Aufsehen zu erregen. Es gab dort drüben keine Ansammlung wie vor anderen öffentlichen Häusern, keine Szenen, keine Fragen ...

Vor den starren Augen des Bürgers Grillon begann sich alles zu verwirren. Das unheimliche Grauen ließ ihn nicht los, und er hätte nicht mehr gewagt, sich von seinem Platz zu erheben, aus Angst gesehen zu werden, aber er begann die Menschen, die die Straße drüben herauf- und herunterkamen, daraufhin anzusehen, ob sie wohl dort eintreten würden oder nicht. Und er täuschte sich alle Augenblick ... Wie? – Diese ehrbare Frau mit der stolzen Haltung und der eleganten Kleidung besuchte das Haus? – Und diese beiden Mädchen, die ganz so aussahen, als gehörten sie dort hinein, gingen vorüber? – Und was wollten denn diese beiden Gassenjungen dort, die eben nach links in den Eingang geschwenkt waren? – Und der Herr, der so aussah, als sei er ihnen gefolgt, und der nun doch weiterging? –

Alles verschwamm vor seinen Augen. Und allmählich unterschied er nichts mehr deutlich: alle Vorübergehenden schienen durch das Haus zu gehen, es zu betreten und zu verlassen, angezogen und wieder ausgespien von seiner Unersättlichkeit.

Er gab es auf, zu beobachten, sondern starrte nur noch weiter hinüber, wie gelähmt durch den Bann der letzten Stunden. Und einmal nur noch wurden seine verglasten Augen etwas größer: war das nicht die Tante und seine Kleine, die dort die Straße heraufkamen? – Und standen sie nicht einen Augenblick dort still? – Löste sich Marguérite nicht von der Hand der Alten, nickte ihr noch einmal zu und verschwand die Stufen des Einganges hinauf, während jene ruhig und aufgeblasen, wie immer, weiterschritt? –

Hatte er sich getäuscht oder war es so gewesen? – Grillon wußte es nicht mehr. Er war wie betäubt. Er hatte keinen Willen mehr.

Er dachte nicht mehr daran, aufzustehen. Er hätte es gar nicht mehr vermocht.

Seine letzten, verschwimmenden Gedanken in den Stunden des Abends, in denen er weiter hier saß und trank, und trank, und wartete – er wußte nicht mehr: auf was? – aber nicht mehr hinüber, sondern nur noch vor sich hin stierte, waren beherrscht von dem Grauen vor dem Hause dort drüben und einer dumpfen und quälenden Neugier seiner Sinne.

Was ging dort drüben vor? – Welche Szenen spielten sich dort ab? – Welcher Art waren die Vergnügungen, denen man sich dort hingab? – Und wer unter all diesen Menschen, jung und alt, vornehm und arm, beiderlei Geschlechter, welche waren die Käufer und wer verkaufte sich? Und was tat seine kleine Marguerite dort? – –

Scheußliche Bilder stiegen vor ihm auf und ballten sich in immer neuen Formen vor seinen trunkenen Sinnen. Er sah durch die verschlossenen Fenster in die Zimmer des Hauses dort drüben hinein, und überall die nackten Leiber der Eingetretenen in immer wechselnden Verschlingungen der Wollust. Und unter ihnen den alten, den jungen, den mageren und fetten, den reinen und schmutzigen, den kleinen und zarten Körper seiner Marguérite, in seiner lockenden Beweglichkeit und seiner frühreifen Schmiegsamkeit ...

Die Gier packte ihn. Er wollte in das Haus. Er hatte keine Angst mehr.

Er stand auf, tat einen Schritt und fiel der Länge nach hin. Man brachte ihn auf die nächste Wache.

Als der Bürger Grillon am nächsten Mittag, schmutzig und noch immer betrunken, nach Hause kam, war seine Frau, adrett und frisch, längst bei der Arbeit und Marguérite kam eben fröhlich aus der Schule.

Sie reinigten ihn und brachten ihn zu Bett. Sie kannten ihn beide und wußten, daß er nie mehr von der Sache sprechen würde.

Und so war es.

Er ließ es zu, daß die Kleine statt seiner die Kosten des Haushaltes bestritt, und er behandelte sie fortan mit einer verständnisvollen Zärtlichkeit, in die sich Neugier und Respekt seltsam mischten.


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