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Viertes Kapitel.
Konsul Webers Landgut

Während der Konsul und seine Gemahlin über die Zukunft ihrer kleinen Nichte berieten und auf Anweisung von Frau Weber für Dina das Erkerstübchen im oberen Stockwerk eingerichtet wurde, hatte Dina, sobald sie sich unbeobachtet sah, auf eigene Faust Entdeckungsreisen gemacht.

Von dem Park war sie in den Obst- und Gemüsegarten gelangt, wo es für sie schon genug des Neuen gab. Viele von den Bäumen, die in reichem Blütenschmuck standen, kannte sie garnicht, doch die Gemüsebeete erinnerten sie an ihren Garten in Capri. Das allerschönste von Allem war aber der Stall. Da waren endlose Reihen von Kühen und Pferden und sogar ein Schweinestall mit zehn Schweinchen war da, und in einem Verschlag war eine Ziege mit zwei jungen Zicklein. Dina kroch sofort durch das niedrige Thürchen da hinein und herzte und küßte die kleinen Tiere und war wie unsinnig vor Freude über ihre Entdeckung. Dann befreundete sie sich mit dem Kutscher, der gerade die Geschirre reinigte, und schließlich schloß sie sich der Küchenmagd an, die zum Melken ging.

Neben dem Schemelchen der Magd kauerte sich Dina auf die Erde und verfolgte mit Spannung, wieviel Milch jede einzelne Kuh gab.

»Ich will Dir helfen«, bot sie sich der Magd an.

Aber diese meinte mißtrauisch: »Die Nichte von den reichen Konsul Webers wird doch nicht melken können.«

»Brigitte«, erscholl da eine Stimme an der Stallthür. Dina sprang hoch, als sie den wohlbekannten Namen vernahm, aber es war nur die Magd, die Brigitte hieß, die abgerufen wurde. Die Kuhmagd hatte sich als Trägerin des lieben, vertrauten Namens sofort Dinas Herz gewonnen. Dina überlegte, ob sie sie wohl auch Gitta nennen könne und ob sie sie so lieb haben würde wie ihre Gitta in Capri. Als aber die Magd noch immer nicht wiederkam, fiel es Dina ein, das Geschäft des Melkens selbst aufzunehmen. Sie rückte sich also das Schemelchen zurecht, nahm den Eimer und begann das Amt des Melkens fortzusetzen. Bella hatte sie ja auch immer gemolken und sie verstand ihre Sache recht gut. Nur war es bei den großen Kühen etwas schwieriger als bei der Ziege. Aber ihre kleinen Händchen waren emsig bei der Arbeit und ihr Kopf glühte vor Anstrengung als Brigitte wiederkam.

»Ach Du meine liebe Güte«, rief diese erschrocken, als sie Dina an ihrer Arbeit sah. Wie sie indessen merkte, daß die Kleine ihre Sache recht gut machte, grinste sie über das ganze Gesicht und nickte ihr zu. Brigitte zog die Ruhe jeder Beschäftigung vor, sie warf sich deshalb auf's Stroh, reckte und streckte die faulen Glieder und war bald fest eingeschlafen.

Und Dina fuhr fort zu melken, eine Kuh nach der andern und stellte die schweren Eimer hübsch in der Reihe auf, wie sie es von der Magd gesehen.

Die Sache war im besten Gange. Nur die eine alte Kuh mit den schwarzen Flecken war böse. Als sie die ungewohnten Kinderhändchen statt der groben Finger der Magd an ihrem vollen Euter spürte, wurde sie unruhig. Sie trat und stampfe hin und her, aber Dina ließ sich nicht stören und faßte erst recht fest zu. Da wurde die Kuh ungeduldig, sie wandte sich um und mit einmal: Stapf, – trat sie mit dem linken Hinterfuß in den halbgefüllten Eimer, so daß die Milch wie ein Springbrunnen hoch emporspritzte und sich über Dina und den ganzen Stand ergoß.

»Brigitte, Brigitte, so wach' doch auf«, rief Dina, die sich vergebens bemühte, den Eimer unter dem schweren Kuhhuf hervorzuziehen, aber ein vernehmliches Schnarchen antwortete auf ihren mahnenden Ruf, und noch einmal hob die Kuh den Fuß und trat mit aller Kraft zurück in den Eimer, sodaß sie sofort den Boden durchtrat und ein weißer Bach von Milch sich nun durch den Stall ergoß.

Dina sprang auf und ergriff die Magd an den Schultern, um sie wachzuschütteln, da plötzlich that sich die Thür auf und die Frau Konsul stand selbst auf der Schwelle.

»Bernhardine, wir suchen Dich überall, es ist Essenszeit und die Mahlzeiten werden bei uns pünktlich inne gehalten«, sprach sie, und gewahrte nun, wie Dina aussah und wie ein weißer Streifen von Milch durch den Stall rann.

»Brigitte«, herrschte sie die Magd an, die sich mühsam ermunterte, »Du kannst des Nachts schlafen, aber nicht am hellen Tage. Geh' an Deine Arbeit.«

Dina stand betreten daneben, aber ohne viel Worte zu machen, ergriff die Tante sie fest am Handgelenk und zog sie hinter sich her in's Haus. Sie wollte mit dem Kinde nicht gleich schelten, beschloß aber, sie zunächst nicht wieder aus den Augen zu lassen.

Nachdem Dina schnell etwas gewaschen und gesäubert, gekämmt und gebürstet war, ging es in's Eßzimmer, wo der Konsul schon ungeduldig am Tische saß und auf seine Suppe wartete.

Dina mußte zwischen dem Onkel und der Tante Platz nehmen und die Frau Konsul füllte ihr einen großen Teller mit Suppe auf. Es schmeckte ihr prachtvoll, und zum zweiten und dritten Mal hielt sie ihren Teller hin, um ihn wieder und wieder füllen zu lassen, bis der Konsul schließlich meinte:

»Du kleiner Nimmersatt, können wir denn immer noch nicht weiter essen?«

Erstaunt sah Dina nach dem Gemüse, das nun aufgetragen wurde, – sie hatte ihren Appetit gestillt.

»Bei uns gab's immer nur eins«, meinte sie, und es schien ihr höchst verwunderlich, daß bei einer Mittagstafel mehrere Gerichte hintereinander auf den Tisch kamen.

Bei dem Geflügelgang ließ sie sich indessen von dem Onkel überreden, noch ein Stückchen zu nehmen. Messer und Gabel schob sie vorher aber behutsam zur Seite und begann nun mit beiden Händen, ihr Stück ergreifend, das Fleisch von den Knochen abzunagen.

Das ging so schnell, daß der Konsul hell auflachen mußte, die Frau Konsul aber völlig sprachlos ihre Nichte anblickte.

Diese nahm indessen keine Notiz davon. Mit einem Seitenblick hatte sie Attila, den Jagdhund, in der Ecke am Kamin entdeckt.

»Du, fang'«, rief sie lustig. Und der abgenagte Knochen flog in großem Bogen in die Ecke, wo er geschickt von Attila aufgeschnappt wurde.

»So, nun bin ich aber wirklich satt«, entschied Dina hierauf, indem sie die Serviette, die ihr die Tante umgebunden hatte, herunterzerrte und ausspringen wollte. Doch die Frau Konsul ergriff sie beim Handgelenk und drückte sie auf ihren Sitz zurück.

»Nein, mein Kind«, sagte sie, »Du bleibst sitzen, bis wir Großen auch aufstehen, und siehst einmal zu, wie manierliche Leute essen, damit Du es lernst, wie sie zu machen.«

Dina mußte also sitzen bleiben und zusehen, wie die Tante Gabel und Messer geschickt hantierte, und hatte es dann ebenso nachzumachen.

»Wo ist eigentlich der Onkel Doktor geblieben?« fragte sie plötzlich, da ihr jetzt das Verschwinden ihres guten Freundes ausfiel.

»Herr Doktor Reinhart ist längst nach Berlin zurückgefahren. Du warst ja nirgends zu finden, als er wegging, Bernhardine«, entgegnete die Tante.

In Wahrheit hatte der Doktor von seinem kleinen Schützling absichtlich keinen Abschied genommen, weil er ihr nicht das Herz schwer machen wollte.

Dina sah einen Augenblick die Tante betroffen an. Am Vormittag im Garten und Stall hatte sie die Anwesenheit des Doktors vergessen gehabt, aber als sie sich nun so allein zwischen den beiden fremden Leuten sah, da war es ihr mit einemmal, als sei sie ganz und gar verlassen, da ihr Onkel Doktor fortgegangen war und sie brach in einen wahren Thränenstrom aus.

Der Konsul und seine Frau waren ganz erschrocken, wie das Kind so bitterlich schluchzte, daß der ganze kleine Körper zuckte. Sie hatte den Kopf über ihre Arme auf die Tischplatte geworfen, und dicke Thränen quollen durch die Finger hindurch und benetzten das Tischtuch.

»Aber um Gotteswillen, Dinchen, weine doch nicht so, Dina, Dina, was ist denn mit Dir?« redete der Konsul auf sie ein.

Doch Dinas Thränen flossen unaufhaltsam und sie schluchzte so bitterlich, daß dem Konsul schließlich selbst die Thränen in die Augen traten. Er zog die Kleine auf seine Kniee empor und redete ihr gut zu, der Doktor käme ja jeden Sonntag nach Stechlin heraus, und sie wollten ihm gemeinsam schreiben, daß er es ja nicht vergäße.

Bei seinen Trostworten versiegten allmählich Dinas Thränen, aber sie nahm auch sogleich den guten Onkel beim Wort, holte Tinte und Feder und begann ein Schriftstück aufzusetzen, in dem der Onkel Doktor flehentlich gebeten wurde seine Dina recht bald zu besuchen. Der Konsul mußte seine Unterschrift darunter setzen, und er zeigte nicht ohne Stolz seiner Gattin den netten, sauberen Brief, den Dina in aller Geschwindigkeit geschrieben hatte. Die Frau Konsul lobte Dina auch dafür, daß sie schon so hübsch schreiben konnte. Diese war sehr stolz und erfreut über das Lob aus dem Munde der Tante und erzählte ihr fröhlich von ihren: Unterricht bei dem Herrn Lehrer in Capri.

Der Konsul zog sich nun zurück in sein Zimmer und die Tante nahm Dina mit auf die Veranda, wo sie ihr Arbeitszeug zur Hand nahm und Dina ein angefangenes Strickzeug übergab. Aber, – o weh – mit dem Stricken ging es nicht so wie mit dem Lesen und Schreiben. Dina hatte es nie fertig gebracht zwei Stricknadeln zugleich zu fassen. Nunzia und Gitta hatten sie zu dergleichen auch nicht angehalten, da sie selbst fast nie Handarbeiten machten, sondern abends nach des Tages Mühe und Hitze meist schwatzend vor der Thür auf der Straße standen.

Die Tante mußte daher erst recht lange die kleinen Finger zurechtdrücken, bis sie die Nadeln halten und die Maschen abzunehmen lernten. Zudem schielte Dina immer nach der Thür, ob es ihr nicht gelingen möchte, zu entwischen, aber die Tante hatte ja leider beschlossen, sie nicht aus den Augen zu lassen, damit sie keinen neuen Unfug anstellte.

Es blieb ihr also weiter nichts übrig, als sich weiter mit dem ihr schrecklichen Strickzeug zu quälen, und als einzige Abwechslung gelang nur ab und zu der Spaß, Attila, dem Jagdhund, heimlich unter dem Tisch das Knäuel hinzutrudeln, welches dieser dann täppisch mit seinen großen Pfoten zu erhaschen suchte.

Ach, hätte Dina nur ein einziges Mal noch nach dem Stalle gedurft zu der Ziege und den reizenden Zicklein, aber das ging nicht. Die Tante hatte schon ein paarmal gemahnt:

»Bernhardine, Du mußt still sitzen.« Und wenn die Tante fest und bestimmt etwas sagte, da gab es keinen Widerspruch, das hatte Dina bald gemerkt.

Aber eine Überraschung sollte der Nachmittag doch noch bringen. Nettchen, die Jungfer, die die Tante am Vormittag, gleich nach Dinas Ankunft, zur Stadt geschickt hatte, kehrte reich beladen mit Kästen und Schachteln von ihrer Besorgungstour zurück. Und als es an das Auspacken ging, fanden sich die Packete voll mit schönen Sachen für Dina. Da waren vor Allem ein paar wunderhübsche Kleider aus gutem, weichen Wollstoff, denn der zusammengesuchte Anzug von Nelly Mühlmann hatte sogleich das Mißfallen der Frau Konsul erregt. Dann kamen Schürzen zum Vorschein und Hüte und Bänder, Wäsche, Strümpfe und Stiefel und schließlich ein dunkelrotes Sammetkleid mit weißen Borten und breiter, weißer Schärpe. Das Alles mußte Dina gleich anprobieren, und sie kam sich so schön vor wie eine Prinzessin im Märchen und traute sich kaum, die guten Sachen mit den Händen zu berühren. Als Alles gut befunden war, schickte die Tante Nettchen hinauf, um die Sachen in Dinas Zimmer einzuordnen, aber ein blaukarriertes Wollkleid durfte Dina anbehalten, und die Tante band ihr eigenhändig eine hübsche, saubere Schürze vor und schlang ihr ein schwarzes Sammetband durch das Lockenhaar, das ihr so kraus und wild auf die Schultern herabfiel.

Dina gefiel der Anzug außerordentlich, nur das Kleid schien ihr viel zu lang, es fiel in dicken Falten weit über die Knie herab und behinderte sie beim Gehen.

»Weißt Du was, Tante«, sagte sie, »Du könntest mir mein Kleidchen ein Stück breit abschneiden. Mein Rock, den ich in Capri trug, ging nur bis an's Knie und damit konnte ich viel besser springen.«

Doch die Frau Konsul meinte: »Nein, mein Kind, das geht nicht, erstens ist es hier viel kälter, als in Deinem sonnigen Capri, und zweitens bist Du ein großes Mädchen von elf Jahren, Du wirst im Sommer zwölf. Da kannst Du doch nicht mehr wie ein kleines Kind herumlaufen.«

So fügte sich denn Dina in das viel zu lange Kleid, aber alles zwängte und beengte sie, und die schweren Stiefelchen lasteten ihr wie Blei an den Füßen. Sie war daher ganz froh, als ihr die Tante gleich nach dem Abendbrod erlaubte, sich zur Ruhe zu legen. Nettchen führte sie in ihr Zimmer, knöpfte ihr das Kleid auf und zog ihr die Stiefel aus, wie es die Frau Konsul angeordnet, dann zog sie sich mit einem freundlichen: »Gute Nacht, kleines Fräulein«, zurück.

Dina aber saß in ihrem Unterrock und den Strümpfen auf der Bettkante und baumelte mit den Beinen und dachte an die Zicklein, und immer lebhafter wurde ihr Wunsch die kleinen Tierchen noch einmal zu sehen. Schließlich öffnete sie leise die Thür, es war niemand zu blicken und – husch – schoß sie die Treppe hinunter über den dunklen Hofraum nach dem Stallgebäude. Auch hier war Alles still und dunkel, und tastend erreichte Dina den wohlbekannten Ziegen-Verschlag.

Da lag die alte Ziege friedlich mit den beiden Zicklein auf ihrem Strohlager, wo es Dina gar weich und behaglich vorkam. Ja, es gefiel ihr viel besser als in ihrem hohen, weißen Bett, und behutsam kroch sie hinein zu den Tieren. Eigentlich wollte sie nur ein kleines Weilchen bei ihnen bleiben, aber die alte, liebe Gewohnheit war zu mächtig. Eng an die Tiere geschmiegt, verfiel sie bald in festen Schlummer und träumte von ihrer Bella, von dem fernen, sonnigen Italien und dem weiten, blauen Meer. Das Erkerzimmer aber blieb leer und das weiße Bettchen unbenutzt.

Als die Frau Konsul ihr eigenes Schlafzimmer aufsuchen wollte und an dem Erkerzimmer vorbeikam, war sie nicht wenig erstaunt die Thür offen zu finden.

»Sollte Nettchen die Klinke nicht zugedrückt haben?« meinte sie zu ihrem Mann gewendet und wollte eben die Thür leise in's Schloß drücken.

Aber der Konsul meinte: »Sieh' doch lieber noch einmal nach, ob der Kleinen auch nichts fehlt und ob sie ruhig schläft.«

Kaum aber hatte die Frau Konsul das Zimmer betreten, da hörte sich der Konsul beim Namen rufen.

»Alfred, Alfred«, und das klang so ängstlich, daß der Konsul, der ruhig vorangeschritten war, sofort zurückeilte. Er riß die Thür des Erkerzimmers sperrangelweit auf. Da stand seine Gemahlin wie erstarrt und deutete nur stumm auf das leere Bett.

»Ja um Gotteswillen«, rief der Konsul auch seinerseits nicht gelinde erschrocken, »wo ist denn das Kind geblieben?«

»Ja, wo ist das Kind geblieben«, wiederholte tonlos seine Gemahlin.

Die beiden Eheleute sahen sich einige Augenblicke ratlos an, dann ergriff der Konsul wieder das Wort.

»Nun, Malchen«, meinte er beruhigend, »zunächst liegt am Ende noch kein Grund vor, sich aufzuregen. Die Kleine wird sich allein geängstigt haben, und Nettchen hat sie deshalb mit in ihr Zimmer genommen.«

Um sich Gewißheit zu verschaffen, begab sich der Konsul gleich selbst die Treppe hinauf nach dem Bodenstübchen, wo Nettchen schlief. Aber erst auf sein wiederholtes Pochen an der Thür ertönte endlich von drinnen die verschlafene Frage: »Wer ist denn blos da?«

»Nettchen, sagen Sie nur eins, ist Dina bei Ihnen?« fragte der Konsul zurück.

»Aber nein«, lautete die Antwort der Jungfer, die sich allmählich ermunterte, als sie bemerkte, daß der Konsul selbst an ihrer Zimmerthür war. Schnell sprang sie aus den Federn, machte Licht und schlüpfte in einen alten, weiten Mantel.

»Kaum ist solch' Kind im Haus, ist's mit der Ruhe vorbei«, dachte sie und riegelte ihre Thür auf.

Da stand der Herr Konsul und spähte sofort mit suchenden Blicken durch ihr Zimmer, als müßte das Kind da sein.

»Wo kann sie denn nur geblieben sein, wo kann sie stecken?« rief er.

»Wenn der Herr Konsul von dem kleinen Fräulein sprechen«, warf die Jungfer ein, »die kann nirgends als in ihrem Zimmer sein. Ich habe ihr selbst beim Auskleiden geholfen.«

»Das ist's ja«, rief der Konsul, »das Kleid hängt da, die Stiefel stehen vor der Thür, aber das Kind ist fort.«

»Das Kind ist fort«, meinte Nettchen erstaunt und beinah etwas erleichtert.

»Kommen Sie mit herunter«, befahl der Konsul und stieg nachdenklich und kopfschüttelnd die Bodentreppe herab.

»Malchen«, sprach er zu seiner unten wartenden Frau, »es scheint wir jetzt, das Kind ist davongelaufen.«

»Davongelaufen?« schrie die Frau Konsul auf.

»Ja, siehst Du, Du mußt das nicht so schlimm nehmen«, begütigte der Konsul wieder, »die Kleine ist so fremd hier, – da wird sie sich gebangt haben und hat vielleicht den Gedanken gefaßt nach der Station zurückzulaufen.«

»Aber was soll sie auf der Station?« warf die Frau Konsul ein.

»Nun sie mag gedacht haben dort unsern guten Doktor Reinhart noch zu erreichen«, entgegnete der Konsul. »Kinder kommen ja oft auf sonderbare Ideen. Jedenfalls soll Johann sofort anspannen, und ich will selbst nach der Station herunterfahren.«

Nettchen wurde also geschickt um den Kutscher zu wecken, und der Konsul machte sich mittlerweile auch fertig.

Der Frau Konsul schien allmählich der Gedanke gar nicht so unwahrscheinlich, daß die Kleine ihrem alten Freunde und einzigen Bekannten nachgelaufen wäre, doch immer von neuem stiegen ihr bange Zweifel auf, ob das Kind sich nicht verirrt haben möchte oder vom Weg abgekommen sein könnte.

Als der Konsul davonfuhr, blieb sie in tödtlichster Unruhe zurück und durchsuchte mit Nettchen wieder und wieder alle Zimmer und Korridore, ob sich die Kleine irgendwo versteckt halten könnte. Die Köchin leuchtete mit der Küchenlaterne den Park ab und schließlich begab sich die Frau Konsul selbst mit bis nach dem Gutsteich hinunter um sich zu überzeugen, ob auch das Boot festläge. Dabei erzählte Nettchen von der kleinen Müllerstochter, die gerade um dieselbe Zeit im vorigen Frühjahr verunglückt war.

»Das arme Geschöpfchen ertrank ja wohl im Mühlbach?« fragte die Frau Konsul.

»Ja«, entgegnete Nettchen. »Sie hatte doch auch davon laufen wollen, weil die Eltern sie so gescholten hatten am Abend. Darum konnte sie nicht einschlafen, und wie sie nun so in der Dunkelheit aus dem Hause tappt, hat sie wohl den Steg über den Bach nicht gefunden und ist kopfüber in's Wasser gefallen. Am nächsten Tag haben sie sie eine Strecke weit vom Dorf entfernt herausgefischt. Das Kleidchen war an den Erlenbüschen hängen geblieben.«

Die Frau Konsul hatte die Geschichte oft gehört, aber jetzt mußte Nettchen von jeder Einzelheit nochmals berichten.

Endlich hörte man von fern Wagenräder rollen. Die Frau Konsul stürzte dem Wagen entgegen, aber ihr Mann kam allein zurück ohne eine Kunde von der Kleinen. In ernster Beratung standen die beiden Gatten noch am Portal, während der Kutscher schon die Pferde ausspannte.

Er warf dem Stalljungen die Geschirre zu, und dieser schlich gähnend davon, um sie in der Geschirrkammer aufzuhängen.

Wer beschreibt aber sein Entsetzen, als er hinter der Wand der dunklen Geschirrkammer plötzlich eine Stimme vernahm, ein unverständliches Kauderwelsch, das aus den Balken zu kommen schien.

An die Geschirrkammer stieß nämlich der Stall mit dem Ziegenverschlag. Dina war durch den Lärm draußen, die Stimmen und das Wagenrollen aus ihrem Schlaf aufgestört, hatte sich aber nicht ganz ermuntern können und gemeint, Bella, bei der sie sich wähnte, läge blos unruhig und ließe sie nicht schlafen. Sie rief deshalb die Ziege auf italienisch an, sie solle sich doch still verhalten und liegen bleiben, und diese Worte, deren Sinn er natürlich nicht verstand, hörte der Stalljunge nebenan.

Wie gejagt eilte er deshalb hinaus und rief, auf den Stall zurückdeutend: »Da spukt's, da spukt's!«

Alles eilte hinzu, und der Konsul befahl ärgerlich, der Junge solle vernünftig sagen, was geschehen sei.

»Die Wand redet oder die alte Ziege nebenan spricht«, stotterte der Junge.

»Heute ist ja wohl der Kuckuk los«, rief der Konsul ärgerlich und ergriff selbst die Laterne, um in den Stall zu leuchten.

Dort war aber Alles still, Dina war schon wieder eingeschlafen.

»Da in der Ecke war's«, rief der Junge, »ich habe es deutlich gehört.«

Der Konsul schritt also auf den Ziegenverschlag zu und leuchtete hinein. Da lag die alte Ziege in guter Ruh und fest an sie geschmiegt die Zicklein auf der einen Seite und Dina auf der anderen.

Dem Konsul Weber wäre fast die Laterne aus der Hand gefallen vor freudigem Schreck.

»Malchen, Malchen«, rief er, »Gott sei Lob und Dank – da ist das Kind.«

Eilends kam die Frau Konsul herbei, während auch Dina aufgeschreckt hochsprang und sich noch immer nicht erklären konnte, was um sie her vorging.

»O Du böses, böses Kind«, sprach die Tante bewegt vor sich hin, während ihr die Thränen in die Augen traten, »was haben wir für Angst um Dich ausgestanden.«

Betreten kroch Dina aus ihrem Verschlag heraus. Aber der Konsul nahm sie sofort auf den Arm und trug sie selbst in's Haus. Erst oben vor ihrem Zimmer ließ er sie herunter, und die Tante brachte sie nun eigenhändig ins Bett.

Als sie wohlbewahrt in ihren weißen, weichen Kissen lag, kam auch der Onkel hinein, und nun mußte ihm Dina erzählen, wie sie eigentlich in den Ziegenstall gekommen wäre. Er und seine Frau waren noch immer der Meinung, sie hätte davonlaufen wollen und wäre nur zufällig in den Stalle geraten und da eingeschlafen. Als die Kleine indessen beichtete, sie hätte gar zu sehr die Ziege noch einmal sehen wollen und bei ihr im Stalle schlafen, sah der Konsul bedeutungsvoll lächelnd seine Frau an. Dann sprach er: »Versuch's nur auch einmal mit Deinem weichen Bett, Du wirst sehen, da schläft, sich's herrlich darin und noch besser, als im Ziegenstall.«

Dina glaubte das zwar nicht ganz, aber sie versprach doch fortan artig zu Bett zu gehen.

Auch verbot ihr die Tante streng, bis aus Weiteres ohne sie oder den Onkel die Ställe wieder zu betreten.


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