John Henry Mackay
Zwischen den Zielen
John Henry Mackay

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Ekel

Ich – ich! – wohne in einem Hause, in dessen Erdgeschoß sich ein Schlächterladen befindet! –

Warum ich in dies Haus gezogen bin, werde ich lachend gefragt. Aber ich sage euch, wenn man einen ganzen und einen halben Tag umhergelaufen ist, um sich ein Zimmer zu suchen, von einem Loch in das andere, so tut man zuletzt gerade das, was man nicht tun wollte, in halber Verzweiflung und beseelt nur von dem einen Wunsche: zur Ruhe zu kommen.

Tagtäglich muß ich an den blutigen Fleischstücken vorüber, wenigstens sechsmal täglich, und wie ich auch die Augen schließen mag, ich sehe sie doch: die aufgeschlitzten Schweinebäuche und die abgehäuteten Kalbsköpfe, aus deren Augenhöhlen mich halbzerstochene, glasige Kugeln blödsinnig anstarren, während ich vorbeieile, betäubt von dem entsetzlichen Dunst frischen Fleisches und fiebrisch geschüttelt von Ekel, einem unsagbaren Ekel! ...

Im Winter ging es noch. Da lag diese schmutzige Stadt unter einem schmutzigen Himmel und alles schwamm ineinander über in einer trüben, aussichtslosen, eintönigen Dämmernis, unter welcher hinweg der Geist in trägem, animalischem Behagen kroch von einem Tag zum andern.

Aber es wurde alle? anders, denn es wurde Frühling! – Der Staub fliegt von der Straße herein und legt sich als Streusand auf die schimmernde Schrift der frisch beschriebenen Blätter ...

Welch ein Leben! – O welch ein Leben! –

Der Lärm der Straße weckt mich auf. Müder, als ich mich hinlegte, stehe ich auf.

Arbeit bis zum Mittag.

Ohne Hunger, fast nur von der Gewohnheit getrieben, gehe ich an den Häusern entlang in einen großen, häßlichen Saal. Dort beginnt mit der zwölften Stunde eine enorme, geräuschvolle Abfütterung von vielen Menschen an hundert Tischen, die mit entsetzlichen, bunten Lappen behängt sind.

Ich schlinge meinen Fraß hinunter. Er ist weder schlecht, noch gut. Alles schwimmt in einer Brühe; so wird er halb gespült, halb gewürgt.

– Ma–a–hlzeit ... Ma–a–ahl–zeit ... Nein, wie ich dieses Wort hasse! Ob gesättigt, ob ungesättigt, vom Morgengrauen bis zum Abendsinken blökt sich dieses ganze Volk mit diesem fettigen, schleimigen, selbstzufriedenen Wort an, in welchem kein Sinn und kein Verstand ist. Ich höre es immer. Ich kann ihm nicht entgehen.

Noch wenn ich im Sterben liege, werde ich es hören müssen: »Ma–aa–hlzeit! – Ma–ahl–zeit« – ja, für die Würmer!

Ich sinke, wieder zu Hause, in einen bleiernen Schlaf, den mir die Nacht nicht gibt. Kein Lärm vermag mich mehr zu erwecken, aber das Zwitschern der Vögel in dem einzigen Baume dieser Straße, das in meine schweren und dumpfen Träume klingt, ruft mich zur Wirklichkeit zurück.

Arbeit bis zum Abend.

Ich höre es dem Knirschen meiner Feder an, wie widerwillig sie folgt. Zwischen die Häuser haben sie ein paar Bäume gesperrt. Das nennen sie Garten. Aber die Bäume sind doch grün geworden. Es ist wunderbar.

Dort sitze ich jeden Abend von sieben Uhr bis Mitternacht.

Mehr darf ich nicht sehen vom Frühling, oder ich werde rasend und laufe davon und kehre nicht mehr zurück und muß irgendwo verhungern. Nein, mehr darf ich nicht sehen ...

Wieder würge ich etwas hinunter. Die Stühle füllen sich langsam mit Menschen. Um acht Uhr fangen drei Kerle an, ein sogenanntes Konzert zu geben. Sie lärmen bis elf Uhr auf einem Klavier, einer Geige und einer Bratsche herum.

Dieser Lärm wirkt beruhigend auf mich. Mein Ekel verkriecht sich irgendwo hin und verhält sich ruhig.

Ich trinke und rauche fortwährend. Neulich abend habe ich es auf dreizehn Glas Bier und acht Zigarren gebracht. Gewöhnlich ist das Verhältnis acht zu sechs.

Für diesen Genuß habe ich mich an die Arbeit verkauft, welche meinen Frühling mordet.

Von den Nächten – von den Nächten will ich schweigen ...

 

So ist mein Tag, so ist ein jeder meiner Tage.

Doch anders ist mein Traum.

Zuweilen – wenn meine Feder innehält mit dieser entsetzlichen Schreiberei: der »realistischen«, geradezu brutalen Ausschlachtung irgendeines fremden Menschenschicksals, das mich nicht einmal zu interessieren vermag, dann träume ich ihn.

 

Mein Fuß schleift seine Sohle durch diesen Schmutz, aber meine Sehnsucht wandert hinaus. Ihr könnt sie nicht halten ... Versucht nicht auch das noch!

Sie wandert zu dir, der du die Liebe bist und die Schönheit dein eigen nennst.

Sie durchschreitet die klirrende Pforte deines Parkes, die nur mir sich öffnet und die sich schließt hinter mir. Sie kennt jeden Weg in dieser stillen Weite und mühelos findet sie den rechten zu dir.

Schon ist es Abend, und seine Schatten schleichen umher unter den hängenden Zweigen gleich nächtlichen Dieben. Aber ich achte sie nicht und wehre den Ästen, die mich hindern wollen.

Leise knistert der Kies unter meinem Fuße, und ängstlich flattert der Fittich eines aufgescheuchten Vogels.

Auseinander mit den Zweigen! – – –

Der See liegt da, versilbert von den Strahlen des nächtlichen Lichtes, des Lichtes, das dich mir zeigt: in weißem Gewände stehst du unbeweglich auf der zweiten jener Stufen, die zu der Bank führen, auf der du mich erwartet hast, immer, immer, wie oft ich auch kam ...

So unbeweglich stehst du heute wieder da, daß ich einen Augenblick stocke – nur einen Augenblick –, denn schon lockst du mich mit einer leisen Bewegung deiner Hand und mit dem erstickten Laut verzweifelnder Erwartung.

Ich stürze auf dich zu und trage dich die Stufen empor. Du weinst, du weinst, du mein Kind, mein Weib, mein Freund – Geliebte, du weinst?! –

Laß mich es sehen, bevor ich es küsse, dein bleiches Gesicht.

Beuge es nieder, damit der Mond es mir zeigen kann.

Es ist bleich, wie die Rose, die dort auf den Wassern schwimmt – – und doch, wie ist es so schön!

Es ist stolz, wie die Einsamkeit, in seiner unbewegten Gleichmäßigkeit – und doch, wie schön ist es! Es ist krank, dein Gesicht, aber es ist schöner, als jemals eines, das die Farbe der Gesundheit schmückte ... Deine Stirn, deine Augen, deine schwarzen, sehnsüchtigen Augen, und ihre Wimpern, ihre langen Wimpern, die blassen, kühlen Wangen, ihre durchsichtige Haut, dies schmale Oval deines Gesichtes erzählt mir immer wieder die Geschichte deines Lebens.

Ich greife dich bei den Händen und ziehe dies betäubte und willenlose Haupt zu mir empor und küsse die blutende Wunde deines Mundes in maßloser Seligkeit, in maßloser Seligkeit! – –

Und da ich fühle, wie meine Glut deine schlanken kalten Glieder durchschauert, küsse ich nicht mehr deinen Mund allein – nein, ich küsse die blauen Adern deiner Schläfe, deinen reizenden Hals und die weiße Seide, welche mir deine Brüste mißgönnt ...

Ich löse den griechischen Knoten deines Haares und berge meine tagesheiße Wange in den duftigen, weichen Strähnen ...

Da lächelst du, lächelst zum erstenmal und ziehst mich näher zu dir heran, damit ich das Schlagen deines Herzens höre, deines starken, großen, einsamen Herzens.

Dieses Herz, das ich brach!

Es liebt mich noch immer.

Es weiß nichts von Vergebung, denn es kennt keine Schuld.

Es klagt nicht; es leidet in Schweigen.

Es wird nie freiwillig entsagen, nie wird es lassen von dem, was es liebt, ehe es muß.

Ich habe es gebrochen, aber es ist mein, und noch höre ich sein Schlagen, das zitternde Schlagen deines starken, großen, einsamen Herzens!

Aber warum sprichst du nicht?

Sage mir ein Wort! – Sprich zu mir!

Du schweigst.

So will ich dich fragen.

Sage mir, du Haupt, das an meiner Brust ruht, dessen Augen mich ansehen, und dessen Mund sich bereits zum Reden öffnet, sage mir, daß du mich liebst!

Da lächeln die Augen, aber der Mund bleibt stumm.

So sage mir, ob du meiner gedacht? –

Da flieht das Licht deiner Augen nach innen, aber der Mund gibt mir nicht Antwort.

Soll ich dir drohen, schweigsame Liebe?

Ich muß bald gehen, bald ... sage ich.

Da richtest du dich empor, weiße Gestalt, die schlanken Finger packen meine Schultern wie die Pranken einer Löwin, und du sagst dreimal:

Nein! – nein! – nein!! – –

O du meine törichte Weisheit!

Ein Schauer geht durch deine Glieder. Es ist die Kühle des Abends ...

Ich hebe dich empor, wie ein Kind, und – leb wohl! du nächtlicher See ... lebt wohl! ihr winterlichen Schwäne ... – und wandeln den Piniengang hinab zu deinem weißen Schloß.

Und wieder durchfliegt der Schauer deine Glieder; ich fühle es, wie wir dahin gehen.

Doch bevor noch das Licht der Terrassen auf uns fällt, stehe ich still:

Du mußt es mir sagen! –

Und du hebst dein bleiches Gesicht, deine Augen füllen sich mit den Tränen, die dein Herz geweint, und langsam, mit qualvoller Stimme, entringt es sich deinen Lippen:

Die Tage sind zu lang! – – Ich ertrage sie nicht! – –

Ich kann dir nicht antworten. Ich küsse dich nur, wie ich dich nie geküßt, und du verstehst mich! ... – Alle Türen stehen offen, durch alle Fenster bricht das Licht deines festlichsten Saales auf den weißen Marmor der Treppen und die gelben Rosen des Geländers.

Niemand erwartet uns. So willst du es: keine Diener, keine Augen.

Nur Gentle, dein großer Bernhardiner, kommt uns majestätisch entgegen, wendet sich wieder und geht uns vorauf, der einzige, verschwiegene Wächter unserer Liebe. Ich esse kaum. Ich sehe nur immer aut deine Hände, deine weißen, kühlen Hände. In diesen zarten Fingern mit den schmalen, festen Nägeln liegt eine seltsame Kraft. Ich will sie spielen sehen. Sie greifen stundenlang in meisterhafter Behandlung die harten Tasten und ermüden nie.

Dein Gesicht spricht von deinen Leiden; deine Hände davon, wie sie es ertragen! –

Spiele nicht mehr! – Wenn wir den Tag verlängern, ist die Nacht zu kurz.

Komm wieder an meine Brust, du mein zweites, geheimnisvolleres Leben, denn ich begehre dich! –

Dieser Marmor deiner Gemächer, dieses Silber deiner Leuchten, diese Seide deines Gewandes – tu sie von dir und komm zu mir, als das nackte und schüchterne Kind der armen Einsamkeit ...

Aber ehe du kommst, stelle dich noch einmal, wie damals, dorthin – in den Schein des Mondes; erhebe dein königliches Haupt und den Arm; sieh nicht mich an; sondern die ferne Grenze deiner Gedanken; sammle in tiefem Atemholen die Kraft deiner sonoren Stimme; befiehl den Flügeln deiner unerreichbaren Begabung: fliegt! –; lege die Hand auf den Kopf deines Hundes und sage mir jene Verse sieg- und glorreicher Liebe, jene südlich-schönen Strophen voll unsäglichen Wohllauts und triumphierender Schönheit, aus dem tiefsten Schmerze geboren, um der höchsten Freude zu dienen, damit sie mich überrinnen, wie die Ahnung des Glückes, das mich durch dich erwartet! ...

Denn du sprichst sie einem Dichter! –

 

Dies ist nicht dein Garten und nicht dein weißes Haus: dies ist die schmutzige Stube – ein Chambregarni – in einer schmutzigen Straße irgendwo in Berlin.

Dies ist keine Nacht, keine segnende Nacht: dies ist der öde und gehaßte Sommer mit seiner erstickenden Hitze und seiner aufdringlichen Helle.

Dies ist kein Leben in Liebe: dies ist das Leben eines Kettenhundes, welcher auf faulendem Stroh, vergessen von allen, verreckt.

Denn ich schreibe ja Zeilen, das Stück zu fünf Pfennige, und ich darf nicht einmal schreiben, was ich will!

Und wie ich erwache aus meinem Traume, steigt in entsetzlichen Strömen der Dunst des frischgeschlachteten Fleisches zu mir empor, daß ich das Fenster heulend zuschlage und nun in dieser verpesteten Höllenglut sitze, sitze und der Ekel mich würgt, bis ich röchelnd ersticke.

Das ist nicht amüsant ... nicht einmal als Kontrast! – Ja, die Tage sind zu lang! – Aber viel länger noch sind die Nächte danach, die Nächte ...


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