John Henry Mackay
Zwischen den Zielen
John Henry Mackay

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Ein Abschied

Sie hatte dreizehn Stunden in einer todähnlichen Ermattung geschlafen, ohne Traum, ohne Bewußtsein ... Es war die erste ruhige Nacht seit langen Wochen. Erst diese schreckliche, langwierige Krankheit, dann der langsame, qualvolle Tod, endlich diese drei Tage äußerer und innerer Aufregungen, die sie bis in die Träume der Nächte hinein verfolgten und ihren Schlummer störten, wie es seine Seufzer getan bisher ...

Erst als sich die Gruft geschlossen hatte, als die Leidtragenden sich zerstreut, als sie allein war mit der gleich ihr ermatteten Dienerschaft in dem großen, stillen Hause, da fühlte sie, wie nötig ihr die Ruhe war, und sie legte sich hin, um dreizehn Stunden zu schlafen.

Als sie erwachte, empfand sie zum ersten Male wieder seit langer Zeit das Gefühl der Stärke und der Willenskraft, das ihrer Natur verwachsen schien. Sie schämte sich dieses Gefühles. Es kam in diesem Augenblick, wo sie, wie sie glaubte, noch völlig aufgelöst in ihrem Schmerze und ihm noch ganz hingegeben sein mußte, fast ungelegen. Aber es ließ sich nicht verscheuchen und so schickte sie sich an, die Zügel ihres Lebens wieder in die Hand zu nehmen und sich einzuüben in die neue Rolle: die Witwe des großen Mannes, die sie fürderhin zu spielen hatte. Schwerer konnte sie nicht sein als die bisher gespielte der Gattin.

Nachdem sie gefrühstückt und mit dem alten Diener ihres Hauses die ersten Versuche besprochen hatte, den gestörten Gang ihres musterhaft geführten Haushaltes wieder ins rechte Geleise zu bringen, betrat sie zum ersten Male das Arbeitszimmer des Toten. Man hatte die Fenster geöffnet, und das reine Licht eines stillen Herbstmorgens war hereingeströmt. Es war alles noch so, wie es gewesen war das letztemal, als man ihn hierher getragen hatte, das letztemal, bevor er sich niederlegte, um nie mehr aufzustehen: drei Tage vor seinem Tode. An jenem Nachmittage hatte er noch selbst die Briefe der letzten Woche geöffnet, und die Blätter lagen noch so auf dem Schreibtisch, wie seine müde Hand sie dort hingelegt. Was seitdem bis zu dem Abend, wo alles zu Ende war, gekommen, hatte der Diener in der anderen Ecke aufgeschichtet – dort lag es uneröffnet in der Reihenfolge, wie es eingetroffen: ein großer Stoß von Briefen und Zeitungen aller Art.

Ruhig ging sie daran, eine Sendung nach der andern zu öffnen und beiseite zu legen: die Privatbriefe für sich, dann die Zeitungen, endlich die geschäftlichen Zuschriften so verschiedener Art, diese gleichgültigen Dinge, die das Leben begleiten, noch einige Zeit weiterfließen und endlich langsam verebben würden, mit der Erinnerung an ihn, den Toten, oder etwas früher noch als sie ...

Während sie die Privatbriefe las – ein, zwei oder drei seiner näheren Freunde, die sich nach dem Stande der Krankheit erkundigten und alle die Hoffnung auf baldige Genesung ausdrückten, ein weiterer von einem glühenden Bewunderer des großen Künstlers, der ähnlich lautete – kam ihr in den Sinn, wie wenig sie doch in Wahrheit mit ihrem Manne geteilt hatte: keine einzige seiner Freundschaften, und wie wenig mit seinem Leben nach außen hin – sie kannte keinen dieser Freundesnamen, und nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, ihr einen dieser Briefe seiner Verehrer zu zeigen, deren er doch so viele erhalten haben mußte. Nur die letzten Tropfen aus der Fülle einer einst zum überfließen gefüllten, nun zertrümmerten Ruhmesschale rannen in ihre Hände, zufällig in die ihren ...

Mechanisch hatte sie über diesen Gedanken den nächsten Brief geöffnet. Sie las, verstand erst nicht, las wieder und begriff:

– Ich lese in den Zeitungen, daß Du krank bist, und ich breche nach fünfunddreißig Jahren ein Versprechen, das ich mir selbst gegeben. Denn ich schreibe Dir: noch einmal nach so langer Zeit und zum letzten Male.

Wer ich bin? – Erinnere Dich, wen Du vor fünfunddreißig Jahren geliebt hast und Du weißt es.

Und warum ich Dir schreibe? – O sei still: nur um noch einmal auf Deine Lippen ein Lächeln zu rufen, das Lächeln der Erinnerung an ein Glück, das Du so wenig vergessen hast wie ich – vielleicht Dein letztes Lächeln! Nur darum schreibe ich Dir.

Denn wie groß und wie reich Du geworden bist, wie fern in dieser Stunde Dir vielleicht schon liegt, was wir Leid und Freude nennen – so voll Sonne kann dein Zimmer nicht sein, als daß es nicht einem Strahl noch erlaubt sein sollte, hineinzuschlüpfen und liebkosend auf Deiner Stirn zu liegen für einen letzten Augenblick.

Aber vielleicht bist Du, weil Du groß und reich bist, einsam und allein, obwohl von Menschen umgeben. Dann soll dieser eine Strahl noch einmal Dein ganzes Zimmer füllen mit Licht und Wärme: der Erinnerung an Deine erste Liebe, die vielleicht nicht Deine tiefste, aber sicherlich Deine glücklichste und sorgloseste war, und um die niemand je gewußt als Du und ich.

Ich danke Dir, mein Freund, für das Glück, das Du mir gegeben hast, und ich denke dieses Glückes, wie man seiner gedenken sollte – als der kostbarsten Seltenheit dieses Lebens: mit Ehrfurcht. Was es unabweislich nach sich zog an Leid und Qual habe ich vergessen, und ruhig kann ich Dir heute sagen: ich danke Dir! –

Leb wohl! – mein Freund! Siehst Du uns nicht wieder, wie wir damals waren? – Das weiße Haus und den Rosengarten, den Sandweg am Weiher, auf dem wir so oft gingen? – Denkst Du nicht noch einmal an unsere ersten Küsse, und kommen Worte nicht lebendig wieder, die wir geflüstert? –

Gewiß! – Wie ich es wieder für eine Stunde vergessen habe, daß ich alt geworden bin, so sollst Du es tun, und während Deine Hand dies Blatt zerknittert und es an der Kerze verkohlt, wirst Du lächeln, wie ich es gewollt! –

Leb wohl, mein Freund! – Leb wohl, Du Geliebter meiner Jugend!– –

Als die Lesende geendet, sah sie noch lange auf die Zeilen, die eine alte, bereits zitternde Hand und ein noch jugendliches Herz geschrieben. Doch nichts regte sich in ihr als eine maßlose Erbitterung und eine Art von Haß gegen diese alte, romantische Person. Als sie aber dann aufstand und, den Brief in kleine Fetzen zerreißend, hin- und herging, war auf ihrem kalten und leeren Gesicht der Ausdruck des Hasses dem der Freude gewichen, der gemeinen und kleinen Freude darüber, daß er wenigstens dieses letzte Glück nicht mehr genossen hatte.


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