Mackay
Der Schwimmer
Mackay

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5

Bis zum Morgen ging er durch die Straßen. Als es dämmerte, schlug er die Richtung nach dem Norden ein.

Um sechs Uhr war er an den Toren der Fabrik und der erste, der eintrat. Er ging in die mechanische Werkstätte. An einem der Schraubstöcke stand er eine kurze Weile. Als er zurück kam, hielt er das gesprengte Armband in der Hand.

Noch fast eine Stunde ging er durch die öden Gassen dieser Gegend. Irgendwo schleuderte er das Armband auf einen Kehrichthaufen. Dann erst wusch er sich an einem Brunnen die Hände, verband sich das blutende Gelenk und trank in einer Destillation eine Tasse Kaffee. Um sieben Uhr war er an seiner Arbeit. Den Morgen über sprach er kein Wort. Am Mittag führ er nach Hause, warf sich auf sein Bett und schlief wie ein Toter.

Als er erwachte, war ein neuer Tag angebrochen. Mit ihm begann ein neues Leben für Franz Felder. – –

Wenn das Leben, welches er vor einem Jahre vor seinem neuen, großen Ziele der Springmeisterschaft geführt hatte, ein einfaches und enthaltsames gewesen war, so war das, welches er jetzt lebte, noch spartanisch dagegen zu nennen. Es zerfloß zwischen Arbeit und Ruhe, und sein einziger Zweck war für Felder einstweilen: die Wiedererringung seiner Kraft. Nicht dessen, was andere Menschen Gesundheit und Kraft nennen. Die allermeisten hätten ihn um die seine beneidet. Nein, jener überlegenen, herkulischen Kraft, die er nötig hatte.

Daher strich er von einem Tage zum anderen alles aus seinem Leben, wodurch er glaubte, sie auch nur um ein Minimum vermindert zu haben: das Glas und die Frau, denn beides war Gift und Krankheit; jeden Verkehr, denn der nahm ihm die Zeit zur nötigen Ruhe; jede Freude, denn er wollte von ihr nichts mehr wissen; und um ganz sicher zu sein, strich er gleich alles auf einmal!

Das einzige, was er sich noch gönnte an Genüssen, war eine möglichst gute und nahrhafte Kost und zuweilen ein Glas starken Weines. Und Schlaf, viel Schlaf! –

Die Arbeit war ihm lieb. Sie hielt seine Kräfte im Gleichgewicht, ohne sie zu verbrauchen.

Außerdem verlieh sie seinem Leben die nötige Regelmäßigkeit. Da er mit seinem Gelde zu Ende und ganz auf sie angewiesen war, hütete er sich vor jeder unnötigen Ausgabe. Er kleidete sich wieder wie früher und achtete selbst an den Feiertagen kaum auf sein Äußeres. Wozu auch? Es sah ihn ja niemand mehr.

Er nahm sich nicht die Mühe, seinen Austritt aus dem Verein »Hecht« diesem anzuzeigen. Er sandte gelegentlich sein Trikot zurück. Sie hatten seinen Namen wohl bereits aus der Mitgliederliste gestrichen. Was lag ihm daran! – Er hatte nie Fühlung mit diesen Leuten gehabt, unter denen er fremd, denen er nur der Meisterschwimmer Europas gewesen war, die ihn für Siege, aber nicht für Niederlagen gebrauchen konnten.

Er sah selbst Koepke kaum mehr, und damit zerriß auch. das letzte Band, das ihn noch an sein früheres Leben knüpfte. Wenn er ihn gelegentlich traf, tranken sie ein Glas Bier zusammen. Dann erzählte der alte Getreue Felder, wie er »ebenfalls der Schwimmsache Valet gesagt habe«, da sie ihm keinen Spaß mehr mache, seitdem Felder nicht mehr dabei sei. Er war in einen kaufmännischen und in einen Kegelklub eingetreten und spielte in beiden bereits seine alte Rolle des Lasttieres mit unverhohlener Wonne weiter.

Felder lächelte krampfhaft. Also er hatte dem Schwimmen Adieu gesagt! – Das sagte man also von ihm! – Nun, man würde ja sehen...

Das neue Leben fiel ihm nicht schwer. Er dachte wenig und er fühlte sich ganz wohl.

Nur die langen Sonntage waren schlimm. Es wäre ihm am liebsten gewesen, sie hätten nicht existiert. Wenn er sie hätte durcharbeiten können, alle diese Wochen, einen Tag wie den anderen, ihm wäre es Recht, dachte er oft. Nun mußte er sich mit den Sonntagen abfinden, diesen endloslangen Nachmittagen, mit denen er nichts mehr anzufangen wußte, und er ging jetzt sogar das eine oder andere Mal mit seinen stillen Eltern und den lauten Geschwistern, die darüber höchst erstaunt waren. Aber auch das gab er bald auf, denn er wußte mit ihnen nichts zu reden. Die häuslichen Dinge langweilten ihn, und über das eine konnte er doch nicht sprechen, weder mit ihnen, noch mit irgend jemand auf der Welt... Wer verstand das? – Er kannte keinen.

So ging er denn schließlich auch an diesen Nachmittagen seine einsamen Wege: zu all den Orten, wo er früher so glücklich gewesen war und die jetzt öde und verlassen unter dem ewig grauen Himmel lagen. Denn es wollte dieses Jahr nicht Frühling werden. Eine dünne Eisschicht bedeckte noch den Kochsee, als er eines Tages dort durch die Spalten der festverschlossenen Umzäunung sah, und kahl und traurig starrten die Gerüste und Planken der anderen Badeplätze in die Höhe – am Plötzensee und in Grünau, wohin er auch kam, – kahl und frostig wie die Bäume, deren laublose Stämme sich regungslos von dem braunen Boden der Landschaft abhoben. Sie stimmten ihn nicht fröhlicher, diese einsamen Ausflüge, auf denen unvergessene Erinnerungen ihn immer von neuem in ihrem Bann zogen. Aber er wußte nichts anderes zu tun, und so fuhr er immer wieder hinaus und ging oder stand oft stundenlang, in Gedanken versunken, auf den verlassenen Stätten seiner Siege und seines Glückes...

Besser wurde es erst, als es Frühling wurde. –

In der ersten Zeit schwamm er nur selten. Er wagte sich nicht in die Schwimmhallen, aus Besorgnis, dort Bekannte zutreffen. Er fürchtete geradezu jede Frage, jedes Wort, jede Anspielung auf seine Niederlage... Er hätte sie nicht ertragen. Dann, als er wieder allabendlich nach der Arbeit badete, vermied er mit derselben Sorgfalt, wie im Vorjahre, die Übungsabende der Klubs und ging an dem einen Tage hier-, an dem anderen dorthin, wo er sicher sein konnte, möglichst allein zu sein. So besuchte er alle Winterbäder, wie es gerade kam. Nur in jene kleine, dunkle Halle im Süden der Stadt, wo er vor einem Jahre täglicher Gast gewesen war, ging er nie mehr... Diese Erinnerungen sollten begraben bleiben und durften ihn jetzt nicht stören. Er schwamm einstweilen noch ohne jeden Gedanken an ein neues Training. Alles, was er wollte, war, seine ganze Kraft wiederzufühlen, ehe er daran dachte, sie von neuem zu üben. Er glaubte nämlich allen Ernstes, das Gefühl seiner Kraft verloren zu haben. Einmal schwankend geworden an ihr, war er wie der eingebildete Kranke, der stets die Krankheit zu haben glaubt, von der er hört. Er war irre an sich geworden, weil er angefangen hatte, über sich nachzudenken.

Er fürchtete sich, die Zeit nehmen zu lassen. So schwamm er vorderhand noch in allen möglichen Stilarten und alle möglichen Längen, wie es ihm gerade in den Sinn kam, ohne auf sich und seine Umgebung zu achten. Und das ungeheure Wohlbehagen, das er immer empfand, wenn er im Wasser war, ergriff ihn wieder, und täglich mehr und mehr... Mit dem Wohlbehagen aber fühlte er zugleich seine Kraft wieder, und seine Übungen wurden ernster, wenn er sie auch noch nicht prüfen ließ.

Dann hörte er eines Abends, als er seine hundert Meter zum dritten Male so ganz für sich geschwommen, wie ein Herr, den er nicht kannte, der ihn aber beobachtet und zu seinem eigenen Vergnügen nach der Uhr gesehen hatte, sagte: 1:21.

1:21?! – Aber das war ja seine eigene, frühere gute Zeit, das kam nahe an den von ihm selbst vor zwei Jahren in Wien aufgestellten Rekord heran, als er so glänzend disponiert war? – Dann, dann – besaß er sie ja wieder, seine verlorene Kraft! – Dann ging es ja wieder! –

Er bat den Fremden, ihm doch nochmals die Zeit zu nehmen. Er schwamm die hundert Meter zum vierten Male, und zwar bewußt ohne besonderen Kraftaufwand. Und seine Zeit blieb gut. –

Er freute sich noch nicht. Er wagte es nicht. Aber in seine wahllosen Übungen kam von jetzt ab wieder ein gewisser Sinn.

Er schwamm von neuem alle Stilarten und alle Längen durch, ließ sich die Zeit nehmen, wenn er gerade den Bademeister oder sonst einen Bereitwilligen dazu fand, und ohne noch in ein bestimmtes Training zu treten, erprobte er doch schon – vorsichtig und unsicher wie ein Anfänger – seine Fertigkeit.

Allmählich wurde er ruhiger, je sicherer er wurde. Er konnte sich nicht mehr verhehlen, daß sein furchtbares Erschrecken nach jenen ersten, im Grunde belanglosen Niederlagen töricht und übertrieben, und daß von einer ernstlichen Erschütterung seiner Kraft wohl nie die Rede gewesen war; daß ein paar Wochen ruhigen Lebens sie vielleicht ganz von selbst in das alte Geleise gebracht hätten und so eigentlich dieser ganze Bruch unnötig und im Gründe etwas lächerlich und darum eigentlich beschämend war...

Aber eines blieb trotz allem. Wenn auch seine Kraft nicht erschüttert war, sein Selbstvertrauen war es auf jeden Fall! – Dieses stolze Selbstvertrauen, entstanden nicht im einer Stunde, sondern aus empfangsfähigem Boden schüchtern und langsam emporgewachsen, stetig erst bewässert durch kleine, dann genährt durch immer größere Erfolge, Wurzel schlagend in beispiellosen Siegen und endlich untrennbar, Wesen und Eins, mit der Persönlichkeit, mit ihm, ihm – Franz Felder! –

Dieses Insichselbstvertrauen war erschüttert. Nicht seine Kraft, sein Selbstvertrauen mußte er daher wiedergewinnen! –

Dazu war nun das Leben, wie er es führte, am wenigsten geeignet. Unfähig, Vergleiche zu ziehen, Eindrücke zu empfangen und wiederzugeben, konnte er es nur nähren an den Maßen seiner Einbildung. Und mit jedem neuen über sich erfochtenen Sieg seiner Kraft nahm es Dimensionen an, an die Felder früher nicht gedacht hatte. Schon aus dem einfachen Grunde nicht gedacht, weil er früher geschwommen, so gut er es konnte, ohne zu denken. Zahlen waren es, die er jetzt verglich: Zahlen gegen Zahlen. Nicht Leistungen – warme Leistungen des Lebens – gegen Leistungen. Wie er aber den Tag ersehnte, an dem ihm das zum ersten Male wieder möglich sein würde! –

Dann würde er wieder leben. Denn dies Leben der Einsamkeit, wie er es jetzt führte, war kein Leben mehr. Er litt unter seiner eigenen Einsamkeit. Wie sehr er litt, wußte er selbst nicht einmal mehr.

Er war immer allein, und allmählich kam es ihm wie ein Traum vor: die alten, lieben Freunde, die lauten, fröhlichen Feste, seine sensationellen Siege – waren sie in der Tat jemals Wirklichkeit gewesen? – Der Taumel seiner Sicherheit, seine Wagnisse, seine Reisen? – –

Er wollte nicht an die Vergangenheit denken. Er wollte sich vorbereiten auf die Zukunft. Denn alles lag erst noch vor ihm. Hinter ihm lag nur ein Anfang, ein in seinem Ende mißglückter Anfang.

Aber was er nicht hindern konnte, war: daß zuweilen Bilder dieser Vergangenheit vor ihm aufstiegen, und vor allem Bilder des letzten Jahres, der Zeit, als er schon nicht mehr so ganz und gar in dem engen Kreise der Genossen gelebt, sondern neue, fremde Menschen und andere Lebensweiten sich ihm aufgetan. Und er sah noch zuweilen das hohe, nüchterne Atelier des Bildhauers vor sich, die kahlen Wände und die seltsamen Figuren, und den Künstler selbst, schweißbedeckt, schweratmend und in innerlichen Kämpfen qualvoll ringend; und das warme, gemütliche Zimmer des Doktors, den fröhlichen, freundlichen Mann mit den blitzenden Augen und der lebhaften Stimme, unermüdlich im Erzählen und voll Interesse für ihn; und zuweilen – sah er auch sie... Aber da wandten sich schnell seine Gedanken. Er wollte davon nichts mehr wissen und zwang sich zum Vergessen. Und nur in seinen Träumen erregte sie ihn zuweilen noch, wie sie es damals getan. Doch auch diese Träume wurden seltener und seltener und schwanden endlich ganz, wie ihr Duft allmählich aus seinen Kleidern gewichen war, dieses ekelhafte Parfüm, das seinen Körper vergiftet hatte.

Und endlich wurden die Gestalten blasser und blasser und schwanden ganz, so wie Felder es wollte.

Alles, was hinter ihm lag, wurde wesenlos und verlor seine letzte Macht selbst über seine Erinnerung.

Hatte er es überhaupt erlebt? –

Oft vermochte er kaum mehr daran zu glauben. Aber er hieß doch Franz Felder! – Er war es doch noch, der diesen Namen trug? – Aber wer fragte noch nach ihm!

Er wußte, er war vergessen. Er war nicht mehr Franz Felder, wenn er auch noch so hieß.

Es war ein Name, den er erst erobern sollte.

Und erobern würde er ihn, dessen wurde er mit jedem Tage sicherer.

Denn wenn er auch vergessen war, noch lebte er.

Noch war er nicht tot!


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