John Henry Mackay
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John Henry Mackay

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Da erinnerte er sich plötzlich ...

Er war nun allein.

Er war befreit von seiner Frau, seiner Tochter, seinem Geschäft.

Seine Frau war gestorben; seine Tochter nach auswärts verheiratet; und sein Geschäft hatte er verkauft, da er jetzt genug Geld besaß für den Rest seines Lebens.

So lebte er jetzt: er stand später auf als gewöhnlich und kleidete sich gemächlich an. Nach dem Frühstück besah er irgend etwas: eine Sammlung, ein Museum, oder er trank einen kleinen Frühschoppen an der Potsdamer Brücke; nach dem Essen schlief er. Dann las er und schrieb ein wenig, und mit dem beginnenden Abend ging er an seinen Stammtisch mit großer Regelmäßigkeit ...

Er ließ die Stunden vergehen, wie sie wollten. Jetzt, wo er so viel Zeit hatte, dachte er an so manche Dinge, die ihm früher nie in den Kopf gekommen.

Eine so große Sehnsucht war in ihm, die Sehnsucht nach jener Zärtlichkeit, die er nie in seinem Leben genossen und die er sein ganzes Leben entbehrt.

Er hatte sie nie gefunden.

Nicht in dem Hause seiner Eltern. Die lagen – halb totgedrückt durch die Sorgen des Lebens – in beständigem Streit miteinander.

Nicht bei seinen Geschwistern. Es war eine große Kinderbande gewesen, in welcher sich alles durcheinanderprügelte um den besten Happen und den wärmsten Platz.

Nicht in seiner Lehrzeit. Sein Meister war ein harter und strenger Mann, der nur das Notwendigste sprach.

Nicht bei seiner ersten Liebe. Es war ein wilder Rausch gewesen, und lange hatte es gedauert, bis er sich von ihr freimachen konnte: Jahre.

Bei seiner Frau nicht und nicht bei seinem Kinde.

Seine Frau war eine kühle und gelassene Person gewesen, nach außen hin von einer gewissen majestätischen Liebenswürdigkeit, nach innen indifferent und behaftet von oben bis unten mit der Kleinlichkeit der Oberflächlichkeit. Sie hatte ihn gequält, so gut wie sie es konnte, und früh das Kind gelehrt, Partei mit ihr gegen den Vater zu nehmen. Und dieses Kind sollte nie zärtlich gegen ihn gewesen sein? – O doch. Wenn es etwas haben wollte. Dann war es gekommen zu seinen Knien und zu seinem Munde, so daß es ihm fast lieber gewesen, es wäre überhaupt geblieben.

Unter seinen Bekannten, wie überall bei jedem, der Gelegenheit hatte, ihn näher kennenzulernen, war er sehr beliebt.

Seine Frau war gestorben. Er konnte sich längst nicht mehr darüber täuschen, daß es lächerlich für ihn gewesen wäre, bei ihrem Tode ein anderes als das Gefühl der Erleichterung zu haben.

Seine Tochter war verheiratet. Er hatte ihr den Mann gekauft, den sie sich ausgesucht, und damit den letzten Wunsch erfüllt, den er ihr gewähren konnte. Es blieb ihm nichts mehr für sie zu tun übrig.

Da hatte er sich auch von seinem Geschäft befreit, welches zwecklos für ihn geworden war. Er selbst hatte immer ohne Ansprüche gelebt und übergenug für seine letzten Tage.

So lebte er nun, fast plötzlich in einen großen Überfluß von Frieden, Ruhe und Muße versetzt.

 

Wie er nun in seinen vielen stillen Stunden so eines nach dem anderen der wohlgeordneten Blätter seines Lebens aufschlug und wandte, da wußte er denn, was ihm gefehlt hatte.

Und eine große Unruhe ergriff ihn: die Unruhe der Menschen, die vor Toresschluß noch nachholen wollen, was sie versäumt haben, und doch nicht wissen, wie das möglich sein könnte. Verzweifelt kehrte er immer und immer wieder zu der Vergangenheit zurück: etwas mußte dort verschüttet liegen, etwas sich unter allem Staube der Jahre und Mühe finden lassen, das noch soviel Duft in sich trug, um damit die letzten Stunden zu überschütten.

Er suchte und suchte und fand nichts.

Es war in den ersten schönen Tagen des Jahres. Die Sonne lag an seinen Fenstern, schmeichelnd und spähend, wie groß ihre Kraft bereits sei.

Da, während er über dem Sichten alter Papiere saß und beim Durchblättern eines alten Kontobuches ein Verlustposten in seine Augen sprang, den er durch eigene Versäumnis verschuldet, da erinnerte er sich plötzlich:

Er war ein junger Mann von fünfundzwanzig Jahren und auf acht Tage in Leipzig in Geschäften. Es war die Zeit der letzten Karnevalbälle und er hatte für den Abend eine Verabredung mit einem Geschäftsfreunde getroffen, den Maskenball im Kristallpalast zu besuchen.

Aber sein Freund kam nicht und er durchstreifte mißmutig das Gedränge, bis er sich an einen Tisch setzte, ein Glas Bockbier nach dem andern trank und mit sich zu Rat ging, ob er in sein Hotel und zu Bett gehen solle oder nicht.

Da erlöste ihn ein kleines Mädchen, das sich an seinen Tisch setzte, aus seinen Zweifeln.

Sie waren bald einig, und nach fünf Tagen, als er abreisen sollte, war er noch sowenig mit seinem Geschäft fertiggeworden, daß er weitere fünf Tage bleiben mußte.

Dann, nach weiteren fünf Tagen, hatte er sein Geschäft immer noch nicht erledigt, aber keine Zeit mehr zu bleiben, so daß er abgereist war.

Dieses kleine Mädchen war schuld an dem Verlust, dessen Zahl ihm jetzt, nach fast vierzig Jahren, wieder in die Augen sprang.

Plötzlich wußte er, daß er einmal in seinem Leben glücklich gewesen war, einmal und niemals wieder so vollständig glücklich.

 

Er ging auf und ab, auf und ab.

Seine Unruhe wuchs und wuchs. Eine Last lag auf ihm, von der er sich befreien mußte.

Alles war so still um ihn, daß er das Ticken der Uhr im Nebenzimmer durch die geschlossene Tür vernahm. Das wurde ihm unerträglich.

Aber wo sollte er hin?

An seinen Stammtisch konnte er bestenfalls erst in drei Stunden. Einen seiner Bekannten aufsuchen? Die waren alle bei ihrer Arbeit.

Sollte er spazierengehen? – Aber wohin?

Er setzte sich an seinen Tisch und legte die Arme über die Papiere. Langsam sank seine Stirne nieder.

Nein, es war nicht gut, allein zu sein ...

Seine Unruhe ließ nach. Auf einmal fuhr er auf. Er hatte ihr Lachen gehört, mit dem sie ihn rief: das leise, melodische Lachen, das er nicht vernommen in diesen vielen Jahren, es war ihr Lachen.

Hastig sprang er auf.

Er überlegte, überlegte, überlegte. Dann lief er durch alle Zimmer, wühlend und suchend: – einen Handkoffer und was er brauchte für wenige Tage.

Nach einer halben Stunde war er fertig. Er verschloß die Wohnung, schrieb ein »Verreist« an die Tafel seiner Tür und eilte hinunter.

Er saß im Wagen und fuhr zum Bahnhof. Er wunderte sich nicht einmal, als er hörte, daß der nächste Zug nach Leipzig schon in einer halben Stunde ging und daß er fast gar nicht zu warten brauchte.

Bald saß er in den Polstern des Coupés.

Sie hatte ihn gerufen, gerufen mit ihrem Lachen, und er kam.

‹leer/›

Am Abend war er in Leipzig.

Während der Fahrt flog öfters ein seltsames Lächeln über sein Gesicht.

Er fuhr, wie der Bräutigam seiner Braut, in einer fast zitternden Erwartung und einem übermäßigen Verlangen seinem Glücke entgegen, das die Verschwiegenheit noch vergrößerte.

Es war schon spät, aber dennoch verließ er noch einmal das Hotel, welches an der Ringpromenade lag.

Es war ein warmer und dunkler Abend.

Er suchte den Brühl. Er hatte nur eine Seitenstraße zu durchschreiten. Bald war er da. Dort erkannte er zum ersten Male das alte Leipzig wieder: die alten hohen Giebelhäuser mit ihren Geschäften bis in den fünften Stock hinauf. Langsam schlenderte er die Straße hinunter.

Immer aber dachte er an das eine: Morgen! – Morgen! Er suchte sich eine Gosenschenke. Es war gar keine Müdigkeit, es war nur Frische in ihm, und es war ihm gleich, daß es der Mitternacht zuging.

Als er vor dem hohen Glase mit der gelben Flüssigkeit saß in der holzgetäfelten, alten Stube, in der jeder der langen Tische durch hohe Holzwände von den anderen getrennt war und so ein jeder für sich einen gemütlichen Winkel bildete, überkam ihn ein unsägliches Wohlbehagen, und er paffte den Rauch seiner Zigarre von sich wie ein junger Fant.

Er bekam Lust zu sprechen. Die echte Freude ist immer mitteilsam; der echte Schmerz nur, wenn er die Grenze der Verzweiflung überschritten hat, und auch dann nur in seltenen Fällen.

Er sprach mit dem Kellner, dann mit einem dicken Herrn, der sich zu ihm an den Tisch setzte, eine ganze Stunde lang, bis er wirklich drei Gosen getrunken hatte.

Er schlief vortrefflich in dem guten Bett des sauberen Hotels. In seinen letzten Gedanken stand ihr Bild.

Als er sich am Morgen erhob, fühlte er sich so jung, wie nicht seit Jahren.

Er aß sein Frühstück mit Appetit und ergötzte sich an dem unveränderten Aussehen eines sehr langweiligen, sehr konservativen Tagblattes und der Stereotypie seiner kleinkrämerischen Inserate.

Aber nicht lange. Denn alles trieb ihn hinaus: der Sonnenschein und ein starkes, drängendes Gefühl, das noch ohne bestimmtes Ziel war.

Er wußte eigentlich nicht, wohin er wollte. Und doch wußte er es.

So ging er über die Promenade am alten Theater vorbei und vorbei an der Kirche, der Kirche mit dem hohen spitzen Turm – hieß sie nicht Thomaskirche? –, bis er an die alte Pleißenburg kam.

Hier stand er still.

Wieder, wie beim Entschlummern gestern abend, hob sich von dem verwischten Grunde seiner Erinnerungen deutlich und greifbar ihr Bild, wie es sein gewesen war in einer Stunde – der letzten Stunde des Abschieds!

Hier hatten sie gestanden, beschützt von den Schatten des Spätabends. Sie hatten verabredet, sich hier zu trennen, nicht in dem Gedränge des Bahnhofs.

Er hatte ihr versprochen, noch in diesem Jahre wiederzukommen und selbst geglaubt, was er sagte.

Er hob ihr Gesichtchen in die Höhe, um es noch einmal zu sehen in all seiner rührenden Freundlichkeit, welche er noch mehr liebte als ihre Jugend und ihren Liebreiz. Dann küßten sie sich, so lange, bis zwei halbtrunkene Studenten sie mit spöttischen Zurufen störten.

– Komm ganz sicher wieder, sagte sie noch leise in bittendem Tone, in welchem sie oft sprach.

Ganz sicher, ganz sicher kam er wieder ...

Jetzt war er da – – –

 

Er war weitergegangen in tiefem Sinnen.

Immer neues fiel ihm ein, nun, wo er die Stätte wieder unter seinen Füßen hatte.

Jetzt wußte er, wohin er wollte und wo es war, daß sie auf ihn wartete.

Und er riß sich auf.

Er mußte zu ihr.

Er wußte, daß er – um den kleinen Fluß entlang bis Connewitz gehen zu können – einen Teil der Stadt zu durchschreiten hatte. Dann kam er über Felder und endlich gelangte er zu einem Sommerbade, auf dessen Namen er sich vergeblich besann.

Er fragte mehrere Vorübergehende, indem er ihnen dies alles beschrieb.

Endlich hatte er den Namen: das Fischerbad.

Nun zeigte man ihm an dem Faden dieses Namens weiter und weiter und er ging achtlosen Sinns vorbei an den neuen, großen Gebäuden und wunderte sich kaum darüber, wie weit die Häuserreihen sich gedehnt.

Die Gegend wurde ganz einsam, als er die letzten Straßen verlassen. Ein Waldrand tauchte auf. Er erreichte ihn bald.

Verschlossen und schweigsam lag das Bad.

Eine ernste, fast feierliche Stille herrschte rings umher. Sie wollte nicht recht zu seiner erwartungsvollen, glücklichen Stimmung und dem warmen Sonnenschein passen, so fand er.

Nun wußte er wieder, wo er war und ohne zu zögern fand er den Pfad. Er mußte ihm folgen, stets am Fluß entlang ...

Es war kühl unter den Bäumen. Das schwarze Wasser floß träge. Kein Mensch begegnete ihm.

Als er an der Wasserschänke war – einer am anderen Flußrande in ihn hineingebauten Bretterbude, wo es im Sommer Erfrischungen für die Bootfahrer gab (jetzt lag sie völlig verödet und verschlossen und seltsam klangen die Inschriften zu ihm herüber) –, fiel es ihm wieder ein: dort hatten auch sie an einem wundervollen Abend gesessen, mit jungen, lauten, lachenden Menschen, unter den blinkenden Sternen der Frühlingsnacht, unter der Hut ihres großen, seligen Glückes, das wenig Worte fand, sondern immer wieder nur Händedrücke, zarte Berührungen und lange Küsse. Mit dem Boot waren sie gekommen, mit dem Boot fuhren sie weiter ...

Der alte Herr wandte sich ab.

Er ging nun schnell vorwärts, immer dem Weg nach, der ihn am Flusse hinführte. Er sah nicht einmal mehr auf.

 

Er dachte daran, wie sie sich kennengelernt hatten, damals, an jenem Abend, als er im Stich gelassen war von seinem Freunde.

Der große Trubel der Bockfeier im Kristallpalast umraste ihn und mürrisch schlich er von Tisch zu Tisch, bis er sich an den letzten endlich hinsetzte, zu dem sie gleich darauf kam, erhitzt vom Tanze und um sich auszuruhen für einen Augenblick.

Was für ein liebes Gesicht sie hatte, die Kleine, sie gefiel ihm gleich, auf den ersten Blick, in allem: in der Art, wie sie den Fächer bewegte und wie ihr das einfache Kleid saß.

Sie grüßte ihn mit einem Nicken, nicht unfreundlich, noch ganz gleichgültig, und sah ihn gleich an: unbefangen und unverhohlen offen, ob sie wohl zusammenpassen würden, aber ganz ohne Zudringlichkeit.

Sie paßten sehr gut zusammen, wie es schien, denn an diesem Abend gingen sie nicht mehr auseinander und in dieser Nacht nicht, und in den nächsten Tagen nicht viel, nur wenn er fort mußte zu seinen Geschäften.

In dieser Nacht! – – und ein anderes Bild stand vor ihm.

Gegen Morgen zu schlug er die Augen auf. Ein Strahl des Mondes bebte auf dem Bette.

Er sah ihre kleine Hand geballt auf seiner nackten Brust liegen. Ihr Gesichtchen hatte einen überaus reizenden Ausdruck der Befriedigung und sie atmete regelmäßig und leicht. Aus dem Hemd hervor, das sich verschoben hatte, sah eine kleine, feste, weiße Brust.

Er konnte nicht anders, er mußte sie küssen.

Sie erwachte sofort und lächelte ihn an. Von Müdigkeit überwältigt, schloß sie die Augen noch einmal, öffnete sie jedoch gleich wieder.

Er empfand einen brennenden Durst nach dem genossenen schweren Bier. Er tappte vergebens umher nach einem Glase.

– Ich hole was, sagte sie, als sie es merkte.

Sie sprang aus dem Bett und schlich auf ihren bloßen Füßen hinaus, um die Wirtin nicht zu wecken.

Vor ihm stehend, hielt sie das Glas voll Wasser an seine Lippen, und er trank durstig. Wieder lag das stumme, so innige Lächeln um ihren Mund ...

Oh, wie er sie wieder sah, so vor sich stehen sah! – –

Als sie wieder zu ihm kam, hatte der frische Hauch der Frühlingsnacht ihre Glieder gekühlt und ihre Füße waren kalt. Mit leisem Flüstern schalt er zärtlich ihren Leichtsinn, und unter seiner Umarmung fühlte er die Wärme wiederkehren in ihre zarten jungen Glieder ...

Das war ihre erste Nacht, und so war jede. – Er konnte nicht anders, er gewann sie lieb, die Kleine, »die nicht mit jedem ging«, wie sie ihm einmal sagte, aber doch mit jedem ging, der ihr gefiel.

 

Niemals ein böses Wort, nie eine Laune.

Mit allem war sie zufrieden, was er ihr vorschlug: ob er sie hierhin führte oder dorthin, es schien ihr alles gleich zu sein.

Das, das war es, was er so an ihr liebte –: diese unaufhörliche Güte, die sich selbst nicht kannte und ihren Wert nicht schätzte, sondern gab und gab, als ob sich ihre Fülle nie erschöpfen könne. Wie wohl er sie empfand, die er zum erstenmal eigentlich in seinem Leben an sich selbst erfuhr! –

Nie eine habsüchtige Bitte, nie eine geschmacklose Redensart.

Sie nahm, was er ihr gab, als ob es selbstverständlich gewesen wäre, aber sie nahm mit derselben stillen Freude das goldene Armband, wie die erste Rose, die er ihr kaufte an der Straßenecke, und beides schien für sie den gleichen Wert zu haben. Um dankbar zu sein war sie nicht abgeschmackt genug. Sie ahnte wohl, was sie ihm gab, wenn sie es auch nicht wußte.

Er konnte mit ihr überall hingehen. Sie hatte den unauffälligen Geschmack der Einfachheit, der doch so ungemein selten ist. Sie war keine große Dame, die in den Restaurants mit großartigen Fächerbewegungen ihre Ordres gab. Aber sie war auch durchaus nicht verlegen, wenn er sie in ein Lokal ersten Ranges führte, wo der Unerfahrene so leicht geblendet wird durch eine falsche und berechnete Pracht.

Sie war durchaus nicht dumm. Sie hatte nichts gelernt, aber ihr Gehirn hatte früh begonnen nachzudenken in einer trostlosen Jugend, von welcher sie ihm einmal widerstrebend erzählte, als er sie fragte.

Armes, kleines Ding! – Oft tat sie ihm leid, und er verdoppelte seine Freundlichkeit. Aber sie war nicht unglücklich. Er irrte sich. Wenn man sie nur ließ, wie sie war, so stand ihre Natur in einem sicheren, gesunden Gleichmaß, auch ohne äußere Hilfe.

Wie er sich ihrer erinnerte! – Und wie er sie mehr und mehr wieder liebte, mit jedem neuen Zuge ihres Wesens, der sich ihm wieder offenbarte! – –

 

Er ging schneller. Der Wald lichtete sich schon auf dem gegenseitigen Ufer und weite Wiesen traten hervor, während sich der Weg auf dieser Seite noch immer unter den Stämmen dicht am Flusse hinzog.

Wie es gekommen war damals, daß sie sich gerade hier draußen treffen wollten, daß sie ihm vorausgegangen, er in der Stadt geblieben war, wußte er nicht mehr.

Aber in keinem Moment hatte sich ihr Bild schärfer und, wie er jetzt in einer schmerzlichen Freude fühlte, unvergeßlicher eingeprägt als in diesem:

Als er den Weg heruntergekommen war, eilend und rot vor Erregung, spähend so weit wie möglich voraus, und sie sah in dem kleinen, halbleeren Garten der Wirtschaft, ihm entgegensehend mit Augen voll Erwartung, ihr Bier noch unberührt vor sich, den Strohhut in den Händen und diese selbst im Schoße gefaltet, und ein wenig, nur ein klein wenig – aber so selig! – lächelnd, als er nun kam.

Sie sagte nichts, sie sagte überhaupt nicht viel, das kleine dumme Ding, aber sie hatte eine liebliche Art, ihre Freude auszudrücken: sie legte für eine Minute ihre Wange an seine Schultern, wie Hunde sie zeigen, wenn sie schmeichelnd an der herabhängenden Hand ihrer Herren vorbeilaufen ...

Und an diesem Nachmittag, und an diesem Abend und in dieser Nacht waren sie so unsäglich glücklich miteinander! – –

Sie wartete auf ihn. Wenn er jetzt die Anlagen der großen Sommerwirtschaft durchschritt und die Landstraße hinunterging bis zu der Brücke, dann lag rechts, dicht bei der Haltestelle der Pferdebahn, ein kleiner Garten, eigentlich eine große Laube, der zu der Wirtschaft auf der anderen Straßenseite gehörte, und in dieser Laube, an dem Tische, welcher zu hinterst stand, saß sie –: ihm entgegenschauend in Sehnsucht und lächelnd, nur ein wenig, aber so selig! – –

Er zitterte.

Er lief fast und seine Füße stolperten mehrere Male.

Das war keine Erwartung mehr, die ihn jetzt trieb, es war die fürchterlichste innere Erregung.

Es wurde ihm klar, was ihn hierher gebracht. Dies unklare Sehnen nach etwas Verlorenem, längst Gestorbenem und Begrabenem war wie die letzte ringende Verzweiflung, mit welcher der sinkende Schiffer das Land noch zu erreichen sucht, wie des Vogels letzter, erlahmender Versuch, mit gebrochener Schwinge sein Nest noch zu erreichen, wie der letzte, röchelnde Schrei eines Herzens, das zu lange geschwiegen, dessen letzte, blutige Tropfen in dem Sande der Reue spurlos versickern ...

Und wie er dies begriff, fiel auch der Schleier der seltsamen Täuschung, in die ihn die letzten zwanzig Stunden gehüllt: noch bevor ihn die Wirklichkeit selbst zerrissen, sank er, wie eine Staubwolke, welche der Wirbelwind aufgetrieben.

So plötzlich geschah es, daß er, wie von einem körperlichen Schmerze getroffen, stehen blieb.

War er denn wahnsinnig? –

Was ging mit ihm vor!? –

Ah nichts ... Er hatte einfach einen Ausflug hierher gemacht, um vergessene Erinnerungen wieder aufzufrischen. Nun hatten diese eine solche Macht über ihn gewonnen. – –

Er lachte krampfhaft. Er war ein alter Narr. Wie dumm war das alles.

Aber er fühlte, wie müde er geworden war. Jeder Schritt verursachte ihm Mühe. Dennoch ging er langsam weiter. Nichts mehr trieb ihn vorwärts und am liebsten wäre er umgekehrt. Aber er sah schon die Häuser zwischen den Bäumen, während ihn die Anlagen umgaben.

Dann war er auf der Chaussee. Aber er wußte es jetzt, dort – in der Laube, dort saßen höchstens ein paar schimpfende Flußknechte vor ihren Schnäpsen, oder ein schmieriger Kellner lungerte umher zwischen den öden Bänken, und die Pferdebahnwagen verließen passagierlos ihre Haltestellen, denn diese Sonne, die ihm jetzt auf einmal so ärmlich schien, wen lockt die denn ins Freie? –

Er war so ernüchtert, so sehr, daß er jetzt, als er die Brücke erreichte, nur einen müden, gleichgültigen Blick über den Ort schweifen ließ, der ihm zeigte, daß alles so war, wie er es sich gedacht, nur noch schlimmer: kahl und rankenentblößt standen die Latten der Laube und bretterlos ragten die Pfosten der Bänke und Tische aus dem Moder des vorherbstlichen Laubes, welches seit Monaten vielleicht kein Fuß mehr berührt ...

Eine trostlose Öde und Einsamkeit lag über diesem Fleck.

Aber trostloser waren die Öde und die Einsamkeit seines Herzens.

 

Die Haltestelle der Pferdebahn lag so nahe, daß er das Ankommen und Abfahren der Wagen übersehen konnte. Schwer und müde stand er da, auf seinen Stock gestützt und seiner Umgebung keinen Blick mehr schenkend, bis er nach wenigen Minuten einen Wagen heranrasseln hörte.

Während der langen Fahrt über ein weites und leeres Feld saß er still, vor sich hinsehend. In der Stadt stieg er aus und nahm eine Droschke, um schneller in sein Hotel zu gelangen.

So sehr störte ihn jetzt alles, daß er die Vorhänge vor die Fenster zog. Und er fühlte, wie wohl ihm die einsame Dunkelheit tat, in welcher er saß.

Der Portier sprang heran und öffnete den Wagen. Der Gast stieg aus.

In einem Nebensaal des Speisezimmers ließ er sich decken, neben dem Fenster, und an einem Ecktisch. Er saß hier ganz allein.

Draußen vor dem Fenster wogte das Leben der Mittagsstunde bunt an ihm vorbei.

Er bestellte sich nur eine Speise, und als sie kam, berührte er sie kaum. Aber sein Herz begehrte nach irgendeiner kleinen, armen äußerlichen Freude, und er überlegte, wie der Vater überlegt, was er seinem kranken Kinde schenken könne, damit es einmal wieder lächle. Dann verlangte er Sekt von Roederer, den er liebte.

Der Wein stand vor ihm, und er ergötzte sich einen Augenblick an der feinen, matten Farbe und dem Tanzen und Schweben der Perlen. Doch als er das Glas zum Munde hob, um es zu leeren, sah er plötzlich vor sich ein kleines Gesicht mit braunen, glücklichen Augen – ihren Augen, wie sie ihn damals angelacht, als sie zusammen Champagner getrunken in der alten Weinstube – war es nicht Äckerleins Keller gewesen? – – – und mit einer bitteren, hastigen Gebärde setzte er es zurück, daß der Wein verschüttete.

Verscheuchte Freude, noch ehe sie sich äußern konnte! Wieder fragte er sich angstvoll: Was war das? – Was war das?! –

Und erblaßt erhob er sich schwankend, den bestürzt herbeispringenden Kellner mit der Hand abwehrend, ging durch den Saal und die Treppe hinauf auf sein Zimmer. Dort saß er eine Weile auf dem Bettrand, bevor er klingelte.

Nach einer Stunde fuhr er nach Berlin zurück.

Er schlummerte etwas während der Fahrt.

Am Abend saß er bereits wieder an seinem Stammtisch.

Keiner fragte ihn, wo er gestern gewesen.

Aber allen fiel es in der nächsten Zeit auf, wie schnell er alterte. Sie sprachen zuweilen darüber und meinten, die gewohnte Beschäftigung fehle ihm.

Sie irrten sich sämtlich.

Eine Erinnerung, plötzlich erwacht und nicht mehr zu bannen, verzehrte schnell den Rest seines Lebens.


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