John Henry Mackay
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John Henry Mackay

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Der Sybarit

Wenn ich an diesen Herbst denke, diesen milden, ernsten, wundervollen Herbst, beschleicht mit Macht mein ganzes Wesen die stille und große Freude der genossenen Schönheit. Und ich begehe die Tage wieder, wo mein Herz so unruhig und mein Geist so traurig war und beide sich doch nicht verschließen konnten der wunderbaren Feier des Abschieds ringsumher ...

 

Es war in Genf, der Stadt, die – schon berührt von dem Hauche südlichen Frohsinns – so majestätisch und selbstbewußt die Krone eines der schönsten Seen der Welt trägt.

Nie glaubte ich den Himmel blauer, einen See von tieferem Grün, Schnee von blendenderer Weiße gesehen zu haben, als diesen Himmel, dieses großen und weiten Beckens Gewässer und diese leuchtenden Eisgefilde des Mont-Blanc, der so nah schien und doch so fern war.

Aber über all diese Pracht sank schon der erste Hauch der Schwermut, als ich ihn kennenlernte, vielleicht nicht einmal den interessantesten, und sicher auch nicht den bedeutendsten, ohne Zweifel aber den glücklichsten von allen Menschen, den bewußt glücklichsten, will ich lieber sagen, dem ich je begegnet bin.

Noch heute wirkt der Einfluß seiner Art in mir fort und schon jetzt, während ich die ersten Zeilen schreibe, um ihn zu schildern, fühle ich, wie meine Worte ruhiger werden, wie der Schlag meines Herzens sein Hasten einstellt und stetiger geht.

Sie wird eine große Freude für mich werden, diese kleine Arbeit. Ich fühle es. Denn ich schreibe dies auch für mich – und vielleicht in erster Linie für mich –¦ nieder ...

Wie ich ihn kennenlernte? – Schon der Beginn war seltsam genug.

Ich stand in einer französischen Buchhandlung und sprach mit dem Chef der Firma über ein deutsches Werk. An einem Seitentische lehnte ein älterer Mann, der mir den Rücken zuwandte, einen mächtigen Nacken. Ich merkte, wie einer der Kommis, der mich kannte, auf ihn nach einer Weile zuging und ihm etwas sagte, wobei er zu uns hinüberdeutete, wie der Fremde das Buch fallen ließ, in dem er geblättert, und auf mich zukam.

Ich sah in ein seltsam interessantes Gesicht: bartlos und fast mager mit starkem Kinn und Nase, hoher Stirn, leuchteten unter starken Brauen ein Paar Augen von solch starker, zwingender Friedensruhe und solch tiefem, innigen Glücksausdruck mir entgegen, wie ich sie nie gesehen. Und wie er mir seine Hände entgegenstreckte, seine großen, breiten und weichen Hände, sagte er, einmal auf französisch und dann noch einmal auf deutsch, mit einer Stimme voll Kraft und Wohllaut:

– Welche Freude! – welche Freude!

Ich sah den Besitzer des Geschäfts fragend an.

– Monsieur Germann, sagte dieser.

Unser Gespräch war im Gange.

Ich weiß kaum mehr, wovon wir sprachen.

Er habe meine Bücher gelesen, er lese jetzt so viel – was für traurige Bücher! – Wie schön Genf sei, nicht wahr? – Ob ich diesen Abend ihm schenken möge? – Und ob ich mit ihm essen wolle?

Ich nahm alles an: seine Urteile und seine Einladung. Schon übte er einen großen, großen Zauber auf mich aus, und schon gab ich mich ihm hin.

Wir gingen.

Als wir auf der Straße waren, blieb er vor mir stehen und sah mich wie prüfend an, so daß ich lächeln mußte. – Jetzt weiß ich es wieder, sagte er, ich kenne Sie. Ich habe Sie schon einmal gesehen.

Er nannte Ort und Tag, wo es gewesen sein sollte, und beides konnte stimmen.

Aber er beobachtete nicht nur mich, auch ich sah ihn mir an, wie wir so dahinschritten.

Was bei seiner Kleidung zuerst auffiel, war die große Einfachheit und Bequemlichkeit: weite Schuhe und Hosen, um den Leib eine breite schwarze Binde, keine Weste, ein rotseidenes Hemd (ohne steifen Kragen), über das ein langer, englischer Selbstbinder herabfiel, eine bequeme Joppe, ein weicher Hut aus leichtem Filz, ein leichter Stock – das war das Äußere dieser Erscheinung.

Auffallend war ferner die bequeme Anmut und Lässigkeit all seiner Bewegungen: kein Überhasten, nichts Eckiges, nichts Nervöses. Sein Gang war ein Schlendern, aber ein überlegtes Schlendern ohne Trägheit ... Es war der Schritt eines Mannes, den nichts drängt und den nichts beschwert, eines Menschen, der die Erwartung einer großen Freude in sich trägt, aber sich den Genuß dieser Erwartung nicht durch Eile verkürzen will ...

Ich mußte meinen für gewöhnlich hastigen Schritt dieser Bequemlichkeit anpassen, und ich tat es nicht ungern.

Wir gingen über die große Brücke, und die hellen, weitgeöffneten, freudigen Augen meines Begleiters sahen alles: den See und die Menschen, und mehr als einmal blieb er stehen, als könne er sich nicht satt trinken an der Schönheit um uns her.

Unser Gespräch ging neben uns her, ohne uns zu stören. Er führte mich in die Taverne anglaise, dieses einfache und doch so unbeschreiblich behagliche kleine Restaurant, mit seiner originellen Küche: seinen englischen Grillsteaks, seinen deutschen Gemüsen, seinen französischen Weinen ...

Ich hasse die großen Abfütterungstische der Pensionen, wo die Zimmer angefüllt sind mit jenem ewigen Fettgeruch und die Essenden ihre Ellbogen aneinander scheuern, und ich hatte daher seit sechs Wochen in Bier- und Weinhäusern meist schlecht und immer teuer gegessen.

So war dies das erste, für das ich ihm dankbar war, sehr dankbar sogar, denn ich habe, so lange ich in Genf war, an keinem anderen Ort mehr meine Mahlzeit genommen.

An diesem Abend aßen wir das Diner, aber wir tranken einen anderen, besseren Wein als den roten Tischwein.

Der alte Herr wurde mit offenbarer Auszeichnung behandelt, und wenn sie der Art und Weise galt, wie er aß und trank, so war sie vollauf verdient. Denn er aß mit augenscheinlichem, wirklichem Genuß, nicht alles, was aufgetragen wurde, aber doch genug, und während wir plauderten, über nichts und über alles, sagte ich mit einer gewissen Ironie zu mir: Was für eine fabelhafte Fähigkeit dieses alte Original hat, sich zu freuen – erst freut er sich an einem Buch, dann an der Bekanntschaft mit dir, dann an dem See (und da hat er allerdings recht) und endlich an diesem Beef. Ich bin begierig, was alles noch folgen wird! ...

Als ob er gemerkt hätte, woran ich dachte, sagte er in diesem Augenblicke:

– Ich habe Sie damals, als ich Sie zum erstenmal sah, essen sehen. Sie aßen, als wenn Sie eine Pflicht zu erfüllen hätten. Und doch sollte diese Stunde eine Stunde des Genusses für uns sein. Sie aßen hastig. Aber was treibt Sie, eine halbe Stunde früher fertig zu sein? Ich habe wenig Gedanken und Sie haben viele, und doch weiß ich, wie mein Geist sich freut, wenn ich meinen Körper erfreut habe mit den Gaben der Erde – warum also?

Ich schwieg, so betroffen war ich. Es schien mir, als habe er die vielen guten Gedanken und ich die wenigen. Diesen wenigstens hatte ich noch nicht gehabt.

Und da ich schwieg, fuhr er fort mit seiner ruhigen, langsamen Stimme, die so unendlich überzeugend war, da er nur für sich zu sprechen schien:

– Und glauben Sie mir, es bekommt besser.

Er sagte das so einfach, so unaufdringlich, fast gleichgültig die Worte hinwerfend, daß ich es ihm nicht übel nehmen konnte. Außerdem hatte er recht. Ich habe lange Zeit das Essen nur als ein Mittel angesehen, mich zu erhalten, ohne Selbstzweck, und hatte viele Rückfälle in diese alte Gewohnheit ...

Er legte mir vor: ein zartes Bruststück.

– Nehmen Sie doch noch von diesem Huhne. Es ist nicht schlecht, wenn auch ein wenig zu stark gebraten. Er war so gütig gegen mich, und doch sagte ich:

– Welches Talent doch viele Menschen haben, sich zu freuen! – Oh, sagte er. – Finden Sie das wirklich? – Ich kann es kaum glauben. Ich denke im Gegenteil: wie enorm gering das Talent zur Freude ist. Das sich zu ärgern erscheint mir weit größer. Sie zum Beispiel ärgern sich jetzt eben ohne allen Grund darüber, daß ich mich freue.

Ich mußte lachen, und er lachte mit.

Dann tranken wir wieder; ich schnell, er langsam: einen bedächtigen, tiefen Zug, der ihm auf der Zunge von selbst verging.

Was für eine gute Antwort das eben gewesen war! Fast hätte ich mich wieder geärgert, daß sie so gut war.

 

Wir nahmen unseren Kaffee und rauchten. Er tat beides in ganz kleinen Zügen, nur mit einer unendlichen Sorgfalt in den Bewegungen. Seine Upman war ausgewählt. Er hatte sich bequem zurückgelehnt und sah mich unverwandt an, mit seinen ruhigen, sicheren Blicken.

Eine brennende Lust war in mir aufgetaucht, ihn näher kennenzulernen, als ich ihn plötzlich fragen hörte: »Wie ist es?« sagte er. »Die Dämmerung ist noch nicht da. Ich wohne eine Stunde von Genf, eine Stunde zu gehen. Aber wir können auch das Bateau nehmen. Wie ist es, wollen Sie diesen Abend bei mir verbringen?«

Als er sah, daß ich zögerte, denn ich hege gegen jede Beschlagnahme meiner Person einen instinktiven Argwohn, fügte er hinzu:

– Wer weiß, ob wir uns je wieder begegnen. Und ich würde mich sehr freuen, wirklich sehr ...

Das sagte er so ernst, daß ich meinem heimlichen Wunsche gern nachgab.

Als wir uns erhoben, sprach er erst noch einige lustige Worte mit der freudig errötenden Wirtin, einer jungen Französin, streichelte einen herrlichen Hund, der auf dem Boden lag, wechselte einen Handschlag mit seinem glücklichen Besitzer, einem jungen Mann, den er Astruc cadet nannte, und den er mir empfahl. Wie hätte ich damals ahnen können, daß ich beider Geschichte einmal schreiben würde! – Denn auch Astruc cadet will ich eines Tages schildern, den kleinen Lebensbummler, den mein neuer Freund an diesem Abend gelegentlich noch einen Sybariten der Freiheit und einen kompletten Anarchisten nannte ...

Der Abend begann und seine ersten Schleier fielen über die leuchtenden Farben des Tages.

Wir überschritten abermals die majestätische Brücke, unter welcher hinweg die Rhonegewässer mit brausendem Jubel dem See entflohen, durch den schönen Garten am See und an diesem See entlang, durch den ganzen Stadtteil hin, der den reizvollen Namen der »lebenden Wasser« von jenem mächtigen Strahl empfangen hat, dessen grandiose Kraft an festlichen Tagen so oft schon mein Entzücken gewesen, wenn der Wind ihn packte und beide miteinander rangen, daß die glitzernden Wasserfetzen weithin flogen und fielen ... Heute schwieg dieser einzige Kampf.

Wir gingen weiter. Der See, den nun ein silbergraues Gewand geheimnisvoll verhüllte, blieb zur Seite, und weite und stille Täler nahmen uns auf, wo die helle Landstraße breite Wiesenflächen durchschnitt, um an bewaldeten Hügeln gemächlich wieder aufzusteigen zu Weilern, welche die Kuppen mit ihren Häusern bezogen.

Ein so großer Friede lagerte über dieser abendlichen Wanderung, ich wußte es nicht mehr: schmiegten sich die Worte meines Gefährten unter den Schutz dieser herbstlichen Ruhe oder ging sie von diesen Worten selbst aus, die so lässig fielen, wie die gelben Blätter von den Sträuchern am Wegrand? – –

Ich weiß heute nicht mehr, was er gesprochen hat auf diesem Wege, aber ich weiß noch gut, wie wohl mir der tiefe Klang seiner Stimme tat.

So ging unser Weg hin: über Hügel und durch Täler – bald lagen stille Wiesen und braune Felder weit ausgedehnt um uns, bald umhüllten uns die Gesträuche zu Seiten der Straße mit einem schützenden Schirme.

Eine neue Höhe war erreicht, und wieder sahen wir den See zur Linken. Der erste Schlummer der Nacht hatte ihn befallen, aber noch immer rollte der kühlere Abendwind seine Wellen in fröstelndem Erschauern zusammen ...

Wir waren wohl eine Stunde gegangen, so bequem und nachlässig, daß ich wünschen mochte, den ganzen Abend so weiter zu gehen bis in die Nacht hinein und dem Morgen entgegen.

Ein Wirtshaus lag am Wege zu Beginn eines neuen Dorfes. Eine laute und lustige Schar belagerte die hölzernen Pfahltische und alles trank Most – die perlgraue, herbe, gärende Flüssigkeit des neuen Weines: dankbar und freudig über das gute Jahr.

Mein Begleiter grüßte hinüber und man grüßte ihn wieder mit Zuruf und Winken. Doch verweilten wir nicht.

Ich fragte: »Sie sind sehr bekannt hier?« ...

– Ich kenne die Leute nicht. Aber sie sind fröhlich und ich bin fröhlich und wir haben die Freude in uns erkannt und begrüßt.

Am Ende des Fleckens erhoben sich plötzlich wieder neue Villen: wunderbare, weiße Bauten, groß und weit wie Schlösser und aus dem Dunkel hervorleuchtend wie weiße Rosen aus dunklen Hängen – Marmor und Granit. Dazwischen ältere, zeitengraue, einfache Landhäuser, umfriedet von hohen Gipfeln und umgrenzt von Gärten, die grenzenlos schienen in ihrer raumverschwenderischen Ausdehnung. Und in einem solchen Gartenpark lag das Haus, in das er mich führte.

Es war ein altes Landhaus, von seinen Bewohnern während des Sommers verlassen bis in den Herbst hinein; hier hatte er zwei leere Zimmer genommen, wie er mir sagte ...

Ein alter Diener kam uns entgegen. Mein Begleiter begrüßte ihn wie einen alten Freund.

Ich wurde von ihm in das Zimmer geführt, dessen blendend erleuchtete Fenster ich schon von unten gesehen. Niemals vorher hat ein Raum auf mich einen so seltsamen Eindruck gemacht. Es war etwas Neues, das ich zu sehen bekam. Und dabei so einfach, so lächerlich einfach – –

Ich muß ihn genau beschreiben.

Ein schwerer, dunkler Teppich von tiefem Rot über den ganzen Boden hin, und an den Wänden kreuzweis vier bis fünf ganz niedrige, fußlose Sofas – ich kann sie nicht anders nennen als Matratzen, Matratzen von enormer Breite und einladender Weichheit, dicht überhüllt mit Fellen und Stoffen, deren Namen ich nicht einmal kannte, und beladen mit einzelnen Kissen von gleicher Breite und schwellenden Polstern. Und außer diesen nichts in dem ganzen Raum, nichts als zwei oder drei kniehohe Tischchen, einige Bände Bücher hier- und dorthin verstreut, an den Wänden ein paar große Bilder: Radierungen von Landschaften, von französischen Meistern, wie mir schien, und von der Decke herunterbaumelnd in leiser Schwingung über jedem dieser seltsamen Betten eine tiefhängende Ampel, verschieden jede in Form und Kunstwert ... Nichts sonst, wahrhaftig nichts. Kein Stuhl, kein Tisch, kein Schrank, kein Gerät irgendwelcher Art ... Und der ganze Raum gewann so, da nichts den Boden über Kniehöhe überragte, eine Weite für das Auge, die er nicht besaß, und der erste Eindruck, den seine Einrichtung machte, war der eines unerhörten Raffinements ...

Aber dazu war all dies eigentlich viel zu einfach – nein, ich hatte noch kein Urteil: ich war verblüfft, und ich war in gewissem Sinne bestürzt, bestürzt zunächst über mich selbst, der ich einen so zwingend selbstverständlich-einfachen Komfort noch so wenig geahnt. Das machte mich noch stiller. Ich stand stumm noch in dem dämmernden Lichte, als Germann wieder eintrat.

Er hatte nur die Beschuhung und den Rock gewechselt und fragte mit keinem Worte, wie mir das alles gefalle. Aber das behagliche Dehnen der Arme verriet seine Freude, wieder hier zu sein.

Er warf sich auf eines der Ruhebetten und forderte mich mit lässiger Handbewegung auf, ein gleiches zu tun.

Es war immer noch still zwischen uns, als der alte Diener wiederkehrte. Er trug – sorgsam wie ein Heiligtum – ein Tablett und setzte es nieder auf einen der kleinen Vierecktische, die so niedrig waren, daß der Arm sie im Liegen bequem erreichen konnte.

Es wurde eingeschenkt: aus einem mit Kupferreifen beschlagenen Eisenkrug mit gewölbtem Bauche und engem Halse floß ein bernsteingelber Wein – weißer Bordeaux, wie ich hörte – langsam in hohe venetianische Kelchgläser.

Mit einer fast zärtlichen Dankbarkeit in Wort und Handschlag sagte dann erst Germann seinem alten Diener gute Nacht, bevor wir tranken.

Wir waren nun allein, und eine Stimmung strömte herein zur offenen Balkontüre, wie sie unmittelbarer mich selten beglückt.

Kam sie herein mit dem Nebel von der Fläche des Sees, mit dem Duft aus den Kelchen der Spätherbstrosen, mit den weißen, flimmernden Strahlen des Mondes? –

Ich wußte es nicht, aber sie verwebte sich mit den Wolken des besten englischen Tabaks, den ich je geraucht, mit dem Rausche des herrlichsten Weines, den ich je getrunken, mit den glückgeschwängerten Worten einer wohllautenden Stimme, mit dem Frieden des Abends und dem grundgütigen Lächeln der Weisheit auf jenes seltsamsten Menschen Munde zu einem Abend – unerhört, unbeschreibbar, unsagbar und unvergessen. – O Germann, du Sybarit!

Er lag dort, ich lag hier – und das Licht der Ampeln floß über uns hin. Neben jedem stand sein Krug, sein Glas, lag, was er brauchte.

So sprachen wir zusammen, Angesicht in Angesicht. Und er erzählte mir die Geschichte dieses Glückes, um die ich ihn nun mit innerlicher Erregtheit bat.

 

– Ich war fast fünfzig Jahre alt geworden, als die große und gärende Unzufriedenheit, in der ich seit fünfzehn Jahren dahingelebt, zum Durchbruch kam.

Daß meinem Leben das Beste bisher gefehlt hatte, ahnte ich lange. Noch wußte ich nicht, was dieses Beste war, und ob es überhaupt möglich für mich sein würde, es zu finden. Aber eines wußte ich: daß ich nicht mehr so weiter leben durfte, wie ich gelebt hatte, und daß ich nicht sterben konnte, ohne wenigstens den Versuch gemacht zu haben, das zu suchen, was mir gefehlt ...

Noch sagte ich niemandem etwas von meiner Absicht. Ich hatte eine große Rechnung aufzustellen und um die Bilanz – ohne Übereilung und ohne Störung – ziehen zu können, begab ich mich wochenlang, natürlich allein, an einen stillen und schön gelegenen Ort. In diesen Wochen dachte ich ausschließlich an mein Leben: wie es gewesen war und wie es noch werden könnte; und wie die Wochen vergangen waren, stand mein Entschluß unabänderlich fest.

In der ersten Zeit war ich befallen von einer namenlosen Traurigkeit. Was ich erkannte, war trostlos. In meiner Jugend hatte ich dahingelebt: ihre sogenannten Freuden mit verschwenderischer Kraft genossen. Aber es war kein Genießen in Besonnenheit gewesen, und hundertfach größer hätten sie sein können. Glücklich gewesen war ich nicht. Dann hatte ich mein ganzes Leben lang gearbeitet. Man sagt, daß die Arbeit das Glück ist. Ich bezweifle es, wenigstens war sie es nicht für mich. Was sollte das wohl für ein Glück sein, den ganzen Tag Zahlen aneinanderzufügen und auf einem Kontorsessel zu sitzen, während die Sonne zum Fenster hereinscheint? – Ich hatte eine Frau, die mich nicht zur Ruhe kommen ließ und ich hatte Kinder, welche mich zwangen, mich viele, viele Nächte lang in qualvollen Sorgen umherzuwälzen. Es war das alles kein Glück, denn ein zeitweiliges Glück ist nicht das Glück. Was soll ich noch weiter von meinem Leben sagen? – Es war das Leben aller Menschen: ein Hasten und ein Drängen. Aber es war kein Genießen.

Und so prüfte und prüfte ich Tage und Tage, und die Nächte, welche zwischen den Tagen lagen, und fand, daß das Leben, das ich bisher geführt, nicht wert war, gelebt zu werden.

Und als ich das erkannt hatte, stand ich vor der Entscheidung: dies Leben zu enden oder ein neues Leben anzufangen.

Ich begann den zweiten Teil meiner Untersuchung: ob ich noch stark genug war, dies neue Leben zu beginnen, ob es noch der Mühe wert, ob es nicht schon zu spät war.

Ich war noch nicht fünfzig Jahre alt. Ich prüfte meinen Körper und fand, daß er gesund war; ich prüfte meinen Geist und sah, daß er ungeübt und schwerfällig, aber willig und durstig, ja unendlich durstig war.

Nur langsam begann in mir das Licht der großen Freude aufzuleuchten, welche nun mein ganzes Sein durchwärmt und wächst und wächst von Tag zu Tag, je mehr ich sie verstehe ...

Ich konnte noch zehn, ja noch zwanzig Jahre leben: das sind viele Tage und unendlich viele Stunden, und meine Hoffnung wurde zur Gewißheit.

Da reiste ich ab. Nichts in der Welt hätte mich mehr abhalten können, das zu tun, was ich jetzt tat.

Ich teilte mein Geld, das ich mir erarbeitet, in drei Teile. Ich gab den einen meiner Frau, den zweiten meinem Sohne. Meine Tochter war so gut verheiratet, ihr Mann war so reich, daß ich es für unsinnig gehalten hätte, ihren nutzlosen Reichtum – jetzt hielt ich ihn bei ihr für nutzlos – noch zu vermehren.

Dann verließ ich die Frau, die mich nicht so nötig hatte, wie ich die Freude. Sie war erst zornig und sagte, ich sei ein alter Narr. Da hatte sie recht; ich wollte ja jetzt beginnen, ein junger Weiser zu werden. Sie wurde traurig und sagte, ich liebe sie nicht mehr. Da hatte sie wieder recht. Wenigstens liebte ich nicht mehr so, um mich ihr länger opfern zu können.

Meinen Kindern antwortete ich nicht.

Das war die erste Probe, die ich bestand. Das Wichtigste unter allem war jetzt für mich geworden, keine Zeit mehr an das alte Leben zu verlieren. Ich hatte mir daher vorgenommen, mir nicht mehr als drei Stunden von meinem Leben nehmen zu lassen und all dies nahm mir immerhin fünf ... Ich bedauere zwei von ihnen noch heute, soweit ich überhaupt etwas bedauere ...

Niemand dehnt sich in einem weichen Bett so behaglich, als der, welcher in einem harten geschlafen.

Das merkte ich jetzt in einem Maße, wie ich es selbst nicht geahnt hatte.

Freude, Freude – war die Losung meines neuen Lebens: reuelose Freude, gestern und heute und morgen, alle Tage, Stunde für Stunde.

Ich nahte mich ihr wie ein junger Geliebter in unbeschreiblicher Sehnsucht.

Und wie nahm sie mich auf!

Als sei sie glücklich über mein Verständnis, so erschloß sie mir all ihre Reize, nach und nach, indem sie mich suchen und finden ließ, alles, was ich noch erst ahnte ... O Freude, liebe Freude, du bist das Leben, du bist mein Leben!– –

Germann hatte geendet.

 

Ich sprach zuerst kein Wort. Erst war es mir, als müßte ich in ein lautes Lachen ausbrechen. Aber dann – war es der Wein, die Nacht, die ganze Umgebung? – stieg ein ganz seltsames Gefühl in mir auf, das – ich fühlte es jetzt – mich diese ganzen letzten Stunden, seit ich diesen Mann gesehen, umschlichen und umlauert. Schwer, schwer sank es auf mich herab ...

Ich sprang auf von meinem Lager und ging in dem weiten Räume, in dem alles den Laut der Stimme und der Schritte dämpfte, zweimal auf und nieder.

Er achtete nicht auf mich und sagte nur noch, wie zu sich selbst:

– Ich weiß nicht, wo ich sterben werde und ich weiß nicht, wann ich sterben werde, aber das weiß ich, daß ich mir zuletzt sagen darf: Du hast fünfzig Jahre verloren, aber du hast sieben, zehn, zwölf, zwanzig gewonnen ... Dann lächelte er.

– Ich glaube fast an zwanzig ... denn die Freude macht mich wieder jung, Sie glauben gar nicht, wie sehr sie erfrischt und belebt ... Oh, die Freude! ...

Und er hob sein Glas langsam, blickte mich an, tat einen seiner langen und langsamen Schluck und legte sich behaglich zurück ...

Aber mir war durchaus nicht so behaglich zu Mute wie ihm: entweder war das, was er gesprochen, das Vernünftigste, was ich je in meinem Leben gehört, und dann war ich noch weit entfernt von der Vernunft, oder dieser alte Mann war ein kindischer, übergeschnappter Alter, der sich einbildete, der Himmel sei die Erde und er in ihm ...

Ich begann ihn zu fragen, hastig und erregt. Doch er schüttelte den Kopf:

– Nein, nicht so! ... nicht so! – Fragen Sie mich, und ich will Ihnen gern antworten, aber stören Sie nicht die Harmonie dieser seltenen Stunde, die hergekommen ist auf den weichen Schwingen der Nacht und uns nur um das eine bittet: sie nicht zu verscheuchen mit dem Poltern des Tages ... Nein, nicht so ...

Ich stand still und sah ihn an. Ich hätte mich auf ihn stürzen mögen und ihn emporrütteln, aber ich hätte mich auch hinwerfen mögen auf eines dieser Lager, den Kopf in den Händen vergraben und weinen und schreien mögen, weinen und schreien um das, was auch ich wollte und – nicht konnte! – –

Ich warf mich wieder hin – und trank – und rauchte – und dachte nach über das, was ich gehört.

Er aber nahm einen der umherliegenden Bände, ließ sein Auge einen Augenblick liebevoll auf dem goldenen Titel ruhen und las dann mit seiner tiefen, ruhigen, wohllautenden Stimme ein Gedicht, ein anderes und noch eines ... Ich kannte sie. Sie waren von Swinburne. Er las ohne besondere Kunst, aber mit ganz besonderer Liebe und Vertiefung, und es war zweifellos, daß diese Strophen viele, viele Male von seinen Lippen geflossen waren. Und diese Verse, die ich kannte und die ich seit Jahren nicht mehr gelesen, kamen über mich wie eine neue, große, ungeheure Sehnsucht, und ich dachte der Zeit, in der ich noch nicht vergraben war in den Wust des Tages und seines Kampfes.

Er ließ mich.

Endlich begann unser Gespräch wieder und er kam meinen Fragen mit seinen Antworten fast zuvor.

– So, jetzt fragen Sie mich!

Er lächelte, als ich ihn fragte, ob er seit seinem Entschluß hier gewohnt habe.

Wir standen jetzt beide auf dem Balkon, und vor uns lag der große, weite Garten in seiner ganzen Stille. Und was ich fragte und er mir zur Antwort gab, verhallte in diesem abendlichen Schweigen.

– Es ist ein großes Vagabundenleben, das ich führe, das ist schon wahr. Aber gibt es denn etwas Schöneres, als so fessellos in der Welt herumzustreifen und überall – auf die Augen, die Wangen, den Mund – das schöne Antlitz der Erde zu küssen? – übrigens, so ganz heimatlos bin ich nicht. Ich habe sogar augenblicklich an drei Orten meine Heimat. Was Sie hier um mich sehen, brachte ich mir diesen Frühling aus Brüssel mit. Es ist eine schöne Stadt, dies Brüssel, fügte er nachdenklich hinzu ...

Es ist ja nichts – ein paar Teppiche, ein paar Bilder, ein paar Bücher ... Viel mehr habe ich überall nicht. Das wird alles, wenn ich in vierzehn Tagen nach Paris gehe, in ein paar große Bündel gepackt und irgendwo hingestellt, bis ich im nächsten Herbst wiederkomme. Denn ich will wiederkommen – zu dir, mein schönes, stolzes Genf, und zärtlich streckte er seine Hand gegen die Stadt aus, die sich in die schwermütigen Schleier des Herbstabends früh zu hüllen begann ...

In Paris aber ... dort habe ich bis jetzt meine eigentliche Heimat gehabt: zwei entzückende Zimmer in einem Hotel der Rue de Rivoli – ganz hoch, über den Gärten der Tuilerien, die Kronen ihrer Bäume unter mir und so nah, so nah! ... Ich habe sie aufgeben müssen, aber ich finde schon andere. – Paris! Ist das nicht die Stadt der Schönheit? – Welche Lebhaftigkeit, welche Anmut, welche Erinnerungen! – Oh, nirgends lebt es sich besser – dorthin ging ich vor drei Jahren zuerst, dort begann sich mir zu erschließen, was Leben heißt, dort soll dieses Leben mir seinen letzten Zauber zeigen!

– Und sind Sie gewiß, immer so glücklich zu bleiben, bis – bis an das Ende?

– Wenn ein Leben drei Dinge hat: die Ruhe der Muße, die nichts muß; die Möglichkeit der Einsamkeit, die eine freiwillige ist; und Gesundheit, die es nicht vor der Zeit verzehrt, so kann es selbst heute in dieser ordinären Zeit der Qual, die die Hast ist, sich halten in den Grenzen der Schönheit und der Freude und von sich scheuchen, weise und fest, den wüsten Lärm verlorener Tage. Er sah den bitteren Zug des Zweifels um meine Lippen.

– Aber Geschmack, Geschmack, sagte er eifrig, – das ist es, was den Menschen fehlt. Statt hinaus zu schwimmen in das offene Meer der Freude, um das Köstlichste hervorzuholen in kühnem Tauchen, bleiben sie am Strande und wühlen im Sand nach zerbrochenen Muscheln und welkendem Tang. Das Nächste ist ihnen das Wichtigste, und für das Ewige haben sie keine Sinne. Arme Sklaven ihrer Tage, arme Diener ihrer Zeit und ihrer Forderungen! –

– Sagen Sie mir, ist Ihre Harmonie eine ungestörte? – Wie bringen Sie es fertig zu leben, wie Sie es wollen, gegenüber den Ansprüchen dieser Tage, die Sie bestürmen müssen auch in diesem – Hafen noch?

Weil ich es will! – Das ist alles. Sie wollen Beispiele? – Gut, ich will Sie Ihnen geben. Der Morgen beginnt, und ich erwache. Das Geschenk des Tages liegt vor mir, oft in der unscheinbaren Hülle einer grauen Regenstimmung, die ich erst entfernen muß, wie manchmal im Winter, wenn ich nicht im Süden bin, aber meist in leuchtender Schönheit: golden, sonnig, »neugeboren« liegt es da, und auch ich fühle mich so und muß mich freuen, ob ich will oder nicht. Aber ich will, ich will es jetzt ... Früher erwachte ich und war roh und undankbar genug, seinen stummen und lieblichen Gruß unbeantwortet zu lassen, während ich ihn an alle möglichen Menschen verschwendete, die ihn nicht verdienten. Ich stürzte mich auf die Zeitungen, denn ich mußte doch wissen, was »los war«: daß der und der Börsenschwindel geglückt war, daß der Zar verschnupft sei und wieder einmal ein Krieg drohe, daß eine Mutter ihren drei Kindern die Hälse durchschnitten, und was das alles mehr war – alle diese trostlosen, abscheulichen Dinge, mit denen die endlosen Spalten gefüllt und gefüllt werden, und die mich doch gar nichts angingen; heute rühre ich es nicht mehr an, dieses ewig feuchte, dunstige, massenhafte Papier, äußerlich so unbequem, wie innerlich, es erregt meinen Abscheu, ich sehe weg, wenn ich es erblicke ...

Heute lese ich ein Gedicht: eines von jenen, das in lieblicher und reiner Schönheit ein Kind zu sein scheint dieses segnenden Morgens ... Doch weiter. Früher waren da ferner schon gleich bei Tagesbeginn die Briefe, ganze Haufen, voll eines erregenden, unerquicklichen, alltäglichen Inhalts, und wenn es keine geschäftlichen waren, so waren es die Herzensergüsse guter Freunde und die Zudringlichkeiten von Verwandten aller Art, die mich mit der Aufzählung ihrer uninteressanten Lebensereignisse langweilten und sogar noch eine Antwort erwarteten; heute wird alles, was ich bekomme, uneröffnet auf einen Haufen gelegt, und bin ich gelegentlich einmal in der allerbesten Stimmung, so daß nichts, aber auch gar nichts sie mir verderben kann, so wird das Ganze durchgesehen und dann fortgeworfen; übrigens nimmt nichts ein so schnelles und gedeihliches Ende, wie ein Briefwechsel, der nur von der einen Seite genährt wird. Früher setzte ich mich in laute und schmutzige Bierlöcher mit verrauchten Decken und gelben Wänden, trank aus großen und plumpen Gläsern Bier – Bier, wie kann man Bier trinken! – und brüllte in dem Chore aufgeblasener und selbstzufriedener Philister über Politik mit. Mich schaudert, wenn ich heute daran denke! – Heute suche ich bedeutende Menschen, wohin ich komme, und finde sie überall, und ich freue mich ungeheuer an ihnen, und sie freuen sich an mir ein wenig. Gibt es überhaupt etwas herrlicheres, als bedeutende Menschen?

Ich lächelte, aber er fuhr unbekümmert fort.

– Und habe ich keine bedeutenden, so nehme ich, was ich finde. In jedem steckt irgendeine gute und interessante Seite, seine eigene, man muß sie nur zu finden wissen. Und wie gerne zeigen sie sich von dieser Seite, sobald sie merken, daß man sie anerkennt und versteht! Wollen Sie noch mehr Beispiele, wie ich es anfange, mich frei zu halten von ihren Quälereien? – Ich zaubere ein Lächeln auf das Gesicht eines Kindes – nichts ist leichter, als das; ich durchblättere meine Radierungen; ich versenke mich zum tausendstenmal in die Schönheiten einer Bronze, die ich mein eigen nenne; ich sehe den Spielen der Sonne zu und beobachte das wunderbare Erwachen und Reifen und Sterben der Natur; ich flaniere über die Boulevards und sehe allem nach, was jung, elegant, stolz und fein ist: den schönen Frauen, den mutigen Männern, den prachtvollen Pferden; ich lasse mir ein seltenes Gericht servieren und esse es mit Langsamkeit; ich denke nach über die Vorzüge dieses und jenes Tabaks und vergleiche beide; ich reite, ich schwimme, ich turne; ich lese ein Buch voll Tiefe und Glanz; ich – ich – ach, was wollen Sie noch, ich freue mich den ganzen Tag und die halbe Nacht und finde immer genug, woran ich mich freuen kann, obwohl ich so sehr die Abwechslung liebe ...

– Sie sind ein Sybarit –

– Ja, ich bin ein Sybarit. Aber weshalb sollte ich keiner sein? Ist es nicht besser und auch schwerer, ein geschmackvoller Mensch zu sein, als ein geschmackloser?

– Und ist es nicht wahrer und ehrlicher, sich selbst einzugestehen, daß man das Leben liebt, als sich selbst vorzulügen, man schätze seine Freuden gering oder verachte sie gar?

– Und verspüren Sie nie Übermüdung, Unlust, ja Ekel vor soviel Eintönigkeit der Freude?

– Nie. Denn ich halte Maß in meinen Genüssen. Ich trinke nicht über den Durst und esse nicht über meinen Hunger hinaus. Ich liebe das Übermaß nicht, denn es zerstört die Harmonie zwischen Körper und Geist. Ich liebe, wie ich schon sagte, die Abwechslung. Und so ist mir jeder Tag eine neue Wonne, und so ist es mir jede Nacht. Ich bin kein mächtiger Mann, und ich möchte es nicht sein, denn ich wüßte nichts anzufangen mit meiner Macht; ich bin kein großer Künstler, nicht einmal ein kleiner, und ich begehre auch nicht nach einer Gabe, vor die die Götter den Schweiß gesetzt; ich bin nur ein alter Mann, der lange genug dumm war, um endlich klug zu werden, der wenig gelernt hat und doch zuletzt noch das eine: daß das Leben ein köstliches Ding ist, ein sehr köstliches Ding, mit dem man nicht spielen sollte, wie mit einem Balle; ein alter Mann, der nun haushält, sich freut an dem Rest seines Lebens auf seine eigene Weise, das Lachen, die Kinder, den Sonnenschein liebt, den Wein, die Schönheit, den Genuß und tausend, tausend andere Gaben der Welt; ein alter Mann, für den die Blumen begonnen haben zu blühen und der nun versucht, aus jeder noch einen letzten Duft zu ziehen ... der glücklich ist, so glücklich, wie er nie glaubte, es werden zu können ...

– Und wenn er daran erinnert wird, daß niemand sich glücklich nennen darf vor seinem Tode?

– Dann lächelt er, wie ich jetzt lächle, denn er ist glücklich bis zu seinem Tode. Sollte er aber sehen – und das meinen Sie, mein bitterer Freund, mit dieser Frage – sollte er aber sehen, daß die dunklen Seiten wieder ihre Schatten werfen wollen, die häßlichen Dinge des Lebens wieder nahen: Krankheit und Elend und wie sie sich nennen, so wird er freiwillig gehen, und – Germann sah mich groß und fast feierlich an – nur er wird dafür gesorgt haben, daß diese Abschiedsstunde die herrlichste und größte seines Lebens wird. Das glauben Sie mir! – Ein langes Schweigen entstand unter uns. Ich schaute trüb hinunter in den Garten, er sah mit seligen Augen hinauf zu dem Gewölbe, an dem die Sterne glänzten wie eine Bejahung seiner Worte.

– Weltflucht ... sagte ich endlich leise.

– Weltflucht? wiederholte er, staunend und überrascht.

– Aber ich bin es doch nicht, der die Welt flieht? Ihr, Ihr geht ihr aus dem Wege: ihrer Pracht, ihrer Harmonie, ihren Seligkeiten, und vergrabt euch in Blindheit und Unrast in eure selbstgeschaffenen Qualen, von denen sie nichts weiß. Ich? – Ich suche sie auf, diese leuchtende Welt, all ihre Freude, all ihre Wonne, sie gibt mir, was nie ich noch kannte, und Sie sagen, ich fliehe sie? –

Hatte dieser Mensch immer recht? Sollte er immer recht behalten?

Aber jetzt wollte ich ihm meine Meinung sagen und ihn fassen, da, wo auch er verwundbar sein mußte. Jetzt sollte er herunter aus seinem Himmel und nieder auf die Erde. Und ich brach los:

– Es ist oberflächlich, was Sie da sagen: es ist gut in der Theorie. Aber was sollen die Menschen, die nicht den dritten Teil eines großen Vermögens in zehn oder meinetwegen zwanzig Jahren verbrauchen können, damit anfangen?

Er lächelte: nicht überlegen, nicht beleidigt, nicht getroffen, sondern sonnig, ich möchte sagen, sonnig von innen herauf:

– Wie oberflächlich muß ich dann erst gewesen sein, als ich noch im praktischen Leben stand: ich sah nur die Oberfläche der Freude und nicht, was hinter ihr lag. Doch ich drang ein, und mit Entzücken habe ich gesehen, wie tief sie ist, wie unergründlich tief! Täglich ergründe ich sie mehr und stündlich finde ich sie schöner, begehrenswerter, bezaubernder ...

– Sie finden für alles eine Entschuldigung!

– Die Freude bedarf keiner Entschuldigung. Aber wenn dem so wäre, ich dürfte sagen: ich habe so viel nachzuholen, ihr müßt mir den Rest meines Lebens dazu lassen, und ihr müßt mich verstehen! – Und Sie verstehen mich auch, denn Sie sind ein Dichter.

Ich zuckte die Achseln.

– Sie kennen den Schmerz nicht.

– Ja, ich kenne den Schmerz, sagte er ernst, fast feierlich, – und weil ich ihn so gut kenne, deshalb hasse ich ihn, soweit der Haß meine Freude nicht stört.

– Aber Sie sind nicht allein auf der Welt. Andere Leben sind mit dem Ihren verknüpft und Ihre Freiheit, sie ist die Knechtschaft der anderen. Dieser alte Mann vorhin, ist er nicht Ihr Sklave? – Oder haben Sie keinen Diener? Da runzelte er – für eine Sekunde nur und ganz leicht – die Stirn.

– Ich habe einen alten Freund, der mir hilft. Er ist sehr glücklich bei mir, wie er sagt. Wehe auch dem, der bei mir nicht glücklich ist! – fügte er lachend hinzu und sah mich mit einem so bezaubernden Lächeln voll leichter Ironie an, daß ich nicht anders konnte, als ihn in diesem Augenblick wirklich zu lieben.

– Gehen wir lieber hinein. Es wird kühler. – Und wir betraten das Zimmer wieder.

 

Ich konnte und wollte nicht mehr gegen ihn an.

Meine eigenen Einwürfe erschienen mir häßlich und klein gegenüber dieser sicheren, vollendeten Harmonie. Was sollte ich noch sagen? – Ich schwieg.

Und nach einer Weile erst merkte ich, daß dieser Raum und dieser Mann gar nicht geeignet waren für Disput und Wechselreden. Nein, wie jetzt, mußte man beide genießen: der Länge nach hingestreckt auf die bunten Polster, den Gedanken Freiheit gebend, zu schweifen, wohin sie wollten, und die Augen ruhen lassend, bald auf diesen Ampeln, die sich leise wie im abendlichen Traume wiegten, bald auf diesem großgeschnittenen, friedlichen, schönen Antlitz, in das zu sehen eine Freude allein war ...

Und so tat ich und fragte und sagte nichts mehr, blies die Wolken des Tabaks durch Nase und Mund, trank von dem Weine, der wie Glut die Adern durchrann, und träumte, träumte über dem, das ich eben gehört, und ließ mich von den verklungenen Worten führen in ein anderes Leben, als ich es kannte, und in eine andere Zeit, fern der meinen, und während ich so lag und träumte, begann ich meinen Gastgeber zu verstehen ... und hörte ihn nur einmal noch, wie von ferne her, sagen: »Daß doch die Menschen immer glauben, sie müßten reden, wenn sie zusammen sind. Wenn sie mehr schweigen würden, dächten sie mehr ...«

– Was ist die Uhr? – fragte ich ihn – ich weiß nicht, nach wie langer Zeit.

Er richtete sich halb auf.

– Uhr? – Ich sehe nie nach der Uhr, außer wenn ich reisen muß. Ich schlafe, wenn ich müde, und esse, wenn ich hungrig bin ... Wollen Sie fort? – Wie Sie wollen. Ich bleibe noch lange auf ... Aber ich gehe noch ein Stück mit Ihnen. Möchten Sie nicht noch einmal trinken?

– Ja, sagte ich, denn ich war durstig, so durstig wie nie.

Wir stießen an, und der zitternde Klang der Kelche irrte durch das Gemach, nicht lauter, als das schnelle Gezwitscher eines Sommervogels.

Wir waren aufgestanden. Ich sah ihn fragend an.

– Alles bleibt wie es ist ... sagte Germann. – Ich werfe mich nachher hier hin, lese, bis ich müde werde, und schlafe ein, schlafe, bis mich der Morgen weckt und der See mich ruft.

– Sie baden noch?

– Alle Tage noch. So lange es geht. Oh, das Schwimmen im klaren Wasser ist eine Lust ganz eigener Art.

Er ging mir voraus, und ich ließ noch einmal zum Abschied meine Blicke auf dem seltsamen Raume ruhen, über dessen Boden mit seinen dichten, dicken Polstern jetzt der weiche Rauch des Tabaks in weißen Streifen schwebte.

Germann leuchtete mir mit einem der Kandelaber voran, die breite Treppe hinunter und so durch den Garten. Er litt nicht, daß ich den Leuchter trug. Am Tor des Gartens ließ er ihn stehen. »Niemand löscht ihn; ich finde ihn gleich so wieder ... Mag er brennen, bis ich wiederkomme.«

 

Und wie vorhin, gingen wir die breite Landstraße bis zu der nächsten Höhe. Aber wir sprachen nicht mehr.

Dort oben blieb er stehen.

– Der Mond leuchtet Ihnen heim. Leben Sie wohl, mein Freund!

Ich sah ihm voll in die ruhigen Augen.

– Ich danke Ihnen. Mehr konnte ich jetzt nicht sagen. Ich hörte, wie gepreßt meine eigene Stimme klang, schwer und mühevoll aus der Brust heraus.

Da legte er sanft seinen Arm um meine Schulter.

– Mein lieber junger Freund, sagte er gütig, liebreich, bittend, – wie kurz ist doch alles menschliche Leben! Und wie schwer machen wir es uns! Manches, vieles an Sorgen, Kummer und Elend kommt ja von außen, aber wie groß, überwältigend groß ist der Rest, den wir selbst in uns hineintragen können, in dieses unser Leben, an Schönheit, Überlegung. Ruhe und Glück wenn wir es nur recht wollen! – Und Sie, der Sie ein Dichter sind, wie reich sind Sie und lügen sich vor, Sie seien arm und die Welt sei leer! ...

Ich antwortete ihm nicht mehr, und ich fragte ihn nur noch eines: »Sehen wir uns wieder?«

– Gewiß sehen wir uns wieder. Aber wann und wo, das wollen wir nicht fragen. Verabredungen, das sind die törichtsten Fesseln, die wir uns um die Füße winden. Weiß ich, wo ich morgen bin? – Was ich tue? –.

Nein, keine Verabredung!

Und noch sagte er:

– Leben Sie wohl, mein Freund, leben Sie freudig, mein Dichter – sehen Sie, diese Welt, die Ihnen gehört, sie grüßt Sie ...

Er gab mir beide Hände, und ich sah ihn gehen: hoch aufgerichtet, stolz – ein ewig-junger Alter, durch die graue Nacht.

Ich war allein, und fröstelnd trugen mich meine Füße durch die kühle Nacht. Ich ging immer gerade aus, immer gerade aus.

Ich war ganz betäubt, ganz wirr. War das, was ich eben gesehen, Wirklichkeit? War es ein Traum gewesen? ... Lange grübelte und grübelte ich, und langsam fand ich mich zurück aus dem fremden in mein eigenes Leben. Als ich mich wieder besaß, war ich ruhiger geworden, denn ich wußte wieder, wie ich es heute weiß: daß mein Leben meine Arbeit ist und daß ich mit ihr mich quälen muß bis an meine Ende, und daß diese Qual mein Glück ist und mein einziges Glück ...

Die Sonne ging hinter mir auf, als ich Genf erreichte.

 

Ich habe diesen Mann nur einmal noch wiedergesehen. Nicht in der Taverne, wohin er zwar in den folgenden acht Tagen noch ein paarmal kam, aber stets zu Zeiten, wo ich nicht dort war (– denn er aß zu sehr unregelmäßigen Stunden –), sondern auf der Straße. Er fuhr in einem Wagen an mir vorbei, ohne mich zu sehen. Denn neben ihm saß die jüngste und hübscheste der Theaterratzen, und wie sie aufschauend seinen Blick – gerade als der Wagen an mir vorbeifuhr – erwiderte, sah ich in ihren fidelen Augen noch ein anderes Leuchten, als nur das der Dankbarkeit.

Eines Tages werden wir uns wiedersehen, des bin ich gewiß. Ich freue mich – ehrlich gesagt – darauf.

Ich dachte noch oft an ihn, aber ich fragte nie mehr, ob er im Rechte war.

Wie konnte er im Unrecht sein?

Sein Leben gab ihm recht.


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