John Henry Mackay
Zwischen den Zielen
John Henry Mackay

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Die Hand

Wer ist nicht schon einmal in einem kleinen Badeort gewesen, um die Zeit, wenn die Saison vorüber und derselbe auch von den ausdauerndsten und standhaftesten seiner Gäste verlassen wurde? Der Oktober ist diese Zeit.

In diesem Monat befand ich mich – genau fünf Jahre später – in einem kleinen Badeorte Thüringens. Ich hatte ursprünglich die Absicht, mich dort anzusiedeln und mir schon meine sämtlichen Sachen hinkommen lassen. Inzwischen war ich wieder schwankend geworden und wohnte einstweilen noch immer in dem von Kurgästen am meisten frequentierten Gasthofe der Stadt.

Unsere Mittagstafel wurde immer kleiner. Kein Tag verging, an dem nicht mehrere der Badegäste abreisten. Die Zurückbleibenden rückten näher zusammen. Sicherlich gab es am ganzen Tisch keine unzugänglichere und unliebenswürdigere Person als mich. Statt an dem gemeinschaftlichen Gespräch teilzunehmen, las ich meistens meine Zeitung, die ich nur fortlegte, wenn ich mit Essen beschäftigt war. Eines Tages waren wir nur drei Personen. Eine Dame, welche sich ebenfalls sehr schweigsam verhielt, ein alter pensionierter Oberförster, der sich die größte Mühe gab, seine beiden stillen Tischgenossen zu unterhalten, und ich. Und am folgenden Tag war auch der, wahrscheinlich aus Ärger darüber, daß seine freundlichen Bemühungen auf so zähen Widerstand stießen, abgereist, und ich sah mich bei Tisch allein jener Dame gegenüber. Nun ging es nicht mehr an, fortwährend die Zeitung vor die Nase zu halten, und ich entschloß mich unmutigen Herzens, eines jener Gespräche zu beginnen, welche dazu dienen sollen, »das Mahl zu würzen«.

Die Dame, welche mir gegenübersaß, war vielleicht dreißig Jahre alt. Sie war sehr einfach, fast nachlässig gekleidet. Man konnte sich keine unauffälligere Erscheinung denken. Sie war eine jener Frauen, die selbst niemals gesehen werden und darum selbst sehr vieles sehen. In ihrem gleichgültigen, sogar müden Blick fing sich ein Teil des Lebens, welches sie umgab.

Das alles sagte ich mir, als ich meine Zeitung fortgelegt hatte und sie – eigentlich zum erstenmal – betrachtete. Der Kellner servierte eben den ersten Gang.

– Unser Tisch ist schnell zusammengeschmolzen, sagte ich, – werden auch Sie G. bald verlassen, mein Fräulein?

– Nein, sagte sie mit völlig ruhiger Stimme, – ich gedenke noch einige Wochen zu bleiben.

Sie sprach ein Deutsch, welches trotz seiner Fehlerlosigkeit nicht ganz frei war von einem ausländischen Akzent, wie ich ihn oft in der Aussprache von Russen vernommen hatte.

– Es wird sehr einsam hier werden ...

– Ja, sagte sie und aß gleichgültig weiter.

Der Rest unserer Mahlzeit wurde wieder schweigend eingenommen. Ich war abgeschreckt durch ihre Kälte und hatte meiner Pflicht völlig genügt.

Nichts ist mir unangenehmer, als wenn mir irgend jemand während des Essens auf die Hände sieht. Ich vermeide es darum auch meinerseits, andere auf gleiche Weise zu belästigen.

Aber als ich mich eben erheben wollte, um fortzugehen, und überlegte, ob ich das mit einer schweigenden Verbeugung oder mit einigen höflichen Worten tun sollte, sah ich plötzlich über den Tisch herüber eine Hand nach der Wasserflasche, die zwischen uns stand, langen. Und während ich dieser Hand behilflich sein will, sehe ich plötzlich, daß an ihr, die den Hals der Flasche umspannt, der kleine Finger, es war die rechte Hand, fehlt. Der Ausdruck meines Gesichtes muß ein befremdeter gewesen sein. Denn plötzlich läßt die Hand die Flasche los, und ich sehe undeutlich, wie sich mir gegenüber eine Gestalt erhebt. Das leise Rauschen ihres Kleides tönt durch den stillen, großen Saal ...

Wenigstens fünf Minuten saß ich bewegungslos. Es waren in der Tat sehr seltsame Gedanken, die mich beschäftigten.

Am Nachmittag ging ich nach dem Güterbahnhof des Städtchens, wo die Kisten standen, die alles, was ich besaß, enthielten. In einer von ihnen mußte das sein, was ich brauchte. Aber in welcher? Erst nachdem ich zwei der Kisten mit Hilfe von reichlichen Trinkgeldern vergeblich geöffnet und durchwühlt hatte, fand ich endlich in der Mitte der dritten unter einem Wall von Büchern eine kleine Schachtel. Ich nahm sie zu mir und ließ alles wieder verschließen.

Am Abend dieses Tages sah ich die Fremde nicht mehr. Auch am nächsten Morgen nicht. Mit heimlicherer und zugleich erwartungsvollerer Angst habe ich nie die Mittagsstunde erwartet, als an diesem Tage. Es wurde mir sehr schwer, mich zu dem zu entschließen, was ich tun wollte und – tat.

Ich war lange vor der Essenszeit im Speisesaal und saß wohl eine halbe Stunde, bevor sie kam, auf meinem Platze. Ich hatte Zeit, meine Arrangements zu treffen. Endlich kam sie. Sie grüßte in ihrer gewöhnlichen kalten und unbefangenen Weise. Der Kellner brachte uns die Suppe. Vor meinem Besteck lag die Zeitung, die ich täglich zu lesen pflegte. Wenn ich mein Leben damit hätte erkaufen können, es wäre mir nicht möglich gewesen, in diesen Minuten ein Wort hervorzubringen. Sie mußte meine innere Aufregung merken, denn ich fühlte instinktiv, wie ihr forschender, scharfer Blick auf meinem Gesicht ruhte.

Ich glaube, sie ahnte, daß ich etwas gegen sie im Sinne hatte, und begann, sich davor zu fürchten. Aber das glaube ich vielleicht nur. Gewiß täuschte ich mich damals, wie ich mich heute noch darin täusche.

So saßen wir uns gegenüber. Noch hatte ich keinen Blick auf ihr Gesicht geworfen. Aber fast unablässig verfolgte ich die Bewegungen ihrer rechten Hand. Die Gewohnheit hatte sie gelehrt, diese so zu halten, daß es fast unmöglich war, den kleinen Finger zu sehen.

Ich glaube, wir beide wurden von Minute zu Minute unruhiger.

Und dann kam plötzlich, wie in jener Nacht, an die ich seit gestern unablässig dachte, wieder die Ruhe des Entschlusses über mich. Der Kellner hatte den Saal verlassen. Wir waren völlig allein. Langsam streckte sich meine Hand über meinen Teller fort und hob die vor ihm liegende Zeitung behutsam auf. Ich rollte sie fester um den Halter zusammen und legte sie auf meine Knie. Sie aß ruhig weiter. Noch sah sie nichts.

Aber dann! – – Die Wirkung war so entsetzlich, daß ich aufstand: zuerst wurde sie leichenblaß, dann überlief ein Zittern ihren Körper, und dann lehnte sie sich in den Stuhl zurück und schloß die Augen.

Vor uns, zwischen uns, auf dem weißen Tischtuch lag sorgfältig ausgebreitet ein langer, brauner Frauenhandschuh. Der kleine Finger fehlte, und an seiner Stelle lag der gelbliche, vertrocknete kleine Finger einer rechten menschlichen Hand auf dem weißen Untergrund. Da, wo er in den Handschuh hineingeschoben war, umschloß ein goldener Ring Handschuhleder und Finger ...

Erst als ich sie so dalehnen sah, totenblaß und mit geschlossenen Augen, kam ich zur vollen Besinnung dessen, was ich getan hatte. Ich stand da wie ein Verbrecher.

Als ich eben nach Hilfe eilen wollte, sah ich, wie sie sich erhob. Mit einem wilden, verzweifelten Ausdruck blickte sie um sich, wie ein Tier, welches verfolgt wird, nicht mehr aus und ein kann und zu allem entschlossen ist.

Sie sah mich unablässig an. Dann wies sie mit einer heftigen Handbewegung nach dem Garten. Sie schritt voran. Unwillkürlich griff ich, bevor ich ihr nachging, nach dem Handschuh.

Unter den hohen, herbstlichen Bäumen des weiten, menschenleeren Parkes blieb sie stehen. Ich sah, daß sie in furchtbarer Erregung war. Und zugleich sah ich, daß sie schön war, noch schön war. Ihre Augen sprühten, als sie mich ansah. Es lag in ihnen Drohung und Befehl zugleich.

– Ich will alles wissen! Rede! lautete dieser Befehl.

– Wage es nicht, mich zu belügen, oder mir etwas zu verheimlichen! hieß diese Drohung.

Und dort, in dem weiten, ernsten Garten, in welchem kein anderer Ton als der meiner Stimme und das Rascheln des Laubes die Stille unterbrach, erzählte ich ihr hastig und so eindringlich wie möglich die Geschichte jener Nacht – – – Ich verschwieg ihr nichts und sprach wohl eine Viertelstunde.

Sie stand, ohne sich vom Fleck zu rühren, vor mir. In heftigster Aufregung. Nur einmal, als sie aus meinen Worten entnommen hatte, daß jener Mann tot war, sagte sie »Ah!« und atmete, wie von einer großen Last befreit, auf. Von da an wurde sie ruhiger, während meine Erregung noch wuchs.

Ich hatte geendet.

Da streckte sie ihre Hand aus – aber es war die linke! – und sagte mit befehlender Härte und unverweigerlicher Bestimmtheit:

– Mein Eigentum!

– Ihr Eigentum! antwortete ich leise und tonlos und legte Handschuh, Ring und Finger in die ausgestreckte Hand, die das Gereichte krampfhaft umspann.

Schon hatte sie sich dann zum Gehen gewendet, als sie in meinen Augen den einen heißen Wunsch gelesen haben mußte. Denn noch einmal wandte sie sich zu mir:

– Ich wollte von ihm frei sein – um jeden Preis. Der Ring war die Kette. Ich wußte, er war angewachsen, wie angeschmiedet. Und ... sie stockte.

– Und sie gaben ihm? – fragte ich in atemloser Spannung.

– Den Finger – und war frei! sagte sie mit einem unbeschreiblichen Lächeln, welches ich so noch nie auf einem Menschenantlitz gesehen hatte.

– Und er war Mediziner? stieß ich mit der brennenden Begierde hervor, noch eines zu wissen, – und er trennte den Finger, als der Handschuh noch an der Hand saß –? Sie neigte schweigend die Stirn zur Bejahung.

– Oberhalb des Ringes?

Wieder das Neigen.

– Und dann erst rissen sie den Handschuh ab? – Und der Ring löste sich –?

Wieder bejahte ein schweigendes Neigen meine Frage.

– Und? – fragte ich, gierig und atemlos.

– Und – und sie richtete sich in die Höhe und schrie mehr, als sie sagte, während ihre Augen nur noch Verachtung sprühten, – und warf ihm mit dieser Hand diesen Handschuh so ins Gesicht! – Sie hatte in maßloser Wut ihre Hand erhoben und – noch eine Sekunde – und auch ich –

Aber der Schlag fiel nicht nieder.

– Nein! rief ich.

– Nein, sagte auch sie und ließ ihre Hand sinken. Böse und gegenseitig erbittert sahen wir uns an. Wir standen so nah aneinander, daß wir uns fast berührten. Wohl eine Minute lang. Wir haßten uns in dieser Minute. Das Weib den Mann und der Mann das Weib. Ich sah sie an, fest und durchdringend. Doch sie sah nieder.

– Aber, rief sie noch einmal mit einer vor Aufregung gellenden, überlauten Stimme, indem ihre Augen am Boden umhersuchten, und es war, als ob sie etwas Unausgesprochenes ergänzte, – aber ich verachte euch alle, denn ihr seid alle brutal!

Und ohne Abschiedswort, ohne Gruß, ohne mich auch nur mit einem Blicke noch zu streifen, ging sie, fast wieder so ruhig und sicher wie vorher, langsam und hochaufgerichtet den Pfad hinauf, dem Hause zu. In ihrer Hand hielt sie, was ihr gehörte.

Und während ich – wie im Erwachen aus einem langen Traum – ihr nachsah, wußte ich, daß ich sie nie mehr wiedersehen würde.


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