Mackay
Der Schwimmer
Mackay

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6

Wenn man ihn vergaß – er hatte nichts vergessen. In der ganzen deutschen Schwimmerwelt gab es keinen, der mit schärferem Auge alle Vorgänge in ihr verfolgte, keinen, der mit größerer Hast nach den Berichten griff, als Franz Felder. Kein Ereignis von irgendwelcher Bedeutung entging ihm. Er las alle Zeitschriften, die irgendwie in Betracht kamen; er war unterrichtet über alle Veranstaltungen und über den Verlauf einer jeden. Kein neuer Name blieb ihm fremd, kein Sieg von irgendwelcher Bedeutung unbekannt.

Es wurde seine Beschäftigung, an manchen langen, einsamen Abenden die Sportszeitschriften durchzusehen, alte und neue, und Vergleiche über Vergleiche anzustellen zwischen dem, was geleistet wurde und geleistet war – von ihm selbst.

Er wurde innerlich immer sicherer.

Als das erste große Sommerschwimmen des Berliner Schwimmbundes herannahte, drängte es ihn mit Macht zur Beteiligung. Aber er bezwang sich und dachte an den Schwur, den er sich selbst in jener Nacht der Verzweiflung getan.

Nein, er wollte nicht! – Was er tun wollte – nicht Berlin, nicht Deutschland, Europa sollte es sehen. Dazu gab es nur eine Gelegenheit. Er mußte sie erwarten. Noch war seine Stunde nicht gekommen.

Er blieb fern. Aber es wurde ihm schwer. Zum ersten Male sah er den Preis seiner Vaterstadt über die kurze Strecke, der vor vier Jahren sein erster großer Sieg gewesen und den er seitdem Jahr für Jahr behauptet, in fremden Besitz übergehen. Freiwillig gab er den Meistertitel Berlins aus den Händen und seinen Namen neuer Vergessenheit preis! – Freiwillig – denn an demselben Tage schwamm er, für sich allein, einmal am Morgen und einmal am Nachmittage in einer eben geöffneten, entlegenen Badeanstalt der Umgegend die hundert Meter in einer Zeit, die seinem eigenen Rekord vor zwei Jahren fast gleichkam und die Zeit des Siegers – auch eines alten Gegners – beide Male übertraf.

Er biß die Zähne aufeinander. Er wollte noch nicht. Denn er durfte noch nicht! –

Wieder vergingen Wochen, und der Sommer war da. Das Wasser wurde täglich wärmer. Langsam nahte sein Tag: der Tag des großen Festes des Allgemeinen Deutschen Schwimmverbandes, der größten internationalen schwimmsportlichen Veranstaltung des Jahres, nicht nur für Deutschland, sondern alle benachbarten Länder; der Tag der großen Entscheidungskämpfe über die allerersten Meisterschaften des Weltteiles.

Und er erwartete ihn.

Dann fiel sein Blick eines Tages im »Welt-Sport« auf seinen Namen, seit langer Zeit zum erstenmal wieder, und sein Herz schlug höher bei dem, was er las. Es war eine Kritik des letzten Berliner Bundesschwimmens und in der Hauptsache die Besprechung des Sieges des jungen Georg Bauer vom »Triton«, wo es am Schluß hieß:

– »Die Leistung dieses jungen Mannes erinnert uns in ihrer selbstbewußten Kraft und der idealen Schönheit ihres Stils an diejenigen des noch vor kurzem überall genannten Meisters von Europa vom Vorjahre. Unsere Leser wissen, daß wir von Franz Felder sprechen. Sie wissen auch, wie sehr wir stets gerade für diesen Schwimmer eingetreten sind, und erinnern sich, welche Hoffnungen und Wünsche wir noch auf Jahre hinaus für ihn gehegt und ausgesprochen haben. Um so schmerzlicher war – wie wohl überall – unser Bedauern und um so größer unsere Enttäuschung, diesen in Haltung und Kraft einzigen Schwimmer so jäh niedergehen und dann von einem Tage zum anderen, nach einigen äußerlich gar nichts bedeutenden Mißerfolgen, plötzlich von der Bildfläche verschwinden zu sehen: aus Gründen, die offenbar tiefer liegen, als daß wir ihnen hier öffentlich nachgehen dürften.

Es wäre sicherlich ein einziger Genuß für jeden feineren Kenner gewesen, am vergangenen Sonntag zum Beispiel ihn und Bauer zugleich an den Start gehen und die reifende Kraft des Jüngeren mit der gereiften des Meisters in einer Form wetteifern zu sehen, die bei der rohen, immer mehr eingreifenden Preisjägerei gänzlich in Vergessenheit zu geraten scheint.

Werden wir ein Schauspiel dieser Art nie mehr erleben? – Fast scheint es so. Aber wir können die Hoffnung noch nicht aufgeben, Felder eines Tages wieder an der Arbeit zu sehen, und möchten heute nur nochmals – auch im Hinblick auf manchen ungerechten Angriff, der den Meister mit zu seinem sonst rätselhaften Entschluß, sich so ganz zurückzuziehen, getrieben haben mag – betonen: wenn auch die neuerlichen Leistungen des Nachwuchses jedes Lobes würdig sind und manchen zum Nachfolger Felders geradezu prädestinieren, so scheint allen doch völlig zu fehlen, was der Persönlichkeit dieses Meisters so sehr eigen war – diese innerliche Leidenschaft und Liebe zur Sache, dieses Aufgehen in ihr mit Leib und Seele, diese unbedenkliche Hingabe der Begeisterung, die wir in seinen phänomenalen, oft über die eigene Kraft hinausgehenden Leistungen zu oft bewundert haben, als daß wir uns über sie täuschen könnten. Dadurch – nicht durch die Teilnahme an dem äußeren Ausbau des Schwimmwesens, wie er in den Klubs betrieben wird, und auch nicht durch seine Siege – hat Felder seiner geliebten Sache den größten Dienst geleistet und ihr in den Augen vieler eine höhere, gewissermaßen edlere Bedeutung gegeben, als sie bis dahin besaß. Das sollte ihm unvergessen bleiben und seine Gegner daran erinnern, daß Menschen dieser Art ihre eigenen Wege gehen und gehen müssen, weil sie nur auf ihnen ihre – oft nur von ihnen selbst geahnten oder erkannten – Ziele, erreichen können...«

Wie das Herz des Lesenden schlug!

Was er selbst sich nie klar gemacht, was er aber ahnte und dem er nachging – dieser Mann, der das geschrieben, hatte ihm Worte gegeben! – Er war der einzige, der ihn ganz verstand!

– »Menschen dieser Art gehen ihre eigenen Wege...«

Ging er nicht die seinen, war er sie nicht stets gegangen, getrieben von einer inneren Stimme, die das Rauschen und Brausen auch des lautesten Beifalls übertönt hatte? – Und wenn er sie eine Zeitlang nicht mehr vernommen, war sie es nicht gewesen, die ihn zurückgelockt hatte zu sich? – Hörte er sie nicht wieder? – Und rief sie ihn nicht, wie damals den armen, kleinen Jungen, jetzt wieder, ihn, den Meister, zu Zielen, von denen niemand wußte, auch er selbst nicht?! –

Ja, sie rief ihn wieder, und er hörte sie: rein und klar, wie nur je! – –

Ein paar Tage später holte er eines Abends Koepke aus seinem Geschäft ab. Die Ausschreibungen zu dem großen internationalen Verbandsschwimmen waren soeben erlassen.

Felders Tag war gekommen.

In einem Restaurant setzten sie seine Meldung auf: in dem üblichen, geschäftsmäßigen Stil, aber doch noch Wort für Wort überlegend. Und als Koepke sie abgeschrieben, setzte Felder das übliche: »Mit Schwimmergruß...« und seinen Namen darunter in seiner klobigen, mühsamen Handschrift. Auch die Einzahlung des Einsatzes von zwanzig Mark, die Felder schon lange zurückgelegt, versprach Koepke zu besorgen, und Felder durfte sicher sein, daß es pünktlich geschehen würde. Befriedigt legte er die Feder aus der Hand und lächelte zum ersten Male seit langer Zeit wieder.

Dann aber, als sie nach geschehener Arbeit noch zusammensaßen, da brach es plötzlich aus Felder hervor! – Er wußte selbst nicht, wie es so plötzlich kam, aber er mußte sprechen, um endlich einmal wieder die eigene Stimme zu hören. Und während der kleine Kaufmann erst erstaunt und dann betroffen, ganz betäubt wortlos zuhörte, Strömte vor ihm aus gequälter Brust alles hervor, was sie seit Monaten zum Ersticken bedrückte.

Man hatte ihn vergessen! – Ja, er wußte es wohl. Er hatte sich von der Schwimmerei zurückgezogen. Er konnte nichts mehr. Er war fertig. Er war tot...

Aber wie sie sich alle täuschten! – Sie alle miteinander! – Was wußten sie denn von ihm? – Verstanden sie ihn überhaupt? – Ahnten sie auch nur, was er gewollt hatte? –

Wie sollten sie begreifen, was er erst wollte?!

Sie glaubten ihn fertig, und er war erst am Anfang. Sie glaubten ihn gestürzt, die aus dem Tale Zuschauenden. Aber er war nur für eine kurze Weile hinter einer Felsecke verschwunden, um auszuruhen zur neuen Wanderung von Gipfel zu Gipfel!

In vierzehn Tagen würde er wieder vor ihren Augen erscheinen und eine Wanderung beginnen, auf der sie ihm überhaupt nicht mehr folgen konnten.

Er war noch nicht einundzwanzig Jahre alt. Er war noch gar nicht im Vollbesitz seiner Kraft. Wenn er sich einen Augenblick je eingebildet, sie verloren zu haben, so war er ganz einfach ein Narr gewesen. Auf jeden Fall fühlte er sie jetzt wieder, so mächtig und ungebärdig, daß er den Tag nicht mehr erwarten konnte, sie zu erproben. Und da er jetzt wußte, wodurch er ihr schaden konnte, brauchte er nur alles zu vermeiden, um sie ungeschwächt sich die nächsten zehn Jahre zu ihrer Höhe entwickeln zu lassen und sie dann noch zehn Jahre auf ihrer Höhe zu erhalten. Das aber waren zwanzig Jahre! –

Und in diesen zwanzig Jahren wollte er es in seiner Sache zu Leistungen bringen, wie sie bisher überhaupt noch nicht dagewesen waren. Und zwar nicht in dem engen Rahmen des Sports, unter der Vormundschaft und beengt durch die Regeln der Klubs und Verbände, sondern als freier Schwimmer der Welt, seinetwegen auch als »Professional«, wenn sie es denn so nennen wollten...

Wenn er in Grünau noch einmal innerhalb des bisherigen Rahmens schwimmen sollte, so tat er es, weil er hier noch eine alte Rechnung einzulösen hatte. Aber es sollte nur ein Wiederbeginn sein. Unzweifelhaft würde ihm der S.-C. B. 1879 nach seinem Siege von selbst die Mitgliedschaft wieder anbieten, wahrscheinlich ihn gleich zu seinem Ehrenmitgliede ernennen.

Er wollte sie annehmen.

Dann aber sollte sein Weg in die Weite beginnen. Berlin – was war Berlin? – Das war ein abgegraster Boden, auf dem es nichts mehr zu holen gab. Und auch in Deutschland waren der Städte wenige, wo er noch Ehren erlangen konnte, die er noch nicht besaß.

Aber das Ausland! – Dahin mußte er. Zunächst nach England. Und wenn er von dort mit neuen Ehren und neuen Mitteln zurückgekehrt war, dann sollten seine großen Reisen von einer Hauptstadt zu der anderen beginnen, und überall würde er seine Kunst – wenn es sein mußte: vor der ganzen Öffentlichkeit zeigen und den Ruhm seines Namens über die ganze Welt tragen...

So sprach Felder. Seine ungelenken Worte überstürzten sich, und seine Augen glänzten wie im Fieber, während seine heißen Hände heute abend immer und immer wieder nach dem Glase griffen.

Und der kleine Kaufmann sah mit seinen weit geöffneten Augen ganz stumm und erschrocken auf seinen großen Freund und hörte ihm zu, ohne ihn zu verstehen, und wußte nicht mehr: redete ein Genie da vor ihm oder ein Irrer.


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