John Henry Mackay
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John Henry Mackay

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Hans, mein Freund

Hinaus! – Nur hinaus! – sagte er fast knirschend. Wir verließen die Literatengesellschaft und ihr Gespräch, so schmutzig und ungesund wie die Luft des lärmenden Cafés.

Wir hatten uns dorthinein nur verirrt und suchten nun wieder die stille, saubere, heimliche Ecke unserer altmodischen Weinstube auf.

Er war »anders als seine Bücher«. Seine Bücher waren ernst, schwer und tief; aber er war lebendig, angeregt und scheinbar fast sorglos. Auch sprach er nie von seiner Arbeit.

Der Wein stand vor uns. Wir schlürften das erste Glas und sahen uns zufrieden an.

– Ich möchte eine Geschichte hören, sagte ich. Er kannte solch reizende kleine Geschichten, die er von den jungen Lebemännern von Piccadilly oder von den Studenten des Quartier latin oder in der Künstler-Boheme Münchens gehört, oder die er auch selbst erlebt hatte auf seinen ruhelosen Weltfahrten, reizende kleine Geschichten, wie sie uns Maupassant hinterlassen, Geschichten, die er nie verwertete, außer daß er sie erzählte.

Er war ein guter Erzähler, freilich nur im kleinsten Kreise, und eine solche Geschichte wollte ich gerade jetzt.

– Ich möchte eine Geschichte, wiederholte ich faul, als er nicht antwortete.

Er sah mich an und lächelte plötzlich. Dann aber kam ein Ausdruck von Härte und Unmut in seine Augen, als er wiederholte:

– Sie möchten eine Geschichte hören? – Gut, ich werde Ihnen eine erzählen.

Wir schoben die Gläser von uns und lehnten uns zurück.

– Ich war seit drei Jahren zum ersten Male wieder seit fast einem Jahrzehnt in Berlin. Ich hatte viel zu tun, mußte gleich beginnen und durfte daher nicht viel Zeit mit dem Suchen meiner Wohnung verlieren. Ich wählte mir die Lage – SW. – und mietete, nachdem ich mich von der Ruhe der Zimmer überzeugt.

Das Haus war die richtige Mietskaserne. Das Treppenhaus war trüb-dunkel, jeder Flur hatte rechts, links und geradezu eine oder zwei Eingangstüren, die mit Porzellanschildern, Briefkästen und Visitenkarten übersät waren; die Treppen waren nie leer, und am Haustor hatte man sich zu jeder Tages- und Abendzeit durch einen Haufen spielender Kinder durchzudrängen. Nichtsdestoweniger – die Zimmer waren groß und sie paßten mir. Sie lagen im Hintergrunde eines nicht sehr langen, aber ziemlich dunklen Ganges, der abends von einem Lämpchen beleuchtet war. Ihre Ausgangstüren führten in diesen Gang. Und sie waren, wie gesagt, so ruhig, wie ich sie wünschte. Die Vermieterin war mir gleich auf den ersten Blick hin höchst unangenehm: ein langes, dürres Weib mit einem bösen, fanatischen Blick, einer kalten, klanglosen Stimme, fast zu sauber in ihrer geschmacklosen Tracht. Eine religiöse Fanatistin schlimmster Art, das war fast unverkennbar. Daß sie geizig war, sah ich an der Art, wie sie die erste Monatsrate einstrich.

Ich traf meine Anordnungen so, daß ich sie nie zu sehen brauchte und zog ein.

Ich sah das Weib fast nie, wurde gut bedient, das heißt wenn ich mittags nach Hause kam, fand ich die Zimmer gemacht und des Morgens beim Betreten des Wohnzimmers mein Frühstück.

Ich war viel zu Hause; ich hatte, wie gesagt, viel zu tun. Die Wochen rannen hin, ungezählt wie die Tage. Nie begegnete ich in dem Gange zu meinem Zimmer irgend jemandem. Die Türen waren stets fest verschlossen, und nie drang ein Ton hinter ihnen hervor. Ich glaubte nicht anders, als ich wohne völlig allein an diesem Gange mit meiner Wirtin, übrigens dachte ich nicht weiter darüber nach, da ich nie belästigt wurde.

Eines Abends klopfte es leise an meine Tür. Ich saß am Schreibtisch und schrieb. »Herein –«

Eine schüchterne, helle Stimme sagte:

– Ein Telegramm ...

Als ich den Satz fertig geschrieben hatte, lag die Depesche auf dem Tische an der Tür, aber es war niemand mehr im Zimmer.

Ein anderes Mal hatte ich einen Brief besorgen zu lassen und keine Zeit, selbst nach einem Dienstmann zu suchen. Ich ging, um meine Wirtin zu fragen, ob sie im Hause jemand wisse, der den Gang tun könne.

Ich klopfte an die Tür, hinter welcher ich ihr Wohnzimmer vermutete. Sie öffnete, offenbar sehr erstaunt. Dann rief sie ins Zimmer hinein, als sie hörte, um was es sich handelte:

– Hans, schnell!

Ein kleiner Junge kam. Ich gab ihm den Brief und ein Trinkgeld und prägte ihm die Adresse ein. Antwort war nicht nötig und die Sache damit erledigt.

Die Alte hatte dabeigestanden, ohne ein Wort zu sagen. Ein paar Tage hörte ich beim Durchschreiten des Ganges – ich kam zu einer ungewohnten Tagesstunde nach Haus – aus dem Zimmer meiner Wirtin ein unterdrücktes Schluchzen und Wimmern.

Das wird mein kleiner Bote sein, dachte ich. Wie leicht Kinder doch weinen ...

Als ich wieder ein paar Tage später von einem etwa zehnjährigen Jungen schüchtern gegrüßt wurde, ohne ihn weiter zu beachten, wurde ich wieder an ihn erinnert. Gesehen hatte ich ihn noch nicht; es war zu dunkel auf dem Gange gewesen.

Zwei Wochen später war Ostern. Ich war nun schon acht Wochen in Berlin und hatte mehr zu tun als je. Ich gedachte die beiden Tage zu Haus zu bleiben und in ihrer festlichen Ruhe tüchtig zu arbeiten. Das Haus war am Ostersonntag um die Mittagszeit bereits wie ausgestorben.

Einmal hielt ich im Schreiben inne. Eine alte schleswigholsteinische Sage fiel mir ein:

Es war im Winter und das Eis stand ...

Das ganze Dorf ist draußen auf dem Eise, um ein Fest zu feiern. Nur ein altes, armes Mütterchen ist zurückgeblieben: krank in ihrem Bett. Aber von ihm aus sieht sie all den Jubel auf dem Eise und den Trubel.

Aber sie sieht noch mehr, was die anderen nicht sehen: ein kleines, weißes Wölkchen am Horizonte, das Sturm verkündet und Untergang dem ganzen Dorfe. Und sie schleudert Feuer in das Stroh ihres Bettes ... Dann, als eben die letzten, von dem brennenden Feuer angetrieben, den Strand erreichen, berstet die Decke ...

über dieser alten, kleinen Geschichte verlor ich die Lust am Schreiben gänzlich.

Es war ein warmer Tag. Ich öffnete ein Fenster, und die Lust erwachte in mir, auszugehen. Ein Gefühl des Unbehagens, vielleicht der einzige Mensch in diesem sonst von Hunderten bevölkerten Haus zu sein, ergriff mich; und dieses Gefühl wurde unerträglich, als ich in das von Ofenwärme verdumpfte Zimmer zurücktrat.

Als ich den Gang durchschritt, sah ich, daß eine Tür zu den Zimmern meiner Wirtin offenstand, und in diesem Zimmer saß an dem Tische in der Mitte ein Junge, still und traurig vor sich hinblickend.

Er stand auf, als er sah, daß ich näher kam.

– Wie, fragte ich erstaunt, du bist heute zu Hause?

– Ja, sagte er leise.

– Warum gehst du denn nicht hinaus und spielst, mein Junge?

Er zögerte mit der Antwort.

– Ich darf nicht ... sagte er leise und sehr verlegen.

– Warum nicht?

– Großmutter hat es verboten.

– Ist deine Großmutter aus?

– Ja.

– Und wann kommt sie wieder?

– Um neun.

– Und bis dahin sollst du hier ganz allein sitzen?

– Ich soll aufpassen, ob Sie nichts gebrauchen.

– Hat das deine Großmutter gesagt? fragte ich wieder, denn das war einfach ein Unsinn, da ich nie etwas verlangte.

– Ja.

– Ich gebrauche nichts, du kannst also ausgehen.

– Ich darf nicht, sagte er wieder leise, aber fest.

Ich sah den kleinen Kerl an, wie er so vor mir stand. Er sah blaß und kränklich aus, als wenn ihm frische Luft und gute Nahrung gleich sehr fehlten, war mehr als ärmlich gekleidet trotz des Festtages und machte völlig den Eindruck eines vernachlässigten Kindes, das nie ein gutes Wort hört. Er sah ganz einfach verprügelt aus.

Das Zimmer war abscheulich in seiner geschmacklosen Öde, alles nüchtern, kahl, unfreundlich, unheimisch.

Das alles empörte mich. Welche Grausamkeit, ein armes Kind aus irgendeinem nichtigen Grunde an einem Tage, wo alles sich zu freuen bemühte, einzusperren!

– Du kannst ausgehen, ich brauche nichts, sagte ich. Er blieb stehen.

– Du hast wohl keine Lust? Er sah auf.

– Ich darf nicht, antwortete er dann endlich. Ich wurde ungeduldig.

– Aber ich will die Verantwortung übernehmen ... Er wagte nicht, es war ganz klar.

Da fiel mir ein: langweilen würde ich mich doch heute mehr oder minder. Ich wollte ihn mitnehmen.

– Ich will dich mitnehmen, hörst du. Nimm deinen Hut und Überzieher und komm!

Er war sehr verlegen und wäre in diesem Augenblick offenbar lieber hiergeblieben. Aber seine Furcht vor meiner entschiedenen Stimme war nun doch wohl größer als die Angst vor seiner Großmutter, und so nahm er zögernd seinen Hut vom Nagel.

– Und deinen Überzieher?

– Ich habe keinen. Er war sehr rot, als er es sagte. Ich ging in mein Zimmer und holte ein Plaid, übrigens war es ein warmer Tag.

An der Straßenecke rief ich eine Droschke.

– Hopp, hinein. Wie heißt du denn eigentlich?

– Hans, sagte er. Seinen Zunamen sagte er nicht.

– Fahren Sie uns die Müllerstraße hinauf an der Versuchsbrauerei vorbei zum Plötzensee, zum Schützenhaus, Sie wissen ja ...

Dort waren wir am ehesten in frischer Luft und im Walde. Hans hatte sich auf den Rückplatz gesetzt und die Hände zusammengelegt, als hätte er sich ergeben in ein unvermeidliches Schicksal.

Ich mußte lächeln, als ich ihn so dasitzen sah wie ein Häufchen Unglück und sah ihn mir zum ersten Male ordentlich an. Er trug ein geflicktes Röckchen, aus dessen verwachsenen Ärmeln seine Arme heraussahen, feine Handgelenke. Aber es war ein häßliches Kind im übrigen: seine Hautfarbe war gelb, die Stirn eckig, die Ohren abstehend und der ganze Kopf zu groß im Verhältnis zu dem kleinen, schwächlichen Körper. Schön waren nur seine Augen und der Mund, der von aristokratischer Feinheit war. überhaupt, so ganz ohne Rasse war er nicht, aber alles war zurückgeblieben, nicht zur Entwicklung gekommen, ich sagte es ja schon, offenbar ausgehungert und weggeprügelt.

– Also Hans heißt du. Und wie alt bist du?

– Zwölf Jahre.

Ich stellte dann noch einige Fragen, und dann begann mich die Geschichte zu langweilen, und während ich an anderes dachte, vergaß ich ihn fast. Als ich wieder aufsah, waren wir auf der öden Tegeler Chaussee und bogen gerade nach dem Plötzensee ein.

Hans hatte mäuschenstill dagesessen, und ich begegnete seinem ernsten, aufmerksamen, auf mich gerichteten Blick. Jetzt sah ich, daß er viel älter war, als seine Jahre, und wieder tat er mir leid. Wir führten ein holpriges Gespräch bis zum Schützenhaus.

Dort – es war Konzert im Saale – ließ ich zunächst Kaffee und eine Riesenportion Kuchen auffahren, und dann noch eine, und endlich noch eine. Bei der dritten wurde er etwas ängstlich, aber ich bedeutete ihm, es müsse ja nicht heute sein, und er packte sie sich ein. Ich hatte mir unterdessen die guten Leute um uns herum angesehen und vergeblich versucht, von der Musik recht wenig zu hören.

Als er fertig war, gingen wir an den See. Aber zuerst machten wir alle Buden durch: wir warfen mit Bällen nach scheußlichen Fratzen, würfelten dreimal für zehn Pfennige und gewannen irgend etwas Gräßliches, hielten an der Elektrisiermaschine, aber nicht bis 1000, so daß wir – Gott sei heute noch gedankt! – keine Zigarren bekamen, und endlich setzte ich ihn aufs Karussell und ließ ihn fahren, so lange er wollte.

Der See lag still und freundlich da, der kleine, schöne See mit dem häßlichen Namen. Wir umschritten ihn und gingen dann zwischen den Schießständen und den endlosen Kirchhöfen zurück.

Hans tapfte hinter mir her durch den gelben Sand und sagte nichts mehr, da er nicht mehr gefragt wurde. Als wir die Pferdebahn erreicht hatten, saßen wir noch eine halbe Stunde beim Glase Bier, und dann fuhren wir heim. Wenn seine Großmutter erst um neun zu Hause war, kam er noch lange zur rechten Zeit.

Auf dem Wege hatte der Junge zwar nicht seine Schüchternheit, aber doch seine Angst verloren. Jetzt kam diese wieder sichtbar hervor. Aber als ich ihn fragte, ob ich ihn hinaufbringen sollte, schüttelte er sehr energisch den Kopf.

Ich gab ihm die Hand und ließ ihn laufen. Mit einem leisen »Danke auch schön!« schlich er sich weg. Es hatte ein echter Ton in den paar Worten gelegen, so daß ich den für mich etwas langweiligen Nachmittag nicht mehr bereuen konnte.

Als ich am folgenden Tage der Alten auf dem Flur begegnete, redete ich sie an:

– Ich habe mir erlaubt, Ihren Enkel gestern nachmittag etwas an die freie Luft zu nehmen.

Sie antwortete nicht, aber sie sah mich an mit einem bösen und gehässigen Blick.

Es war die Kriegserklärung.

Drei Tage später schlich Hans auf der Treppe an mir vorbei. Ich hielt ihn fest.

– Nun, es ist wohl alles gut abgelaufen? sagte ich. Er antwortete ebenfalls nicht, sondern sah scheu zu Boden.

– Weshalb hältst du deine Hände auf dem Rücken?

Er ließ sie fallen. Ich hob sie auf und sah, daß sie mit blutigen Striemen bedeckt waren.

– Was ist das?

Er antwortete wieder nicht.

– Du kommst jetzt mit auf mein Zimmer, sagte ich. Dort nahm ich seine Hände in die meinen und fragte ihn, daß er antworten mußte.

– So schlägt sie dich? – Womit?

– Mit einem Lineal ... stammelte er.

– Warum?

– Weil ich Sonntag ausgegangen bin.

– Schlägt sie dich oft? – Ich mußte diese Frage wiederholen. Er sah nieder, schwieg und bewegte lautlos die Lippen.

– Wie oft? – drang ich ihn.

– Alle Tage ... glaubte ich zu verstehen.

Jetzt wußte ich genug. Ich ließ seine Hände los, die armen kleinen, mageren, feuchten Hände mit den schlecht gepflegten Nägeln, den fleischlosen Knöcheln, den Narben, den blutigen Stellen ...

Ich schob ihn hinaus.

Als ich vom Essen kam, ging ich direkt von meinem Zimmer auf das meiner Wirtin zu, klopfte stark und trat sofort ein.

Sie saß am Tisch, der Junge ihr gegenüber, totenblaß, mit einer blutigen Strieme an der Stirn, zitternd und aus weitaufgerissenen, angstvollen Augen auf seine Peinigerin starrend.

Beide sprangen auf, als sie mich so unverhofft sahen. Die Alte war nicht erschrocken, nur maßlos erstaunt. Ich hatte den letzten Rest von Geduld verloren.

– Ich habe mit Ihnen zu sprechen, sagte ich, schicken Sie Ihren Enkel hinaus. – Sie sah erst mich, dann ihn an, machte eine herrische Bewegung nach der Tür, und das Kind schlich sich hinaus.

Wir saßen nun beide in Positur, und ich kann Ihnen sagen, ich bebte vor Wut. Es folgte eine lange und widerwärtige Auseinandersetzung, die ganz zwecklos war und aus der mir nun der Grund ihres Hasses gegen ihr Enkelkind klar wurde: es war ein uneheliches, es war der »Schandfleck der Familie«, ihrer »ehrbaren, anständigen Familie«, welche immer in »den Wegen Gottes gewandelt« sei und so weiter.

Ich redete ihr zu, ich drohte, wurde heftig und hatte dabei immer halb das Gefühl, mich um eine Sache zu kümmern, die mich eigentlich nichts anging. Das wußte das Scheusal, und so kamen wir zu keinem Zweck.

Sie gebrauchte die Bibelsprüche haufenweise.

Endlich ergriff ich das letzte und einzige Mittel.

Ich legte ein Zwanzigmarkstück auf den Tisch und erklärte mich bereit, ihr diese Summe allmonatlich zahlen zu wollen, wenn sie dieselbe zum Besten ihres Enkels verwenden und mir vor allem ›auf ihr Gewissen‹ versprechen wolle, das Kind nicht mehr körperlich zu züchtigen.

Nun kämpfte ihr Geiz mit ihrer viehischen Grausamkeit. Ihre Augen verschlangen das Goldstück, aber als ich ungeduldig wurde, noch einmal drohte, andere Wege einschlagen zu wollen und das Geld zurücknehmen wollte, wurde sie weinerlich, und ich hatte gesiegt.

– Ja – ja – gewiß ...

Ich ging hinaus, angeekelt wie selten in meinem Leben.

Von nun an paßte ich aber auf.

Nach einigen Tagen fing ich Hans ab und nahm ihn eindringlich ins Verhör: nein, er war wirklich nicht mehr geschlagen worden.

Es war kälter, empfindlich kalt geworden.

Einmal sah ich ihn traurig in der eisigen Stube bei seinen Büchern sitzen. Die Alte war aus. Ich nahm den Halberstarrten mit auf mein Zimmer und erlaubte ihm dazubleiben, wenn er ganz still sein wolle.

Ich setzte ihn in einen der großen Lehnstühle am Tisch, in welchem er fast ganz versank, und arbeitete, ihm den Rücken zukehrend, weiter. Als ich mich nach einer Stunde umsah – ich hatte ihn längst vergessen –, sah ich ihn regungslos dasitzen, so still, daß er kaum zu atmen wagte.

Seitdem kam er öfter. Erst mußte ich ihn holen, dann machte er freien Gebrauch von seinem passe-partout. So leise kam er, daß ich ihn selten hörte. Dann kroch er auf seinen Stuhl und nahm sich ein Buch vor.

Er störte mich nicht. Ich hörte nichts von ihm als zuweilen seine leisen, regelmäßigen Atemzüge und hier und da in einer Pause meiner Arbeit das unendlich behutsame Umschlagen einer Seite in leisem Knistern.

Er war vollkommen verschüchtert, der arme Kerl, und es dauerte lange Zeit, ehe er dazu zu bringen war, auf alle Fragen zu antworten. Von sich aus hat er selbst mir nie etwas erzählt. Aber ich brachte doch aus ihm heraus, was ich wissen wollte.

Es war nicht viel: eine kleine, alltägliche, traurige Kindheitsgeschichte.

Die Mutter, eine Näherin, hatte ihn eines Tages geboren. Er war aufgewachsen wie die meisten armen Berliner Kinder: halb auf dem Hofe und der Straße, und halb in der einzigen Stube seiner Mutter.

Aber er hatte doch in dem ersten Jahrzehnt seines Lebens deren Liebe nicht ganz entbehrt.

Mit sechs Jahren war er in die Volksschule geschickt und mit zehn Jahren war seine Mutter gestorben: die beiden großen Ereignisse seines Lebens.

Dann hatte ihn die Großmutter zu sich genommen, und seit diesem Tage war jede Freude, auch die kleinste, aus seinem Leben verbannt. Er sprach nie von den Züchtigungen, die er erlitten, aber ich merkte aus allem, wie grausam sie gewesen sein mußten.

Er wurde nach und nach etwas lebhafter. Von Heiterkeit und Frische konnte aber keine Rede sein.

 

Eines Abends zeigte er mir mit sehr wichtiger Miene, was ihm seine Mutter hinterlassen. Es war ein Brief und eine Photographie. Sie hatte ihm beides, als sie starb und das letztemal allein mit ihm war, in die Hand gedrückt und ihn ermahnt, es niemand zu zeigen, auch nicht der Großmutter. Den Brief solle er öffnen, wenn er groß genug sei, um ihn zu verstehen.

Der Brief, den sie einige Wochen vor ihrem Tode geschrieben hatte, wie der Poststempel zeigte, war an den Träger eines bekannten adligen Namens im Tiergartenviertel gerichtet und trug den Vermerk: »Adressat verreist«, was wohl ebensogut hätte lauten können: Annahme verweigert. Die Adresse war geschrieben mit ungeübter Hand.

Die Photographie war hervorgegangen aus einem der ersten Berliner Ateliers und offenbar vorzüglich. Ich verglich des Kindes traurige, gespannte, unruhige Züge mit des Vaters stolzem, hartem, forschem, fast grausamem Gesicht: ich fand keine andere Ähnlichkeit als in der feinen Form der Nase und einem gewissen herben Zug in den Mundwinkeln, die bei dem einen Überhebung, bei dem anderen vertrauenslose Verschlossenheit gegraben. Das Bild war offenbar unzählige Male zur Hand genommen. Ich gab es ihm wieder mit dem Brief, diesem letzten Schrei eines verzweifelten Herzens, welches nutzlos seinen letzten Stolz zum Opfer gebracht für das, was es liebte, und nicht anders retten konnte.

– Das mußt du sehr gut aufheben, Hans, sagte ich, und deiner Großmutter niemals zeigen.

Er nickte überzeugt.

 

Einige Wochen später fiel mir das Bild wieder ein. Im Opernhaus, während einer Festvorstellung, stieg im Zwischenakt ein höherer Offizier, nicht mehr ganz jung, von auffallend hohem Wuchs, an mir vorbei die Treppe herunter. Ich fragte nach dem Namen. Es war so, wie ich gedacht. Ich erzählte natürlich Hans nicht, daß ich seinen Vater gesehen, aber ich dachte mir mancherlei.

Der Vater hatte ihm doch verdammt wenig mitgegeben für den Kampf ums Dasein, dem armen, kleinen Kerl ...

 

Sie wissen, was für ein leidenschaftlicher Bewunderer Dorés ich bin, heute mehr als je, wo jeder Esel über diesen gigantischen Künstler seine Nase zu rümpfen wagt. Ich besitze die sämtlichen Werke, die dieser große Geist in der Zeichnung wiedergegeben, und es machte mir ein ungeteiltes Vergnügen, wenn Hans auf meine Frage, welche Bücher er heute besehen wolle, immer wieder antwortete: »die großen«.

Seltsam – manches Mal habe ich mit dem unwissenden Kinde über diesen wahrhaft großen Büchern gesessen, und wir sind Hand in Hand dieser enormen Phantasie mit Dante in die Hölle und mit Milton ins Paradies gefolgt ...

Doch im allgemeinen hatte ich wenig Zeit für Hans übrig und ließ ihn allein sitzen, während ich schrieb. Einmal, während ich innehielt, sah ich wieder seine Augen mir zugekehrt.

– Was möchtest du werden, Hans? fragte ich.

Da sagte er mit einem reizenden Ausdruck der Freude, daß ich erraten, an was er dachte: »Ein Dichter!«

Ein Dichter! – Ich glaube fast, daß er einer geworden wäre, wenn nicht –

Ja, wenn nicht! ... Lassen Sie mich kurz sein.

Die Tage gingen wieder wie im Fluge hin. Er war von einer rührenden Dankbarkeit gegen mich, die sich oft in echt kindlicher Weise zeigte.

Er war mir wirklich lieb geworden.

Da erhielt ich eine Nachricht, die mich zwang, Berlin fast sofort zu verlassen.

– Hans, sagte ich, ich muß fort –

– Nein, antwortete er mir, aber sein Blick suchte zu ergründen, ob ich scherze oder nicht. Dann ging er hinaus und kam an diesem Tage nicht mehr.

Ich kündigte sofort.

Als ich der Alten die Miete zum letztenmal einhändigte, sprach ich noch einmal mit ihr über ihren Enkel. Ich bat sie dringend, das Kind besser zu behandeln. Das Frauenzimmer hörte mir schweigend zu, aber hinter ihren kalten Augen, mit denen sie mich ansah, schien ein Plan zu liegen, ein unumstößlicher ...

Geld gab ich ihr nicht mehr. Sie hatte es stets dafür genommen, daß sie ihn nicht mehr schlug; weder hatte sie ihn besser genährt, noch gekleidet, und an weitere Ausgaben für ihn dachte sie überhaupt nicht.

Ich gab es ihm selbst, ich drückte es ihm in die Hand, als ich wegging. Die Alte war nicht zu sehen.

Hans war in den letzten Tagen oft bei mir und höchstens stiller geworden. Als ich ihm jetzt Adieu sagte – mein Wagen wartete und die Sachen waren schon heruntergetragen – und ich ihn zu mir emporhob, die kleine, federleichte, schmächtige Gestalt –, da erschrak ich selbst über den Ausdruck seines Gesichtes. Seine Augen waren weit geöffnet und sahen mit namenloser Angst in die meinen, mit einer so namenlosen, flehenden, verzweifelnden Angst, daß ich beunruhigt sagte: – Aber Hans, sei doch ein Mann! – Wir sehen uns ja wieder, ich bleibe ja nicht für immer fort ...

Einen Augenblick fühlte ich seine eiskalte Wange an der meinen, dann ließ ich ihn niedergleiten und schrieb noch in Eile eine ständige Adresse auf. Er nahm den Zettel teilnahmslos.

In der Mitte des Zimmers stand er, leichenblaß und wie gebrochen, und sah mir nach, tränenlos, wie immer, auch in dieser Minute noch.

So sehe ich ihn noch.

 

Ein Jahr später war ich wieder in Berlin. Ich hatte mir fest vorgenommen, bei der ersten Gelegenheit Hans zu besuchen. Aber Sie wissen ja, wie es mit solchen Vorsätzen geht: ich wohnte in einem völlig anderen Stadtteil, und Woche auf Woche, Monat auf Monat verging, ohne daß ich mein Versprechen eingelöst.

Da liegt eines Morgens unter meinen Briefen einer, der von Berlin nach der Stadt, wo ich den Rest des letzten Jahres verbracht hatte, und von dort hierher zurückgesandt war und dessen Adresse mit einer großen, steilen Schülerhand geschrieben war. Mitten unter all den andern Briefen lag er da, als habe er sich nur verirrt. Aber er war an mich.

Er war von Hans.

Ich kann Ihnen nur eins sagen: daß nichts, nichts im Leben mich heftiger erschüttert hat, wie dieser kleine Brief dieses armen Jungen. Er schrieb mir etwa so: er müsse mir doch schreiben, denn er glaube, daß er nicht mehr lange leben könne; er werde immer geschlagen, jeden Tag, seit ich fort sei; ich sei so gut zu ihm gewesen, ob ich denn nicht bald wieder käme, er würde sich so sehr freuen, mich noch einmal zu sehen ... Unterschrieben hatte er: Ihr lieber Hans.

Der Brief war in jener eckigen, großen Kinderhandschrift geschrieben und gewiß in großer Aufregung und Angst, denn einzelne Worte waren durch Tränen verwischt. – So hatte er nun doch das Weinen gelernt.

Es hatte fast acht Tage gedauert, bis mich der Brief erreicht. Lassen Sie mich enden ... Ich warf alles hin und setzte mich in eine Droschke. Nach einer halben Stunde stand ich vor der Tür, die ich so oft durchschritten, und klingelte heftig.

Ich hörte den schlürfenden Tritt, den ich kannte. Unverändert bis auf die Fußsohle stand das Weib vor mir. Es war maßlos erstaunt.

– Guten Tag, sagte ich, und hörte, wie rauh meine Stimme klang. – Ich wollte mich nach Hans erkundigen. Die Frau antwortete und rührte sich nicht, aber ein unglaublich gemeines Lächeln überflog ihr Gesicht.

– Wo ist er? fragte ich fast drohend. Und da sie wieder nicht antwortete, trat ich vor und zwang sie, zurückzutreten. Sie zog sich zögernd nach der Küche zurück. »Er ist da«, sagte sie dann, als sie merkte, daß ich Ernst machte, und zeigte nach der Tür. Nie hat ein hohnvollerer Triumph in wenigeren Worten gelegen.

Ich trat in das Zimmer. Es war leer. Aber die Tür zu dem Nebenzimmer stand offen, und hier – in einem elenden, zerrissenen Bett – auf dem Rücken lag Hans. – – Er war tot.

Ich eilte auf das Bett zu. Ich ergriff seine Hände – sie fielen schlaff herab; ich hob das Kinn in die Höhe – es sank nieder.– – Er war tot.

Ich setzte mich auf den Rand des Bettes.

Ich sah ihn lange an.

Seine Augen waren fest geschlossen. Ein müder, gequälter Ausdruck – derselbe, den er im Leben nie verloren – lag, nur viel stärker, auf dem kleinen Gesicht.

Plötzlich sprang ich auf. Ich hatte etwas gesehen – – was war das?

Auf der Stirn eine Wunde, an der Schulter, welche nackt durch das zerrissene Hemd sah, eine Wunde, ich zog die dünne Decke von der Brust und schob das Hemd beiseite: Wunde bei Wunde, Strieme an Strieme, Narbe neben Narbe! – – Ich glaube, ich schrie auf vor Grauen.

Sie hatte ihn totgeprügelt!

Das Entsetzen überlief mich in eisigen Schauern. Und wie ich wieder in das Gesicht des Kindes sah, schien es mir, als öffneten sich diese braunen, klaren, unschuldigen Augen und sprächen zu mir: Und du bist ihr Mitschuldiger, denn du hast es geduldet! – du konntest mich retten, und du hast es nicht getan! – – Ich zog die Decke um seine blutigen Schultern, schob das Haar aus der Stirn, nahm wieder die kalten Hände in die meinen und saß lange auf dem Rande des Bettes, bedrückt von Gefühlen, die bitterer als die der Reue ... Endlich besann ich mich.

Ich ging auf den Flur, bleich vor Wut. Ein häßliches, gemeines Gesicht streckte sich zu der Tür des hintersten Zimmers heraus – ich stürzte förmlich darauf zu.

– Mörderin! schrie ich.– – Verruchte Mörderin!

Ich glaube, ich hätte sie gewürgt.

Mit einem gellenden Schrei hatte das Weib – noch ehe ich es erreicht – die Tür zugeschlagen und verschlossen.

Ich hieb gegen die Tür mit der Faust, ich weiß nicht, wie lange. Sie öffnete nicht.

– Du wirst schon öffnen! knirschte ich.

Dann ging ich zurück zu dem toten Kinde. Es war mir unmöglich, es noch einmal anzusehen. Ich eilte fort. Ich fuhr zu einem alten Freunde, einem Rechtsanwalt. Er hörte mich sehr geduldig an.

Aber dann: – Beweise ... Beweise! ... – Und dann der Zweck? – Es war ja nun doch einmal geschehen ...

Und so war es auch.

 

Sie wissen, wie wenig mir daran liegt, was mit unsern Kadavern nach dem Tode geschieht. Wenn wir uns am meisten und endlich zu Tode gequält haben, beheulen wir uns am lautesten und jämmerlichsten.

Ich ging nicht einmal mehr hin. Ich tat gar nichts. Aber ich kann Ihnen nicht sagen, Mackay, wie sehr und in wie vielen Stunden ich gelitten habe unter dem Gedanken: Du hättest ihn retten können, und du hast es nicht getan! ... Aber so sind wir: zu allem haben wir Zeit, was innerhalb der Gleise unseres Lebens liegt. Sollen wir aber nur einmal – unangetrieben durch irgendwelche Notwendigkeit – handeln aus freien Stücken, so versagen wir, so versagen wir elend! ... Feiglinge, die wir alle sind im Dienste des Lebens ...

Er schwieg. Wir schwiegen beide.

Dann griffen wir nach unsern Gläsern, aber der Wein schmeckte herb und bitter.

– Warum schreiben Sie sich die Geschichte nicht vom Herzen? – fragte ich nach altem Rezept.

Er schüttelte den Kopf.

– Nein, sagte er.

– Ich möchte sie schreiben, fuhr ich fort.

– Ja, sagte er gleichgültig.

– Ich würde sie nennen: »Hans, mein Freund« ...

– Hans, mein Freund! hörte ich ihn bitter lachend wiederholen. Ja, er war mein Freund, aber ich war nicht der seine. Armer Hans! – Was suchtest du dir keinen besseren ... Armer Hans! ...

Und jetzt – in diesem Augenblick – erkannte ich während eines jahrelangen Verkehrs in ihm den Dichter, der die »Lieder der Trauer« geschrieben und der jene intime, schmerzliche, fast erhabene Dichtung sang, welche die Esel der Kritik verdammt und ein nicht nur undankbares, sondern auch albernes Publikum nicht gelesen hat, weil sie in Versen gedichtet ist.


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