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Dreizehntes Kapitel.
Glück und Segen

Am dritten Osterfeiertage hatte man Mütchen zur ewigen Ruhe gebettet. Der friedvolle, verklärte Ausdruck war bis zuletzt nicht von seinem Antlitz gewichen. Noch im Sarge hatte der Knabe ausgesehen, als schliefe er nur und träume einen glückseligen Kindertraum. Frau Mühlmann war wie vernichtet von dem Leid, das so schnell über ihrem glücklichen Familienleben hereingebrochen war und nur ihr starker Gottesglaube hielt sie aufrecht. Nelly that alles, um den Eltern eine Stütze zu sein in ihrem Schmerz, und auch Oskar suchte durch doppelte Liebe und Aufmerksamkeit Vater und Mutter in ihrem Leid zur Seite zu stehen.

Webers hatten bald nach Ostern die Großstadt verlassen, um den herrlichen Frühling auf ihrem Landgut zu verbringen, und so hatte sich Dina von Nelly trennen müssen. Da sie mit dem Osterquartal auch die Selekta der höheren Töchterschule absolviert und sogar mit einer Prämie entlassen worden war, lag kein Grund vor, das junge Mädchen diesmal in der Stadt zurückzulassen. Auch freute sich die Tante darauf, ihre erwachsene Nichte jetzt ganz bei sich zu haben und in die häuslichen Beschäftigungen auf ihrem Landgute einweihen zu können.

Für Kochen und Handarbeiten hatte Dina zwar noch immer wenig Sinn; aber ihrer Tante zu Gefallen begleitete sie sie doch auf ihren Gängen durch die Wirtschaft und ließ sich dieses und jenes erklären.

Viel lieber jedoch streifte sie in Wald und Feld umher, wie früher.

Es war ein köstlicher Frühling, der dies Jahr ins Land zog. Ganz Stechlin sah aus wie ein Blütengarten und die Vöglein sangen und jubilierten, als sollten ihnen schier die Kehlen zerspringen.

An jedem Sonntag, wie gewöhnlich, erschienen Doktor Reinhart und Hans Schenk. Der junge Dozent kam aber auch noch oftmals in der Woche nach Stechlin heraus, sobald er einen freien Nachmittag hatte. Dann wurden gemeinsame Spaziergänge und Bootsfahrten gemacht, und immer wußte Hans etwas neues zu erzählen und zu berichten, interessante Themata anzuschlagen oder Bescheid zu erteilen auf Dinas Fragen. Dina fehlte jetzt stets etwas, wenn Hans nicht da war, und die Gänge mit Onkel und Tante oder auch mit ihrem alten Freunde Attila allein schienen ihr gar nicht mehr so amüsant wie früher.

»Wo hast Du nur Deine Gedanken, Mädchen«, sagte Onkel Alfred manchmal, wenn Dina ganz zerstreute Antworten gab, während sie immer von ihrem Platz auf der Terrasse ihre Augen über den See hinweg nach dem Landweg schweifen ließ, der sich in großem Bogen am jenseitigen Ufer entlang schlängelte. Kam der, nach dem sie ausschaute, des Weges drüben entlang, dann trat er wohl gegenüber vom Gutshof auf die Lichtung am See heraus und rief: »Hol' über«, daß es laut über das Wasser schallte.

Wie der Wind war Dina sodann fort; das Boot ward gelöst und hinüber ging's ans jenseitige Ufer. Hier sprang Hans zu ihr ins Boot, und unter Lachen und Scherzen wurde die Fahrt zurückgemacht. Hans pflückte mit ihr Binsen und Seerosen, oder sie bogen sich beide über den Rand, und er erklärte ihr die Namen der Algen, die im Seegrund wuchsen. Dann sahen sie ihr Spiegelbild im Wasser und mußten lachen, und Dina meinte: »Du siehst im Wasser viel älter aus, Hans, in Wirklichkeit bist Du eigentlich noch ganz jung.«

»Ja, bin ich Dir noch jung genug?« hatte er darauf gefragt und hatte sie strahlend angeblickt, so daß sie die Augen unter seinem Blick gesenkt hatte. Überhaupt sah sie sich jetzt oft von ihm beobachtet und wich unwillkürlich, verlegen dadurch gemacht, seinen Blicken aus.

Andererseits aber konnte sie so harmlos vergnügt mit ihm zusammen sein wie mit keinem anderen.

Eines Abends nach einem langen Spaziergange mit Hans Schenk schrieb Dina in ihr Tagebuch:

Wie ist mir's doch in aller Welt
So wunderbar zu Mut,
Bald wird es mir ganz eisig kalt,
Bald steigt zu Kopf das Blut,
Ist's Freud', Vergnügen, ist's Verdruß,
Ist's Wildheit, Übermut?

Ich weiß es wirklich selber nicht,
Versteh' nicht, was das soll,
Mir ist so wohl, mir ist so weh,
Das Herz ist mir so voll,
Das jubelt, singt und seufzt dazu,
Ich glaub' fast, ich bin toll.

Im ganzen liebte es Frau Weber nicht, daß Dina mit Hans Schenk allein spazieren ging. Doch auch wenn gemeinsame Gänge durch den Wald unternommen wurden, fügte es sich meist so, daß die beiden zusammen den Nachtrab bildeten oder ein Stück vorausschritten. Besonders wenn die anderen müde vom Gange ausruhten, war Dina auf die Aufforderung von Hans Schenk stets bereit, noch bis zur ersten Lichtung oder dem nächsten Waldsee oder auch zu einem Aussichtspunkt weiterzugehen. Dann hatten sie sich so vieles zu erzählen, daß sie ganz die Zeit vergaßen und einmal passierte es sogar, daß sie die Mittagsstunde verpaßten und zu spät zu Tische kamen.

Die Tante sagte zunächst nichts; aber nach Tisch ging sie zu Dina in ihr Zimmer und verbot ihr für die Zukunft streng diese Wanderungen zu zweien. »Aber Tante«, hatte Dina ganz erschreckt ausgerufen, »das ist doch nichts Unrechtes, und ich will gewiß darauf achten, daß ich immer zu Tische pünktlich bin.«

Doch die Tante hatte auf ihrem Verbot beharrt.

Traurig erzählte Dina nachmittags Hans, daß sie nicht mehr mit ihm allein spazieren gehen solle. Die Tante meinte, es schicke sich nicht.

»Wenn es Frau Konsul Weber nicht gern sieht, dann dürfen wir es auch nicht thun«, hatte der junge Dozent nachdenklich geantwortet, und Dina hatte dies Nachgeben eigentlich verstimmt. Sie hatte gehofft, er würde sie wenigstens zu bewegen versuchen dem Verbot der Tante entgegen zu handeln.

Mißmutig sah sie nach der anderen Seite und nagte an ihren Lippen, als sie sich aber Hans Schenk wieder zuwandte, bemerkte sie, wie er aufmerksam und mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen ihren Unmut beobachtet hatte.

So freute er sich auch noch, wenn Dina etwas gegen den Strich ging, – pfui, das war häßlich von ihm.

Ärgerlich ließ sie ihn stehen und eilte ins Haus zurück. Die gemeinsamen Spaziergänge unterblieben in Zukunft.

Im Juli hatte Nellys Hochzeit stattfinden sollen; aber der tiefen Trauer wegen wurde der Termin bis zum Oktober hinausgeschoben. Nelly und Dina schrieben sich häufig, doch trotz Dinas und Frau Webers herzlicher Einladung an Mühlmanns, einige ruhige Wochen der Ausspannung bei ihnen in der Natur zu verbringen, war es noch nicht dazu gekommen, da sich Frau Mühlmann nicht von dem Grabe ihres Kindes trennen mochte, und Nelly konnte die Mutter nicht verlassen. Auch zu Dinas Geburtstag hatte sie es abgelehnt, selbst nur für wenige Stunden nach Stechlin zu kommen; sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, in dieser schweren Zeit nur für ihre Mutter da zu sein. Dinchen war es sehr schmerzlich gewesen, ihre liebste Freundin nicht, wie jedes Jahr, am zwanzigsten Juli bei sich zu haben, aber Hans Schenk und Doktor Reinhart hatten ihr Erscheinen zugesagt und das war doch ein Entgelt.

In aller Frühe ihres siebzehnten Geburtstags war Dina bereits aus den Federn. Sie war nie eine Langschläferin gewesen. Der taufrische Morgen lockte sie hinaus, und durch die schattigen, feuchtkühlen Parkgänge ging es zum See hinunter, der noch im dichten Morgennebel dalag. Erst allmählich durch die Strahlen der aufgehenden Sonne zerstreute sich der Dunst, und nun glich das glatte Wasserbecken einem Spiegel, auf dem die Sonnenstrahlen wie flüssiges Gold schimmerten.

Dina löste den Nachen, und mit ein paar Ruderschlägen war sie draußen. Auf der östlichen Seite des Sees wußte sie eine Stelle mit Wasserrosen, da wollte sie hinrudern, und das sollte das erste sein an ihrem Geburtstage, sie wollte ihr Boot füllen mit den lieblichen, weißen Blüten, die so recht ein Sinnbild der reinen Kinderseele ihres zu früh verstorbenen, kleinen Freundes sein konnten, und dann wollte sie ihrem lieben, toten Mütchen einen schönen, dicken Kranz winden für sein Grab. Onkel Doktor oder Hans Schenk konnten ihn am Abend mitnehmen, und Nelly würde gewiß gern dem Bruder den Kranz als Gruß von Dina nach dem stillen Friedhof hinaustragen.

Unter den Sonnenstrahlen begannen sich eben die während der Nacht fest geschlossenen Seerosenkelche langsam zu öffnen, und Dina trieb ihr Boot mitten dazwischen, so daß es war, als säße sie in einem Blütenbeet von Wasserblumen. Einige Augenblicke verweilte sie träumerisch mit eingezogenen Rudern in der gleichen Stellung und ließ die Augen über die glatte Wasserfläche nach dem bewaldeten Ufer gleiten. Eben bog der alte Omnibus von der Bahn um eine Ecke des Landweges und Dina dachte bei sich: »Der wird um diese frühe Stunde auch nicht viele Gäste bringen« Langsam kam das wackelige Gefährt vorwärts, und das junge Mädchen wandte sich wieder ihren Seerosen zu. Sie streifte die Ärmel ihres leichten Morgenkleides hoch, und sich weit über den Rand des Bootes biegend, riß sie Stengel auf Stengel der zarten, weißen Blüten ab und warf sie hinter sich in ihr Fahrzeug. Die langen Stiele lagen quer über die Bänke und hingen über den Rand hinaus, und immer mehr raffte das junge Mädchen zusammen. Ihre Wangen röteten sich bei der eifrigen Arbeit, das Wasser spritzte herauf, und die blinkenden Tropfen hingen wie Thau in den Falten von Dinas Gewand, während sich ihre Haare aus dem leicht geschlungenen Knoten lösten und in dichten, schwarzen Locken ihr über die Schultern fielen. Schon ein paarmal hatte sich das Boot unter den ungestümen Bewegungen bedenklich geneigt und jetzt – sie warf sich zu weit hinüber, um eine besonders schöne Seerose zu ergreifen – da kippte der Nachen unter dem Übergewicht, er schlug um, und das junge Mädchen schoß mit dem Kopf zuerst in das hochaufspritzende Wasser.

Es war nicht leicht, sich aus den umschlingenden Wasserrosenstengeln und Algen herauszuarbeiten; aber Dina war gewandt und behende, und sie war auch eine gute Schwimmerin. Nach wenige Sekunden war sie wieder an der Oberfläche des Wassers und suchte das ein Stück weit entfernt treibende, umgekippte Boot zu erreichen. Rings um sie schwammen die abgepflückten Seerosen und hingen ihr um Nacken und Arme, so daß sie schlecht vorwärts kam; besonders aber hemmten die Kleider und Stiefel ihre Bewegungen. Das Boot trieb ferner und ferner, und Dina hielt sich nun mehr nach links nach dem Ufer zu. Aber auch dieses war weit entfernt, und schon fühlte sie ihre Kräfte erlahmen, während die Kleider von der aufgesogenen Feuchtigkeit schwerer und schwerer wurden, sich fest um ihren Körper schlugen und sie in die Tiefe zu ziehen drohten.

Sie wollte um Hilfe rufen; aber es hätte sie ja doch niemand gehört, und mit Aufbietung ihrer letzten Kräfte arbeitete sie sich vorwärts.

Da plötzlich hörte sie hinter sich ein Geräusch im Wasser. Sie wandte den Kopf zurück, und da fühlte sie auch schon ein paar kräftige Männerarme, die sie vorwärts stießen.

Von dem alten Omnibus, der langsam aus dem Landwege herankroch, hatte Hans Schenk längst die Bootfahrerin beobachtet, und es war ihm gleich kein Zweifel gewesen, daß niemand anders als Dina zu dieser frühen Morgenstunde, Seerosen pflückend, auf dem Wasser sein konnte. Er hatte den ersten Zug nach Stechlin heraus genommen, um zeitig an Dinas Festtag einzutreffen und freute sich nun schon das Geburtstagskind gleich am Ufer in Empfang nehmen und als erster Gratulant ihr seine wärmsten Wünsche aussprechen zu können. Da hatte er gewahrt, wie das Boot kippte und umschlug, und im Nu war er aus dem Omnibus, hatte Rock und Weste abgeworfen, sich auch der Stiefel entledigt, und mit kräftigen Stößen teilte er das Wasser, der Schwimmerin vor ihm folgend.

Zur rechten Zeit hatte er sie eingeholt. Er merkte bald, daß es mit dem Vorwärtsstoßen allein nicht ging, Dina machte unruhige Bewegungen und begann schon nach Luft zu ringen.

»Hans, Hans«, rief sie; dann verließen sie die Kräfte.

Doch schon war das Ufer nicht mehr weit. Den linken Arm fest um die Taille des halb bewußtlosen Mädchens schlingend, schwamm der junge Mann, mit dem rechten Arm kräftig ausstoßend, vorwärts.

»Mut, Mut, Dina, liebe Dina, ich bin ja bei Dir«, flüsterte er ihr zu, und noch einmal hob sie das Köpfchen und sah ihn, vertrauensvoll lächelnd, an und ließ sich dann willenlos vorwärts ziehen.

Jetzt hatte der junge Mann schon Grund unter den Füßen. Er hob die süße Last auf seine starken Arme hoch empor und trug sie durch das plätschernde, murmelnde Wasser ans Land. Dina hatte die Arme um seinen Hals gelegt und ließ alles willenlos mit sich geschehen. Sie wußte kaum, wie sie ins Haus gekommen war und in ihr Zimmer, wo Nettchen ihr alsbald die nassen Kleider vom Körper streifte.

Bald erschien auch die Tante, die sogleich durch Hans Schenk von dem Unglücksfall benachrichtigt worden war. Sie half selbst Dina zu Bett bringen, brachte ihr kräftigen Wein und Wärmflaschen und strich ihr mütterlich liebevoll über die erbleichten Wangen. Dina ging alles im Kreise herum, sie sah nur Wasser und Wasser und konnte nicht sprechen und sich nicht regen. Wie ohnmächtig, mit halb geschlossenen Augen lag sie da, schlürfte mit bebenden Lippen den perlenden, kräftigen Wein und allmählich wurden die Bilder um sie immer unklarer und wirrer, es war nur noch ein Schwirren und Surren und im Zustande gänzlicher Ermattung verfiel sie in festen Schlaf.

Als Doktor Reinhart einige Stunden später ankam und die Kunde des Geschehenen vernahm, meinte er, dieser Schlaf sei das beste was Dina jetzt haben könne. Man solle sie ganz in Frieden lassen, dann würde sich die junge, kräftige Natur schon allein helfen.

So schlief denn Dina fest und tief, Stunde auf Stunde. Die Tante hatte ein paarmal leise die Thür aufgedrückt und in ihr Zimmer hinein gehorcht aber nichts regte sich, und sie war wieder fortgeschlichen.

Erst als die Nachmittagssonne ihre schrägen Strahlen durch das Erkerfenster hineinsandte, erwachte die Schläferin. Sie konnte sich den Zusammenhang der Dinge erst gar nicht klar machen, dann aber sprang sie schnell aus dem Bett. Sie fühlte sich wieder ganz wohl und gesund, nur zitterten die Kniee noch etwas beim Gehen. Aber was that das, geschwind war sie in den Kleidern, das noch immer feuchte Haar wurde hochgesteckt, und leichtfüßig ging es die Treppen hinab.

Auf der Terrasse sah Dina ihre Tante allein mit Hans Schenk. Sie schienen in lebhafter, angelegentlicher Unterhaltung und sahen ungewöhnlich ernst aus. Als Dina in der Thür erschien, verstummte plötzlich das Gespräch, und Frau Weber trat auf sie zu und umarmte sie innig.

»Bist Du wieder ganz wohl, mein liebes Kind?« fragte sie und fügte mit leisem Vorwurf hinzu: »Wie konntest Du nur so unvorsichtig sein.« Dina erzählte, wie sie für Mütchens Grab einen Seerosenkranz hatte winden wollen, und wie es ihr ganz unfaßlich noch wäre, daß das sichere Boot so plötzlich umgekippt sei.

Mit sinnendem Ausdruck hatte der junge Mann sie beobachtet ohne ein Wort zu sprechen. Jetzt aber wandte sich Dina herzlich zu ihm.

»Hans, Du bist heute zu meinem Lebensretter geworden, ich danke Dir tausend- tausendmal«, und sie hielt ihm beide Hände hin.

»Du wärst am Ende auch ohne mich noch ans Ufer gelangt«, wehrte der junge Mann ab.

Aber die Tante unterstützte Dina: »Nein, lieber Doktor Schenk, es ist mir kein Zweifel, daß unsere Dina ohne Ihre glückliche Dazwischenkunft verloren gewesen wäre.«

»Gott sei Lob und Dank, daß sie frisch und gesund vor uns steht«, entgegnete Hans Schenk. »Nun wollen wir davon nicht mehr reden und dem Geburtstagskind durch die böse Erinnerung nicht das Herz schwer machen.«

Doktor Reinhart und der Konsul, die im Park waren, wurden nun herbeigerufen und Dina an ihren mit Gaben reichbedeckten Geburtstagstisch geführt.

Aber sie konnte sich nicht recht freuen an all den Liebesgaben. Einmal über das andere fiel sie dem Onkel und der Tante um den Hals und fragte immer wieder: »Zürnt Ihr mir auch nicht mehr, daß ich Euch durch meinen Leichtsinn so erschreckt habe? Ach, es thut nur ja so schrecklich leid. Bitte, bitte, verzeiht mir!«

Bis endlich Doktor Reinhart erklärte: »Was geschehen ist, ist geschehen, Dina. Sei ein andermal vorsichtiger und laß uns nun lieber wieder ins Freie gehen, statt hier im Zimmer zu hocken, wenn es auch das Geburtstagszimmer ist.«

Da jedoch erklärte Dina: »Ich muß aber erst etwas zu essen haben, ich habe grausigen Hunger.«

»Das ist ein vernünftiges Wort«, erklärte der Onkel Doktor lachend. »Ich glaube, es wird genug von Mittag für Dich übrig geblieben sein, denn Deine Tante und auch Dein Lebensretter haben fast nichts ungerührt aus Sorge um Dich.«

»Zum Glück war die Sorge, daß das unfreiwillige Bad ihr geschadet haben möchte, überflüssig«, fügte Onkel Alfred hinzu und klopfte seinen Liebling auf die frischen, rosigen Wangen, Und Dina zeigte durch den Appetit, den sie bei der aufgetragenen Mahlzeit entwickelte, hinlänglich, daß er recht hatte.

Nach dem Essen, dem alle beiwohnten, ging es gemeinsam in den Park, und Doktor Reinhart bestand darauf, den Ort des Schreckens noch einmal genau in Augenschein zu nehmen und alle Einzelheiten des Abenteuers an Ort und Stelle sich beschreiben zu lassen. Hans Schenk war wieder mit Frau Weber verschwunden.

»Du thust ja als ob die Tante heute Geburtstag hätte und nicht ich«, sagte Dina neckend zu ihm, als sie am Abend zusammen durch den Park wandelten.

»Ich habe Deiner Tante erzählt«, entgegnete Hans Schenk, »daß ich heute die Nachricht bekommen habe, wonach ich zum Professor der Naturwissenschaften an der Universität Marburg ausersehen bin. Dieser Tage muß die offizielle Ernennung erfolgen.«

»Und das sagst Du nicht mir zuerst?« meinte Dina beinahe vorwurfsvoll. »Da hätte ich Dir ja gratulieren müssen, Herr Professor, statt Du mir.« Lachend streckte sie ihm die Hand entgegen um den jungen Mann zu beglückwünschen, aber noch ehe er sie ergreifen konnte, hatte sie sie plötzlich wieder zurückgezogen. »Dann gehst Du weg von uns«, rief sie, und wider Willen standen ihr die Augen im Moment voll Thränen.

»Dann gehe ich fort!« sagte der junge Mann bestätigend. »Thut Dir das wirklich so leid, Dina?«

»Ja«, entgegnete Dina, schluckte aber doch ihre Thränen herunter. Nach einem Weilchen setzte sie hinzu: »Ach, wenn ich doch ein Mann wäre, dann ginge ich mit Dir.«

Hans Schenk lächelte.

»Oder wenn ich wenigstens Deine Kousine wäre«, fuhr Dina lebhafter fort, »oder selbst Deine Nichte. Dann hätte ich noch einen Onkel Doktor. Onkel Doktor Schenk, das klingt sehr drollig. Aber dann könnte ich doch mit Dir gehen; hinaus in die weite Welt mit Dir, o wie wäre das schön!«

Der junge Mann war stehen geblieben, und seine Augen hingen an Dinas Lippen.

»Dina«, sagte er plötzlich leise und innig, »mein ganzes Sinnen und Streben, Wünschen und Verlangen steht darauf, daß Du mit mir gehst auf meinen Lebensweg, aber nicht nur wie bisher als guter Kamerad oder gar wie Du vorschlägst als Nichte oder Schwester oder Kousine. Nein, Dina, ich habe Dich sehr, sehr lieb und möchte Dich mit mir nehmen als meine liebe, geliebte kleine Frau.«

Dina hatte ihre großen, blauen Kinderaugen zu dem jungen Mann erhoben. So ernst und feierlich hatte er noch nie zu ihr gesprochen.

»Hast Du mich denn nicht auch ein bischen gern?« fuhr er jetzt herzlicher fort. »Sage ja, Dina. Sage, daß Du meine süße kleine Braut sein willst.«

Ehe Dina eine Antwort hervorbringen konnte, hatte er den Arm um ihre Taille geschlungen und zog sie fest an sich. Sie aber ließ es ruhig geschehen und leistete auch keinen Widerstand, als er sich jetzt herabbeugte und in einem langen, innigen Kuß seine Lippen auf die blühenden Mädchenlippen preßte.

»Du erstickst mich ja«, stammelte Dina errötend und befangen als er sie endlich frei gab.

Aber Haus lachte nur und küßte sie wieder und wieder bis Dina sich plötzlich los riß.

»Was werden Onkel und Tante dazu sagen?« rief sie, und wie ein Wirbelwind flog sie davon, durch die mondbeschienenen Alleen des alten Parkes, mit raschem Sprunge über Beete und Hecken fortsetzend dem Hause zu.

Langsam folgte ihr Hans. Er wußte was die Tante sagte; hatte er doch selbst am Nachmittag bei ihr um Dinas Hand angehalten. Seine Berufung als Professor, wodurch er dem jungen Mädchen, dem schon als Kind sein ganzes Herz gehörte, eine Lebensstellung bieten konnte und Dinas heutiger Unfall hatten ihm die Lippen geöffnet.

Eigentlich hatte er nicht so bald sprechen wollen um Dina erst noch reifer und älter werden zu lassen, aber wenn er fortging, so mochte er doch nicht gehen ohne wenigstens ihr Jawort mitzunehmen.

So hatte er denn Frau Weber um die Erlaubnis gebeten Dina selbst sein Herz öffnen zu dürfen, und nach einigen Einwendungen und kurzer Beratung mit ihrem Manne hatte diese es auch zugegeben. Dina brauchte einen Beschützer, das war ihr nach dem heutigen Abenteuer klar geworden, sie bedurfte einer starken, festen Hand um sie durchs Leben zu führen, und der junge Mann, der so treulich ihr seit ihrer Kindheit zur Seite gestanden hatte, er würde gewiß der richtige sein, um das Glück des geliebten Mädchens gegen alle Stürme und Anfechtungen des Lebens zu schützen.

Mit hochroten Wangen kam Dina auf die Terrasse gestürmt, wo Herr und Frau Weber saßen, und in ihrem Ungestüm hätte sie fast den guten Doktor Reinhart, der ihr im Wege stand, umgerissen.

»Kind, Kind«, rief der, »verschone meine alten Knochen! Was giebts denn nun schon wieder?«

Da aber hatte ihn Dina umfaßt und ihn jubelnd mit sich im Kreise herumgedreht und ehe er sich verpustet hatte, war sie auf die Tante zugeeilt, und so leuchteten ihre Augen, und so fest und innig hatte sie die alte Dame umschlungen, daß es keiner weiteren Worte für diese bedurfte.

»Mein liebes Kind. Gott segne Dich und schütze Dich und erhalte Dir Dein junges Glück«, sagte sie innig, und lachend und weinend durcheinander war Dina vor ihr auf die Knie gesunken.

Da trat auch der Konsul heran. Leise strich er Dina über die dunklen Locken und sprach weich: »Gern gebe ich Dich nicht her, mein Liebling, selbst unserm Doktor Schenk gönne ich Dich nicht ganz, aber Dein Glück ist unser Glück, und wenn Du ihn lieb hast, so wüßte ich mir schließlich auch keinen besseren Schwiegersohn.«

Liebevoll hatte er sie an sich gezogen und sah ihr in die strahlenden Augen.

»Ach, Onkel Alfred«, sagte Dina leise, »ich konnte mir ja gar nicht vorstellen, daß man noch glücklicher werden könnte, als ich es schon war.«

»Ja, was ist denn das?« legte sich nun aber Doktor Reinhart ins Mittel. »Mir scheint, hier gehen Dinge vor, nach denen mich kein Mensch gefragt hat, und ich bin doch sozusagen die Hauptperson, denn ich habe Dina entdeckt. Da müssen Sie mir sogar recht geben, Doktor«, wandle er sich an Hans Schenk, der eben auch die Terrasse betrat.

»Hans heißt jetzt Professor, nicht nur Doktor«, berichtigte Dina.

»Was tausend«, rief der gute Doktor, »seit wann denn, und wo soll man denn da zuerst gratulieren?«

»Erst zur Verlobung«, entschied Dina, und das Brautpaar mußte nun Hand in Hand beim Onkel Doktor antreten um sich seinen Glückwunsch zu holen. Dann umarmten Herr und Frau Weber herzlich den jungen Mann, und Doktor Reinharts Vorschlag bei einer Erdbeerbowle den feierlichen Tag zu beschließen, fand allgemeinen Beifall.

Bald klangen die Gläser fröhlich zusammen, und es wurde angestoßen auf die Hochzeit, die ein Jahr später stattfinden sollte. Denn erst mußte Dina etwas kochen und wirtschaften lernen, um eine tüchtige Hausfrau abzugeben, das war Frau Webers Meinung gewesen.

»Und wenn sie ein Jahr älter wird, so kann das auch nichts schaden«, hatte der Onkel Doktor dazwischengeworfen. »Sie ist mir überhaupt viel zu jung – für den Professor.«

»Aber Onkel Doktor«, verwehrte sich Dina, »Hans ist bloß fünfzehn Jahre älter als ich, das ist gerade richtig, und ich möchte gar keinen jüngeren Mann haben.«

Dafür hatte ihr Hans zur Belohnung gleich einen Kuß geben müssen.

»Dina«, flüsterte er dann seiner Braut zu, »hast Du Dir auch schon überlegt, wohin wir unsere Hochzeitsreise machen?«

Und als Dina verneinend mit dem Kopf schüttelte, fuhr er fort: »Soll ich Dir's sagen? Wir reisen nach Capri.«

»Ja, nach Capri«, rief Dina jetzt fröhlich. »Onkel Doktor, Onkel Doktor, höre bloß. Wir machen unsere Hochzeitsreise nach Capri. Da besuchen wir Gitta und Nunzia. Wie wird das schön werden!«

»Das haben die beiden alten Schwestern auch um Dich verdient«, stimmte der Konsul zu, »und ich werde ihnen ein Legat aussetzen, daß sie bis ans Ende ihres Lebens gut versorgt sind und nicht mehr zu arbeiten und sich zu quälen brauchen. Das darfst Du ihnen dann persönlich überbringen.«

Herzlich dankend hatte ihn Dina umarmt. Unter heiteren Gesprächen und Zukunftspläne schmiedend, waren alle bis tief in die Nacht zusammen geblieben, und der Vollmond hatte sein strahlendes Licht ausgegossen über die frohen, glücklichen Menschen.

 


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