Mackay
Der Schwimmer
Mackay

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10

Acht Tage später schwamm er auf dem Feste des »Deutschen Wettschwimmkartells«.

Zum ersten Male, solange Felder sich an den Kämpfen beteiligte, waren seine Gedanken nicht ganz und ungeteilt bei seiner Aufgabe, obwohl es durchaus kein sicheres Schwimmen für ihn war. Es galt einen vielbegehrten Wanderpreis, der erst nach dreijährigem, Jahr auf Jahr errungenem Siege in den Besitz des Klubs überging, den Preis der Stadt Charlottenburg, zum zweiten Male zu gewinnen, und Felder wußte ganz gut, daß sein großer Sieg des letzten Sonntags die Gegner nur noch hitziger gemacht hatte. War doch der Sieger des vorletzten Jahres, Biedermann vom »Ersten Charlottenburger Schwimmklub«, unter seinen Gegnern und brannte darauf, ihm heute den bereits einmal erstrittenen, dann wieder verlorenen Preis seiner eigenen Stadt streitig zu machen. Er wußte also gut, daß er sich zusammenzunehmen hatte.

Aber er konnte nicht so ruhig sein wie sonst. Immer wieder überflog sein Auge die Menschenmengen, die an dem abgegrenzten Ufer des Wassers langsam die Zuschauerreihen der Bänke zu füllen begannen, ohne unter ihnen das weiße Kleid mit dem roten Besatz und den großen Hut erkennen zu können. Selbst als sein Schwimmen begann, und er an den Start ging, suchte noch sein Blick in dem dichten Gewühl eine Gestalt zu unterscheiden, ohne daß es ihm gelang. War sie gekommen, wie sie versprochen? Oder nicht?

Er dachte immer wieder daran, als er im Wasser lag und die ersten Längen schwamm. Und so kam es, daß er in der Mitte der vierten plötzlich dicht vor sich den Charlottenburger und neben sich einen zweiten Gegner sah, von dem er nicht einmal wußte, wer es war, so wenig hatte er die Konkurrenzen im Gedächtnis. Ein gewaltiger Schrecken durchfuhr ihn. Mit mächtigem Schlage ausholend, ließ er den neben ihm Liegenden hinter sich, erreichte Biedermann, schlug kurz vor ihm an und glaubte gesiegt zu haben. Aber während er sich ruhig an dem Balken hielt und den Abstieg suchte, sah er zu seinem grenzenlosen Erstaunen alle beide, erst den einen, dann auch den anderen, die neue Länge beginnen – und als es ihm plötzlich klar wurde, daß er sich um eine ganze Länge geirrt hatte, waren sie ihm bereits um ein paar Meter voraus und die übrigen teils schon neben ihm, teils ebenfalls am Ende dieser Länge. Da aber hatte Felder auch alles andere vergessen, und sich fest auf die Seite legend und tief Atem holend, sah und dachte er jetzt nur noch eines: sein Ziel! – Wäre die Länge 75 statt 100 Meter gewesen, es wäre ihm nie möglich geworden, die so leichtsinnig und nutzlos verlorene Zeit wieder einzubringen. So aber – und infolge seines ausgezeichneten, nie versagenden Trainings – dachte er keinen Augenblick daran, den Sieg schon verloren zu geben; und während die Richter bereits glaubten, daß er freiwillig ausgesetzt habe, sahen sie ihn jetzt wieder näher und näher kommen, dann an der Seite des zweiten, gleich darauf an der des ersten Gegners liegen und endlich in einer fast unglaublichen Anstrengung dicht vor diesem anschlagen...

Von tosendem Beifall umhallt, von erregten Fragen über das Geschehene bestürmt, wurde Felder erst jetzt sein unbegreiflicher Irrtum recht klar. Der Schrecken lag ihm noch in den Gliedern und er hatte sich vollständig ausgegeben. Er winkte den Freunden ab, die sich um ihn bemühten, und mußte sich im Ankleideraum sofort setzen, so erschöpft war er. Als er wieder ruhiger atmete, schämte er sich. Das konnte ihm, ihm passieren, sich in den Längen zu irren! – Und das alles, dieses leichtsinnige Aufsspielsetzen eines wenn heute verlorenen, erst in Jahren wieder einbringbaren Sieges, dies alles nur darum, weil er nicht aufgepaßt hatte! – weil er an ein kleines Mädchen dachte, statt an seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit! Er hätte sich selbst ohrfeigen mögen, so wütend war er.

Er wurde nicht ruhiger, als er Nagel vor sich sah, der ihn heftig anfuhr:

– Du fängst ja schon an, es dir bequem zu machen. Du paßt wohl schon nicht mehr auf? – Na, weißt du, so leicht ist die Sache denn doch nicht, und solche Scherze solltest du einstweilen noch unterlassen!... Sonst könnten sie doch böse Folgen für uns haben! Geschwommen hast du natürlich zuletzt wie ein Schwein! –

Felder sagte kein Wort. Er saß da wie ein Schüler, der von seinem Lehrer bestraft wird.

Er wurde erst ruhiger, als er sich nach dem Ankleiden – er trug heute einzig und allein die große goldene Medaille seiner Deutschland-Meisterschaft auf der Brust – unter seine Freunde mischte und die Erregung wahrnahm, die nach seinem unglaublichen Endspurt unter ihnen immer noch nachzitterte. Keiner habe auch nur einen Pfennig mehr um seinen Sieg gegeben, versicherte man ihm, als man ihn in der letzten Länge so weit hinter Biedermann liegen sah. Ob er mit Absicht zurückgeblieben sei, um zu zeigen, was er könne? – Ob ein Krampf ihn befallen habe! – Ob er sich in den Längen verzählt habe? – so bestürmten ihn die Frager von allen Seiten, bis Felder von neuem ärgerlich wurde und sie stehen ließ.

Er nahm Koepke auf die Seite. Er möge doch einmal nachsehen, ob der alte Heinecke mit seiner Tochter nicht da sei, ja? – Und er möge ihm Bescheid in den Garten bringen. Koepke rannte fort wie ein getreuer Hund, aber die Antwort, die er nach einer halben Stunde brachte, war nicht geeignet, Felders Laune aufzubessern. Er habe alle Reihen durchgesehen, meldete Koepke, aber er habe von den Gesuchten nichts finden können.

Jetzt war es klar, daß sie nicht gekommen war. Natürlich war der Alte schuld daran, der sie nicht gelassen hatte. Wie sollte er es jetzt anfangen, sie so bald wiederzusehen? –

Mißmutig saß er vor seinem Biere in einer Ecke des Gartens und ließ seine Freunde schwatzen, soviel sie wollten, ohne ihnen zuzuhören. Mißmutig und noch schweigsamer als sonst blieb er auch den Rest des Nachmittags. Er wartete nur noch die offizielle Bekanntgabe der Resultate ab, dann schloß er sich einem Klubfreund an, der früh nach Hause wollte, da er morgen früh an die Arbeit mußte.

Das einzige, was ihn einigermaßen über seine eigene Dummheit tröstete, waren ein paar Worte, die Brüning ihm zugerufen, als er im Garten an ihm vorbeigegangen war: »Menschenskind, du kannst ja viel mehr, als wir alle wissen und du selber ahnst. Wer das fertig bringt, was du eben getan hast, der kann sich schon einen Scherz erlauben.« Und er hatte ihm zugenickt und war mit seiner Mätresse fortgefahren. – – Ja, Brüning hatte recht: er konnte weit mehr, als alle und er selbst es wußten.

Zu Hause warf sich Felder aufs Bett und verschlief die Erinnerung dieses Unglückstages, wie er ihn nannte, in zehnstündigem Schlaf.

Die ganze nächste Woche nagte es an ihm, daß sie nicht gekommen war. Im Grunde war es weniger die Sehnsucht, sie wiederzusehen, als eine gewisse Unruhe, diesem ihm so unbekannten Gefühl ein Ende zu machen, das ihn für einen Abend, statt zum Schwimmen, in der Nähe ihrer Wohnung auf und ab gehen ließ, in der Hoffnung, sie ausgehen oder heimkehren zu sehen und zu sprechen. Nachdem er fast eine Stunde vergeblich herumgelaufen war, sah er nicht sie, sondern eine ihrer Freundinnen, die er ebenfalls vom vorigen Sonntag her kannte, aus dem Hause treten, glücklicherweise allein. Er ließ sie bis zur nächsten Straßenecke vorausgehen und redete sie dann an. Die kleine Dicke stieß erst einen erstaunten Schrei aus, als sie Felder erblickte, war es dann aber gleich selbst, die seinen Fragen zuvorkam.

O, Lieschen hatte sie ja in alles eingeweiht – wie gut es war, daß sie ihn sah, denn sie habe ja Nachrichten für ihn! – Er habe sie wohl zufällig gesehen? – Habe er auf Elise hier gewartet? – Nein? – Also: ob er denn noch gar nicht wisse, daß sie fort sei? – Nein? – Ach, es war ja eine ganze Geschichte. Der alte Heinecke sei wütend gewesen am Sonntag vor acht Tagen, darüber, daß sie den ganzen Nachmittag zusammengesessen hätten, und dann, daß sie im Dunklen im Wald zurückgeblieben seien. Schon auf der Rückfahrt habe er angefangen – wenn sie schon daran dachte, würde ihr noch ganz schlecht, so geschimpft habe der Alte. An einem der nächsten Tage sei sie denn auch gleich hingegangen, um von Elise zu erfahren, was denn eigentlich vorgegangen sei. Aber die Freundin habe nur geweint – o so geweint! – und immer nur gesagt, sie möchte doch so gern am Sonntag kommen, um ihn noch einmal zu sehen. Als sie aber endlich Mut gefaßt und ihrem Vater das gesagt habe, da sei die Geschichte von neuem losgegangen, und um ihr ein Ende zu machen, sei sie noch in derselben Woche nach Posen geschickt, zu einer Tante, um dort ein Jahr zu bleiben und die Haushaltung zu erlernen. Sie habe Elise noch vor ihrer Abreise gesehen, und diese habe ihr ausdrücklich aufgetragen, doch Herrn Felder noch recht schön zu grüßen und ihm zu sagen, daß er doch nicht böse sein solle, wenn sie am Sonntag nicht kommen könne, denn es sei doch nicht möglich, daß daraus etwas würde, und so sei es denn schon das beste, wenn sie sich fügten und einander vergäßen...

So schwatzte die Dicke darauf los, selig, ihre Wissenschaft loszuwerden und einen so guten Zuhörer zu haben. Denn Felder ging neben ihr her, durch die Menschenströme, und erwiderte keine Silbe.

Heute abend sei sie nun oben gewesen – so ging es weiter – um zu sehen, ob noch kein Brief von Elise da sei. Ja, sie habe schon geschrieben: es gefalle ihr ganz gut in der Stadt, in der sie jetzt sei, und in vierzehn Tagen sei ein Ball im Kasino, wo auch Offiziere hinkämen, und sie habe die Tante gebeten, hingehen zu dürfen, und die Tante habe es ihr erlaubt... Der Alte sei auch schon ganz beruhigt, und er habe heute abend sogar gelacht, als er davon sprach daß seine kluge Elise schon nicht so töricht sei, zu denken, daß »daraus« etwas Ernsthaftes werden könne denn wenn er – Felder – auch ein vorzüglicher Schwimmer sei, so seien das doch nur brotlose Künste, und er könne doch sein einziges Kind nicht einem jungen Menschen versprechen, der eben erst aus der Lehre sei und keinerlei sichere Zukunft vor sich habe...

Weiter kam sie nicht. Denn Felder blieb plötzlich stehen und fragte:

– Hat sie Ihnen keinen Brief für mich gegeben?

Nein, keinen Brief. Aber sie habe ihm doch gesagt, daß Elise ihn recht schön grüßen lasse und es so bedauere...

Dann stand sie wieder allein auf der Straße unter den vorbeieilenden Menschen. Ihr Begleiter hatte ganz unverhofft seinen Hut gezogen, ganz kurz guten Abend gewünscht und war verschwunden. Nicht einmal bis nach Hause brachte er sie!

Felder dachte nicht einmal daran. Was ging ihn die dumme Gans an! – Er dachte an das Mädchen, das mit ihm erst gespielt und ihn dann so leichten Herzens – mit einem flüchtigen Grüß – aufgegeben. Aber es war viel mehr das Gefühl einer erlittenen Beleidigung als das des Schmerzes, unter dem er in dieser Stunde litt. Daß man ihn, den Meisterschwimmer von Deutschland, so behandeln konnte, das war es, was ihn wurmte und einen bitteren Groll in ihm entfachte. Und mehr als alles hatte ihn das Wort des reichgewordenen Holzhändlers von der brotlosen Kunst getroffen. Er biß die Lippen aufeinander vor Wut, wenn er daran dachte, während er die Straße hinunterlief und sich rücksichtslos durch die Reihen der Fußgänger stieß. Als ob er je daran gedacht hätte, dieses Mädchen zu heiraten! – Er hatte überhaupt an nichts gedacht, dieser alte Geldprotz konnte ganz ruhig sein. Das Mädchen hatte ihm gefallen, am meisten die unverhohlene Bewunderung, die er in ihren Augen gelesen, und bei deren Blick ihm so warm geworden war.

Aber ihm geschah ja ganz recht. Warum hatte er seine Leute verlassen und war an den Tisch gegangen. Was gingen ihn die Frauenzimmer an? Er hatte sich bis jetzt nicht um sie gekümmert und sie nicht entbehrt, so würde er wohl auch noch dieses dumme Ding vergessen, um dessentwillen er heute abend sein Schwimmen versäumte und fast einen Sieg verloren hätte...

Er sah nach der Uhr. Aber es war schon zu spät. Und mit einer Bewegung des Ärgers schüttelte er diese ganze dumme Geschichte, die ihm schon viel zuviel Kopfzerbrechen gemacht hatte, von sich ab und schlug den Weg nach seinem Klublokal ein, wo er noch den einen oder anderen seiner Kameraden beim Biere zu finden hoffte...

Von diesem Abend an dachte er nur noch zuweilen an das Mädchen, aber immer wallte von neuem das Gefühl verletzten Stolzes in ihm auf und blieb in ihm zurück – wie ein Rest von Bitterkeit allen Frauen gegenüber.

Mit verstärkter Genugtuung genoß er die zahlreichen Triumphe dieses Herbstes, von denen fast jeder Sonntag ihm einen neuen einbrachte: dieser die Odermeisterschaft und mit ihr die große silberne Medaille; der nächste zum zweiten Male den großen Staatspreis in Hamburg; und bereits der übernächste den vielumstrittenen Preis im Brustschwimmen, den die vereinigten westdeutschen Schwimmklubs gaben – einen silbernen Pokal für seinen Klub, so groß und wertvoll, wie dieser wenige besaß.

Bevor der Winter begann, nahm er sich dann in der Fabrik, in der er noch ein Jahr nach seiner Lehrzeit bleiben wollte, seinen ersten achttägigen Urlaub und machte das große Wettschwimmen des »I. österreichischen Amateur-Schwimmklub Wien« mit, auf dem er am ersten Tage Anton Riegler, den Meister Österreichs über die kurze Strecke, zum ersten Male schlagen durfte; und am zweiten den großen Derbypreis über die lange gegen die Teilnehmer dreier Staaten: Italien, Osterreich und Deutschland, unter ungeheurer Erwartung aller beteiligten Kreise, ersiegte.

So griff der junge Meister von Deutschland mit diesen Siegen rasch und beherzt nach den Lorbeeren des Auslandes, nachdem er die seines eigenen, weiten Vaterlandes bereits sein eigen nannte.

Die Fahrt nach Wien, seine erste Auslandreise, war zugleich eigentlich die erste, an der er wirklich Vergnügen empfand. Er machte sie mit Brüning und zwei anderen Mitgliedern seines Klubs, alten Freunden und lustigen Brüdern, war Gast in der herrlichen Villa eines reichen österreichischen Sportfreundes, der sich die Ehre nicht nehmen lassen wollte, den deutschen Meisterschaftsschwimmer bei sich zu beherbergen, ließ sich den ganzen Tag und die halbe Nacht durch alle Vergnügungen der schönen »Kaiserstadt an der Donau« schleppen und es sich wohl sein unter den leichtlebigen Menschen mit dem sorgenlosen Wesen und der gemütlichen Sprache. Noch nirgends hatte er sich so wohl gefühlt wie hier, und als endlich die acht Tage mit ihren Ausflügen, ihren fröhlichen Mahlzeiten, bei denen es an feschen Mädchen nie fehlte, ihren Fiakerfahrten, den Ronacherabenden und den durchjubelten Nächten zu Ende waren, da war er wie betäubt. Neben dem großen Preise für seinen Klub, dem Ehrenschilde, und den eigenen Ehren brachte er unvergeßliche Erinnerungen nach Hause, und unter ihnen war nicht die letzte die an die Liebe, die er ebenfalls in Wien erst kennen lernen sollte: die reue- und schmerzlose Liebe flüchtiger Stunden, lachend geboten und ohne Besinnen genossen, erfrischend wie ein Trank und süß wie eine vollsaftige Frucht.

Berlin kam ihm nüchtern vor, und er brauchte einige Zeit, um sich wieder an seine eintönige Tagesarbeit zu gewöhnen, nach diesen Tagen, in denen er geehrt worden war wie ein König und gelebt hatte wie ein Millionär!...

Der Winter verging stiller. Beim Hauptschwimmen Berlins mußte er aussetzen. Er war völlig übertrainiert. – Was schadete es? wenn er sich auch ärgerte. In seiner Brust regten sich neue Wünsche des Ehrgeizes, und heimliche Träume erzählten ihm von Siegen, die noch nicht die seinen geworden waren.


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